Horst Schroeder

Theater-, Musik- und Filmkritiken im Kaiserreich

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1908 / 1909

Berliner Theater. NZZ, 12. September 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 254.
Personalveränderungen zu Beginn der neuen Spielzeit; Arno Holz, Sozialaristokraten (Kammerspiele, 04.09.08). – „Langsam wälzt sich das Premierenungeheuer heran, langsam und vorsichtig. Noch getraut es sich nicht recht, noch ist es vom Sommerschlafe beschwert und die Jahreszeit seinem Erwachen nicht günstig; aber schon hört man es in der Ferne rumoren. Ein Weilchen noch, und man sieht seine feurigen Augen gefährlich glühen. Und dann sperrt es seinen dräuenden Rachen auf, und ehe wir es gewahr werden, hat es uns verschlungen – mit Haut und Haaren. Etwas länger als der Prophet sind wir wohl ‚im Bauche der Hölle’ [Jona 2:2], doch sobald die linden Lüfte zu wehen beginnen, kommen wir wieder heil zum Vorschein. – Die ersten Kampfvorbereitungen des Theaterwalfisches sind nur Schläge ins Wasser: es spritzt, aber er trifft nicht. Und es liegt auch kaum in der Absicht derer, die seine Bewegungen lenken, daß er gleich zu Anfang treffe. Man muß den Gegner reizen, will man ihn wild machen. Alljährlich wiederholt sich dieses selbe Schauspiel, und wir wissen nachgerade aus Erfahrung, daß die guten Stücke für einen wertvollern Zeitpunkt zurückgestellt werden, ganz so, wie ein Feldherr seine Kerntruppen nicht in die Eröffnungsschlacht schickt. Das gute Alte und das schlechte Neue teilen sich in die Ehre, als Kanonenfutter zu dienen oder (gelinder ausgedrückt) werden als Stimmungspioniere vorausgeschickt. – Doch zunächst sei einiger Personalveränderungen gedacht. – Ferdinand Bonn, Universaldilettant, ein Cäsar des Kasperletheaters, ist von der Bildfläche verschwunden. Er selbst stellt es so dar, als sei er den Verfolgungen der Presse erlegen, obwohl die ernste Presse zuletzt überhaupt nicht mehr von seinem spaßhaften Treiben Notiz genommen hat; in Wirklichkeit ist er das Opfer seiner Phantasie geworden. An seine Stelle treten in der Leitung des Berliner Theaters die Herren Rudolf Bernauer und Carl Meinhard, zwei bewährte Chargenspieler, die als ‚böse Buben’ mit Witz und Geschick karnevalistische Abende veranstaltet haben. Also wieder zwei Schauspieler, die zum Range des Bühnenbeherrschers emporgestiegen sind, wie sich denn Berlins Theaterdirektoren fast ausschließlich in den letzten Jahren aus Mimen rekrutiert haben. Einzig der Direktor des Hebbel-Theaters [Eugen Robert (1877-1944), Verfasser des Einakter-Zyklus Romanstoffe (1906)] ist aus der Literatur hervorgegangen – allerdings kein literarischer Favorit. Es hat gewiß seine Vorteile, daß Männer der Praxis, die von der Picke auf gedient haben, zur höchsten Stellung aufrücken; aber die etwas kärgliche Rolle, mit der sich die Literatur neuerdings im Theaterleben zufrieden geben muß, ist vielleicht damit in Verbindung zu bringen. Noch sind wir nicht beim System des Actor-Manager angekommen, bei jener verhängnisvollen Personalunion von Schauspieler und Direktor, wie sie in England und Amerika zu Hause, und zwar in der Form, daß der Direktor zugleich sein wertvollster, zugkräftigster Darsteller ist. Dort kann überhaupt nur ein Star Manager werden. Bei uns pflegt der Schauspieler, der es zum Direktor bringt, in weiser Selbstbeschränkung seine darstellerische Tätigkeit fast ganz aufzugeben und nur noch sehr vereinzelt in Rollen, die seiner Individualität besonders ‚liegen’, aufzutreten, weil er überzeugt ist, daß es ebenso schwer ist, zwei Herren zu dienen, wie zwei Herren zu sein. Max Reinhardt etwa hat den Lorbeer des Schauspielers leider völlig verwelken lassen. An den Herren Bernauer und Meinhard verliert die Schauspielkunst weniger, wenn sie auch immer wacker ihren Mann gestellt haben. Vielleicht gewinnt aber Berlin an ihnen zwei Direktoren, die zählen (es gibt nämlich hier auch solche, die nicht zählen). Wie sie sich auch entwickeln mögen, das eine ist sicher: besser als ihr despotisch dilettantischer Vorgänger müssen sie ihre Sachen machen, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich ist, sie noch schlechter zu machen. Das nennt man an der Börse eine günstige Konjunktur. Was sie bis jetzt von ihren Plänen mitgeteilt haben, läßt darauf schließen, daß sie sich an ein breites Familienpublikum wenden und zu dem Programm zurückzukehren gedenken, das Ludwig Barnay an dieser Stätte mit Erfolg (mit ordentlichem Erfolg, würde ein Witzbold sagen) gepflegt hat. – Ludwig Barnay! Der Direktor des Königlichen Schauspielhauses ist nach Hannover versetzt worden und hat zur Entschädigung einen funkelnagelneuen Titel mitbekommen. Mir fällt ein treffender Ausspruch des Frankfurter Dialektdichters Friedrich Stoltze [1816-1891] ein: als ihm einst ein Freund erzählte, ein toller Hund sei von Offenbach nach Frankfurt gelaufen, meinte Stoltze, der Hund könne nicht verrückt gewesen sein, wenn er von Offenbach nach Frankfurt durchgebrannt sei; wäre er aber von Frankfurt nach Offenbach gelaufen, ja, dann wäre der Hund unbedingt verrückt. (Soll sie wirken, muß man die Anekdote eigentlich in Frankfurter Mundart erzählen, doch man wird sie auch so verstehen.) Der Hofrat Barnay hat also Berlin verlassen, und man wird ihm schwerlich nachtrauern, denn ein Verlust für die Kunst ist sein Scheiden nicht. Wie lange er am Steuer saß, dafür hat man keine Empfindung, weil sich das ihm anvertraute Schiff durchaus nicht vom Fleck rühren wollte. Er leistete wenig, und das Wenige war in einem überwundenen Stil. Kein neuer Künstler ist unter ihm groß, kein neues Werk von Belang durch ihn lebendig geworden. Namhafte Künstler wurden falsch beschäftigt, Werke Namenloser ohne innere Berechtigung ans Tageslicht gefördert. Aber wenn alles gegen diesen Mann gesagt ist, darf man nie vergessen, daß er nicht schalten konnte, wie er wollte; daß ihm die Hände gebunden waren; daß er nicht die volle Verantwortung für seine Taten oder seine Untätigkeit trägt, da er wohl nominell Herr war, faktisch aber nur Beamter zu sein hatte. So ist es von jeher an der königlichen Bühne gewesen, so wird es in Zukunft an der königlichen Bühne sein. Ein freier Mann, der eigene Ideen hat und verwirklichen will, ist hier fehl am Orte. Trotzdem – vestigia non terrent [‚die Spuren schrecken nicht ab’ (Anspielung auf Horaz, Epistel, I, i.74)]. Schon reißen sich die Kandidaten – auch solche sind darunter, die bisher nur den Nachweis ihrer Unfähigkeit erbracht haben, was vielleicht als empfehlende Eigenschaft gilt – um den vielbegehrten Intendantenposten. Und selbst wenn ihn der forsche Albert Patry bekommen sollte: die Forschheit wird ihm bald ausgetrieben werden, und der patryotische Schlendrian wird nach wie vor triumphieren. – Auch die Wiener Operette triumphiert zur Zeit wieder. Vor einigen Jahren war sie mausetot, so daß ihre Pflegestätte, das Zentraltheater, unter dem seligen Ferenczy ein jähes Ende nahm [José Ferenczy, eigentlich Jozsef Friedemann (2.2.1852-27.7.1908)]; heute kann man nicht genug Quartiere für sie auftreiben. Das Theater des Westens, von dessen Dache seit seinem Bestehen der ‚Pleitegeier’ nicht verschwinden wollte, verdankt ihr seine erste Blüteperiode. Das Neue Operettentheater ist eigens für sie gebaut worden. Das schicksalreiche Lortzing-Theater, das es zuletzt mit der Volksoper versuchte, wird ihr fortan geweiht sein. Was die music-hall in England ist: die gefährlichste Gegnerin des ernsten Dramas, hat die Wiener Operette Aussicht bei uns zu werden. Seit den Welterfolgen der Lustigen Witwe und des Walzertraums, denen die Dollarprinzessin nichts nachzugeben droht, ist das schon oft totgesagte Genre wieder der Hätschelhans des Publikums geworden. Ob ein Kausalnexus zwischen dem finanziellen Aufschwung und dem künstlerischen Tiefstand besteht, bleibe unentschieden; aber je schlechter die Musik, um so größer, scheint es, der Massenapport und der Kassenrapport. – Über die Amerikanisierung des Berliner Theaterbetriebes und über die einschneidenden Wandlungen des deutschen Geschmacks wird nächstens ausführlich zu handeln sein. Wir sind in der Literatur jetzt dahin gelangt, daß nicht mehr das Werk, sondern nur noch der Autor zählt, nicht mehr der Wert, sondern der Name entscheidet. Und ebenso, noch in gesteigertem Maße, ist es beim Theater. Wer erst im Sattel sitzt, hat gewonnenes Spiel; er darf sich die alltäglichsten Gangarten oder die verwegensten Sprünge erlauben, sie werden angestaunt; er braucht überhaupt nicht mehr zu Pferde zu sitzen, die Menge steht noch unter der Suggestion, einen Reiter vor sich zu haben. Dagegen wird es dem Anfänger immer schwerer gemacht, in den Sattel zu kommen. Es gibt Bühnenschriftsteller, denen es nie gelingt, die zeitlebens einen Fuß im Steigbügel haben und mit dem andern an der Erde schleifen. – Bernard Shaw hat lange gebraucht, das widerspenstige Pferd zu zähmen; dafür sitzt er jetzt so fest, daß er schon als Kentaur angegafft wird. [Am 04.09.08 hatte das Hebbel-Theater Shaws im folgenden namentlich genannte Komödie mit großem Erfolg auf die Bühne gebracht.] Als er vor fünfzehn Jahren The Philanderer schrieb – deutsch so verwaschen wie möglich Der Liebhaber genannt –, konnte er noch nicht reiten. Die Leute im Hebbel-Theater schienen anderer Ansicht: sie lachten nicht über Shaw, sondern mit Shaw, weil das ihre gesellschaftliche Stellung erheischt und sie fürchten, sich bloßzustellen, wenn sie da, wo gar kein Witz ist, keinen Witz wittern. Sie lachten, trotzdem oder weil die Aufführung des Hebbel-Theaters so mißverstanden war, daß sie aus allen Figuren etwas anderes machte, als im Buche steht. Sie lachten wie die Banausen, weil sie glaubten, daß Ibsen verspottet werde, oder wie die Intellektuellen, weil sie glaubten, daß die Ibsen-Spötter verspottet würden. Man kann nie wissen; da empfiehlt es sich auf alle Fälle zu lachen. Es widerstrebt mir, an der Komödie Bernard Shaws Kritik zu üben, da mein persönliches Verhältnis zu ihm mich einstweilen nur den Menschen mit der Devise: ‚Durch Dreck zum Zweck’, nicht mehr den Künstler sehen läßt. Ich bedaure das; aber es ist nicht meine Schuld. – ‚Durch Dreck zum Zweck’: damit wird das Gebaren eines skrupellosen Schriftstellers in der Komödie Sozialaristokraten von Arno Holz gekennzeichnet, die (ohne ersichtlichen Grund) durch die Kammerspiele zu neuem Scheindasein erweckt wurde. Dieses Werk aus den blutigsten Revolutionsjahren des Naturalismus [1896] – der Gründerperiode unserer modernen Literatur – ist in seiner Wirkung auf heutige Zuschauer ein rechter Zwitter: amüsant, aber langweilig; unterhaltend in seinem Problem, aber einschläfernd in seinen Einzelheiten. Zu sehr gewollt und nur in der Gestalt des Gelegenheitsdichters Oskar Fiebig gekonnt. Der Programmatiker hat den Bildner an die Wand gedrückt, der Techniker den Plastiker übertrumpft. Ganz frisch ist nur der Dialog mit seinem unverfrornen Witz und seinen kecken Anleihen beim Berliner Jargon geblieben, lebensvoll wie am ersten Tage. Man halte etwa Wildenbruchs Haubenlerche [1890] daneben, und man wird zwischen beiden nicht einen Abstand von sechs Jahren, sondern eher von sechs Jahrzehnten vermuten. Es bleibt Holzens unbestreitbares Verdienst, daß er diese hölzerne, papierne, man könnte auch sagen: holzpapierne Sprache überwunden hat. Weniger interessieren uns schon die Menschen, weil sie der Doktrinär nicht genügend differenziert hat, weil sie zu sehr auf eine Wesensseite gestellt sind und ferner weil dieser Friedrichshagener Kreis in seiner Mischung von Bohème und Spießertum, von verstiegener Theorie und Unkultur heute nichts mehr in uns zum Schwingen oder zum Klingen bringt. Spaßig ist es allerdings heute noch, wie getreu Holz nach seinen Modellen gearbeitet hat; aber die Urbilder sind uns im Laufe der Zeit recht gleichgültig geworden. Wenn er damals, in seines Irrsinns Maienblüte, den Satz aufstellte: ‚Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein’, so wird er heute zugeben, daß sich versehentlich ein e eingeschlichen hat, daß er der Wahrheit näher gekommen wäre, wenn er geschrieben hätte: ‚Die Kunst hat die Tendenz, wider die Natur zu sein.’ Er ist es gewesen, als er seiner Komödie zum Schluß die unglaubhafteste Handlung ersann, und hat damit für seinen Teil bewiesen, sofern es dieses Beweises noch bedurfte, daß nichts so heiß gemacht wird, wie es gedacht wird.“

Berliner Theater. NZZ, 17. September 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 259.
Takeda Izumo, Terakoya – Die Dorfschule / Wolfgang von Gersdorff, Kimiko (Kammerspiele, 14.09.08). – „Chikamatsu Monzayemon [1653-1725] ist der Verfasser eines Romans Vasallentreue, den man fast als das nationale Epos der Japaner bezeichnen könnte; Terakoya (Die Dorfschule) von Takeda Izumo ist das japanische Drama der Vasallentreue. Der Sohn des vertriebenen rechtmäßigen Fürsten soll auf Befehl des Gewalthabers getötet werden; seine Häscher haben Auftrag, den Kleinen, den der Lehrer als sein eigenes Kind ausgegeben, von der Schulbank weg zu holen. Der Kanzler des früheren Herrschers, der das königliche Kind am besten kennt, soll bestätigen, daß kein Betrug verübt werde. Kurz vorher hat er dem Schulmeister den eigenen Sohn ins Haus gesandt, um ihm die Rettung des Prinzen zu ermöglichen. Der Lehrer versteht den Wink und tötet den Sprößling des Kanzlers. Dieser reicht, ohne mit der Wimper zu zucken, dem rohen Soldaten den Kopf seines eigenen Sohnes hin, den er heroisch als den richtigen anerkennt. Die Vertauschung ist gelungen. Die Krieger ziehen mit der falschen Beute ab; die wehklagenden Eltern dürfen den Leichnam ihres Liebsten bestatten und beugen an der Bahre ihres Kindes vor dem geretteten Fürstensproß das Knie. Diesen grausamen Stoff glaubte Wolfgang v. Gersdorff durch die poetische Allerweltsform des fünffüßigen Jambus deutschem Empfinden näher zu bringen, und die Kammerspiele, als dramatische Schatzkammer der Weltliteratur, ließen es sich angelegen sein, dem mehr östlichen als köstlichen Juwel eine würdige Fassung zu geben. – Es scheint, als spiele das Motiv der Vasallentreue in der japanischen Literatur eine ähnliche Rolle wie in der spanischen. Für uns ist sie in dieser übertrieben zugespitzten, spitzfindigen Form ein leerer Wahn, ein verblaßter, ja verhaßter Begriff geworden. Sollen wir die Treue so schätzen, wie es uns hier zugemutet wird, so müssen wir wenigstens überzeugt sein, daß der, welcher ihrer teilhaftig wird, sie auch verdient. Sie gilt einem Landesvater; aber woher wissen wir, daß es kein Rabenvater war? Sie gilt dem rechtmäßigen Fürsten; aber woher wissen wir, daß dieser Fürst kein Wüterich oder kein Schwachsinniger war? Vielleicht war der Usurpator nicht nur der Stärkere, sondern auch der Tüchtigere. Schon mancher Räuber einer Krone ist ein besserer Herrscher gewesen als ihr legaler Besitzer. Doch ganz abgesehen von diesem Bedenken – uns gilt ein Vater mehr als ein Landesvater. Was ist uns der rechtmäßige (japanische) Fürst? Hekuba. Ein rechtmäßiger Vater dagegen hat unser Herz, ob er aus Japan oder aus Deutschland stammt. Und dann: Kind bleibt Kind. Warum soll uns das geliebte Kind des Kanzlers weniger sein als das Kind des Herrschers? Wer bürgt uns dafür, daß jenes nicht ein Wohltäter der Menschheit, dieses ein Übeltäter geworden wäre? Opfer bringen ist edel; einer Idee Opfer bringen oder gar das Opfer einer Idee werden, kann aber unter Umständen sehr töricht sein. – Solcher Nationalismus liegt natürlich den von keines Gedankens Blässe angekränkelten Japanern fern, wie uns Japan. Was wir bis jetzt von ihrer Bühne gesehen haben, in den unvergeßlich bildhaften Darstellungen Sada Yaccos, berechtigt eher von japanischen Bühnenkünsten als von einer japanischen Bühnenkunst zu reden. Vorläufig gibt es eine solche nicht, wie mir der Schriftsteller Matsui aus Tokio versicherte. Zweierlei hat uns die schon okzidental zugestutzte Truppe Sada Yaccos, der ‚japanischen Duse’, vorgeführt: das Kindliche, Blumenhafte auf der einen Seite, das Barbarische, Körperliche, Gymnastische auf der andern. Dazwischen ist für das Seelische wenig Raum; und wo es begegnet, zeigt es sich in primären, primitiven Äußerungen. Die Frauen verkörpern das milde, die Männer das wilde Element. Wenn eine Frau stirbt, muß es in Schönheit sein: der süße Mondenschein flutet in ihr Gemach, und die Nachtigall flötet in den Büschen; wenn ein Mann sich den Bauch aufschlitzt, soll am liebsten das Blut spritzen. Ihre Schauspielkunst steckt eben noch völlig in krassestem Naturalismus und hat daher für uns nur Kuriositätsinteresse. In der Malerei dagegen entzückt ihr Farbensinn, die Anmut ihrer Linien und die Sicherheit des Stils. – Daran konnte sich die Aufführung der Kammerspiele halten. Sie blieb dem Geschmack nichts schuldig, so wenig sie dem Gefühl zu geben vermochte. Die Wirkung des Stückes beruht auf einer nervenpeinigenden Theatralik, die dem Schauspieler meist lieber ist als dem Zuschauer. Friedrich Kayßler als treuer Diener seines Herrn schwelgte in ihr mit Virtuosenbravour. Er sang physiognomische Arien und trieb eine Gesichtsgymnastik, die uns mehr das Fürchten lehrte als Mitleid weckte. Der sonst so innerliche Künstler gefällt sich neuerdings in Äußerlichkeiten und leistet das Menschenmögliche an verzerrtem, überladenem Mienenspiel, als ob sich für uns seelische Ergriffenheit auf diese Weise am stärksten ausdrücken ließe. – Um den Abend stilgerecht auszufüllen, hat Herr v. Gersdorff, einer Erzählung Lafcadio Hearns folgend, ‚die Tragödie einer Geisha aus dem Japan dieser Tage’ beigesteuert, die nach dem Namen der Heldin Kimiko heißt. Merkwürdige Geschöpfe, diese japanischen Hetären! Sind sie nun in Wirklichkeit so oder hat die dichterische Phantasie sie bloß auf dieses Piedestal erhoben? Das ganze Japan, wie wir es sehen, soll ja nur Erfindung sein. Madame Butterfly liebt, wenn sie es bezahlt bekommt, und will dann nicht geheiratet sein aus echter Liebe oder aus überspanntem Ehrgefühl, weil sie dem geliebten Manne auf Grund ihrer Vergangenheit kein ebenbürtiges Weib zu werden fürchtet. Der vornehme Liebhaber bittet sie, seine Gattin zu werden; er läßt seine noch vornehmere Mutter kommen, die sich seinen Bitten anschließt; umsonst – die Geisha bleibt in ihrer Gesinnung am allervornehmsten und verzichtet. Ist das eine Tragödie oder eine Marotte? Mir scheint, es hätte genügt, dieses Schicksal durch den Geisha-Walzer [aus der Operette Die Geisha (1896)] von Sidney Jones zu besingen, statt ihm eine wortreiche, mit Weisheit wattierte Tragödie zu widmen.“

Berliner Theater. NZZ, 19. September 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 261.
William Shakespeare, König Lear (Deutsches Theater, 16.09.08). – „Fünf und eine halbe Stunde währte die König Lear-Aufführung des Deutschen Theaters. Es ist natürlich ein Unding. Streichen, Herr Dramaturg, streichen; wozu haben Sie einen Rotstift? Gespannt vermag kein Publikum unserer Zone so lange einer Bühnenhandlung zu folgen, nur abgespannt. Über die Aufnahmefähigkeit einer modernen Hörerschaft habe ich erst vor kurzem hier gesprochen. Drei und eine halbe Stunde ist das Maximum, das der heutige Nervenmensch im geschlossenen Raum erträgt, mit Genuß erträgt, ohne zu ermüden. Trotzdem hielten die Besucher des Deutschen Theaters wacker bis zum Ende aus. Hut ab vor ihrer Erziehung! Man könnte es auch literarischen Snobismus, wir wollen es lieber Achtung vor dem Kunstwerk und seinem Interpreten nennen. König Lear ist vielleicht die kühnste der klassischen Wiederbelebungen, die uns Max Reinhardt im Laufe der Jahre geschenkt. – Es ist kühn, die Dichtung so ungekürzt zu geben. Mag es immerhin rücksichtslos gegen den Zuschauer sein, es ist pietätvoll gegen den Dichter, und die Pietät gegen den Dichter wollen wir nicht schelten. Auf diese Weise kommt die Parallelhandlung der Gloster-Söhne neben den Lear-Töchtern zu ihrem vollen Rechte. Erst jetzt begreift man, was Shakespeare mit ihr bezweckt hat, wird zum Zeugen seiner Genialität, wenn er ganz zuletzt die Fäden ineinanderschlingt derart, daß die beiden entmenschten Weiber sich um den Bastard Edmund reißen. Auch von Edgars rührender Liebe zum Vater geht kein Zug verloren. Die modernem Empfinden peinliche Szene, da er den blinden Vater von der hohen Klippe herabspringen läßt, wird nicht geopfert. – Es ist kühn, wiewohl im Grunde selbstverständlich, das Barbarische dieser Tragödie zu betonen, nicht bloß äußerlich im Kostüm. Nur das barbarische Zeitalter erklärt das grausame, am meisten Äschyleische Werk von Shakespeares sämtlichen Dramen. Prinzipiell durfte daher auch die Blendungsszene nicht fehlen, die sogar die Greuel der antiken Bühne übertrifft. Oedipus sticht sich selber die Augen aus; dem alten Gloster tritt ein Scheusal mit dem Absatz auf die Augen. Oedipus ist graues, rauhes Altertum; Shakespeare ist für uns fast zeitlos. Ich hielte es für kein Verbrechen, uns diesen gräßlichen Vorgang zu ersparen. – So vollständig Reinhardt Shakespeare gibt, so einfach gibt er ihn jetzt. Er nähert sich der Shakespeare-Bühne. Die Dekorationen sind auf das Notwendigste beschränkt. Ein Vorhang im Hintergrund ist alles, was er braucht, ob er nun einen Thronsaal oder ein Lagerzelt darzustellen hat. Er lädt – jetzt mehr als früher – die Phantasie des Zuschauers zur Mitarbeit ein. Daneben versagt er es sich freilich nicht, von Prof. Carl Czeschka die sturmgepeitschte Heide oder ein Schlachtfeld malen zu lassen und die Farben mit einer Delikatesse abzustimmen, um die ihn mancher Künstler beneiden dürfte. – Wenn diesem bedeutenden Regisseur nur ebenso bedeutende Schauspieler und vor allem bessere Sprecher zur Verfügung stünden! Auf der ganzen Welt gibt es wohl nur noch eine Bühne, die das Deutsche Theater an Verwahrlosung der Sprache überbietet: das Lessing-Theater. Man hörte im alten Britannien ein Deutsch mit italienischen, mit ungarischen, mit galizischen Anklängen; man hörte vielfach überhaupt nichts, und wenn man hörte, verstand man nichts. Die Zustände sind so trostlos geworden, daß man einen Herkules herbeisehnt, der diesen linguistischen Augiasstall endlich säubert. – Das Schlimmste aber: diese Lear-Aufführung hatte keinen König Lear. Friedrich [Theodor] Vischer fordert in seinen Shakespeare-Vorträgen: ‚Den König Lear sollte nur ein Schauspieler von imposanter Gestalt und wuchtigem Wesen geben.’ [Bd. 3 (1901), S. 348]. Er hätte getrost sagen dürfen: Kann nur ein solcher Schauspieler geben, sofern die Erscheinung der Persönlichkeit entsprechen soll. Gerade in diesem Punkte sind wir sehr anspruchsvoll geworden: wir verlangen, daß der Darsteller in erster Linie eine Rolle vorstelle, daß er ihre äußeren Bedingungen erfülle, wenn er ihren geistigen Gehalt ausschöpfen will. Gestalt und Gehalt müssen sich eben decken. Rudolf Schildkraut ist körperlich gewiß kein Lear. Während er neulich [am 09.09.08] in Heyermans’ Kettengliedern einen bürgerlichen Lear von tragischer Größe schuf, blieb er den königlichen Lear Shakespeares durchaus schuldig. Das war nicht ‚jeder Zoll ein König’ [IV, vi. 107] (wohlweislich verhallten die Worte fast ungehört), sondern er durfte mit Recht von sich sagen: ‚Ich bin ein alter, kind’scher Mann.’ [IV, vii. 60] Immerhin gelang es diesem kleinen, gedrungenen Männchen, uns in der schwierigen Abdankungsszene durch die Wucht seines Wesens den Wuchs seines Leibes vergessen zu lassen. Aber später, im Sturm auf der Heide und an Cordeliens Leiche, kann man einfach nicht von der Majestät abstrahieren. Demgemäß machte er aus der Not eine Tugend, als er das Pathologische und Senile in Lears Wahnsinn so stark herausarbeitete. Dem heutigen Geschlecht lebt wohl nur noch ein König Lear: Adalbert Matkowsky; und dieser eine wird ihn leider nie unter Max Reinhardts Leitung spielen.“

Berliner Theater. NZZ, 22. September 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 264.
Honoré de Balzac, Mercadet (Berliner Theater, 19.09.08). – „Vorläufig das Beste am Berliner Theater der Herren Bernauer und Meinhard ist – der Zettel. Endlich ein anständiger, geschmackvoller Theaterzettel ohne aufdringliche Reklamen, in handlichem Format, mit lesbarer Schrift. Anständig und solid. Das scheint auch die Signatur des neuen Unternehmens werden zu sollen. Im bürgerlichen Leben sind das gewiß Tugenden von unschätzbarem Wert; aber ob man damit in der Kunst das Rennen macht, ist eine andere Frage. Es sieht nicht so aus, als ob sich der Ehrgeiz der jungen Direktoren so hoch verstiegen, und es sieht nicht so aus, als ob sie dazu Chance hätten. Einstweilen haben sie nur den Geist Bonns, der der Geist des Jahrmarkts und des Markts der Eitelkeit war, mit Erfolg ausgetrieben und den Geist der Charlottenstraße, Berlin S. W. hereingelassen. Schon riecht es (Verzeihung!) nach Familienpublikum. Die Kunst dem Volk! ist eine herrliche Utopie, die Kunst dem Familienpublikum! eine Blasphemie, dafür aber ein glänzendes Geschäft. – Nicht einmal in Berlin S. W. war es bisher Sitte (höchstens in der Nähe des Gesundbrunnens oder bei einem Schmierenzirkus), drei Eröffnungsvorstellungen anzuzeigen. Nun ja, aller guten Dinge sind drei, aber man sollte dem Urteil nicht so vorgreifen. Zuerst gab es eine Aufführung von Freytags Journalisten, die anständig gewesen sein soll. Es folgte eine Aufführung von Grillparzers selten gespieltem Märchen Der Traum ein Leben, die sehr mäßig gewesen sein soll. Den Beschluß bildete Balzacs Komödie Mercadet, deren Aufführung man mittelmäßig nennen darf. Das Werk hat mich trotz dem illustren Vater redlich gelangweilt: ich finde Geldgeschäfte, so aufregend sie im Leben sein mögen, auf der Bühne fad, nur fad, nichts weiter. Der skrupellose Geldmensch flößt mir im Leben gemischte Gefühle, aus Zweifel und Bewunderung gemischte Gefühle, ein; auf der Bühne interessiert er mich nicht, wenn er nur als Possenfigur hingestellt ist. Ich will den tragischen Untergrund sehen, auf dem sich eine solche Gestalt erheben muß, die kleinen Anfänge, aus denen sie sich mit einer unheimlichen Willensmacht emporgearbeitet hat, die Abgründe, die sich stets aufs neue vor ihr auftun, die beständige Unruhe, von der sie geplagt und gejagt wird, den verzehrenden Dämon, der mit Glücksgütern gesegnete Menschen in der Regel zu Unglücklichen werden läßt, auf denen ein Fluch lastet. Ich will die verbrecherische Silhouette, das Hochstaplerhafte, den Zwang der Natur sehen, aber nicht einen lustspielmäßigen Schwindler in tausend Nöten. Darum ist mir Wedekinds Marquis von Keith unendlich mehr als Balzacs Mercadet, ist mir noch Mirbeaus Isidore Lechat (Les affaires sont les affaires) viel mehr. Der große Balzac, vielleicht gehemmt durch die ihm ungewohnte Form des Bühnenstücks, gibt nur die Komik des Schwindlers, der aus einer Verlegenheit in die andere torkelt und aus allen durch seine Unverschämtheit herausfindet. Er zeigt die Kreuz- und Quersprünge des phantasiereichen Gauners, aber nichts vom Wesen des gaunerischen Phantasten. Sein Mercadet betrügt und wird betrogen, betrügt seine Gläubiger und wird von einem verschuldeten Baron betrogen; er müßte, um mehr als ein Faiseur am Drahte seines Faiseurs zu sein, sich selbst betrügen um alles das, was den Reiz des Lebens ausmacht. Lechat bei Mirbeau tut es, und Mirbeau ist so viel kleiner als Balzac, wie er uns als Zeitgenosse näher steht und daher stärker an dem Nerv unseres Wesens rührt. Mirbeau hat außerdem Theaterblut, während Balzac die Breite des Romans brauchte, wenn er in seinem Element sein wollte. Er hat nicht die geringste Anstrengung gemacht, seinen Inhalt in eine selbständige Form zu gießen, sondern übernahm einfach die Charakterkomödie Molièrescher Prägung. – Im Berliner Theater spielte man nicht einmal Molière, eher einen soliden deutschen Familienschwank. Albert Heine, aus München zurückgekommen, verstand es, das Börsengenie um alle Naivität zu bringen. Ein solcher Kerl darf doch nicht nur raffiniert erscheinen, wenn ihm die Gimpel auf den Leim kriechen sollen, er muß etwas Vertrauenerweckendes, eine geheime Magie haben, damit ihm die Opfer so leicht in die Schlinge gehen. Das Genie, einerlei in welchem Fache, ist immer liebenswürdig; nur dadurch erklärt sich seine Macht über die Menschen; ein gerissener Halunke, wie ihn Heine darstellte, stößt ab, weckt zum mindesten Mißtrauen. Mit mangelnder Sprachtechnik gab der Schauspieler dem Napoleon der Börse die Allüren Alexanders – Richard Alexanders, wohlgemerkt [des Schauspielers und Theaterdirektors (1852-1923)]. Die Liebenswürdigkeit, die ihm völlig fehlte, besaß Arnold Korff, aus Wien angekommen. Der eleganteste Bonvivant, den die deutsche Bühne zurzeit hat, schenkte seinem Baron Maske und Haltung eines Beau Brummel. Ob man aber mit diesem einen Künstler auf die Dauer ausreichen wird, ist eine Frage, die sich die Herren Bernauer und Meinhard recht bald und recht gründlich überlegen sollten. Selbst ein Familienpublikum könnte anspruchsvoller sein.“

Berliner Theater. NZZ, 29. September 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 271.
Clyde Fitch, Wahrheit [The Truth] (Neues Theater, 24.09.08). – „Wie zwischen weiß und schwarz die ganze Skala der grauen Farbtöne liegt, gibt es eine Reihe von Zwischenstufen zwischen Wahrheit und Lüge: das Flunkern, das Schwindeln, das phantastische Ausschmücken, die Hyperbel, die Paradoxie – unschuldige Formen der Übertreibung, die bei Naturmenschen, bei Kindern und Frauen zu Hause [sind], bei allen, denen die Phantasie noch nicht verkümmert ist, und die mit den herrschenden Moralbegriffen kaum etwas zu tun haben. Die Lüge ist nicht immer schwarz, so wenig wie die Wahrheit immer weiß ist; man kann aus edlen Motiven lügen, aus unedlen die Wahrheit sagen. Man kann sogar einen Meineid leisten, dafür ins Zuchthaus wandern und ist berechtigt, sich auf Grund der herrschenden Moralbegriffe für einen Helden zu halten; ja, die Gesellschaft verlangt von dem Manne in gewissen Fällen einen Meineid (Ehescheidungsprozeß), ganz so wie sie die vorsätzliche Tötung von ihm verlangt (Duell). Unser Moralkodex deckt sich eben nicht mit den ungeschriebenen Satzungen der Sittlichkeit. Er läßt das Motiv der Lüge wohl als strafmildernden Umstand, aber nicht als entscheidendes Moment gelten. Für den Psychologen ist er kaum differenzierter als das Sprichwort, das behauptet: ‚Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht’. – Frau Becky Warder in des Amerikaners Clyde Fitch Lustspiel Wahrheit, das Frau Berta Pogson (von etlichen Dutzend schwerfälliger Futura abgesehen) geschickt ins Deutsche übertragen und das dem Neuen Theater endlich einen ehrlichen Erfolg eingetragen –, Mrs. Becky Warder lügt wie gedruckt, wie die Zeitung, die abends berichtigen muß, was sie morgens berichtet hat; auch der Zeitung ähnlich, daß sie eigentlich nicht lügen will, aber oft nicht anders kann. Mrs. Becky Warder lügt, so patriotisch ist sie, wie eine amerikanische Zeitung, wie ein vom Skandal und der Sensation lebendes Blatt der gelben Presse, das auf einer seiner Riesenspalten einen ganzen Schubkarren voll Lügen ablädt, das aus Geschäftsinteresse lügt, derart, daß eine Lüge der andern auf die Hacken tritt, oder eigentlich nicht lügt, sondern dem Leser Bären aufbindet, Ereignisse erfindet oder dichterisch ausschmückt, weil ein naives Publikum daran Gefallen hat. Mrs. Becky Warder lügt wie ihre große Namensbase Becky Sharp bei Thackeray, weil ihr das Lügen zur zweiten Natur geworden, lügt mit einer Virtuosität wie Alphonse Daudets ‚Menteuse’ [Marie Deloche in La Menteuse (Die Lügnerin) (1892)] und hat das Pech, daß ihr Mann, dessen Mißtrauen geweckt ist, ihr gerade das einemal nicht glaubt, wo sie die Wahrheit spricht. Sie hat nämlich die Rolle der Vermittlerin in dem Ehezwist eines befreundeten Paares übernommen und dabei einen regelrechten Flirt mit dem Gatten der eifersüchtigen Dame eröffnet. Da sie alles, was sie tut, gründlich besorgt, flirtet sie mit der ganzen Selbstgefälligkeit und Selbstverständlichkeit der Amerikanerin, aber auch mit dem sichern Gefühl für die Grenzen, die diesem reizvollen Spiele der Oberfläche gezogen sind. In dem Augenblick, wo sich der Günstling Freiheiten erlaubt, gibt sie ihm energisch den Laufpaß. Aus Liebe zu ihrem Mann. Er glaubt ihr jedoch nicht mehr, weil er sie in der letzten Zeit zu oft auf Schlichen und Ausflüchten ertappt hat, und verläßt sie zur selben Stunde. – Die beiden ersten Akte sind Clyde Fitch ausgezeichnet geraten. Das ist mehr als Lustspiel: gute Komödie. Besser als alles, was wir an modernen Gesellschaftskomödien hervorgebracht, vor allem bedeutender in seiner typischen, kulturellen Geltung. Becky in ihrer Leichtlebigkeit, in ihrem Hang zum Lügen, in ihrer Genußsucht und in ihrer echten Liebe ist absolut typisch für die amerikanische Frau der oberen Stände, typisch und dabei doch ein Individuum. Nicht minder ist es ihr Mann, rechtschaffen, vertrauensvoll, ritterlich wie der wohlerzogene Angelsachse in seinem Verhalten gegen die Gattin, auch darin noch Angelsachse, daß er sie wie ein Spielzeug behandelt, wie ein Kind verwöhnt. Solche Ehen sind musterhaft, solange alles gut geht; wehe, wenn sich der Wind dreht, wenn das Leben solche Schmetterlingsmenschen rauh anpackt! – Leider ist die Handlung des bis dahin einwandfrei gebauten Werkes mit dem Ende des zweiten Aktes erschöpft. Es bleiben noch zwei weitere Aufzüge und im Grunde nur eine einzige Szene: die Wiedervereinigung der Gatten. Sie wird auf eine etwas äußerliche Art zustande gebracht: der Vater der Verlassenen, bei dem sie Zuflucht gesucht, schickt seinem Schwiegersohn ein Telegramm, daß Becky im Sterben liege; er eilt herbei, aber sie will ihn nicht durch eine Lüge gewinnen, wirft die Decken weg, gesteht die Wahrheit und – in den Armen liegen sich beide. Es hätte sich gewiß ohne allzu große Mühe eine innerere Art finden lassen. Schlimmer ist, daß die zweite Hälfte der Komödie durchaus ins Volksstücksmäßige umschlägt. Wenn der Stilunterschied nicht ganz so empfunden wurde, lag es daran, daß unser Publikum das amerikanische Volksstück zu wenig kennt, doch auch an der Bühnenroutine Clyde Fitchs, der zwei derbere Figuren mit wirksamer Komik auf die Beine stellt. Sie sind drüben für die Galerie berechnet; das hindert freilich nicht, daß das Parkett bei uns sie erheiternd findet. Im ganzen darf man über einen anregenden Abend quittieren, und man freut sich der Bekanntschaft eines Amerikaners, der dem Theater willig gibt, was des Theaters ist, ohne in die triste Hohlheit unserer Lustspielfabrikanten zu verfallen, und ihnen an technischem Geschick weit überlegen ist. – Dem Neuen Theater ist sein Erfolg zu gönnen. Es besaß in Frl. Meta Jäger eine Darstellerin, die ohne alle Virtuosität, nur durch die Anmut ihres Wesens den Charakter der Lügnerin glaubhaft zu machen wußte. Eine blendendere Schauspielerin hätte vielleicht kunstvoller gelogen, aber die Naivität der Natur hätte nicht wahrer erscheinen können.“

Berliner Theater. NZZ, 30. September 1908, Drittes Abendblatt, Nr. 272.
Henrik Ibsen, Gespenster (Lessing-Theater, 26.09.08). – „Gestern, an einem strahlenden Herbstmorgen, fuhr man hinaus in den Grunewald, sich von der Sonne, die nun bald Abschied nimmt, noch einmal segnen zu lassen. Stundenlang schweift man umher, ziellos scheinbar und unbesorgt wie ein Schmetterling, findet die Welt ‚vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual’ [Schiller, Die Braut von Messina (IV, vii. [Chor])], und kehrt am Nachmittag friedlich heiter zurück. Unterwegs, in der elektrischen Bahn, hört man die erste dumpfe Kunde von einem fürchterlichen Unglück, das geschehen. Verhärtete Männer der Arbeit, die täglich der Gefahr ins Auge schauen, können, als sie davon erzählen, ihre Rührung kaum verbergen; sie würgen an den Worten, als scheuten sie sich, das Gräßliche zu enthüllen … Man nähert sich dem Staub der Großstadt – auf den Straßen stehen heftig gestikulierende Menschen – Fremde reden sich an, so verbrüdert das Unglück – Teilnahme prägt sich auf allen Gesichtern aus. Extrablätter erscheinen; sie werden mit einer Gier weggerissen, wie Brot zu Zeiten einer Hungersnot. Die Abendzeitungen, sehnsüchtig erwartet, sind im Nu aufgekauft. Selten hat Berlin ein solches Unglück erlebt; selten hat man in Berlin die tiefe Erschütterung, die sich der ganzen Bevölkerung bemächtigte, so miterlebt. – In dieser Stimmung geht man ins Lessing-Theater, um Ibsens Gespenster zu sehen. Kein Mensch scheint zuerst gewillt, sich da oben etwas vormachen zu lassen; so sehr steht jeder noch unter dem grausigen Eindruck der Wirklichkeit. Das Leben ist der gefährlichste Feind der Kunst. Eine Katastrophe, wie sie sich vor wenigen Stunden ereignet, hätte für viele Schauspiele und für viele Schauspieler eine Katastrophe werden können. Ibsens Familiendrama mit der Unerbittlichkeit des Alten Testaments zwang jedoch die Hörer bald in seinen Bann. Hier sprachen nicht gewöhnliche Mimen, sondern geweihte Künstler, Menschendarsteller, Leidkünder. Wer die gramdurchfurchten Züge dieser Frau Alving (Else Lehmann) sah, brauchte sich nicht zu schämen, daß er im Theater saß. Wer in das verklärte Antlitz dieses unendlich gütigen Pastor Manders (Oskar Sauer) blickte, fühlte sich fast andächtig gestimmt. Das Theater war vergessen. Menschenleid rührte an unsere Seelen. Nach einer Weile begann die Kunst über das Leben zu triumphieren. Eine Dichtung von schauriger Größe behauptete ihr Recht. – Als wir das Werk zuletzt sahen, in den Kammerspielen [am 08.11.06], war es für uns die Tragödie der Mutterliebe. Agnes Sorma, die holdeste mater dolorosa, hatte das durch den Zauber ihrer Person gewirkt [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 23.11.06, Zweites Abendblatt]. Jetzt, im Lessing-Theater, war es eine Elegie: die Elegie von Helene Alving und dem Pastor Manders, die sich nicht verbinden konnten, weil es ihnen im entscheidenden Augenblick an der Kraft des seelischen Widerstandes gebrach. Der Wehschrei Ella Bentheims (in dem spätern Gedicht von John Gabriel Borkman): ‚Die große, unverzeihliche Sünde, das ist die Sünde, die man begeht, wenn man das Liebesleben mordet in einem Menschen’ – dieser Wehschrei gellte unausgesprochen auch hier zum Himmel. Daneben rückte die pathologische Tragödie Oswalds in den Hintergrund, obwohl Albert Bassermann der Gestalt des Sohnes die höchste künstlerische Diskretion gab und den (medizinisch unmöglichen) Schluß mit der Virtuosität eines [Ermete] Zacconi [italienischer Bühnenstar (1857-1948), der mit eigener Truppe die Welt bereiste] versinnlichte. – Es war der Kunst gelungen, über das Leben zu triumphieren. – Und als wir nachher in das Lichtermeer der Großstadt gelangten, da flutete dieselbe Menge wie sonst, da kreischte, vielleicht um einen Grad gedämpft, dieselbe Lebensfreude wie sonst. Was war denn geschehen? Zwanzig armselige Menschenkinder waren zerquetscht worden. Berlin zählt aber zwei Millionen Einwohner. Zwanzig Menschen weniger. Zwanzig Familien durch einen blöden Zufall unglücklich. Wer hat in der Großstadt Zeit, an fremdes Unglück zu denken? Jeden von uns hätte es treffen können. Aber wen es trifft, den trifft es, ihn allein. Zwanzig Menschen weniger – das ist alles.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Oktober 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 278.
25 Jahre Deutsches Theater Berlin; Schiller, Kabale und Liebe (Deutsches Theater, 29.09.08). – „Jubiläum im Deutschen Theater; die fünfundzwanzigste Wiederkehr seines Geburtstages. Gratulamur. Mittags eine Trauerfeier für Adolf L’Arronge, den Begründer [gest. 25.05.08]; abends eine Festvorstellung von Kabale und Liebe. Mit diesem Werke hat L’Arronge am 29. September 1883 begonnen, Otto Brahm [am 01.09.]1894 seine Tätigkeit eingeleitet, Max Reinhardt schon vor vier Jahren [am 22.04.04] am Neuen Theater in starkem und sicherm Wurfe eine seiner glücklichsten Klassiker-Neuschöpfungen gegeben [vgl. MMs Besprechungen im Morgenblatt der NZZ vom 20. und 21.05.04]. – Geburtstage sind Erinnerungstage. Ein Vierteljahrhundert ist abgeschlossen. Da lohnt es sich, den zurückgelegten Weg noch einmal zu betrachten. – 1894 kam ich nach Berlin, als Brahm eben auf den Thron seiner Feder gelangt war. Die erste Aufführung, die ich in dem rauchgeschwärzten Kasten der Schumannstraße erlebte, war Ibsens Nora mit Agnes Sorma im Glorienschein ihrer himmlischen Anmut [Premiere am 03.09.94]. Noch seh’ ich mich sitzen, rechts oben, hoch oben, so weit an der Seite, daß ich mir den Hals ausrenken mußte. Was schadete es! Wenn man jung ist, achtet man der Strapazen nicht. Wer sich den Genuß nicht erkämpft hat, verdient ihn nicht. Auch im Reiche der Kunst dürfen einem die gebratenen Tauben nicht in den Mund fliegen. Das Stück beglückte mich; die Darstellung entzückte mich, die Sorma berückte mich. Ein paar Tage später durfte ich die zweite Vorstellung von Gerhart Hauptmanns Weber (leider nicht die denkwürdige Premiere [am 25.09.94]) mit erleben. Es war ein Erlebnis; ein Erbebnis sozusagen. Mein jugendliches Gemüt bäumte sich gegen die Kraßheiten der Dichtung auf; mein jugendlicher Verstand, an die Laßheiten des Herkömmlichen gewöhnt, machte alle Schulbegriffe von Poetik dagegen mobil. Das war mehr, als ich dulden wollte: eine unerhörte Spiegelung der Wirklichkeit. Und eine unerhörte Darstellung ersparte uns nichts von dem gellenden Weh dieser Wirklichkeit. Noch sehe ich Kainz vor mir als roten Bäcker, die Gestalt allein schon eine Aufreizung zum Widerstand; noch höre ich Rittner das Weberlied mit der Unerbittlichkeit einer Drommete vom jüngsten Gericht hinausschmettern. – Seitdem habe ich kaum eine Premiere von Bedeutung in Berlin versäumt, und die bedeutendsten spielten sich im Deutschen Theater ab. Wie hat man stundenlang geduldig in der Winterkälte an der Kasse ausgeharrt, um sich einen Platz zu erobern! Wie hat man weder Mühe noch pekuniäres Opfer gescheut, um dabei sein zu können! Aber man hat den Enthusiasmus mitgebracht, und der allein rechtfertigt die Beschäftigung mit dem Theater, welches doch nur ein winziger Ausschnitt des Lebens ist. Aber dafür hat man auch ein Stück Zeitgeschichte mitgemacht. Auch wir haben Schlachten miterlebt. Regelrechte Schlachten gab es bisweilen, und manchmal wars ein Schlachten, nicht eine Schlacht zu nennen [Schiller, Die Jungfrau von Orleans, I, ix]. Oben auf der Galerie stand die Jugend und kämpfte ungestüm für die neuen Dichter; oben klatschte man sich die Hände, unten zischten sie sich die Lippen wund. Es war eine Lust, dabei zu sein. Als der Schäferhans im letzten Akt des Florian Geyer die Bauern peitschen wollte [Uraufführung 04.01.96], erhob das Parkett entrüsteten Protest. Und dann der unvergeßliche Abend [02.12.96], an dem die Versunkene Glocke zum erstenmal auf den Bergen und in den Tälern widerklang! Ein Jubel ohnegleichen durchbrauste das Haus: die Damen in den Logen wehten mit den Taschentüchern, und der hohe Olymp drohte herabzudonnern. – So viel Liebe und Sorgfalt man auf die moderne Produktion verwandte, so stiefmütterlich wurden allmählich die Klassiker-Aufführungen im Deutschen Theater bedacht. Aber so lange noch Kainz und die Sorma auf der Bühne standen, trugen sie die Dichtung zum Siege. Neben ihnen klammerte sich ein andres Künstlerpaar mit ehernen Haken an unser Herz: Rittner und Else Lehmann. Ihr volles Menschentum lieh weniger vollen Werken gesteigerte Bedeutung. Und immer dünner wurden mit der Zeit die naturalistischen Stücke strenger Observanz, immer einseitiger. Die Richtung, von der der Kunst alles Heil kommen sollte, hatte sich schnell überlebt, aber Brahm hing mit zäher Festigkeit an ihr. Er hatte sein halbes Dutzend Hausdichter, die mußten ihm den Bedarf decken. Was sie taten, war wohlgetan. Nach neuen Männern hielt er fürder nicht Ausschau, die Klassiker existierten für ihn nicht mehr. Die Signatur seiner Bühne war die Erstarrung; das Schauspiel, das ihr Leiter bot, hieß: Wenn wir Lebenden absterben [Anspielung an Ibsens Wenn wir Toten erwachen (1900)]. – Nun ging es reißend bergab. Der Wagen rollte jäh in die Tiefe. Wer sich retten konnte, sprang beherzt herunter. Kainz siedelte nach Wien über, die Sorma flatterte als Zugvogel davon. Einer nach dem andern verließ das sinkende Schiff. Unter den Mißvergnügten war auch der ausgezeichnete Episodenspieler Max Reinhardt. Um ihn scharten sich die Abgefallenen. – Noch ist in aller Erinnerung, wie er mit parodistischen Künstlerabenden anfing; wie daraus Schall und Rauch hervorging; wie er das Kleine Theater begründete, das Neue übernahm und – eine beispiellose Laufbahn – am 19. Oktober 1905 ins Deutsche Theater einzog, wo Paul Lindau, der Winterkönig, ein kurzes, aber tatenloses Interregnum geführt hatte. Drei Jahre ist Reinhardt jetzt am Ruder. Sie haben ihm genügt, den Klassikern ein Publikum zu verschaffen, wie sie es nicht einmal unter L’Arronge besessen haben. Eine Shakespeare-Premiere bei Reinhardt hat jetzt die Bedeutung, die früher eine Hauptmann-Premiere unter Brahm hatte. Vielleicht sind die Modernen am Deutschen Theater ein wenig zu kurz gekommen; um so williger werden ihnen, wenn sie über eine eigene Melodie verfügen, die benachbarten Kammerspiele geöffnet. Ihr Dasein ist nicht Reinhardts kleinstes Verdienst. – Von Heinrich Laube stammt, täusche ich mich nicht, der Ausspruch, man solle keinen Theaterdirektor länger als sechs Jahre im Amte lassen. [Bezugspunkt nicht ermittelt. (In MMs Theaterkritiken vom 04.04.12 bzw. 18.09.30 heißt es, Laube habe als maximale Amtszeit zehn bzw. sieben Jahre genannt.) Möglicherweise liegt auch eine Verwechslung Heinrich Laubes mit Siegfried Jacobsohn vor, in dessen Buch Das Theater der Reichshauptstadt – von MM in der NZZ am 16.10.1904 rezensiert – sich die Anmerkung findet: „Ein alter Praktikus hat einmal gesagt: ‚Man muß keinen Theaterdirektor länger als sechs Jahre im Amte lassen. Denn nach sechs Jahren ist seine Originalität und Produktionskraft erschöpft; er kopiert sich selbst und beeinträchtigt die Entwicklung des Instituts, welches frische Säfte vonnöten hat.‘“ (S. 123)]. Brahm hat ihn schon widerlegt, Reinhardt wird ihn hoffentlich widerlegen. Das wollen wir wünschen, nachdem er zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Deutschen Theaters uns eine hinreißende Aufführung von Kabale und Liebe geschenkt. Der Titel der Schillerschen Jugendtragödie werde ihm zum Wahlspruch: er spotte der Kabalen, die keinem erspart bleiben, und erhalte sich seine Liebe zur Sache, die ihm in Zukunft noch reichere Früchte als bisher eintragen möge.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Oktober 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 282.
Àngel Guimerà, Feudalismo (Gastspiel-Theater [früher Wolzogen-Theater], 03.10.08). – „Ein spanisches Stück, von einer sizilianischen Truppe dargestellt, in der Köpenickerstraße, wo Berlin ein bißchen sizilianisch ist, im Gastspiel-Theater, wo einst Ernst von Wolzogen seinen Überbrettstraum träumte und seitdem jedes Unternehmen am Unterbettel scheiterte. – Das Stück Feudalismo (sehr spanisch!) von Angelo Guimerà ist weiteren Kreisen in der Bearbeitung Rudolf Lothars als Libretto der d’Albertschen Oper Tiefland bekannt geworden. Herr Lothar, ein literarischer Jack of all trades, weckt sonst leicht Mißtrauen, aber in diesem Falle verdienen sein dramatischer Scharfblick und seine Witterung für das musikalisch Wirksame entschiedene Anerkennung. Er hat doch den packendsten Operntext seit der Cavalleria gemacht, und zwar mit unleugbarem Geschick gemacht. Hat den rohen Stoff komprimiert, den Gegensatz zwischen dem verderbten Tiefland und dem reinen Gebirge erst hineingearbeitet und ihn damit aus dem Tiefland des krassen Naturalismus in eine höhere Luftschicht erhoben. – Den Sizilianern wäre damit schwerlich gedient. Sie stehen noch auf der untersten Stufe des Naturalismus. In Paris und London, von wo ihnen ein fabelhafter Ruf vorausgeeilt war, haben sie die leicht entzündbare Bevölkerung einfach zum Explodieren gebracht. Im kritischen Berlin war man – feuchter. Nicht alle Bomben, die sie in den Zuschauerraum schmissen, wollten platzen. Diese Sizilianer hatten für uns den gleichen exotischen Reiz wie die Schaustellung einer wilden Völkerschaft im Zoologischen Garten; ihre Schauspielerei ist Schau und Spielerei. Sie interessierten wie die Japaner oder die Schlierseer als ethnologisches Objekt, aber nicht wie die Russen durch ihre Kunst. Nun hat die Natur diese Süditaliener mit einem so überschäumenden Temperament, einem so beredten Mienenspiel und so lebhaften Gesten bedacht, daß die einfachsten Äußerungen ihres Wesens der im Grunde auf solchen Entladungen beruhenden Schauspielkunst verwandt erscheinen, und ihre Bewegungen haben eine dem Bewohner nördlicher Himmelsstriche unbekannte Selbstverständlichkeit, ja Unverschämtheit, daß wir sie als pittoresk empfinden. So ein ungeschlachter Kerl aus dem Volke braucht sich nur zu rekeln, und wir sehen Anmut darin; so ein plebejisches Weib braucht nur zu keifen, und es gilt uns als Humor. Ihre Natur sind wir geneigt für gute Kunst zu nehmen, ihre Kunst dagegen mutet uns vielfach wie schlechte Natur an. So lange es bei der Natur blieb, im ersten Akt mit seinem volkstümlichen Einschlag, da gingen wir blind mit; als die Protagonisten aber dann im weiteren Verlaufe des Spiels seelische Regungen zu äußern hatten, da wurden wir sehend. Und sahen, daß diesen Herrschaften doch noch verschiedenes fehlt, was erst den Künstler ausmacht. – Am meisten fehlt dem weiblichen Star – nein, das wäre zu prätentiös, also sagen wir: der prima donna Maria Bragaglia. Dafür entschädigt sie allerdings durch das, was sie dem Auge bietet: sie ist schön, diese prima donna, wie eine Madonna. Sie ist wunderschön, so lange sie nicht zu agieren hat; fängt sie damit an, so reagieren wir nicht mehr. Sie sollte einmal Else Lehmann weinen sehen! Schließlich gibt es immer noch mehr bildschöne Frauen als bedeutende Künstlerinnen. – Das Haupt der Truppe, der sizilianische Ferdinand Bonn, mit dem er eine auffallende Ähnlichkeit besitzt, ist Giovanni Grasso. Er hat einen unschuldigen Hirten darzustellen, einen reinen Toren, der nicht ahnt, wie viel Schlechtigkeit es auf dieser besten aller Welten gibt. Sollen wir an die Gestalt glauben, so muß er zunächst wie ein Hirt aussehen. In Wirklichkeit sieht er wie ein Fleischerknecht aus, wie einer von den Kraftkerlen, die sich als Amateure zu Preisringkämpfen melden. Der Kopf ist ausdrucksvoll, ohne edel zu sein; damit könnte man als Malermodell sein Glück machen. Aber diese Hände! Sie haben nie ‚der Leier zarte Saiten’ gespannt [Schiller, ‚Die Kraniche des Ibykus’], aber wo sie hinfallen, da wächst kein Gras mehr. Wenn er ein Messer ins Brot stößt, sieht man zur Rechten wie zur Linken einen halben Laib heruntersinken. (Die Engländer müssen vor Begeisterung gebrüllt haben.) Wenn er einen Stuhl packt, droht er aus dem Leim zu gehen. (Die Tischler müssen sich freuen.) Wenn er eine Frau anfaßt, knarren alle ihre Knochen unter seiner Pranke. (Sie behält sicher blaue Flecken zurück.) Ein prachtvoller, von keiner Kultur beleckter Realismus. Ein ungezähmtes, raubtierhaftes Temperament. Aber … er hat einen weichen Hirten zu geben, der viel winselt und weint, und weinen kann Grasso nur wenig besser als seine schöne Partnerin. Er hätte einmal Rudolf Rittner weinen sehen sollen! Der larmoyante Tonfall allein tut es nicht: wir wollen vorher die Zuckungen des Körpers gewahren. Es gibt einen differenzierten Ausdruck des Naturalismus, hinter dessen Geheimnis der Sizilianer noch nicht gekommen ist. – Gleichwohl sagt das Programmbuch, Grasso bringe uns ‚letzte, tiefste Menschheitseindrücke’. Wirklich? Er bringt uns erste, primitivste Menschheitseindrücke, die an der Oberfläche liegen. Eine kraftstrotzende Natur; aber von Kunst, von der bei uns nördlicheren Barbaren geschätzten Kunst der Menschendarstellung kaum eine Spur.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Oktober 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 282.
Somerset Maugham, Lady Frederick (Kleines Theater, 03.10.08). – „Lady Frederick, ein dreiaktiges Lustspiel von W. Somerset Maugham, übersetzt und bearbeitet von J. Schwarz und Rudolf Lothar, brachte es im Kleinen Theater zu einem passablen Erfolg, der dem harmlosen Werkchen gewiß kein so dauerndes Leben verbürgen wird wie in London, wo sein Verfasser augenblicklich der dramatische Held des Tages ist. [Das Stück brachte es am Kleinen Theater zu 31 Aufführungen.] Ein keineswegs uninteressanter Mensch, dieser Mitte der Dreißiger stehende Maugham, Arzt von Beruf, in dessen Wartezimmer es still herging und der selbst im Wartezimmer des Erfolges sich so lange aufhalten mußte, bis er auf das Vorrecht seiner Individualität verzichten lernte, wofür er jetzt durch einen in London noch nicht dagewesenen Zustrom belohnt wird. Vier seiner Stücke beherrschen das Repertoire. Der kleine Arzt, der als Bühnenschriftsteller mit einem in deutscher Sprache geschriebenen Einakter Schiffbrüchig seine erste Operation machte (seltsamerweise ging sie in demselben Raume vor wie Lady Frederick), kann heute längst auf Gummirädern fahren und seine Patienten unentgeltlich behandeln. [Uraufführung von Maughams dramatischem Erstling (von einem Freund ins Deutsche übersetzt) am 03.01.02. Erstveröffentlichung der englischen Fassung (Marriages are Made in Heaven) 1903 in der Zeitschrift The Venture.] Mögen ihm die Götter den Verstand erhalten! – Mich interessiert, offen gestanden, Maugham mehr als Lady Frederick und seine spätere Produktion. Solange er literarischen Ehrgeiz hatte, nahm der Kunstpöbel nicht von ihm Notiz; als er sich aber bequemte, nach seiner Pfeife zu tanzen, ward er gleich ein Rattenfänger. Das alte Lied, das wir alle, wie wir da sind, nicht ändern können. Lady Frederick ist schon die Verbeugung vor dem Publikumsgeschmack. Die Verbeugungen werden immer tiefer, die Honorare immer höher … – Verschuldete Aristokratinnen müssen für die Männer in England das sein, was die Kerze für die Motten. Vier Freier bewerben sich um Lady Fredericks Hand: ein Springinsfeld von zweiundzwanzig Jahren, mit einer Million Rente; sein Onkel, ihr alter Liebhaber, den sie vor ihrer Ehe mit einem Trunkenbold abgewiesen, ohne daß seine Zuneigung dadurch eine Einbuße erlitten hätte; ein Admiral, dem Greise näher als dem Jüngling; und ein Bösewicht, der jüdischer Abstammung sein muß, was die Verruchtheit seines Charakters und seinen Wunsch erklärt, auf der sozialen Leiter emporzusteigen. Dieser wird, dem Grade seiner Zudringlichkeit entsprechend, unsanft abgeschüttelt; der alte Herr zur Raison gebracht; der junge Kiekindiewelt gründlich desillusioniert. Das ist die große Szene der Komödie. Charlie muß die alternde Kokette bei der Arbeit des Herrichtens sehen, um wie ein begossener Pudel mit eingekniffenem Schwanz davonzuschleichen. Sie stürzt ihn aus seinem siebenten Himmel, indem sie sich ihm in natürlichem Zustand, ohne Nachhilfe der kosmetischen Künste, zeigt und vor seinen Augen das mühsame Geschäft der Verjüngung vornimmt. Nachdem so das Feld frei geworden, sinkt sie dem standhaften Liebhaber gerührt an die Brust. – Weder im Guten noch im Schlechten bringt die Komödie irgend etwas Besonderes. Sie unterhält zwei Stunden auf eine bescheiden gefällige Art und nimmt überdies einen stark moralischen Anlauf, der sie fast einem Töchterpensionat empfiehlt. Sie hat Handlung genug, einen größeren Gaumen zu befriedigen. Die Charakteristik bewegt sich in noch nicht allzu ausgefahrenen Bahnen. Der Dialog ist erheiternd, ohne aufreizend witzig zu sein, obwohl er handgreifliche Anleihen bei Wilde nicht verschmäht. Und die Hauptsache: die Schauspieler finden dankbare Rollen vor, mit denen sie nach Herzenslust schalten können. – Die Aufführung des Kleinen Theaters war unverkennbar auf das Londoner Vorbild zugeschnitten und kam ihm so nahe, wie sich das überhaupt in fremdem Rahmen erreichen läßt. Wie Engländer aussehen können freilich deutsche Schauspieler nicht; dafür ziehen sie sich, wenn sie Engländer darzustellen haben, besser an, bemühen sich, den Frack mit Anstand, den Gehrock mit Würde zu tragen, bewegen sich mit lässiger Grandezza, täuschen geschickt britisches Phlegma vor und schenken vor allem der Sprache erhöhte Aufmerksamkeit. Das bei uns so lange ungebührlich vernachlässigte Konversationsstück, dessen sich ein Kulturvolk wahrlich nicht zu schämen braucht, kann davon nur profitieren.“

Berliner Theater. NZZ, 16. Oktober 1908, Drittes Abendblatt, Nr. 288.
Gustav Wied, Erotik / Ein Erinnerungsfest (Berliner Theater, 09.10.08). – „Bei Sudermann steht das Wort, man werde an das Kreuz des Erfolges geschlagen [Verweis nicht ermittelt]. Auch an Gustav Wied scheint es sich bewahrheiten zu wollen. Die feine Abrechnung, mit der wir ihn vor drei Jahren auf der Bühne kennen lernten [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 16.04.05], drang nicht durch, vielleicht weil sie zu fein war und die Melodie ihres Schöpfers noch nicht banal genug klang. Erst mit der derberen, schon verderbten Rechnung 2 x 2 = 5 gewann er das Ohr der Menge und wußte sich so einzuschmeicheln, daß er in den Ruf eines großen Humoristen kam, der von der Höhe seiner gefestigten Weltanschauung aus die Gefühle der kribbelnden Menschheit mit sanftem Spott begieße [vgl. die Besprechung vom 23.02.08]. Nun konnte es nicht ausbleiben, daß man auf ältere Werke des Dänen zurückgriff, die plötzlich in ihrem Marktwert gestiegen waren, und gleich zwei von ihnen werden im Berliner Theater vorgeführt: der satirische Schwank Erotik und der Duolog Ein Erinnerungsfest. Das Publikum war allerdings nicht so erinnerungsfest, daß es im Andenken an die heiteren Stunden, die es seinem Wied verdankte, bei diesen Produkten schwacher Stunden das Gähnen bezwang. – Erotik ist ein recht dürftiger, durch drei Akte auseinandergezerrter Spaß. Ein windiger Antiquitätenhändler bringt zwei Haushälterinnen an ihre zugehörigen Herren und erhält als Provision von der einen einen Schrank, von der andern einen Spiegel. In diesem einzigen Satz steckt der ganze, aber auch wirklich der ganze Inhalt der aufgeblähten Nichtigkeit. Drei Akte, die sich durch einen Satz erschöpfen lassen: da muß das Drum und Dran vor Witz sprühen, wenn der winzige Kern schmackhaft werden soll. Aber Wieds Witz ist zu wahllos, zu ungepflegt und zu selbstgefällig, als daß sich andere dabei ebenso gut unterhalten könnten. Er fabuliert einfach ins Blaue hinein. Er gleicht einem jener Anekdotenerzähler, die, wenn sie einmal aufgezogen sind, ‚sich nimmer erschöpfen und leeren’ [Schiller, ‚Der Taucher’] wollen und sich besser dabei amüsieren als die Zuhörer. Ein Schnurrenerzähler in jedem Zuge, ein Dramatiker in keinem. Auch kein Charakteristiker. Er kontrastiert die beiden Wirtschafterinnen, indem er die eine ein ‚Plättbrett’, die andere kugelrund sein läßt. Er kontrastiert die beiden Bauern, indem er den einen einen Geizkragen sein läßt, den andern – von dem andern erfahren wir überhaupt nichts. Und zwischen diesen beiden Paaren tänzelt ein Trödelfritze, der die Segnungen der Ehe so beredt zu schildern weiß, weil er ihnen bis jetzt erfolgreich widerstanden. Auch er kommt zuletzt unter die Haube und damit sein voreheliches Kind zu einem Vater. Wo in diesem geschwätzigen Polterabendscherz für Cabaretleute die Satire steckt, mag Gustav Wied mit sich ausmachen. Man ist so enttäuscht, wie wenn man einen gefüllten Pfannkuchen kauft und nachher die Füllung nicht finden kann; entweder hat der Bäcker vergessen, sie hineinzutun oder der Pfannkuchen hat so lange gelegen, daß sie eingetrocknet ist. Vielleicht ist es aber auch plumper Schwindel. – Bleibt der Dreiakter also die Satire schuldig, so tischt der (nur mit Hilfe der Drehbühne darstellbare) Einakter in des Wortes ursprünglicher Bedeutung eine lanx satura [eine mit Früchten gefüllte Schale] auf. In dem Erinnerungsfest wird mit allen Schikanen der Neuzeit gegessen. Der Hofjägermeister lädt, als sich der Tag zum erstenmal jährt, an dem er Witwer geworden, zu einem opulenten Schmaus den Kammerherrn ein, der gleichfalls der Verstorbenen nahegestanden. Erst essen sie sich durch ein Diner von x Gängen durch, dann machen sie einen Rundgang durch die Gemächer der Seligen und schwelgen in Erinnerungen an sie – der Mann auf seine plebejische, der Freund auf seine aristokratische Art –, um schließlich über der Havanna einzunicken. Die feinste Würze des umständlichen Mahles liegt darin, daß die intimen Beziehungen des Kammerherrn zur Hofjägermeisterin nur angedeutet, nirgends ausgesprochen werden. Wie die Katze um den heißen Brei, geht der Dichter um den dramatischen Knoten herum. Er begnügt sich damit, die Möglichkeit einer Explosion, nicht die Explosion selbst, zu geben. Irgendein unbedachtes Wort könnte zünden, aber es kommt nicht so weit. Wied wollte scheinbar den Konflikt seiner Abrechnung nicht ein zweitesmal behandeln; er hat ihn übernommen, ohne die Konsequenzen zu ziehen. Auf diese Weise fehlt es dem ‚einen Akt in vier Zimmern’ nicht an Spannung, wohl aber an Steigerung; wir sehen nur andere Interieurs, ohne daß sich die Situation um Haaresbreite verschöbe, und dadurch wirkt die Zimmerpromenade auf die Dauer natürlich ermüdend. Spannung ist das eine Lebenselement des Dramas, Steigerung das wichtigere. Leider stören etliche geschmacklose Einzelheiten, die den Wied-Kenner freilich nicht mehr überraschen. Sie begegnen uns in allen seinen Büchern und erklären vielleicht, warum der Däne so rasch in die Gunst des deutschen Philistertums wachsen konnte. Das Lachen dieses Humoristen hat nichts Reinigendes, nichts Befreiendes, sondern manchmal das Verletzende des unbeteiligten Betrachters. Er hat oft gute Einfälle und eine komische Ader, aber die Komik macht so wenig den Humoristen wie der Vers den Lyriker. Und was seine gerühmte Weltanschauung betrifft, so kann man nur sagen: zum Lachen! Aber er bleibt ein Schalk, der das Possierliche der menschlichen Menagerie mit scharfem Blick erspäht.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Oktober 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 293.
Friedrich Freksa, Ninon de l’Enclos (Hebbel-Theater, 14.10.08). – „Offenbar hat der begabte Anfänger Friedrich Freksa mit seinem Spiel aus dem Barock Ninon de l’Enclos in München einen weit stärkeren Erfolg gehabt [am 30.11.07] als hier am Hebbel-Theater, wo die Hauptdarsteller zu wenig Spiel gaben und die Vertreter der Nebenrollen zu barock sein wollten. Ein Provinzerfolg ist für das Berliner Premierenpublikum eine Aufreizung zum Skeptizismus (während ein Berliner Erfolg das beste Empfehlungsschreiben für die Provinz ist). Aber weder der veränderte Schauplatz noch die vielfach unzureichende Aufführung haben das Gute, das der neue Mann zweifellos mitbringt, wesentlich geschädigt, und die inneren Schwächen des Werkes sind so handgreiflich, daß sie keine Regie der Welt verdecken kann. – Zunächst überrascht Freksa angenehm durch seinen langen Atem. Er verschießt nicht, nach Art der Rekruten, sein Pulver, sobald es losgeht. Es bleibt immerhin auffallend an diesem Anfänger, daß die zweite Hälfte seines Stückes weit wertvoller ist als die erste. Die Technik des Dramas, das von der Steigerung lebt, scheint ihm also nicht mehr ein Buch mit sieben Siegeln. Dann verblüfft er allerdings im vierten Akt durch seine rührende szenische Unbeholfenheit. Vorher haben seine Menschen nur geplaudert; jetzt haben sie etwas zu sagen. Sie hätten etwas zu sagen, denn ihr Herz ist voll; sie rennen aber schämig hinaus, um uns ihre Gefühle vorzuenthalten, und es ist komisch, wie eine zweite Person gleich hinterherläuft, so daß immer die beiden Figuren zurückbleiben, zwischen denen die nächste Szene vor sich geht. Sehr einfach, aber ein bißchen lächerlich. – Des weiteren sucht Freksa einen unterhaltenden Dialog zu schreiben, und das ist ihm auch streckenweise gelungen. Da es sich um ein Spiel aus der galanten Zeit handelt, dürfen Witz und Anmut nicht fehlen. Doch neben manchem Wort, das aufhorchen läßt, stehen unerschrockene Platitüden, und im allgemeinen vermißt man einen eigenen Stil. Freksas Maximen sind weder durch ihre eigene formelle Prägung charakteristisch, noch charakterisieren sie die Gestalten, denen sie in den Mund gelegt werden. – Am deutlichsten verrät sich der Anfänger durch die stoffliche Hypertrophie, durch eine Überfülle der Motive. Es gibt ein Drama der Ninon und ein Drama des Sohnes der Ninon. Hier wie da eine Gefühlsverwirrung, die die Grundnote des tragischen Konfliktes wird. – Roland de Villiers, achtzehnjährig, verliebt sich auf den ersten Blick (who ever loved that loved not at first sight? [Christopher Marlowe, Hero and Leander, First Sestiad, 176; Shakespeare, As You Like It, III, v. 82]) in die ?zigjährige Ninon de l’Enclos, die am meisten begehrte Frau des Zeitalters, die auch am meisten gewährt hat, und tötet sich, als er erfährt, daß sie seine Mutter ist. Er kann den Verlust der Geliebten nicht ertragen. ‚Nenn mich ein einziges Mal Mutter’, fleht Ninon; ‚küsse mich, Geliebte’, stöhnt der ins Herz Getroffene. Er will die Mutter nicht gewinnen, wenn er dadurch die Geliebte verlieren soll. Gefühlsverwirrung. Das wäre Konflikt genug – doch nicht für Friedrich Freksa. Roland muß eine gleichaltrige Braut haben. Er meidet sie, sobald er Ninon erschaut. Roland muß von einer Herzogin angeschmachtet werden. Er behandelt sie kühl, sobald ihn Ninon bezaubert hat. Die geliebte Mutter muß gleich zwei Konkurrentinnen haben. Aber auch Roland muß einen Rivalen haben; natürlich wird er eifersüchtig auf den Mann, der zurzeit bei seiner Angebeteten in Gunst steht. Einen größeren embarras de richesse kann man sich kaum denken. – Und die eine Gefühlsverwirrung genügt dem Dichter noch nicht. Auch Ninon muß davon ergriffen werden. Sie, deren Macht über das Leben und die Liebe bisher in der Freiheit ruhte, die jeden Zwang und jede Fessel stolz verschmähte, schwelgt plötzlich im Hochgefühl der Mutterschaft. ‚Ich bin nie dem Manne begegnet, der mich zur Mutter hätte erlösen können’, erklärt sie mit einer fatalen Ähnlichkeit an die Bestrebungen des Bundes für Mutterschutz. Daß sie, gleichsam invita Junone, trotzdem Mutter geworden, ist alten ästhetischen Schulbegriffen nach ihre tragische Schuld. Richtiger: eine tragikomische Schuld. Und im Anblick ihres Kindes vergißt sie sogleich ihre heiligsten unheiligen Grundsätze. Sie, die nicht Mutter werden wollte und sich ihren Pflichten, als sie es ward, durch die Flucht entzog, ist nach zwanzig Jahren ganz Mutter. Wir müssen es dem Dichter aufs Wort glauben, obwohl es unsrer Auffassung von der grande amoureuse widerstreitet. Eine Ninon de l’Enclos ist eben nicht Mutter. Diese Gefühlsverwirrung zeitigt abermals eine Gefühlsverwirrung, und sie ist das Feinste des Dramas: aus der Mutter entwickelt sich zum Schluß die Geliebte. Wenn Roland in der Todesagonie refrainartig sein ‚küsse mich, Ninon’ flüstert – es ist das Morphiumpulver, das Oswald Alving [in Ibsens Gespenstern] begehrt – erfüllt sie seinen letzten Wunsch. Ninon schließt ihm die Lippen, nicht die Mutter. – Hier, zum Schluß, findet Freksa Töne von einer Innigkeit, die er sonst vermissen läßt. Der letzte Akt auf der Terrasse vor Ninons Landhaus hat Stimmung. Die roten Herbstblätter rieseln von den kahlen Bäumen, und der Herbst zieht auch in das Leben der Liebeskünstlerin ein, die den Sohn verliert, während sie den ersten Freund gewinnt. – Ob wir an Friedrich Freksa einen Freund gewinnen werden, der der Bühne etwas zu geben hat, ist nach dieser ersten Arbeit sehr schwer zu entscheiden. Qualitäten hat er wohl bewiesen; den Nachweis seiner Persönlichkeit ist er vorläufig noch schuldig geblieben. Gewöhnlich äußert sich der Bekenntnisdrang in Erstlingswerken am stärksten; Freksa wäre jedoch nicht der erste Dichter, der erst spät seine Melodie entdeckt hätte. Wenn aber nicht alles täuscht, liegt seine Entwicklung in der Richtung des Theatralischen.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Oktober 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 294.
Albert Guinon u. Alfred Bouchinet, Vater (Lessing-Theater, 17.10.08). – „‚Zieht einem Kinde ein Spitzenkleidchen an, füttert es mit Schokolade, laßt es in einem weichen Bettchen schlafen – es wird im siebenten Himmel sein. Nicht im Traume fällt es ihm ein wegzurennen … Von einer Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens berichtet die Bibel, aber nicht von einer Sehnsucht nach dem Hungerlos in der Wüste. Und Kinder sind für den Genuß noch weit empfänglicher. Wo es ihnen gut geht, da schlagen sie Wurzeln. Der Weg zum Herzen führt bei diesen krassen Egoisten durch den Magen; ihre Liebe ist käuflich.’ So schrieb ich im vorigen Jahre nach der Aufführung von Georg Hirschfelds Mieze und Maria. [MM rezensierte Hirschfelds Stück in der NZZ vom 25.02.07 (Erstes Abendblatt); doch das von Meyerfeld angeführte Zitat findet sich nicht in der Besprechung.] Wort für Wort läßt sich das wiederholen über die Komödie Vater der gallischen Firma Guinon und Bouchinet, die am Lessing-Theater einen gelinden Sympathieerfolg einheimste. Mit den beiden Franzosen verglichen ist Georg Hirschfeld ein großer Dichter; dafür übertreffen sie ihn weit an Bühnenerfahrung. Vater mutet inhaltlich wie eine geschickte Pariser Bearbeitung von Mieze und Maria an. Es ist eine Sentimentalität darin, die man versucht wäre als typisch deutsch zu bezeichnen, wenn sie nicht den sichtbaren Stempel des Parisertums trüge. Es ist ein bißchen Frivolität darin, die einem Boulevard-Publikum unentbehrlich scheint. Es ist eine heitere Auffassung von der schreienden Ungerechtigkeit des Lebens und der Undankbarkeit der Kinder darin, die, ohne tief zu gehen, doch zum Denken anregt. Und diese bewährte Mischung tat im Lessing-Theater ihre Schuldigkeit, obwohl wir uns nicht verschweigen wollen, wie groß die dramatische Dürre bei uns zurzeit sein muß, wenn der den Franzosen nicht sonderlich geneigte Otto Brahm in seiner Ratlosigkeit zu so leichter Unterhaltungsware greift. – Die Komödie läßt sich kritisch durch eine kurze Inhaltsangabe erledigen. – Herr Charles Orsier hat sich achtzehn Jahre lang nicht um seine Familie gekümmert. Bald nach der Geburt eines Töchterchens ist seine Ehe mit einer wohlhabenden, sittenstrengen Dame geschieden worden und der Lockere machte sich aus dem Staube. Das Gericht sprach das Kind der Mutter zu, räumte jedoch, damit diese Komödie geschrieben werden konnte, dem Vater das Recht ein, seine Tochter alljährlich einen Monat bei sich zu haben. Herr Orsier hat in Rußland Paläste für Großfürsten gebaut und bewohnt jetzt, da er als schwerreicher Mann nach Paris zurückgekehrt, selbst einen Palast. Frau Orsier dagegen büßte, nicht lange nach der Ehescheidung, ihr beträchtliches Vermögen ein und lebte recht und schlecht von einer bescheidenen Rente. Sie hat Jeanne mit der ganzen selbstsüchtigen Liebe einer vereinsamten Frau und der ganzen selbstlosen Liebe einer Mutter zu einem anspruchslosen Mädchen erzogen, das an der Seite eines ebenso anspruchslosen, braven, biederen jungen Mannes sein Glück zu finden glaubt. Da greift Herr Orsier mit der souveränen Willkür des Schicksals ein: auf seinem Rechte bestehend, verlangt er Jeanne bei sich zu sehen. Die neue Rolle des Vaters liegt dem alternden Lebemann nicht besonders gut, und er ist aufrichtig genug, den Besuch seiner Tochter als eine wenig angenehme Störung seiner Kreise zu empfinden. Seine Befürchtungen werden von der Wirklichkeit noch überboten: Jeanne begegnet ihrem Vater wie einem Fremden. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, die unliebenswürdigsten Saiten ihres Wesens aufzuziehen, weil sie hofft, auf diese Weise am schnellsten von ihm fort- und wieder zu ihrer geliebten Mutter zurückzukommen. Fünf Tage läßt sie der feste Vorsatz starr bleiben. Aber allmählich taut sie auf, von den zarten Aufmerksamkeiten ihres Vaters, seinen Geschenken und seiner Güte, vor allem jedoch von dem sie umgebenden Luxus erwärmt. Ihre wahre Natur kommt zum Durchbruch. Und nun fällt die junge Dame sogleich ins andre Extrem. Über Nacht hat sie den Glanz des Lebens lieben gelernt. Im geheimen sehnt sie sich wohl schon darnach, immer bei ihrem vermögenden Papa zu bleiben. Schon verblaßt ihr kleiner Handelsbräutigam in der Erinnerung; sie entdeckt, daß ihr Herz einem Freunde des Vaters gehört, der trotz seiner Jugend schon im Staatsrat sitzt und ihr eine glänzendere Existenz zu bieten vermag. So grausam egoistische Eindrücke soll sie allerdings nicht zurücklassen: sie muß zum Schluß die Eltern zusammenbringen. Die Mutter will zwar verzweifeln, als sie sieht, mit wie krassem Undank ihr die Tochter alle aufopfernde Sorge heimzahlt; der Vater aber tröstet sie: sie werden sich künftig in die Liebe des Kindes teilen und bald auf einen Dritten eifersüchtig sein … Ihm mag das genug erscheinen – mir nicht, wenn ich Vater wäre. – Eine anständige Unterhaltungskomödie mit zwei Paraderollen: das ist Vater. Nicht mehr und nicht weniger. Albert Bassermann als Sonntagsvater ritt die hohe Schule des Virtuosentums, und eine junge Finnin, Frl. Elli Tompuri, erschöpfte lediglich durch ihre unverderbte Natur die nicht minder dankbare Rolle des undankbaren Kindes. Nun wären ja bald sämtliche europäische Nationen im Konzert der Berliner Schauspieler vertreten; aber ich kann nicht finden, daß durch den Zuzug fremder Elemente die Reinheit der deutschen Sprache gewonnen hat.“

Berliner Theater. NZZ, 29. Oktober 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 301.
Henri Bataille, Der Clown (Berliner Theater, 23.10.08); Karl Vollmoeller, Der deutsche Graf (Neues Theater, 24.10.08). – „‚Lach’ doch, Bajazzo, schneid’ tolle Grimassen, kennst kein Gefühl, bist ein Spielzeug zum Scherz!’ singt Leoncavallos Canio blutenden Herzens. Einen Bajazzo, der nicht von Berufs wegen Bajazzo ist, der eine Rolle spielt, um seiner Geliebten zu gefallen und ihre Gunst zu behaupten, hat Henry Bataille zum Helden seines Schauspiels Poliche gemacht, das unter dem schwerfälligen Titel Der Clown wenig Anklang im Berliner Theater fand. Das Stück war fehl am Orte, und die Darstellung kam ihm nicht zu Hilfe. Es wäre immerhin denkbar, daß Poliche an anderer Stätte, von einer kräftigeren Natur gestützt, mehr Glück gehabt hätte; denn Der Clown gehört zu jenen von Lessing angeführten mittelmäßigen Stücken mit vorzüglichen Rollen, ‚in welchen der oder jener Acteur seine ganze Stärke zeigen kann’ [Hamburgische Dramaturgie, Bd. 1, ‚Ankündigung’]. Herr Korff mit seiner legeren Wiener Liebenswürdigkeit vermochte nur die Rolle in der Rolle überzeugend zu geben, aber nicht den Charakter, der sich dahinter verbirgt; sein falsches Lachen klang echt, seine echten Tränen waren falsch. Er hatte gute Momente; diese Rolle – seit Dumas’ Kean [in dem gleichnamigen Drama (1836) von Dumas père] gab es kaum eine dankbarere – verlangt aber eine ununterbrochene Stromzufuhr. Im Geiste stellte man sich Rittner vor: seine überragende Persönlichkeit hätte wohl das Stück erdrückt. Harry Walden hat das richtige Format: genug Innerlichkeit und nicht zu viel Erdenschwere. Man braucht indes nicht Lessing als Kronzeugen aufzurufen, um die Wahl solcher Werke zu rechtfertigen; wenn man sie jedoch gewisser vorzüglicher Rollen wegen spielt, muß man auch imstande sein, diese Rollen vorzüglich zu spielen, sonst gibt es keinen Entschuldigungsgrund, und einen halben Erfolg, der schlimmer ist als eine ganze Niederlage. – Didier Meirenil, ein harmloser, gutmütiger Junge aus der Provinz, liebt eine abgefeimte Pariserin bis zum Wahnsinn. Weder durch körperliche noch durch seelische Vorzüge vermag er sich der Schönen ins Herz zu schmeicheln; aber er gewinnt ihr durch sein übertrieben lustiges Wesen ein Lächeln ab. Es ist die einzige Art, wie er sich ihr angenehm machen kann. Und da er ihr nur als Hanswurst gefällt, trägt er diese Maske ständig, obwohl er von Hause aus ein ernster, fast schwermütiger Mensch ist. Er macht nicht nur, wie die Engländer sagen, einen Narren aus sich (und die Liebe macht Narren aus uns allen), sondern er spielt auch den Narren, den Polichinelle, was übrigens im Französischen auch einen unbedeutenden Menschen bezeichnet. – Diese Idee scheint mir ganz ausgezeichnet, weil sie so außerordentlich wahr ist. Was die Hypnose nicht fertig bringt: Fähigkeiten, die nicht im Menschen liegen, aus ihm herauszuholen, der Liebe gelingt es. Diese Idee scheint ferner reiche Bühnenmöglichkeiten in sich zu schließen, weil sie gewissermaßen mit einem Prokrustesbett des Gemüts arbeitet; je nach Bedarf kann sie Anlagen strecken oder kürzen. Aber sie hätte einem Dichter in die Hände fallen müssen, der nun wirklich bis auf den Grund der Seele leuchtet, letzte Hüllen sinken läßt, die Maske herunterreißt. So weit hat sich der Ehrgeiz Henry Batailles nicht verstiegen; er tauchte nicht in die Tiefen, sondern nachdem er seinen geschickten Kopfsprung ausgeführt, kam er geschwind an die Oberfläche und blieb dort. Nicht einmal dem Theater gab er, was des Theaters ist. Mit einer bei einem Franzosen immerhin verwunderlichen technischen Ungewandtheit ließ er uns über die Beziehungen seines Liebespaares ziemlich im unklaren. Wir erfahren nicht, wodurch der gute Didier schließlich bei seiner Angebeteten Erhörung findet. Es ist doch noch ein weiter Weg von dem Vergnügen, das lustige Späße einer Frau bereiten, die sich im stillen über die lustige Person lustig macht, bis zu dem Vergnügen, das sie in der Umarmung sucht. Wir erfahren ferner nicht, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden gestaltet. Poliche wird im Hause seiner Liebsten mit ‚gnädiger Herr’ angeredet, aber wer bezahlt die Wohnung? Man hält das für sehr gleichgültig? … es ist überaus wichtig. Der zahlende Teil fühlt sich meistens als Herrn, wenn er auch der Sklave seiner Leidenschaft ist, und leitet daher das Recht zum Befehlen ab. – Will der Leser wissen, wie die Geschichte zwischen dem edlen Didier und der wurmstichigen Rosine weiter geht? Die Unbefriedigte schmachtet nach einem forschen Sportsman. Didier überrascht die beiden beim ersten Kuß. ‚Lach’ doch, Bajazzo, schneid’ tolle Grimassen.’ Der Sportsman wird sofort erhört, was ihn nicht hindert, noch in andern Revieren zu pürschen. Und just als Rosine von einer ‚guten Freundin’ die Augen geöffnet werden, wird sie auch über die wahre Natur ihres Seladon [schmachtender Liebhaber (nach dem Helden des Romans L’Astrée [1610] von Honoré d’Urfé)] unterrichtet. Sie knirscht vor Wut über den andern und wirft sich, trostbedürftig, wie Frauen in solcher Lage sind, dem treuen Didier an die Brust. Er soll entschädigt werden für all das, was er schweigend ausgehalten. In einem Landhäuschen bemühen sie sich Flitterwochen zu feiern. Gar bald sitzt jedoch zwischen den beiden, als blinder Passagier, die Langeweile. Rosine braucht nur den Namen des andern zu hören, und ihre Leidenschaft für ihn steht wieder in hellen Flammen. Nun lacht der Bajazzo nicht mehr; mittlerweile hat er ihre Dirnennatur durchschaut und ist klug genug, ihr kein Hindernis mehr in den Weg zu legen. Sie nehmen am Bahnhof rührenden Abschied voneinander, er, um eine Lebenserfahrung bereichert, sie, nach neuen Liebesabenteuern dürstend. Trotzdem mag sie eines Tages zu ihm zurückkehren, und er wird dann sicher Schwächling genug sein, sie wieder beseligt aufzunehmen. – Unnötig zu sagen, daß Der Clown keine Bereicherung unserer Lebenserfahrung bedeutet, aber es werden Themen angeschlagen, über die man sich mit Genuß in Variationen ergehen kann, und wir wollen es in diesen tristen Zeiten heimischer Mißernte schon als Gewinn betrachten, wenn man unsrer Phantasie Teig darreicht, mag er auch vom Ausland kommen: auf home-made Brot haben wir leider verzichten gelernt. ●●● Vollmöllers trübselige Komödie Der deutsche Graf wurde im Neuen Theater dank der sehenswürdigen Ausstattung durch Professor Leffler, den Wiener Geschmacksartisten, von einem lammfrommen Publikum ohne Zeichen des Murrens bis zu Ende angehört. Die Darstellung tat nichts, die blutarmen Gestalten mit Leben zu füllen oder der stockenden Handlung ein rascheres Tempo zu geben. So kam es, daß das Werk, das im Buche durch die Zeichnung des Helden nicht langweilt, bleiernen Fußes über die Bretter schlich. Als Motto trägt es einen Satz aus den Memoiren des Grafen Tott: ‚ … als ein Stück zum Weinen nicht ernsthaft und zum Lachen nicht lustig genug: ein schlechtes Stück’; wie kann ein Dichter dem Urteil der Kritik so vorgreifen! Und die letzten Worte heißen: ‚Ça ne valait pas la peine’; wie kann ein Direktor seiner Aufführung so das Urteil sprechen! Trotz dieser erstaunlichen Selbsterkenntnis soll dem Dichter Vollmöller noch gesagt werden, warum seine erste Prosaarbeit so heillos verfehlt ist.“

Der deutsche Graf. Schauspiel von Vollmoeller. NZZ, 2. November 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 305.
„Man kann von der Aufführung des Neuen Theaters [s. vorangehende Kritik] völlig abstrahieren, wenn man ein kurzes Nachwort zu Vollmoellers verunglücktem Werke schreibt. Sie war gut im Dekorativen; aber das Dekorative ist hier so sehr Staffage, daß man ganz darauf verzichten könnte, daß dieses Monodrama, ohne die Illusion zu fördern oder zu schädigen, auf einer dekorationslosen Bühne vor sich gehen könnte. Sie war absolut gleichgültig im Darstellerischen, war im Linearen stecken geblieben und gar nicht bis zur Körperlichkeit vorgedrungen. So sehr fehlte ihr jede Plastik des Theaters, daß die Eindrücke der Szene noch hinter dem blassen Eindruck des Buches zurückstanden. Ist dies auch nicht Kunst, so möchte man es fast ein Kunststück nennen. – Auf zwei Beinen steht diese fünfaktige ‚Komödie’, und selbst diese beiden Beine wackeln bedenklich. Ulrich Graf Tott ist wohl als eine Art Personifikation der deutschen Volksseele gedacht. Deutsche Volksseele – man denkt dabei an Heldensage, an das Lied vom braven Mann, an Wildenbruch, an treue Liebe bis zum Grabe, an treue Freundschaft über den Tod hinaus, an Tumbhaftigkeit und goldenes Herz und ähnliche ebenso schöne wie vage Dinge. Man denkt an Simplicius Simplicissimus … daneben freilich auch an den Simplicissimus, der allen diesen ebenso schönen wie vagen Dingen herzhaft zu Leib rückt, der die Zipfelmütze des deutschen Michels gründlich gelüftet und gezeigt hat, daß wir nicht ganz so dumm sind wie wir uns gestellt haben und wie uns unsere Dichter darzustellen pflegten. – Zum Ruhme des Dichters Vollmoeller sei es gesagt: er ist natürlich nicht so auf den Kopf gefallen, daß er nicht dem Simplicissimus innerlich näher stünde als dem Simplicius Simplicissimus. Gott weiß, welche Marotte ihn dennoch bewog, in die Posaune Wildenbruchs zu stoßen, und einen ‚goldig guten’, aber krankhaft dummen Deutschen zu zeichnen. Wenn es nicht eine Verherrlichung der deutschen Volksseele, Fleisch und Blut geworden in Ulrich Graf Trott … - Verzeihung: Tott, sein sollte, möchte man es als eine Beleidigung der deutschen Volksseele auffassen. So entsetzlich blöde sind wir doch – dem Himmel sei Dank! – nie und nirgends gewesen. – Was tut Uz Tott? Er liebt, liebt abgöttisch eine französische Aristokratin und überläßt sie seinem Freunde, einem französischen Baron. (So selbstlos ist Michel.) Die Baronin langweilt sich und legt es darauf an, den Grafen zu verführen, was er mit Entrüstung von sich weist. (So keusch ist Joseph Uz.) Um seine Liebe nicht zu verraten, lügt er Madame Potiphar vor, er halte sich eine Maitresse (so gewitzt ist die Unschuld); und um nicht gelogen zu haben, sitzt er wirklich jeden Tag eine halbe Stunde am Bette einer italienischen Tänzerin und küßt ihr die Hand (so raffiniert zurückhaltend ist der Deutsche). Es geht noch weiter: der Luftikus von Baron verliert am Spieltisch sein Vermögen; da zieht sich das Schaf von Graf bis aufs Hemd aus, damit der Freund seine Spielschulden bezahlen kann. Das Luderchen von Baronin ist drauf und dran, einem Lüstling in die Hände zu fallen; da läßt sich Uz bereitwillig durch die Lunge schießen, um den Schubiak zur Flucht zu nötigen oder, wie er sich ausdrückt, zu eliminieren. Der Deutsche verspritzt sein Blut, damit der französische Baron nächstens von einem andern betrogen wird. Wird er nun endlich seine Liebe gestehen oder wird er das Geheimnis mit ins Grab nehmen? Er hält dem Freunde noch eine Poloniusrede und sagt zum Schluß: ‚Es lohnte nicht’ (Ça ne valait pas la peine). So stirbt Uz. Ich fürchte, wir sind die Geuzten (les moqués), denn wir können unsern trottelhaften Landsmann nicht einmal bedauern, geschweige denn betrauern: der Kerl war zu sträflich gut und dumm. – Vollmoeller als Verklärer der deutschen Volksseele begnügte sich jedoch nicht damit, den Grafen durch seine Taten oder durch seine Opfer herauszustreichen: er stellte ihn in die verrottete Pariser Gesellschaft, von der sich seine veilchenblaue Unschuld um so wirksamer abhebt. Und auch damit nicht genug: auf daß seine semmelblonde Güte in all ihrer Strahlenreinheit engelhaft leuchte, muß der schwarze Teufel Casanova neben ihr stehen. Ein Casanova freilich, der nicht das Wesen, sondern nur den Namen des Abenteurers mitbekommen hat. Tott füllt das Drama so sehr aus, und der Dichter war so sehr von diesem Tott erfüllt, daß eine zweite Charakterfigur neben ihm nicht Platz hatte. Das Drama steht durchaus auf zwei Beinen. – Wenn es nur wirklich stände! Wer diesem deutschen Grafen zu einer alles Interesse für sich beanspruchenden Zentralgestalt machte, der mußte an ihn glauben; und um an ihn glauben zu können, bedurfte er einer überreichen Dosis Naivität, gemischt mit einer tüchtigen Portion Patriotismus – Fähigkeiten, die man bei Wildenbruch, aber nicht bei dem Artisten Vollmoeller suchen darf. Seine Natur gibt so wenig diese Töne her, wie etwa Wedekind der geeignete Mann wäre, ein Festspiel zur Vermählung des Prinzen August Wilhelm zu schreiben. Es bleibt verwunderlich, daß sich ein Dichter so über die Grenzen seiner Begabung täuschen konnte. – Nicht minder verwunderlich, daß ein Dramatiker so leichtfertig mit der Motivierung umspringt. Wie kommt der französische Baron in eine deutsche Festung? Wie kommt der deutsche Graf als Verwalter des französischen Barons nach Paris? Woher stammt des Grafen Kenntnis von deutschen Festungen? Alles Fragen, auf die Vollmoeller jede Antwort schuldig bleibt. Sie sind gewiß an und für sich unwichtig, beschäftigen aber doch vorübergehend den Leser und sollten daher auch den Dichter beschäftigen. Ebenso verworren wie die Handlung ist, so schlecht ist sie komponiert. Eigentlich setzt sie erst gegen Schluß des 4. Aktes ein und wird dann im Prestissimotempo zu einem jähen Ende geführt. Im fünften Akt, der mehr als ein Drittel des Ganzen ausmacht, taucht plötzlich ein seltsames Motiv auf: es wird von einem Skandal des Grafen mit seinem Stallknecht gesprochen. Was hat es damit für eine Bewandtnis? – Am verwunderlichsten endlich bleibt es, mit wie geringer Sorgfalt der Dichter der Gräfin von Armagnac [1903] hier die Sprache behandelt hat. Sie gehorcht ihm nicht, wie ein edles Instrument seinem Meister, sondern gibt nur einen abgehackten Ton her, wie das rohe Xylophon. Nicht mit Unrecht riet ein kluger Engländer – war es nicht Dr. Johnson? – einem Poeten, der schon verschiedene Gedichtbände veröffentlicht hatte, er möge nun bald Prosa schreiben lernen. [Nicht Dr. Johnson, sondern Walter Pater, der Oscar Wilde – Wildes eigenem Zeugnis zufolge (1890) – am Anfang ihrer Bekanntschaft gefragt hatte: ‚Why do you always write poetry? Why do you not write prose? Prose is so much more difficult.’] – … Der Dichter Vollmoeller hat seine erste Schlappe erlitten; möge sie ihm ein Sporn werden, die Scharte recht bald auszuwetzen.“

Berliner Theater. NZZ, 4. November 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 307.
Nikolaj Gogol, Eine Heiratsgeschichte (Kammerspiele, 30.10.08). – „Es war einmal eine Kaufmannstochter, die es nach dem Ehebett gelüstete. Zu diesem Behufe nahm sie die Dienste einer Heiratsvermittlerin in Anspruch, durch deren Eifer fünf Freier herangezogen wurden. Der erste hieß Rührei – Iwan Pawlowitsch Rührei (der Name ist Unsinn von der Art, wie er auf dem Mistbeet der Übersetzungen gedeiht; der Name ist außerdem das einzige Charakterisierungsmittel). Der zweite, Infanterieleutnant a. D., verlangte von seiner Zukünftigen die Kenntnis des Französischen nach dem Erfahrungssatz: was man nicht hat, begehrt man. Der dritte, Marineleutnant a. D., der einmal vor Sizilien gelegen, schwärmte seitdem von den Röschen des Südens, die seiner Ansicht nach Französisch sprachen. Der vierte, ein Kaufmann, schnarchte, als er sich zur Brautschau einfand. Der fünfte endlich war Hofrat und ein solcher Tropf, daß er, wie ein Stier zur Schlachtbank, ins Haus der Schönen geschleift werden mußte. Von einem Freunde, der über die Nebenbuhler so Schlechtes zu sagen wußte, daß sie Körbe bekamen, und über die Ehe so viel Gutes zu sagen wußte, weil er selbst darin schlimme Erfahrungen gemacht hatte, daß der Schüchterne sich ein Herz faßte und sein Herz erklärte. Kaum war das Wort dem Mund entflohen, als ihn die Reue packte und er darüber nachsann, wie er dem Verhängnis entfliehen könne. Während sich die Braut für die kirchliche Trauung in ein weißes Kleid warf, warf er sich mit dem Mute der Verzweiflung aus dem Fenster, sprang in die unten bereitstehende Droschke und fuhr nach Hause, um dort weiter ein Murmeltierdasein zu führen. – Eine ganz ungewöhnliche Begebenheit hat Nikolei Gogol diese Heiratsgeschichte genannt. Was ist das Ungewöhnliche daran? Daß sie nicht mit einer Heirat endet? Oder der Sprung aus dem Fenster? Oder daß der Dichter des Revisor hier sein besseres Selbst verleugnet? Es ist ein Faschingsschwank, zu dem man die Faschingslaune mitbringen muß; ein Polterabendscherz, den man in Sektstimmung genießen kann. Sein bißchen Satire auf Standesvorurteile schmeckt nach dem Revisor fad wie ein fünfter Aufguß. Seine Harmlosigkeit setzt das kindlichste Gemüt voraus. Ab und zu wird sie allerdings mit einem Tropfen Laszivität gemischt, die an zwanglosen Herrenabenden kräftigster Wirkung sicher wäre. In Rußland, scheint es, darf man über Dinge sprechen, die in zivilisierteren Zonen vor keuschen Ohren verpönt sind. Man hat sogar das Gefühl, daß das Original noch weit saftiger ist als die Schlüpfrigkeiten, die ein modernes westeuropäisches Publikum verträgt. – Für diese gepfefferte Harmlosigkeit führten die Kammerspiele ihre Komiker-Garde ins Feld, der es fast gelang, die Umrißlinien der Figuren mit humoristischem Inhalt zu füllen. Aber auch sie mußte an den natürlichen Grenzen der Komik Halt machen, die im allgemeinen mit den geographischen Grenzen zusammenfallen. Die Leidenschaft spricht Esperanto, die Verschrobenheit der Menschen die Landessprache. Darum hat der tragische Dichter das Zeug zum Kosmopoliten, während der komische meist ein Pfahlbürger bleibt. Nichts ist schwerer zu ertragen als Lustigkeit aus fernen Tagen. Lustigkeit lebt vom Heute, von der Stunde, von der Gelegenheit; sie ist lokal und zeitgebunden, während ihre ernstere Schwester über die Schranken der Länder und der Jahrhunderte dahinschreitet.“ [Das Stück brachte es nur auf 6 Vorstellungen.]

Berliner Theater. NZZ, 5. November 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 308.
Frank Wedekind, Musik (Kleines Theater, 31.10.08). – „Frank Wedekind hat schon manches schlechte Theaterstück geschrieben, das nur durch grelle satirische Streiflichter oder einen grimmigen Humor erträglich wurde. Sein ‚Sittengemälde’ Musik sollte offenbar ein gutes oder zum mindesten handfestes Theaterstück werden, und es ist infolge seiner künstlerischen Impotenz das schlechteste Stück geworden, das wir seit vielen, vielen Jahren erlebt haben. Kein satirischer Lichtblick, kein Fünkchen Humor erhellt das kimmerische Dunkel, das diese Schauermär um sich verbreitet. Ihr Verfasser ist bei der Kolportage angelangt. Nicht anders als ein Jahrmarktausrufer tritt er vor die gemalte Leinwand und klopft mit dem Stab gegen die einzelnen Bilder der Moritat. Früher zeigte er wenigstens noch die komischen Aspekte des Traurigen oder Grausigen; jetzt enthält er sich jeden Kommentars. Es genügt ihm, die nackten Tatsachen zu geben und sich als völlig unbeteiligter Zuschauer vor sie hinzustellen. Er hat innerlich nichts mehr mit seinem Werke gemein, und er scheint es für die Aufgabe des Dichters zu halten, sich die Brust mit dem dreifachen Erze der Gleichgültigkeit, der Schnuppigkeit, der Hundeschnäuzigkeit zu wappnen. Man hat das Drama für die objektivste Dichtungsgattung erklärt; Wedekind treibt die Objektivität bis zur Reportage und zur Kolportage. ‚Was gehen mich die Dinge an?’ fragt er mit geheimnisvollem Lächeln; ‚ich zeige sie euch, den Vers dazu könnt ihr euch selber machen, wenn es dazu bei euch reicht.’ … – Und die Leute, die Angst haben, sich bloßzustellen, fangen nun an, sich ihren Vers selbst zu machen. Bei Wedekind muß man doch eine tiefere Bedeutung suchen, denken die Leute; da steckt doch hinter den Dingen etwas. Schon der Titel Musik – haha, das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl! Die Musik, will er sagen, ist eine große Kupplerin: die Musik läßt ein unschuldiges junges Mädchen im Hause eines Gesangspädagogen, der einen schönen schwarzen Bart hat, zu Fall kommen. Die Moral von der Geschicht’: Hütet euch vor euren Musiklehrern, ihr jungen Dinger! Wenn er das wirklich sagen wollte, so wäre es – mit Verlaub – eine knallige Dummheit. Nichts berechtigt auch nur im entferntesten dazu, den einzelnen Fall zu verallgemeinern; hier handelt es sich nicht um Typisches, sondern um ein individuelles Schicksal, das uns keine Minute menschlich interessiert, geschweige denn von uns Besitz ergreift, weil wir über die Motive vollständig im unklaren bleiben, weil alle psychologischen Übergänge fehlen, weil die Trägerin dieses Schicksals kein Individuum, sondern eine roh bemalte Holzpuppe ist, weil der Mitschuldige an diesem Hintertreppenschicksal kein Mensch, sondern ein Drahtgestell mit einem schönen schwarzen Bart ist. – Aber der Dichter wollte, sagen die Leute weiter, den törichten, rückständigen Paragraphen 812 (gemeint ist § 218) des Strafgesetzbuches angreifen. Es wäre verdienstlich gewesen, wenn er es getan hätte. So begnügt er sich damit, ganz im Anfang eine witzige Auslegung dieses Paragraphen zu geben – es ist die einzige Stelle, die den besseren Wedekind von früher nicht verleugnet –, um im späteren Verlaufe der Handlung mit keinem Worte darauf zurückzukommen. Also auch damit ist es nichts. Die Leute mögen sich beruhigen: es steckt wirklich nichts hinter den Vorgängen – nichts als eine an Frivolität grenzende Hundeschnäuzigkeit. Denn ich nenne es frivol, solche Dinge zu behandeln, wenn man selbst kein Fünkchen Mitleid dafür aufbringt und nicht imstande ist, bei andern das schwächste Fünkchen Mitleid anzublasen. Wer zum Zeugen eines Unglücks auf der Straße wird, hat nicht die Verpflichtung, helfend einzugreifen; aber er hat auch nicht das Recht, das Schauspiel zu genießen, sich am Anblick menschlichen Elends zu laben; die Polizei hat ein größeres Recht, ihn zum Weitergehen aufzufordern. Ein Dichter, der in den Ruf eines moralischen Monomanen kommen konnte, hätte die Pflicht, auch den Schein der Frivolität zu meiden, besonders wenn er, wie hier in Musik, ein so über alle Maßen schlechter Musikant ist und sich freiwillig zum Range des Notenumblätterns erniedrigt. – Frank Wedekind tut hier nichts anderes, als daß er die Noten umblättert. Die erste Pièce heißt: ‚Bei Nacht und Nebel’. Bei Nacht und Nebel muß die Musikschülerin Klara Hühnerwadel (Wedekind hat sich bei der Wahl dieses Namens an seine zweite aargauische Heimat erinnert. Die Red.) nach Amsterdam fliehen, weil es ruchbar geworden ist, daß sie die Folge ihres Verhältnisses mit ihrem Lehrer beseitigt hat. Die zweite Pièce heißt: ‚Hinter schwedischen Gardinen’. Das Verhängnis hat sie doch ereilt, sie ist zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden, von denen sie die Hälfte schon abgesessen hat; auf ein Immediatgesuch hin, das die betrogene Frau des Lehrers eingereicht, wird ihr der Rest der Strafe in Gnaden erlassen. Die dritte Pièce heißt: ‚Vom Regen in die Traufe’. Klara kehrt in das Haus des Verführers zurück, fühlt sich abermals Mutter von ihm; diesmal jedoch will sie das Kind aufziehen, um eine Lebensaufgabe zu gewinnen. Die vierte und letzte Pièce heißt (ziemlich schleierhaft): ‚Der Fluch der Lächerlichkeit’. Das Kind stirbt; die arme Klara, die wahnsinnig zu werden droht, wird von ihrer Mutter in die Schweiz abgeholt. Mit dem Fluch der Lächerlichkeit wollte Wedekind in einer löblichen Anwandlung von Selbstpersiflage entweder sich selbst oder diejenigen treffen, die dieses gräßlich ernste Spektakel ernst nahmen, statt es erbarmungslos niederzuzischen. Ich hätte es nur stilgemäß gefunden, wenn während der Zwischenakte ein Leierkasten im Zuschauerraum gespielt und ein versoffener Kerl mit krächzender Stimme die einzelnen Bilder der Moritat erklärt hätte. Ich hätte es stilgemäßer gefunden, wenn Musik, statt im literarisch ehrgeizigen Kleinen Theater, von einer Vorstadtbühne niedrigster Ordnung aufgeführt worden wäre und wenn man statt der Kunstkritik die Berichterstatter für Unglücksfälle eingeladen hätte. Denn mit der Kunst hat Musik nichts mehr zu tun.“

Berliner Theater. NZZ, 16. November 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 319.
Heinrich Lilienfein, Der schwarze Kavalier (Schiller-Theater, 07.11.08). – „Eine sogenannte Uraufführung in unserm populären Schiller-Theater kommt mir fast so vor, wie wenn ein älteres Mädchen von – seien wir galant – von siebenundzwanzig Jahren im Ballsaal einen jungen, schönen Tänzer findet. Er hat sich des Mauerblümchens aus Mitleid angenommen; sein gutes Herz hat ihm einen Streich gespielt … Es gibt viele Mauerblümchen unter den deutschen Dramen, zumal unter den Versdramen; aber wenn sie so gute Figur machen wie Heinrich Lilienfeins deutsches Spiel Der schwarze Kavalier, so braucht sich das Schiller-Theater seiner Rolle als Kavalier nicht zu schämen. Sein unverdorbenes Publikum ist zwar nicht für das Werk in heißer Lieb’ entbrannt, bereitete ihm aber eine achtungsvolle Aufnahme, die wohl hauptsächlich der Seltsamkeit des Stoffes oder um im Bilde zu bleiben: dem aparten Kostüm zuzuschreiben war. Mauerblümchen müssen eben durch die Toilette ersetzen, was ihnen an körperlichen Vorzügen gebricht. – Wenigstens eine Situation in diesem ‚deutschen Spiele’ hat auch für den verwöhnteren Geschmack ihre Reize. Der dreißigjährige Krieg wütet durch die deutschen Gaue. Noch schlimmere Einquartierung als die rohe Soldateska hat er mitgebracht: die Pest. Und nun ist Hochzeit im Dorfe angesagt. Der Hauptmann Hans vom Busch will des Schultheißen Töchterlein heiraten. Aber er ist ein unheimlicher Bräutigam. Nicht festlich geschmückt tritt er unter die schon lange seiner wartenden Gäste, sondern verwildert, finsteren Antlitzes, und in seiner Seele brüten noch schwärzere Gedanken. Man hat ihm das Liebste auf Erden geraubt. Der Zufall hat ihn wieder mit einer fahrenden Dirne zusammengeführt, der er schon früher leidenschaftlich zugetan war. Doch die Dummheit der Dorfbevölkerung sieht in ihr nur eine Ausgeburt der Hölle. Die eifersüchtige Braut verschreit die Vagantin als Hexe, um sie dem Holzstoße auszuliefern; und als das ihr nicht schnell genug den Garaus macht, streckt sie der Bruder der Braut wie versehentlich durch einen wohlgezielten Flintenschuß nieder. Nichts ist dem Hauptmann geblieben als ein Strauß blutroter Nelken und – die Rache. Er hat einen fürchterlichen Gast zur Hochzeit geladen. Schon klingeln die Fiedeln, schon regt es sich in den Gliedern, da wird ans Tor gepocht. Der Fremde heischt Einlaß. Niemand hört ihn im Gewirr der Freude; nur Hans zuckt zusammen. Gebieterischer wird das Klopfen, wie die Freude wilder wird. Als es zum dritten Male erschallt, tritt der schwarze Edelmann herein, schwarz vom Scheitel bis zur Sohle, leichenfahl und stumm. Festen Schrittes geht er auf die Braut zu, verbeugt sich mit Anstand vor ihr, fordert sie zum Tanz auf. Wen er einmal in den Arm genommen, die ruht in keines andern Armen mehr. – Diese grausige Situation, wie ein Blatt aus einem Totentanze anmutend, ist der Gewinn des Lilienfeinschen Dramas. Sie bekundet die Phantasie des Dichters und lockt die Phantasie, sie auszumalen. Man denkt sie sich als Kern einer Ballade, und sie würde in der Ballade gewiß kräftigste Wirkung tun. Aber als Abschluß eines dreiaktigen Dramas vermag sie nicht über die Weitläufigkeiten der Handlung hinwegzutäuschen. Lilienfein verweilt unnötig bei Genrezügen und vergißt darüber das Seelische. Er will ein Kulturgemälde in Freskostrichen geben, will das von der Furie des Krieges zertretene Deutschland zeichnen und kann uns nicht für seine beiden Hauptfiguren erwärmen. Was ist uns schließlich dieser Hauptmann? Was ist uns die alle Männer behexende Nella? Kaum ein Zipfelchen ihres Seelenlebens wird gelüftet. Sie kennen sich von früher her aus seinen forschen Fähnrichstagen, sie lieben sich jetzt wieder mit unverminderter Glut. Nur zu begreiflich, daß der Hauptmann die kurzweilige Dirne der hausbackenen Dorfschulzentochter vorzieht. Aber mußte er den schwarzen Tod in höchsteigener Person herbeiholen, um dem lästigen Ehebund zu entwischen? Je n’en vois pas la nécessité. Soldaten ziehen davon, mag sich Schön-Elslein hundertmal die Augen ausweinen. Und ferner: ich begreife, offen gestanden, nicht ganz die Symbolik des Vorgangs. Man kann doch nicht eine Seuche einschleppen, indem man sozusagen ein Bild der Seuche in einer Stube aufhängt. Der schwarze Kavalier ist doch nur das Bild, die Personifikation der Seuche, nicht aber die Seuche selbst, deren Berührung den Tod bringt. Man kann einer Seuche nicht das Erscheinen befehlen, sondern muß Menschen, die man verseuchen will, der Ansteckungsgefahr aussetzen. – Doch lassen wir uns durch solche Erwägungen nicht den starken Eindruck dieser danse macabre trüben. Wir sind so bescheiden geworden, daß wir schon gerne den Gewinn buchen, wenn wir auch nur eine Situation aus einem Drama von heute mitnehmen. – Heinrich Lilienfein hat nun schon dreimal angeklopft: zuerst, vor vier Jahren, mit seiner Maria Feldhammer [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 01.11.04 (Morgenblatt)], deren Ton nicht zu überhören war; dann mit einem verwaschenen Anzengruber-Stück Der Herrgottswarter [s. die Besprechung vom 20.10.06 (Erstes Morgenblatt)], von dem unser Gedächtnis nicht die schwächste Spur bewahrt hat. Auch beim dritten Pochen sind vor ihm nicht, wie vor seinem schwarzen Kavalier, die Torflügel weit aufgesprungen; aber vielleicht findet seine Phantasie noch das Zauberwort: ‚Sesam, öffne dich.’“

Berliner Theater. NZZ, 18. November 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 321.
Karl Schönherr, Erde (Hebbel-Theater, 12.11.08). – „Was weiß man von Karl Schönherr? Eine dunkle Erinnerung hat man zurückbehalten an seinen Einakter Die Bildschnitzer [1900]: den Eindruck von etwas Knappem, Schlagendem, von verhaltener Kraft, von konzentrierter Form hat man bewahrt; der Inhalt ist einem fast entschwunden. Wie hinter Schleiern sieht man einen armen, ausgedörrten Mann im Bette liegen, sieht ein blühendes, kraftstrotzendes Weib, in Tränen aufgelöst, vor dem Bette knien … wie hinter Schleiern. Es mögen zehn Jahre her sein. Dann sahen wir Sonnwendtag bei Brahm im Deutschen Theater (anno 1903, mit der seligen Amalie Schönchen [nein, sondern mit Else Lehmann: Amalie Schönchen (1836-1905) war eine Münchener Gesangssoubrette und Volksschauspielerin; vgl. auch MMs Besprechung in der NZZ vom 04.02.03 (Morgenblatt)]): geräuschvoller, handlungsreicher, figurenreicher, doch nicht -kräftiger, mit einem Totschlag und auch etwas politischer Tendenz; aber eingeprägt, unauslöschlich eingeprägt hat sich nur die stille Schlußszene: das alte Mütterchen, das den liebsten Sohn verloren, räumt schweigend und tränenlos den Hausaltar ab zum Zeichen, daß es seinen Gott verloren. Karl Schönherr war bisher für uns der Mann, der diesen Auftritt von erschütternder Symbolik geschrieben, diesem stummen Schmerz beredten sinnbildlichen Ausdruck verliehen hatte. – Und nun hat ihn aus heiterem Himmel der Schiller-Preis oder vielmehr die Hälfte des Schiller-Preises getroffen für eine ‚Komödie des Lebens’ (eine auffallend tautologische Bezeichnung, denn ein Bauerndichter will doch nicht die Suggestion erwecken, daß er seine Stoffe nicht aus dem Leben ableitet) –, für eine Komödie Erde (Buchausgabe bei S. Fischer, Berlin), die im Hebbel-Theater, mehr schlecht als echt, gespielt, ein Großstadtpublikum zur Hochachtung zwang, ohne ihm Liebe abgewinnen zu können. Durchaus natürlich: diese Gestalten haben etwas Holzschnittmäßiges, zu Gerades und Einfaches, um uns kompliziertere Erdensöhne länger als für die Dauer weniger Stunden zu beschäftigen. Es fehlt ihnen bei aller Simplizität eine gewisse Wärme des Gefühls, die sofort den Weg zu uns fände. Schönherr rückt sie von sich ab und betrachtet sie als Objekte mit einer Nüchternheit, die dem Wissenschaftler eigen (daraus entspringt seine Stärke als Dramatiker), und er kann seinen also distanzierten Figuren nicht jene Fülle geben, daß sie sich selbständig zu behaupten vermögen (darin liegt vorläufig seine Schwäche als Dichter). Er übertrifft Anzengruber an Sachlichkeit, an Bodenständigkeit des Realismus, bleibt aber meilenweit an künstlerischer Phantasie hinter ihm zurück. – Erde ist die Bauernkomödie der Leitmotive. Schon vor Wagner hat es musikalische, schon vor Schönherr im Drama Leitmotive gegeben. Mit solcher Reichhaltigkeit und solcher Konsequenz sind sie wohl noch niemals verwandt worden. Eine jede, aber auch wirklich jede Person hat ihr Leitmotiv. Sie ist gewissermaßen durch einen Satz erschöpft; ihr ganzes Denken und Fühlen ist darin eingeschlossen; ihr Wesenskern findet darin prägnantesten Ausdruck; zugleich wird ihre Beziehung zur Handlung dadurch enthüllt. Der alte Grutzenbauer, der nicht ins Ausgedinge gehen will, sagt: ‚Bin noch nit schlafrig! Und ’vor i nit ins Bett geh’, ziech i mi nit aus!’ Aller Wille zum Leben, alle Kraft und aller Trotz liegen in dem einen Satz; die Handlung des Stückes gipfelt in einer Bestätigung dieses Satzes. Der junge Grutzenbauer, freilich längst kein Jüngling mehr, sagt: ‚Mir geht nix ab! Hab mein Essen … und mein Arbeit … und mit den Hennen ins Bett … und mehr braucht der Mensch nit!’ Sagt es am Anfang und am Schluß und in der Mitte. Alle Willenlosigkeit, alle Selbstgenügsamkeit liegt in dem einen Satz; wir wissen, er wird keinen ernstlichen Versuch machen, dem Alten das Heft zu entwinden. Mena, die Wirtschafterin, sagt: ‚An eignen Fleck Erd’ unter die Schuhsohl’n will i hab’n!’ Sagt es zuerst, wenn sie sich im Spiegel betrachtet, und sagt es zuletzt, wenn sie dem Eishofbauer in seine Wildnis folgt. Alle Herrschsucht der tirolischen Hanne liegt in dem einen Satz. Trine, die Magd, sagt: ‚Jeder Mensch hat einmal im Leb’n sein’ Festtag!’ Und dieser Satz gibt ihr die Kraft, auch weiter auszuharren und sich zu bescheiden. Nicht nur die vier Hauptpersonen sind solcher Art durch Leitmotive charakterisiert; dasselbe Stilmittel kommt für die Nebenpersonen zur Anwendung, und selbst noch der raunzende Landarzt muß jedesmal, wenn er die Bühne verläßt, sein ‚Verfluchte Medizin!’ in den Bart brummen. Aber es ist ausgezeichnet, wie in diesen Motiven der Anteil der Personen an der Handlung in nuce zusammengefaßt ist. – Der Handlung selbst, also dem Drama, fehlt dagegen das wichtigste äußere Agens: der Gegenspieler. Dem hartlebigen alten Bauern mit dem festen Willen, sich bis an sein Ende die Zügel nicht aus der Hand nehmen zu lassen, dem Dickschädel mit der unheimlich gesteigerten Energie steht ein schlapper, willenloser, quietistischer Sohn gegenüber. Ein einziges Mal rafft er sich auf, ganz zaghaft, den Vater zur Abdankung zu bewegen: ‚Vater … mit deine zweiasiebz’g Jahr! Lass’ jetz’ mi amal dran! Setz’ di zur Ruh’!’ Und nach diesem schwachen Auflehnungsversuch gibt er sofort wieder klein bei. Daraus erklärt sich die stockende innere Bewegung. Sie wird auch nicht durch den Kampf der beiden Mägde hineingetragen, der im Grunde latent bleibt, obwohl sie einmal keifend übereinander herfallen und stets auf Kriegsfuß stehen. – Dafür entschädigt allerdings bis zu einem gewissen Grade der prachtvolle Humor. Er ist köstlich und durchaus Anzengruber würdig, wenn sich der Sterbensbereite seinen Sarg anmessen läßt, die lärchenen Bretter dazu gebraucht wissen will und Anordnungen über seine letzte Ruhestätte trifft; nicht minder köstlich, wenn der mit dem Frühling zu neuem Leben Erwachende die vor Wut berstende Magd immer noch ein Gewichtstück auf die Wage stellen heißt. Die Symbolik der Schlußszene (der Alte zerhackt seinen Sarg zu Brennholz) erhebt sich jedoch nicht zur Größe des Sonnwendtages; es ist kein neues Moment in dem Vorgang, und er erhält eine allzu greifbare Absichtlichkeit dadurch, daß neben der Bahre die Wiege steht, die der Sohn für seine erwartete Nachkommenschaft gezimmert hat. Weg mit der Wiege! – Vor allem aber bleibt Schönherrs sicherer Bühneninstinkt zu rühmen. Er disponiert glänzend und bewältigt die Handlung in drei mustergültig knappen Akten, ohne sich je die Fäden entgleiten zu lassen. Wir haben wahrhaftig keinen Überfluß an solchen Beherrschern der Szene und können es vollkommen verstehen, daß der Schiller-Preis einem technischen Könner zugefallen ist, so unvereinbare Gegensätze die Erde Schillers und Karl Schönherrs Erde scheinen mögen.“

Berliner Theater. NZZ, 25. November 1908, Zweites Morgenblatt, Nr. 328.
Johann Nestroy, Revolution in Krähwinkel (Deutsches Theater, 14.11.08). – „Seit Jahren hat man hier nicht solchen Jubel erlebt wie gestern im Deutschen Theater, wo Johann Nestroys kecke Posse Revolution in Krähwinkel, frisch aufgebügelt von Egon Friedell und Alfred Polgar, unbändiges Behagen ausstrahlte. Die sonst der tragischen Kunst geweihten heiligen Räume des Deutschen Theaters erröteten nicht, ein so profanes Spiel aufzunehmen, und die Zuschauer entblödeten sich nicht, freimütig zu bekennen, wie glänzend sie sich unterhielten. Es war ein Sieg der Frechheit. Wenn man den Erfolg analysieren will, so muß man sagen, daß er nur zu einem Sechstel auf den alten Nestroy kommt; mindestens ein Sechstel darf Max Reinhardts Regie beanspruchen; ein Drittel gebührt dem scharmanten Harry Walden, der als jugendlicher Held Tausende, als jugendlicher Komiker Zehntausende schlug, der heute, wie kein andrer, sein Publikum gewissermaßen in der hohlen Hand hält und nach Belieben mit ihm Fangball spielen kann; das wichtigste Drittel aber fällt einer unerhörten Konjunktur, den bewegten und erregten Zeitläuften zu, so daß diese Revolution in Krähwinkel in keinem günstigeren Augenblick kommen konnte. Es war ein Sieg der Nebenumstände. [Anspielung auf das ‚Interview’ Kaiser Wilhelms II. im Daily Telegraph vom 28.10.08, das innen- und außenpolitisch für erhebliche Irritationen sorgte.] – Die Posse selbst ist frech und behutsam; ein famoser Start und dann eine gemächliche Pace. Eine Revolution in Krähwinkel, das heißt ein Sturm im Glase Wasser, viel Geschrei und wenig Wolle, die Auflehnung politischer Pantoffelhelden. Auf Staat und Kirche, auf Streber und Kriecher, auf Beamten und Philister prasseln die Pritschenhiebe; nach oben wie nach unten regnet es Bosheiten; zur Rechten sieht man wie zur Linken nicht sehr gewählte Witze sinken. Im innersten Kerne ist Nestroys Komik ein unbekümmerter, bisweilen an den Haaren herbeigezogener Wortwitz, den nach ihm geringere Wiener Geister bis zum Überdruß ausgebildet haben und der ihnen als Geist erscheinen konnte, obwohl es nur Geist von ihrem Geiste war. Nestroy hat entschieden galligen Geist, doch blutwenig von gallischem Esprit. Er hat das Verhöhnende des kaustischen Komikers, aber nirgends das Versöhnende des Humoristen. Er spritzt sein Gift aus nächster Nähe, aber er steht nicht auf der Warte der Weltanschauung. Ich kann darum durchaus kein Verbrechen darin finden, daß der gute Meister, ‚doch lang schon tot’, aller Tradition entkleidet und für den Bedarf des Tags zurechtgestutzt wurde. Gönnen wir den Österreichern neidlos ihre Nestroy-Tradition: sie macht uns nicht selig. Überdies ist der politische Witz ein Geschöpf der Stunde, eine Eintagsfliege; er hat den unschätzbaren Vorzug, von jedem begriffen zu werden, solange das Ereignis, das ihn hervorgerufen, in aller Munde ist, aber er muß seine Popularität mit einem frühen Tode bezahlen: sobald das Ereignis dem Gedächtnis entschwindet, sinkt er in ein unrühmliches Massengrab. Also warum soll man Nestroy nicht unter die Arme greifen? Und das haben die beiden Bearbeiter gründlichst getan. Ohne alle Bedenken; so skrupellos, wie er selbst seine Anleihen gemacht. Sie stürzten sich unverzagt in die Aktualität, und die Hörer folgten ihnen durch dick und dünn, parierten und applaudierten aufs Wort. – Aber wie macht auch Max Reinhardt solche Sachen! Er ist bis in jede Faser seines Wesens ein Theatermensch von proteischer Verwandlungsfähigkeit. Er erinnert sich von Zeit zu Zeit daran, daß das Theater nicht nur vom grauen Sein, sondern von buntem Schein lebt, und indem er ‚farbigen Abglanz’ gibt [Goethe, Faust II, Erster Akt, 4727: ‚Am farbigen Abglanz haben wir das Leben’], breitet er blühendes Leben um sich. Tatkräftige Hilfe fand er bei dem Maler Ernst Stern, der ihm einen entzückenden Kleinstadtprospekt mit einem ragenden Kirchturm, steil ansteigenden, engen Straßen, niedlichen Häuschen und einem wandernden Vollmond entworfen hat. Es ist eine Freude für das Auge, in diesem anmutigen Bilde den klapprigen Nachtwächter heranwackeln, drei Liebespärchen sich in kosigen Winkeln verstecken zu sehen. – Doch die alte Posse – sie stammt aus dem Revolutionsjahr 1818 – mit ihrem modernen Drum und Dran fand den wichtigsten Bundesgenossen in der politischen Bewegtheit des Publikums. Vor dem 28. Oktober hätte sie nie zu solcher Bedeutung gelangen können; jetzt hatte man für sie den aktuellen Haken. Jede Anspielung schlug dröhnend ein. Und es hagelte Anspielungen: auf das absolutistische Regiment, auf das unverantwortliche, das ganz unverantwortliche Ministerium, auf Konfliktchen und Kollisiönchen, auf den Ordenssegen, die Titelwut und mille e tre andre Dinge. Wenn der abdankende Bürgermeister zum Schluß sagt, er werde nach Husum gehen, so folgte ihm eine Beifallssalve. Wenn der als Jesuit verkleidete Journalist salbungsvoll predigt: Staat und Kirche müssen zusammenstehen wie eine Mauer, ein Pfeiler, ein Block – so klatscht ihm die Menge in die Rede hinein. Die Szene wird zur Volksversammlung, die Stimmung nimmt den Charakter einer Demonstration an. Vielleicht hat man auf und vor der Bühne des Guten ein wenig zu viel getan; aber es war eine Lust, unter einem so animierten politisch interessierten Publikum zu sitzen, das von der allgemeinen Erregung so in Mitleidenschaft gezogen war, daß es ihr im Theater Luft machen zu müssen glaubte. Lebendiger kann es auch bei den Vorstellungen der Komödien des Aristophanes nicht in Athen zugegangen sein.“ – [Die Inszenierung brachte es auf 108 Vorstellungen.]  

Berliner Theater. NZZ, 28. November 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 331.
Ludwig Thoma, Moral (Kleines Theater, 20.11.08). – „Moral, Komödie in drei Akten von Ludwig Thoma, hatte im Kleinen Theater bei Gourmands und Gourmets einen vollen Erfolg. Ein Stück, über das man lachen kann, weil es wirklich lustig ist, mit dem man lachen darf, weil es uns den bewährten Simplicissimus-Mitarbeiter Peter Schlemihl [Pseudonym Ludwig Thomas beim Simplicissimus] von seiner besten, obwohl es uns den Dramatiker Ludwig Thoma nicht von einer neuen Seite zeigt. ● I. Der Genießer spricht: Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten. Den ganzen Abend kam man nicht aus dem Lachen heraus. Nur in einer Szene, der ersten des Schlußaktes: die getäuschte Gattin gibt ihrem Phrasenhelden von Gatten zu verstehen, daß sie ihn von Anbeginn der Ehe an nicht ernst genommen habe und ihm deshalb seine amoureusen Seitensprünge verzeihen wolle; dafür aber verlange sie jetzt, wo der Skandal hereinzubrechen drohe, daß er sie nicht blamiere – nur in dieser Szene, die sich von der derben Satire zur herben Komödie erhebt, werden ernstere Töne angeschlagen. Aber sonst geht es verwegen lustig zu. Man lacht herzhaft über die Fabel des Stückes: die Besitzerin eines galanten Salons in Emilsburg, der Hauptstadt des Herzogtums Gerolstein, wird auf eine anonyme Anzeige hin verhaftet, von dem die Untersuchung leitenden, ebenso streberhaften wie kälberhaften Assessor angepöbelt und muß schließlich mit einer Entschädigung von fünfzehntausend Mark nach Brüssel abgeschoben werden, weil der Erbprinz in den Skandal verwickelt ist und die Honoratioren der Stadt, die gleichzeitig Mitglieder eines Sittlichkeitsvereins sind, zu den Stammgästen ihres Etablissements gehörten. Man hält sich die Seiten vor Lachen, wenn sich die Tugend erbricht und das Laster, mit ihrem Sündensold gemästet, straffrei ausgeht. Man wiehert vor Lachen, wenn die Frage erörtert wird, wer Madame Ninon de Hauteville (recte: Hochstädter) die Abfindungssumme zahlen soll und eine Hofschranze erklärt, am Hofe sei jetzt das Sparsystem eingeführt. (Offenbar die erste Folge von Bülows [des Reichskanzlers] letzter Rede.) Man schreit über gewisse Karikaturen, die aus den Blättern des Simplicissimus entsprungen zu sein scheinen. Da ist der kriechende Assessor, der, wenn er mit dem Präsidenten gesprochen hat, vor dem Telephonkasten seine Verbeugung macht. Da ist der bis in die marklosen Knochen schockierte Höfling, der schaudernd erzählt, Seine Hoheit habe sich zwanzig Minuten in einem Kleiderschranke zwischen Jupons verstecken müssen, während die Polizei das Quartier der Kokotte absuchte. Wie eine Gestalt von Rudolf Wilke [einer der künstlerisch stärksten Zeichner des Simplicissimus, gest. 04.11.08]. Da ist ein Oberlehrer mit wallendem blondem Vollbart, der In deinen Augen hab ich einst gelesen singt [Der Trompeter von Säckingen, volkstümliche Oper von 1884]; der von Sittlichkeit und ähnlichen schönen Dingen mit dem Brustton der Heuchelei spricht, während sein Herz am Skattisch ist; der Tacitus mit teutonischer Begeisterung aufsagt und einen Grand mit Vieren ansagt; der sich eine Sammlung von Eroticis anlegt, um seine theoretische Bildung zu vermehren; der Praxis nicht aus dem Wege geht und dann, von germanischen Gewissensbissen verzehrt, bei der Polizei Anzeige erstattet. Ein Kerl, wie von Thomas Theodor Heines Meisterhand gezeichnet [des Illustrators des Simplicissimus und anderer satirischer Blätter (1867-1948)]. Man lächelt vergnüglich über die feinen Worte, mit denen der Tartüfferie Bescheid gesagt wird. Eine alte Dame, die sich der Dichter zum Sprachrohr erkoren, auf daß die Wahrheit werde kund durch eines klugen Weibes Mund, und die Aphorismen ausschüttet wie ein junger Lord bei Wilde, sieht im Laster, das dunkle Schlupfwinkel aufsucht und einen Rest von Scham bewahrt hat, immer noch größeren menschlichen Wert als in der Tugend, die sich selbstgefällig spreizt und an hohlen Phrasen berauscht. – Man lächelt, man lacht in allen Stärkegraden. Was will man eigentlich mehr? Ich habe mich vorzüglich unterhalten – spricht der Genießer. ● II. Der Kritiker spricht: Ein bißchen leicht hat es sich Ludwig Thoma gemacht. Was für ältere Schwankfabrikanten die Fliegenden Blätter waren, fängt der Simplicissimus an für moderne Komödienschreiber zu werden: Fundgrube und Inspiration. Es gibt schon ein Schema der modernen Karikatur. – Weniger als neu ist die Technik. Sie greift auf die älteste deutsche Schwankschablone zurück. Der sündigende Familienvater und ertappte Biedermann in tausend Ängsten, der schließlich nicht nur ohne blaues Auge davonkommt, sondern noch unverdiente Ehren einheimst: das war das Rezept von vorgestern. Früher bat die eigene Frau den Frevler um Vergebung; jetzt droht ihm die Erhebung in den Adelsstand. Es ist nicht neu, daß der Übereifer eines Assessors alles Unheil anrichtet: ein gewisser Wehrhahn im Biberpelz ist mit ruhmreichem Beispiel vorangegangen. Es ist nicht neu, daß die Frauen als die wahren Stützen der Gesellschaft erscheinen: ein gewisser Ibsen hat das wohl schon vorher ausgesprochen. Es ist nicht neu, daß ein Sittlichkeitsfanatiker entlarvt wird: das war wohl schon das Schicksal eines gewissen Tartuffe. Und es ist billig, wenn Thoma die Herren Konservativen und Moralpächter nun der Reihe nach straucheln läßt; aber es ist nicht billig, daß der Satiriker von seinem Rechte zu übertreiben einen übertriebenen Gebrauch macht. ‚Was ist Moral?’ ruft der Moralist Thoma aus und wirft damit eine Frage auf, die ebenso schwer zu beantworten wie die nicht minder verfängliche des seligen Pilatus: ‚Was ist Wahrheit?’ Moral ist nicht bei den Prüden, bei den Sittlichkeitsheuchlern zu finden. Sie wollen das Volk bevormunden und fischen selbst im Trüben. Sie erklären dem Laster den Krieg und sind selbst die besten Brüder nicht. Wir stehen natürlich durchaus auf Thomas Seite; aber das hindert uns nicht einzusehen, daß er, wenn auch nicht offene Türen einrennt, so doch Selbstverständliches sagt. ● … Der Genießer wird sich durch die Einwände des Kritikers sein Vergnügen nicht stören lassen, sondern quittiert dankend über einen in allen Nuancen der Heiterkeit widerhallenden Abend.“ – [Die Inszenierung kam auf 345 Vorstellungen.]

Der Arzt am Scheideweg. Komödie in fünf Akten von Bernard Shaw. NZZ, 5. Dezember 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 338.
Kammerspiele, 21.11.08. – „Ein Erfolg war Bernard Shaws Komödie wohl kaum. In London vor zwei Jahren [Uraufführung am 20.11.06] so wenig wie jetzt in den Kammerspielen. Das Publikum, das vielleicht ein notwendiges Übel ist, aber immer die letzte (nicht die höchste) Instanz bleiben wird, schien anfänglich gefesselt und enthielt sich später, offenbar kopfscheu geworden, der kontrollierbaren Meinungsäußerungen. Wirklich gelacht hat es nur über einen Darsteller, der als geckiger Arzt aus eignem Komikerbedürfnis lispelte und auch sonst die Figur vollständig im Tone vergriff [Hans Wassmann in der Rolle des Dr. Walpole]. Die Engländer mögen sich trösten: auch das ‚Volk der Dichter und Denker’ – es war einmal! – vermag mit Shaws dramatischen Spiegelfechtereien nichts Rechtes anzufangen. – Soll ich von meinen eigenen Gefühlen sprechen, so waren Zweifel, Bewunderung und Übelkeit etwa gleich stark bei mir vertreten. Zweifel an einer den gesunden Menschenverstand knebelnden Handlung. Bewunderung für eine mit vollendeter Intuition gezeichnete Künstlerpersönlichkeit. Übelkeit, hervorgerufen durch etliche menschliche Entgleisungen des Verfassers. – Der Laie zweifelt. Zweifelt, daß der Konflikt des Stückes in dieser Zuspitzung möglich ist. Zweifelt in seines medizinischen Nichts durchbohrendem Gefühle an allem Medizinischen, das den breitesten Raum in der Komödie einnimmt. Ein Arzt kommt nimmermehr in die Lage, daß er, bei einem Bestand von zehn Betten, kein weiteres Bett in seiner Klinik unterbringen kann, wenn er den Wunsch hat, einen Patienten zu heilen. Kann er es in seiner Klinik (wegen Platzmangels) nicht, so braucht er den Patienten ja nur zu Hause zu behandeln: bei sich zu Hause oder bei ihm zu Hause. Wer retten kann und will, der hat auch die Möglichkeit dazu; dessen Vorsatz scheitert nicht an einer so nichtigen Kleinigkeit. Die Engländer haben ein prachtvolles Sprichwort: Where there is a will there is a way. Wolle nur, Arzt, und du kannst. – Gewiß, es ist im Grunde belanglos; aber diese Belanglosigkeit stellt die Handlung von vornherein auf eine schiefe Basis; überdies ist sie das Scharnier des Konflikts. Sir Colenso Ridgeon, ein berühmter Arzt, der ein Serum gegen Schwindsucht erfunden, erklärt am Tage seiner Nobilitierung kategorisch, er habe in seiner Klinik für keinen weiteren Patienten Platz, ohne einen andern dem sichern Tode preiszugeben. Er erklärt es wiederholt, und wir glauben es ihm nicht, trotzdem er es natürlich besser wissen müßte. – So liegt der Fall zu Beginn – unwahrscheinlich, in hohem Maße unglaubhaft. Die Sachlage verschiebt sich im zweiten Akt merklich: da erklärt Ridgeon plötzlich, er könne zur Not noch einen Fall behandeln, aber nicht zwei. Und nun will es der Zufall oder vielmehr der die Rolle des Zufalls übernehmende Dichter, daß der Arzt vor ein höchst ausgeklügeltes, spintisiertes Dilemma gestellt wird. (Die Komödie heißt im Original: The Doctor’s Dilemma): er soll zwischen einem anständigen Kollegen und einem genialen Schurken wählen. Beide sind schwindsüchtig, und er allein besitzt das Mittel, sie zu heilen; keiner seiner Fachgenossen vermag es. Gibt es das wirklich? Kann ein Arzt, der doch ein Mann der Wissenschaft und nicht Mitglied eines Geheimbundes ist, von seinem Medikament behaupten: ‚Wenn ich es verwende, heilt es. Wenn es ein anderer anwendet, tötet es – manchmal’? Gibt es das? Auf der einen Seite also: der Ehrenmann, ein armer Teufel von Arzt; auf der andern: ein Lump, dessen Kunst dem Kliniker einen starken Eindruck macht. (In Parenthese: kein Arzt hat je in dieser Weise den Wert zweier Menschenleben zu wägen.) Aber einen weit stärkeren macht ihm noch die Gattin des Künstlers, die er im Geiste schon als Witwe und vielleicht bald als seine eigene Frau sieht. Müssen die Ärzte erbärmliche Schubiaks sein, wenn solche Gedanken von ihnen Besitz ergreifen! Im Vergleich damit sind die kleinen Schuftereien des Pinsel- und Pumptalents ein Nichts. Wie mach’ ich es, denkt der Kliniker, die Frau zu ergattern? Behandle ich den Maler selbst, so rette ich ihn und habe das Zusehen; überlasse ich ihn einem meiner Kollegen, so ist er verloren und ich stecke den kostbarsten Preis, die Frau, ein. Er beschließt also, einen Mord zu begehen, für den er nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, mehr noch: der ihm die Achtung seiner Mitbürger einträgt; denn in ihren Augen gilt das Leben eines ‚Wohltäters der Menschheit’ natürlich mehr als das eines, der unnützes Zeug schafft. Und wirklich, es kommt, wie es Ridgeon vorausgesehen: unter den Händen des andern haucht der Künstler alsbald seine Seele aus. Nur in einem täuscht er sich: die Frau heiratet auf Wunsch des Verstorbenen schnell wieder, aber nicht Sir Colenso, der ihr um zwanzig Jahre zu alt ist. ‚Dann habe ich ja einen ganz uneigennützigen Mord begangen’, bemerkt der Geprellte. – Noch einmal: gibt es das? Der Laie zweifelt; der Fachmann dürfte überlegen lächeln, daß sich in Shaws Kopfe so die Welt der Ärzte malt. – Damit ist das Drama gerichtet. Es verletzt geradezu durch seine bis zur Absurdität gesteigerten Zumutungen. Unmögliches können wir glauben: wir können unbedenklich glauben, daß es ein Mittel gegen Tuberkulose gibt, obwohl ein solches Serum bis zum heutigen Tage leider ein frommer Wunsch ist. Aber gegen das Unwahrscheinliche lehnen wir uns mit der ganzen Wucht unseres Denkvermögens auf ... – Immerhin, die Handlung ist bei Bernard Shaw nur Vorwand, nicht die Wand selbst: ein dünner Lattenzaun, hinter dem sich der Irrgarten seiner Ein- und Ausfälle, seiner Kenntnisse und Bekenntnisse, seiner Satire und seiner Ironie breitet. Dieser ‚vorgeschrittenste Mensch, der heute lebt’ (so bezeichnet er sich selbst) ist in dramaturgischen Dingen keineswegs der vorgeschrittenste. Bernard Shaw ist ein Landsmann Oscar Wildes, aber ein Zeitgenosse Arthur Pineros. Irgendwo kommt bei ihm immer der dramatische Herdenfuß zum Vorschein; ein peinlicher Adelphi-Rest ist nicht überwunden. [Das Adelphi im Londoner Strand war der Inbegriff des spätviktorianischen Melodramas.] So auch hier, wenn ganz unvermittelt, nachdem der Maler schon in all seiner Gemeinheit entlarvt ist, ein Dienstmädchen auftritt, das ihn der Bigamie bezichtigt. Gräßlich überflüssig! – Die Handlung in The Doctor’s Dilemma (Der Arzt am Scheideweg bedeutet etwas völlig davon Verschiedenes) ist nicht nur Vorwand, sondern war teilweise auch Vorschrift. Das Werk hat eine eigenartige Entstehungsgeschichte. William Archer, der namhafteste englische Theaterkritiker, machte eines Tages die Entdeckung, daß Shaw bis jetzt in keinem seiner Dramen sich ernstlich mit dem Problem des Todes auseinandergesetzt habe, und forderte seinen Freund auf, den Nachweis zu erbringen, daß er zehn Minuten nicht über sich selbst und seine Geschöpfe zu lachen brauche; wenn er den ersten Dramatikern der Weltliteratur beigezählt sein wolle, müsse er einmal den Tod auf der Bühne behandeln. Wie zu erwarten, nahm Shaw die Herausforderung an. – Sie hat uns eine Sterbeszene von ungewöhnlicher Kraft und einer für Shaw ungewöhnlichen poetischen Weihe geschenkt. Hier hat er ein Können entfaltet, das zu uneingeschränkter Bewunderung zwingt. Kein Lebender macht ihm das nach. Überhaupt: die ganze Gestalt des genialen Malers ist von A bis Z gekonnt. Genialität und Künstlertum – eine solche Zweieinigkeit ist so ziemlich das Schwerste, das sich szenisch veranschaulichen läßt. Alles Reden hilft da nichts; das will aus dem Reichtum einer begnadeten Natur geschöpft sein. Shaws Louis Dubedat, der eine geliehene, goldene Zigarettendose mit der Unbefangenheit eines Kindes einsteckt, der alle Menschen anpumpt mit einer Selbstverständlichkeit, wie wir atmen, der sich kein Gewissen daraus macht, einem armen Schlucker seine letzten zwei Schilling aus der Tasche zu locken, der seine Frau vergöttert, was ihn nicht hindert, dem Dienstmädchen eine seiner Frau entwendete Fünfpfundnote für besondere Dienste einzuhändigen – dieser Louis Dubedat in seinem Gemisch von genialem Künstlertum und genialer Hochstapelei ist eine ebenso überzeugende Gestalt wie der junge Lyriker Eugene Marchbanks in Candida. Wenn alles, alles, was der dem Tag lebende Ire geschaffen, in ein frühes Grab gesunken sein wird: diese beiden bleiben und werden ewig (mit dem verrückten Pfarrer in John Bull’s Other Island als Dritten im Bunde) für den Ruhm ihres Schöpfers zeugen. – In einer mauen Komödie steht eine Sterbeszene allerersten Ranges (Bravo, William Archer!). Es ist herrlich, wenn der schon den Duft der Asphodeloswiese Witternde sein Credo ablegt: ‚Ich glaube an Michelangelo, Velasquez und Rembrandt, an die Kraft der Zeichnung, an das Mysterium der Farbe, an die Erlösung von allen Übeln durch die ewige Schönheit und an die Sendung der Kunst.’ Es ist wundervoll, wie er die Macht der Kunst über den Künstler feiert. Es ist ein genialer Zug, daß er mit dem letzten Atemzug fragt, ob der Reporter noch da sei. Vanitas vanitatum vanitas! – Sie sehen, ich bewundere in hyperbolischen Ausdrücken; daneben kann ich freilich ein Gefühl der Übelkeit kaum unterdrücken. Wenn Dubedat seine Amoralität (nicht seine Immoralität: kein Künstler ist unmoralisch; alle großen Künstler sollten morallos sein) mit den Worten entschuldigt, er sei ein Schüler Bernard Shaws, so ist das ein Witz. Wenn dieser Shaw aber sich selbst als den vorgeschrittensten Menschen bezeichnet, der heute lebt, so ist das geschmacklose Reklame. Wenn er seinem Künstler nachsagen läßt, das Verwerfliche an ihm sei seine Mißachtung aller Dinge mit Ausnahme seiner eigenen Tasche und seiner eigenen Ideen gewesen, so reißt er sich selbst die Fetzen vom Leibe. Das Naturgebot des Künstlers, sich darzustellen, heißt jedoch nicht: sich bloßzustellen. Und es ist der Gipfel nicht nur der Geschmack-, sondern der Schamlosigkeit, wenn der ehemalige Journalist Shaw einen Journalisten die Bitte aussprechen läßt, eine Frau, die eben ihren Mann verloren, möge ihm einiges darüber mitteilen, ‚wie man sich als Witwe fühlt,’ damit er einen guten Titel für seinen Artikel habe. Das nennt man in England bad taste; low middle-class taste; noch schlimmer: low Irish middle-class taste. Von Bernard Shaw gelten nur zwei Drittel dessen, was über sein Abbild Louis Dubedat gesagt wird: ‚ In seinem Denken ein Mann; in seinem Träumen ein großer Dichter und Künstler; –  – in seinem Wesen ein Kind.’ – The Doctor’s Dilemma hätte ein unvergängliches Werk werden können; so ist es eine verfehlte Komödie mit einer unvergänglichen Gestalt geworden. Aber selbst der verfehlteste Shaw ragt noch turmhoch über die Strohdächer unserer heimischen Dramatiker.“ – [Ungeachtet von MMs Unkenrufen hielt sich das Stück vierundeinhalb Jahre auf dem Spielplan und brachte es auf insgesamt 159 Aufführungen.]

Berliner Theater. NZZ, 7. Dezember 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 340.
Henrik Ibsen, Baumeister Solneß (Lessing-Theater, 28.11.08). – „Man darf ein Loblied auf den Wandel der Zeiten singen. Vor fünfzehn Jahren, als Henrik Ibsens Baumeister Solneß im Lessing-Theater ans Licht der Welt trat [am 19.01.1893], herrschte noch in Berlin und Umgebung eine solche Finsternis, daß Dichtung und Dichter verhöhnt oder doch bespöttelt wurden. Vom Publikum wie von der Kritik. Beide waren noch weit entfernt von Ibsen-Reife. In der Vossischen Zeitung, wo bald darauf Paul Schlenther als Lichtbringer und Ibsen-Pionier wirken durfte, stand damals noch zu lesen: ‚Mystik, Hysterie, Hypnotismus, Telepathie und ganz gemeiner Aberglaube verbinden sich hier zu einem Delirium.’ [20.01.1893, Morgenausgabe]. Das schrieb – vor anderthalb Jahrzehnten – der Referent der in Fragen der dramatischen Kunst vorgeschrittensten Berliner Tageszeitung; das würde heute der rückständigste Reporter des Scherlschen Verlags [damals einer der größten Berliner Zeitungs- und Illustrierten-Verlage, gegründet von August Scherl (1849-1921)] nicht zu schreiben wagen, ohne daß er befürchten müßte, seine Stellung zu verlieren. So hat sich die Meinung über das größte dramatische Genie des neunzehnten Jahrhunderts (wir können hier ruhig einen Superlativ anwenden) in verhältnismäßig kurzer Zeit geändert, und an diesem Wandel haben die Ibsen-Aufführungen Otto Brahms ihren redlichen Anteil. Einen so überwältigenden Anteil, daß in der ernst zu nehmenden Kunstkritik eigentlich nur noch eine Ansicht über den norwegischen Dramatiker herrscht. Ein Eiferer und Geiferer wie Max Nordau, der ihn lächerlich zu machen suchte, hat heute nur den Erfolg, daß er selbst lächerlich wirkt. – Auch beim großen Publikum, dieser Hydra, der ewig neue Köpfe wachsen, hat das Verständnis für Ibsen beträchtlich zugenommen, soweit es sich von Liebe fern halten mag. Liebe wird eben Lucifer nie ernten; darauf muß ein Zertrümmerer, ein Bilderstürmer, ein Zerstörer der Hausaltäre verzichten. Wer uns bittere Wahrheiten sagt, dem sind wir im besten Falle dankbar. Aber es ist schon viel, sehr viel, daß man sich die Mühe nimmt, den verschlungenen Gedanken des nordischen Magus zu folgen, statt sie wie früher mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite zu schieben oder mit billigem Witze abzutun. Auch jetzt wird allerdings noch manchmal am falschen Orte gelacht, und es wird gelacht, wo kaum ein Lächeln am Platze wäre; man braucht sich jedoch darüber nicht zu erbosen, denn das Theater ist und bleibt eine Massenansammlung von Menschen, der man ihre Affekte nicht vorschreiben kann, die also immer ihre Defekte behalten wird. Unter tausend Eiern findet sich gewiß mehr als ein faules; warum also nicht unter tausend Hörern etliche, deren Ohr nur die Worte vernimmt und nicht die Symbole, die dahinter stehen! Deshalb darf man doch mit Befriedigung, mit Stolz und mit Freude einen ungeheuren Fortschritt des Verständnisses feststellen – wenigstens in Berlin. – Freilich, Baumeister Solneß wie Klein Eyolf, im Gegensatz etwa zu John Gabriel Borkman, weckt selbst bei Kennern nur das Gefühl frostiger Bewunderung. Die Menschen dieses Werkes sind zu sehr im Abstrakten, in der Idee stecken geblieben und lassen sich schwerer als andere Altersgestalten des Meisters ins Körperliche übersetzen. Dazu kommt, daß hier die Symbole eine weniger schlagende Kraft als in andern Dramen Ibsens besitzen und daß sie zu oft vorgeschoben werden, wodurch der Dialog streckenweise ins Vage entgleitet oder doch seine unumschränkte Gewalt über den Hörer einbüßt. – Auch die Aufführung des Lessing-Theaters war nicht imstande, darüber hinwegzutäuschen. Weder Albert Bassermann als Baumeister noch Ida Onloff als Hilde Wangel vermochten die Brücke zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem der Idee zu schlagen; es fehlte beiden an einem gewissen magischen Fluidum, das sie befähigt hätte, sich in jedem Augenblicke über sich selbst zu erheben und mühelos den Übergang von der Sinnenwelt zur Welt der Abstraktion zu finden. Besser bestellt war es um die Nebenfiguren, so blaß sie auch der Dichter gelassen hat: namentlich Hilda Herterich (als Kaja) fiel wieder durch vornehmste künstlerische Zurückhaltung auf. – Damit wäre der Ibsenzyklus des Lessing-Theaters vollendet. [Es fehlten noch Klein Eyolf, Wenn wir Toten erwachen und Der Bund der Jugend, die im Februar bzw. März 1909 herausgebracht wurden.] War diese Vorstellung des Baumeister Solneß auch nicht der Kranz, der an die Wetterfahne gehängt wurde und das fertige Gebäude krönte, so bleibt das ganze Unternehmen doch eine glorreiche, dankenswerte Leistung – ein Triumph moderner deutscher Darstellungskunst, dem schwerlich ein anderes Land etwas Ebenbürtiges an die Seite zu setzen hat.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Dezember 1908, Drittes Morgenblatt, Nr. 342.
Henry Bernstein, Israel (Neues Theater, 01.12.08). – „Ein antisemitischer Prinz beleidigt im Klub einen jüdischen Bankier, zwingt ihm dadurch einen Zweikampf auf, will den Verhaßten töten, wird von seiner Mutter über das Geheimnis seiner Abkunft aufgeklärt (‚töte ihn nicht, er ist dein Vater’) und scheidet freiwillig aus dem Leben, weil er sich in seiner Gefühlsverwirrung keinen andern Ausweg weiß … Eigentlich müßte sich nun der Millionär entleiben, weil er den Sohn in den Tod getrieben, und die Mutter ins Kloster gehen, weil sie den Untergang beider auf dem Gewissen hat. Es wäre logisch wie psychologisch einwandfrei; aber Logik und Psychologie fliegen zum Fenster hinaus, wenn die Tendenz zur Tür hereintritt. – ‚Töte ihn nicht, er ist dein Vater!’ Wo haben wir das schon einmal gehört? Richtig – mit diesem Angstschrei einer gequälten Mutter schließt (knalleffektvoll) der dritte Akt von Oscar Wildes Frau ohne Bedeutung. Wilde hat die Situation gewiß nicht erfunden: er nahm ohne Bedenken das Gerüst der Gallier und hängte seinen eigenen irischen Geist darüber. Bei Sardou oder einem Sardou – das Patronymikon ist im Laufe der Zeit ein Appellativum geworden – kommt wohl Ähnliches vor. Aber, wenn auch nicht mehr neu, dieses ‚Töte ihn nicht, er ist dein Vater’ wirkt wie eine Petarde, mit so unfehlbarer Sicherheit, daß Henry Bernstein es zum Angelpunkt seines Dramas Israel machte. Und er kennt sein Publikum; weiß, daß die Bombe in Paris wie in London, in New York wie in Berlin platzen wird, wo eine international farblose Gesellschaft vor seinen Stücken sitzt, die nachher ins Ritz oder ins Carlton, ins Waldorf oder ins Bristol geht. Henry Bernstein ist der Dichter des internationalen Hotelpublikums. – Wilde macht mit dem Angstruf einen wirksamen Aktschluß. Lord Illingworth hat die Braut seines jungen Sekretärs beleidigt; dieser will ihm an den Leib, da schreit die Mutter: ‚Töte ihn nicht, er ist dein Vater!’ Vorhang. Die Situation ist so zugespitzt, daß die Mutter ihrem Sohn das Geheimnis seiner Geburt enthüllt, um Unheil abzuwenden. Bernstein macht daraus einen halben Akt. Wenn man schon eine so unbezahlbare Szene hat, muß man sie auch nach Gebühr ausschlachten. Da läßt sich ein dramatischer Eiffelturm bauen, eine klotzige Klimax, daß den Leuten die Augen übergehen sollen. Seitdem der zweite Akt des Voleur [1907] durch seine stupende Mache eine gewisse Panoptikumsberühmtheit im zivilisierten Europa erlangt hat, fühlt der Franzose offenbar die nationale und persönliche Verpflichtung, sich von Mal zu Mal zu übertrumpfen. Langsam, mit inquisitorischer Wollust und technischem Raffinement werden der Herzogin von ihrem Sohne die Würmer aus der Nase gezogen. (Verzeihung für das häßliche Bild; wenn man im Stile Bernsteins bleiben will, darf man Deutlichkeiten nicht scheuen.) Also der Prinz unterwirft seine im Rufe höchster Frömmigkeit stehende Frau Mama einem peinlichen Kreuzverhör; prüft sie auf Herz und Nieren; läßt sich ihre ganze Vergangenheit beichten; gibt sich nicht mit Gründen der Vernunft und der Menschlichkeit zufrieden; verlangt von ihr einen Eid; legt ihr die Daumenschrauben an; spannt sie auf die Folter, bis sie endlich, von Gewissensqualen verzehrt, gesteht, der jüdische Bankier sei sein Vater! Entsetzlich! – Sardou est mort; à bas Henry Bernstein. Es ist fast eine Beleidigung, den älteren und den jüngeren Dramatiker in einem Atem zu nennen; denn jener hatte Anmut und Geist, ehe er sich Sarah Bernhardt in geschäftsmäßiger Ehe verband, während dieser ihm nur die Kniffe des Handwerks abgesehen hat, ohne seines Geistes einen Hauch zu verspüren. Sardou dürfte diesen Erben aus anderem Geblüte verleugnen mit derselben Entrüstung, mit welcher  der Prinz von Clare seinen israelitischen Erzeuger abschüttelt. – Bernstein kennt nur einen Gott: den szenischen Effekt. Er ist ihm Ahriman und Ormuzd zugleich. Ihm opfert er alles. Sogar die Wahrhaftigkeit seines Bankiers, an den wir eher zu glauben vermögen als an eine von Bernstein gezeichnete Herzogin oder gar an einen katholischen Priester. Wenn – um einen einzigen Fall herauszugreifen – Justin Gutlieb erklärt, er habe seine in rechtmäßiger Ehe gezeugten Kinder gehaßt und immer nur den Prinzen geliebt, so fühlen wir uns versucht, ihm ‚Schwindel!’ zuzurufen, denn der jüdische Mann soll noch gefunden werden, der nicht mit Affenliebe an seiner Brut hinge. Beständig schwebt einem das Wort ‚Schwindel’ auf den Lippen. Nicht nur gegenüber den Charakteren, die, statt mit einer Seele, mit dem Defekt der Effekte behaftet sind, sondern auch gegenüber den Situationen. Gleich das erste Rencontre zwischen Vater und Sohn weckt Bedenken. Ein merkwürdiger Prinz, der einen älteren Herrn ohne Grund so flegelhaft behandelt! Ein merkwürdiger Klub, in dem sich solche Auftritte abspielen können! Eine merkwürdige Aristokratengesellschaft, die schweigend dabeisteht, während einer ihresgleichen sich unwürdig benimmt! Bankier Gutlieb brauchte nur zu erklären, daß er ein Gegner des Duells, und Israel wäre nach dem ersten Akt zu Ende. Ein Gutlieb läßt sich eher den Hut vom Kopfe schlagen, als daß er sich schlägt. Er schlägt sich vor allem nicht mit seinem eigenen Sohn, den er angeblich so geliebt hat; macht daraus keine Ehrensache. Aber so ist Henry Bernstein: er treibt den Teufel durch Beelzebub aus, bekämpft ein Vorurteil, um ein andres stillschweigend hinzunehmen. Er macht gegen den Antisemitismus Front und beruhigt sich bei der in Frankreich herkömmlichen Form des Duells, nur deshalb, weil er es für seine Zwecke benötigt. Und da wir unmöglich von ihm glauben können (so beschränkt ist er nicht), daß er all das glaubt, was er seine Hörer glauben machen will, so müssen wir ihm nachsagen, daß er mit seiner Gesinnung schnöden Schacher treibt. Er verkauft sein Herz an einen Aktschluß; sein Verstand ist ihm für einen szenischen Effekt feil. – Es spricht immerhin für den Geschmack unseres Publikums, daß man dieses knallige Stück im Neuen Theater, wo Bernstein sein Stammquartier gefunden hat, nicht mit ungetrübtem Wohlbehagen aufnahm. In den Beifallslärm der Überrumpelten schrillte der Pfiff eines Enttäuschten; sie hatten keine Hintermänner, er durfte sich mit vielen solidarisch fühlen, die aus Anstand schwiegen.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Dezember 1908, Erstes Morgenblatt, Nr. 359.
Theodor Wolff, Niemand weiß es (Kammerspiele, 05.12.08); Gustav Wied, Thummelumsen (Hebbel-Theater, 11.12.08). – „Warum haben die Kammerspiele das Schauspiel Niemand weiß es von Theodor Wolff wieder aufgegriffen? War dem Werk vor zwölf Jahren Unrecht geschehen, als es am königlichen Schauspielhaus nach einer lauen Aufnahme bald in der Versenkung verschwand? Sollte eine Revision des Urteils herbeigeführt werden? Niemand weiß es. Oder wollte man der ausgezeichneten Künstlerschaft Gertrud Eysoldts, die seit langem brach liegt, Gelegenheit geben, sich in einer ihrer würdigen Rolle zu entfalten? Oder endlich war es der japanische Rahmen, der die bilderfrohe Leitung der Kammerspiele lockte? Sollte Emil Orlik seine duftigsten Träume von Nipon auf die Szene bringen? Niemand weiß es. – Einerlei: es war nichts. Nicht der passendere Ort, nicht die passendere Darstellung, nicht die glänzendere Ausstattung vermochten ein günstigeres Urteil für die verlorene Sache zu erwirken. Totgeborne Kinder erwachen nicht zum Leben, selbst wenn man sie in den schönsten Glassarg legt und ihnen die würdigste Trauerfeier rüstet. Jetzt ist Niemand weiß es mausetot. – Damals war Theodor Wolff noch der Pariser Korrespondent des Berliner Tageblattes; inzwischen ist er zum Chefredakteur der Mosseschen Zeitung aufgerückt. Die Rangerhöhung des Verfassers hat auf sein Werk keinen andern Einfluß als den, daß man mit kritischerer Elle mißt. Auch Stellung verpflichtet. Heute wundert man sich nur, daß der gewandte Feuilletonist ein solches Drama schreiben konnte, das, wenn nichts andres, zum mindesten überflüssig ist. Er hätte in derselben Zeit zehn gute Feuilletons schreiben können, und in Paris hat merkwürdigerweise noch jeder deutsche Korrespondent gut geschrieben; zehn gute Feuilletons, die der Kunst näher standen als dieses völlig belanglose, japanische Stück. Das nur nach der schlechten Seite auffällt. Das einfach gleichgültig ist und gleichgültig läßt. Das nicht einmal als Ruhmesblatt für den (sonst mit Einschränkung zu bewundernden) Stilisten gelten kann. Ja, es laufen ihm Entgleisungen unter, deren sich der Feuilletonist in seinen besten Stunden wohl kaum schuldig machen würde. Man traut seinen Ohren nicht, wenn der Maler Yori, geblendet von der Pracht eines Palastes, in die geflügelten Worte ausbricht: ‚Hier ist es ja großartig.’ Oder wenn derselbe Maler seine Beklemmung über die Dumpfigkeit des Palastes also äußert: ‚Es legt sich einem ordentlich auf die Brust.’ Und solcher Entgleisungen gibt es nicht zwei, sondern eher zwei Dutzend. Dem Theodor Wolff unter dem Strich wäre derlei nicht begegnet, was uns gegen den Strich geht. – Die Erinnerung daran wird vermutlich lebendiger bleiben als an den Inhalt des Dramas. Es erzählt von der Liebe eines japanischen Mädchens zu einem Maler, das – Liebe hin, Liebe her – einen Fürsten heiratet. Der Maler tötet den Fürsten, und als ihn die Diener ergreifen, sagt er: ‚Ihr mögt mich foltern so viel ihr wollt, ich werde nie verraten, warum ich ihn getötet habe.’ – Wir werden nie erraten, warum Theodor Wolff diese überflüssige Japonnerie geschrieben hat. ●●● Warum hat das Hebbel-Theater die vieraktige Komödie Thummelumsen von Gustav Wied aufgeführt? Jeder weiß es. Weil Wied augenblicklich Mode, weil er ein Marktwert ist. Und die Beliebtheit eines Dichters fällt heutzutage schwerer ins Gewicht als die Qualitäten einer Dichtung. Warum veröffentlicht der Verlag S. Fischer, Berlin, diese Komödie? Siehe oben. Bisweilen ist aber das Publikum besser als sein Ruf und hält sich nicht an Gustav Wied, sondern an Thummelumsen, will sagen: es richtet nicht nach dem Marktwert, sondern nach dem absoluten Wert, nicht nach der äußeren Marke, sondern nach dem innern Mark; sein Unterhaltungsbedürfnis ist zum Glück stärker als sein Gedächtnis. – Thummelumsen ist die Komödie eines armen Teufels, der eine Sehnsucht hat. ‚A jeder Mensch hat halt a Sehnsucht.’ Sein ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, das kleine Gut seiner Väter wieder zu erwerben. Da gewinnt er in der Lotterie, und nun glaubt er, am Ziel seiner Wünsche zu stehen. Aber die Klitsche wird ihm im letzten Augenblick von einer kinderreichen Witwe aus Rache weggeschnappt. Will er seine Sehnsucht verwirklichen, so muß er in den sauren Apfel beißen und zu dem Kauf des Gutes ein halbes Dutzend ungezogener Göhren mit in den Kauf nehmen. Und da ihm kein Preis für seine fixe Idee zu teuer ist, tut er, was er nicht lassen kann. Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er noch heute. – Wäre ein großer Dichter über diesen dürftigen Stoff gekommen, so hätte er eine menschliche Tragikomödie daraus gestalten können. Aber Gustav Wied ist nur ein kleiner Dichter, und sein Blick sieht mehr die Lächerlichkeit, der ein von einer fixen Idee Besessener anheimfällt, als das Rührende, das von einem Fanatiker der Sehnsucht ausgeht. Er hat zu viel Bosheit und Niederträchtigkeit im Leibe, als daß er so ein armes Hascherl an sein liebendes Herz drücken könnte. Er betrachtet nicht das putzige Treiben der Kreatur mit einem heitern, einem nassen Auge; eher mit einem heitern und einem krassen Auge. Für unsere Bedürfnisse trägt er durchweg zu stark auf. Er sagt alles so oft, daß es seine Schlagkraft verliert, wenn es überhaupt solche besaß. Und dann: diese Figuren sind uns durch die Bank Hekuba. Was geht uns Herr Emanuel Thomsen, genannt Thummelumsen, an? Wir wünschen ihm alles Gute. Aber wenn wir persönlichen Anteil an ihm nehmen sollen, müßte er selbst mehr Persönlichkeit sein, als ihm die Bildkraft seines Schöpfers mitzugeben vermocht hat.“

Der Graf von Gleichen. Schauspiel von Wilhelm Schmidtbonn. (Erste Aufführung in den Berliner Kammerspielen am 22. Dezember.) NZZ, 30. Dezember 1908, Zweites Abendblatt, Nr. 363.
„‚Es war einmal ein Graf – ein deutscher Graf’ … Mit dem typischen Märchenanfang erzählt Cäcilie in Goethes Stella die Geschichte des Grafen von Gleichen, der während des ersten Kreuzzuges in türkische Gefangenschaft geriet; der Tochter seines Peinigers, um die Freiheit wieder zu erlangen, die Ehe versprach; trotzdem er Weib und Kind daheim hatte, seine Retterin mit nach Thüringen nahm und, nachdem er die Zustimmung des Papstes eingeholt, seine Liebe zwischen beiden Frauen teilte. Wie ein Märchen aus uralten Zeiten hebt die Erzählung bei Goethe an; wie ein Märchen schließt sie treuherzig-schlicht: ‚Und ihr Glück und ihre Liebe faßte selig Eine Wohnung, Ein Bett und Ein Grab.’ – Ganz wie ein Märchen empfinden wir diesen Stoff des Grafen von Gleichen, der die Dramatiker, auch nach Goethe, noch oft gelockt hat. Aber Goethe schon sah ein, daß der ursprüngliche Schluß einer Doppelheirat nicht haltbar sei, da, wie Schiller mit Recht hervorhob, unsere Sitten ‚ganz eigentlich auf Monogamie gegründet sind’. Gleichwohl bietet der Stoff noch heute reiche Entwicklungsmöglichkeiten, wenn sie auch schwerlich nach der tragischen Seite hin liegen. Ein Moderner, der die alte Sage aufgreift, müßte nun auch den Mut haben, allen Empfindungsballast wegzuwerfen und rücksichtslos modern zu sein. – So modern wie etwa Bernard Shaw im Arzt am Scheideweg. Da führt der Maler, als ihm vorgehalten wird, daß in England Zuchthausstrafe auf Bigamie steht, dieses Verbrechen mit folgenden Worten ad absurdum: ‚Bigamie – das heißt eine zweite Frau heiraten, bevor die erste tot ist. Aber das kann man ja gar nicht, weil diese zweite Ehe dann ja gar keine Ehe ist. Folglich ist Bigamie, genau betrachtet, ein ganz unmögliches Verbrechen.’ Und die um den Künstler versammelten Ärzte reden nicht, wie das Strafgesetzbuch, von einem Verbrechen wider die Sittlichkeit, sondern der eine spricht von Sorglosigkeit und Vergeßlichkeit, ein anderer gar meint jovial: ‚Na, er treibt’s also mit zwei Frauen.’ Das ist eine extrem moderne Auffassung: immerhin, sie ist modern. – Wollen wir ehrlich sein – und Ehrlichkeit ist in diesen Dingen ein Gebot –, so müssen wir sagen: die meisten Männer sind polygam veranlagt, genauso wie in den meisten oder sicher doch: in vielen Frauen ein starker Trieb zur Monogamie lebt. Aus dieser polygamen Veranlagung des Mannes und der monogamen Neigung des Weibes können schwere Konflikte entspringen, und man darf ohne Übertreibung behaupten, daß auf ihnen die Hälfte aller dramatischen Literatur beruht. Ein Mann zwischen zwei Frauen – das ist das Thema ungezählter Dramen. Gewöhnlich stehen sich die Ehefrau und die Geliebte gegenüber. Hier hat das Thema eine gefährliche Zuspitzung erfahren: die beiden Frauen sind zugleich die beiden Ehefrauen. Eine Zuspitzung, die in unsrer wirklichen Welt unmöglich wäre, weil wir den Bigamieparagraphen nicht mehr aus dem Komplex unsrer Vorstellungen ausschalten können, und die doch auch in der Welt der Sage als etwas Besonderes empfunden wurde, sonst hätte man nicht Gottes Statthalter auf Erden als obersten Richter dieser schwierigen Lage herangezogen. Es stehen sich also im Falle des Grafen von Gleichen nicht Weib und Kebse gegenüber, sondern zwei völlig Gleichberechtigte. – Schmidtbonn hat nun leider dem Problem den Boden abgegraben oder es zum mindesten stark verschoben, indem er diese beiden Gleichberechtigten vor seinem Grafen nicht gleichberechtigt sein ließ. Kein Zweifel, der Graf liebt seine blonde deutsche Frau nicht mehr, seine sinnliche Liebe gehört nur noch dem schwarzen Türkenmädchen. Die Burgfrau, die, eine andere Penelope, so lange schmachten mußte, verzehrt sich in Sehnsucht nach ihrem Herrn; er aber geht zur Türkin, die ein Kind von ihm unter dem Herzen trägt. Es ringen also letzten Endes eine Ungeliebte und eine Geliebte, die Geliebte miteinander. Und die nicht mehr Geliebte muß ihre schwächere Position dumpf fühlen, wenn sie auch darüber nicht zur vollen Klarheit kommt, sonst brauchte sie die verhaßte Nebenbuhlerin nicht durch Gewalt zu beseitigen, indem sie sie einen Abhang hinunterstößt. – Dieser Ausgang stand, ganz unnötigerweise, von vornherein fest. In einem durchaus überflüssigen Vorspiel, das den Grafen im Kerker zeigt, schließt er einen Pakt mit dem Tode, der ihn frei läßt unter der Bedingung, daß ihm das Leben des Mädchens gehöre. Was soll das? Erstens ist es nicht klug gehandelt vom Dramatiker, sich so früh in die Karten blicken zu lassen, das Ende vorwegzunehmen und auf Spannung freiwillig zu verzichten; dann aber – und dies ist das Wichtigere – wird ein deterministisches, ja fatalistisches Moment eingeführt, das den Kausalnexus der Begebenheiten aufhebt. Ein moderner Dramatiker sollte nicht leichten Herzens die stolzeste Errungenschaft des neueren Dramas, das Gesetz des freien Willens und der Verantwortlichkeit, opfern. Solche Rückfälle in das antike Drama oder die romantische Schicksalstragödie lassen sich durch nichts entschuldigen. ‚In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne’, heißt es bei Schiller [Die Piccolomini, II. vi], und wir wollen nicht, daß das Schicksal wieder in die Sterne verlegt, also von überirdischen Mächten abhängig werde. – Ein Grundgebrechen scheint mir endlich, daß wir gar so wenig von dem Grafen erfahren. Wer ist dieser Graf von Gleichen? Wir wissen nichts, so gut wie nichts von ihm. Er hat Schweres erlitten – das ist alles. Aber das allein gibt ihm noch nicht das Recht, zwei Frauen für sich zu beanspruchen. Ich werde den Gedanken nicht los: mit welchem Rechte verlangt er das? Wer Außergewöhnliches heischt, muß auch etwas Außergewöhnliches sein. Daß er zwölf Jahre im Kerker gelegen, genügt nicht. Daß er jetzt sein Glück vom Leben fordert, ist nur zu begreiflich; daß er es just in dieser Form fordert, ist eine Vermessenheit. Er könnte alles fordern, wenn er eine innere Berechtigung dazu nachwiese; aber die bleibt er (oder sein Dichter) schuldig. Erwähnenswert übrigens, daß uns auch die Türkin fremd bleibt. Die Gräfin rügt einmal ihr ‚heidnisch wildes Wesen’; das scheint jedoch nur in ihrer Einbildung zu existieren, denn Naëmi hat gar nichts von der Orientalin an sich und macht ihrem Taufnamen Fides alle Ehre. Wäre Naëmi eine echte Türkin, sie fände den Konflikt, der ihr aufgenötigt wird, vielleicht einfach lächerlich, denn in ihrer Heimat ist es doch Brauch, daß sich mehrere Frauen in den Besitz Eines Mannes teilen. – Dieser Mangel an Charakterisierungsvermögen, der an zwei Hauptfiguren zutage tritt, mag es erklären, daß die Dichtung, der ein so interessanter Stoff zugrunde liegt, nur in wenigen Augenblicken wirklich packt. Am stärksten in der großen Auseinandersetzungsszene der beiden Frauen, wo Schmidtbonn nicht vor dem Äußersten zurückschreckt. Hier wagt er es, die eine Nebenbuhlerin vor der andern im Staube knien zu lassen, und die bedenkliche Situation bleibt vor jeder lächerlichen Wirkung bewahrt. Auch sonst fehlt es dem Dichter keineswegs an Kühnheit. Mitten in die Tragik der Begebenheiten legt er das Liebesgetändel zweier steinalter Leute. Das hat einen gewissen Shakespeareschen Schmiß. Und wenn die Frauen ganz unbefangen von den Geheimnissen ihres Sexuallebens reden, mag man sich an Hebbel erinnert fühlen. Aber es ist absurd, wie der Bonner Universitätsprofessor [und persönliche Förderer Schmidtbonns] Berthold Litzmann [1857-1926] zu behaupten, der Graf von Gleichen komme unmittelbar nach Heinrich von Kleist und von ihm werde man ‚eine neue Epoche des deutschen Dramas datieren’ [Quelle nicht ermittelt]. – Auch das Publikum der Kammerspiele schien anderer Meinung. Es bereitete dem Werk einen Erfolg, der etwa zehn Aufführungen verbürgen dürfte (das ist nicht viel für Berliner Verhältnisse). Die Nachwelt hat ja den Trost, daß ihr das Echte unverloren bleibt; der Mitwelt aber muß das Recht gewahrt bleiben, vom Guten zum Besseren vorzuschreiten.“ – [Das Werk hielt sich drei Jahre lang im Repertoire und brachte es auf 66 Aufführungen.]

Berliner Theater. NZZ, 4. Januar 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 4.
Richard Skowronnek u. Richard Wilde, Bretzenburg (Lessing-Theater, 25.12.08). – „Richard Skowronnek, der Mitvater des Husarenfiebers, und Richard Wilde, Redakteur am Berliner Börsen-Courier, haben mit vereinten Kräften einen Schwank Bretzenburg geschrieben, den Dr. Otto Brahm am ersten Weihnachtsfeiertag (captatio benevolentiae!) der Gemeinde seines Lessing-Theaters vorsetzen zu können glaubte. Aber selbst die mildeste Feststimmung, die zwei Akte eine wahre Engelsgeduld übte, lehnte sich zum Schlusse energisch gegen diese zu einer Posse zerdehnte (non-Posse wäre vielleicht richtiger), ohne Pfeffer und Salz angerührte Zeitungsnotiz auf. – […] … Wenn Otto Brahm sinkt, dann sinkt er leider gleich klaftertief. Wie gering muß er von seinen Gästen denken, daß er ihnen einen solchen Braten am ersten Weihnachtstag zu servieren wagt! Möglich, daß es beim Theater nicht ohne Zugeständnisse abgeht; aber solche Zugeständnisse haben das Fatale, daß noch kein Fleckenstift für sie erfunden ist. Kann Brahm von Ibsen nicht leben, so sollte er sich zu gute, sollten ihm seine trefflichen Menschendarsteller zu schade sein, mit Skowronnek und Wilde zu sterben. In Bretzenburg möchte ich nicht einmal begraben sein.“

Berliner Theater. NZZ, 8. Januar 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 8.
Max Bernstein, Die Sünde (Neues Schauspielhaus, 31.12.08). – „Max Bernstein, der Münchner Cicero, der sich von angestrengter Verteidigertätigkeit alljährlich durch mindestens eine heitere Bühnenarbeit erholen zu müssen scheint, hat ein Lustspiel geschrieben (oder schreiben wollen): Die Sünde. – […] Selbst am Silvesterabend (Max Bernstein kennt aus seiner Praxis das Mittel der captatio benevolentiae, das bei unsern Theaterdirektoren jetzt in hoher Gunst steht) – selbst am Silvesterabend hatte man im Neuen Schauspielhaus das Gefühl, als schaukle man auf sturmgepeitschter See. Das Publikum kargte trotz festlich gehobener Stimmung nicht mit Äußerungen seines Unwillens, so weit es seine tiefe Trauer nicht schweigend trug. – Und dies gibt mir Anlaß zu einem kurzen Nachwort. Die Sünde ist nicht, daß Max Bernstein Die Sünde schreibt. Ein jeder darf sich die Zeit vertreiben, wie er will, wenn er nicht den Anspruch erhebt, uns damit die Zeit zu vertreiben. Die Sünde ist, daß solches Zeug aufgeführt wird. Nur weil Herr Bernstein, ein berühmter Mann, dafür verantwortlich zeichnet, obwohl es unverantwortlich ist. Wäre das Stück von Herrn Sternbein, kein Theater der Welt hätte es gespielt. Traurig, daß heute der Name allein entscheidet. Da ich erst neulich über dieses Thema ein Klagelied angestimmt habe, brauche ich mich nicht weiter darüber auszulassen. Die Sünde ist, daß durch dieses sinnlose System – sinnlos, weil das Publikum nach dem Durchfall wegbleibt – die Fabrikanten mit Kundschaft zu beständiger Produktion gespornt werden, während annoch Ringenden die Möglichkeit, sich ein Absatzgebiet zu schaffen, erschwert wird. Ist wirklich, wie die Direktoren behaupten, kein Nachwuchs da? Nun, sie tun auch nichts, ihm die helfende Hand zu reichen. Im abgelaufenen Jahre 1908 hat sich, soweit meine Kenntnis reicht, kein einziger junger Dramatiker in den Sattel geschwungen, während auf dem Gebiete des Romans eine ganze Reihe von Neulingen zu Namen und Ansehen gelangt sind. Zufall? Vielleicht. Aber in keinem Falle entschuldigt er das jetzige Verfahren, daß man Bernstein spielt und den talentvollen, hungernden Sternbein zappeln läßt. Hoffentlich wird 1909 einige hinfällige Dramatiker wegkehren und für jüngere Kunstläufer die Bahn säubern.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Januar 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 23.
Gaston Arman de Caillavet, Robert de Flers u. Emmanuel Arène, Der König (Lessing-Theater, 16.01.09). – „Im Lessing-Theater schickt man sich an, die künstlerische Arbeit etlicher Jahre zu sammeln und in einer Revue vorüberziehen zu lassen: der Ibsen-Zyklus, der dreizehn Werke des Meisters umfaßt, beginnt in dieser Woche. ‚Voilà comme je suis’, scheint uns Direktor Brahm zuzurufen. ‚Da habt ihr meine Lebensarbeit. Für Ibsen habe ich mein Bestes eingesetzt. Ich habe den Stil für diese Gattung des intellektuellen Dramas geschaffen, habe ihn zu einer Höhe entwickelt wie keine andere Bühne Deutschlands, nein: Europas. Ich will euch noch einmal im Zusammenhang zeigen, was ich geleistet habe. Aber so kann es nicht weiter gehen. Mein Theater kann von der Literatur allein nicht leben, und ich als sein Leiter habe die Verpflichtung, es nicht verhungern zu lassen. Ich wollte das Beste; das muß euch vieler Jahre ehrliches Streben gezeigt haben. Wollte neben IBSEN die zukunftsträchtigen deutschen Dramatiker pflegen. Und habe sie, Gott ist mein Zeuge, mit lächerlicher Liebe gehegt und bin meinem Programm, konsequent bis zur Kaprice, treu geblieben. Nicht ich habe sie, sie haben mich im Stich gelassen. Seit langem schon haben sie kaum noch etwas hervorgebracht, das neue Keime in sich barg, kein Werk, das sich ein Jahr – was sag’ ich: ein Jahr, das sich auch nur wenige Wochen auf dem Spielplan gehalten hätte. Gelernt haben sie nichts. Ihre Technik ist noch ebenso lendenlahm wie in ihren tastenden Anfängen, als sie bewußt die Gesetze der Bühne mißachteten. Beim Publikum stand die ganze Richtung nie sonderlich in Gunst; immerhin, so lange sie ein gewisses literarisches Prestige genoß, war ein Geschäft mit ihr zu machen. Damit ist es jetzt aus. Das Publikum bleibt mir einfach weg, und ohne es kann ich nicht existieren. Ich wollte es zu meiner Höhe erheben; nun muß ich zu ihm, das Herz blutet mir, hinuntersteigen. Le public le veut. Es bleibt mir keine andere Wahl, ich muß spielen, was Publikumsgeschmack diktiert. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!’ – Ein solches imaginäres Selbstgespräch darf Otto Brahm jetzt zu seiner Rechtfertigung halten. Und da er sich im Geschmack der Menge noch nicht auskennt, hat er das Recht fehl zu gehen. Zweimal ist er schon gestrauchelt: als er eine französische Sentimentalität (Vater [17.10.08]) und eine deutsche Trivialität (Bretzenburg [s. MMs Kritik vom 04.01.09]) aufführte. Man muß eben weiter lavieren. Vom deutschen Humor ist das Heil nicht zu erwarten; vielleicht bringt es der gallische Esprit, der zurzeit wieder hoch im Kurse steht. – Auf diesem Wege oder Irrwege ist das Lessing-Theater bei der Dreimänner-Burleske Der König von A.G. de Caillavet, Robert de Flers und Emmanuel Arène angelangt und scheint das große Los gezogen zu haben. Es war ein ungemein herzhafter Erfolg; ob er ebenso herzlich gewesen, darf man bezweifeln. Ich wenigstens wurde den ganzen Abend das Gefühl nicht los, daß diese französische Kompagniearbeit sich nicht recht dem Rahmen des Lessing-Theaters einfügte. Zunächst: man spielt solche Sachen hier unecht. Unsere Schauspieler gebieten nun einmal nicht über Pariser Boulevardleichtigkeit und -Anmut. Es stimmt nicht, wenn Frau Triesch ohne einen Schimmer von Chic eine grande cocotte oder Fräulein Wüst ein Ladenmädchen aus der Rue de la Paix vortäuscht. Auch die Übersetzung stimmt vielfach nicht, so sehr sie bemüht war, eigenen Witz hinzuzutun. Sprachnuancen, Anklänge des Argots verflüchtigen sich, werden getrübt oder vergröbert. Man fühlt es, wenn es sich auch nur schwer beweisen läßt. Mir war es, als röche ich statt eines Pariser Parfüms eine billige deutsche Imitation. […] – Das Stück ist lustig, skrupellos lustig, leider aber nicht durchweg von einem wählerischen Geschmack eingegeben. Auf sechs Witze, die amüsieren, kommt einer, der ägriert. Die Satire dagegen ist so operettenhaft übertrieben und gegen alle Lager gerichtet, daß sie nirgends verletzen kann. […] An feinsten Anspielungen ist kein Mangel; Pariser Grazie kann sich eben nicht verleugnen. So wenig wie Berliner Geschmacklosigkeit. Es war geschmacklos, daß die Kokotte ein großes, im ganzen Hause sichtbares Bild König Eduards von England auf ihren Toilettentisch stellte; geschmackloser, daß ein schlecht erzogenes Publikum beim Anblick dieser Photographie in jubelnden Beifall ausbrach. Wäre eine solche Taktlosigkeit im Deutschen Theater begangen worden, die Kritik hätte Max Reinhardt gelyncht. Darum ist es nicht minder traurig, Direktor Brahm so entgleisen zu sehen. Ich sagt’ es neulich schon: wenn Otto Brahm sinkt, dann sinkt er gleich klaftertief …“

Berliner Theater. NZZ, 26. Januar 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 26.
Die Situation des Kgl. Schauspielhauses; William Somerset Maugham, Mrs. Dot (Kgl. Schauspielhaus, 16.01.09). – „Man muß einmal wieder ins kgl. Schauspielhaus. Eine Ewigkeit ist man nicht dort gewesen. Fühlt überhaupt noch ein besserer Mensch den Drang hinzugehen, seitdem Matkowsky – er, der Herrlichste von allen! – krank ist und wahrscheinlich nie …. (sei still, mein Herz!). – Was hat sich in der Zwischenzeit dort ereignet? Max Grube, weiland Oberregisseur, ist vor drei Jahren gegangen oder gegangen worden; er stürzte über einen – (nein, über keinen Unterrock, wie es im Zeitalter des Sonnenkönigs der Fall gewesen wäre) über einen Reiterhandschuh, der im neupreußischen Zeitalter weniger beliebt ist als der Reiterstiefel A. v. Werners. Als Grube so, Knall und Fall, seinen Abschied erhielt, sang die Presse einen Jubelchor wie die Jäger im Freischütz: ‚Er war von je ein Bösewicht; ihn traf des Himmels Strafgericht.’ Mit Unrecht, will mir scheinen; denn nicht immer muß das Gute dem Bessern weichen, sondern manchmal gibt es eine Steigerung des Schlechten. Dieser Grube hatte doch die Shakespeareschen Königsdramen in ihrer Gesamtheit und einen Hebbel-Zyklus gemacht. Es soll ihm nie vergessen werden. War es auch nicht so, wie es hätte sein können und sollen: es war immerhin etwas. – Seitdem hat die Hofbühne nichts, gar nichts mehr geleistet. Sie hat die Klassiker (alter Aufmachung), und die beherrschen den Spielplan. Alle Quatember wird ein ganz unverdächtiger Moderner (alter Aufmachung) eingelassen. – Neue Männer kamen. Barnay kam; und ging. Der schneidigere Patry kam. Merkwürdig: man hört ihre Namen nur, wenn sie kommen; dann ist es, als hätte sie der Orkus verschlungen. Das kgl. Schauspielhaus schläft gleichmäßig den Schlaf des Gerechten weiter. – Aber nun – nun muß sich alles wenden. Paul Lindau, der im Sommer dieses Jahres seinen siebzigsten Geburtstag feiert, ist zum ersten Dramaturgen der Hofbühne ernannt worden. Das heißt doch wohl: er hat das letzte Wort über die Annahme eines Stückes zu sprechen. Da ein jüngerer Mann offenbar in deutschen Landen nicht zu finden war, wollen wir froh sein, daß man einen so jungen Veteranen gefunden hat. Merkwürdig: kommt ein Dramaturg, so ist er noch nicht für die Wahl der Stücke verantwortlich; geht ein Dramaturg, so ist er nicht mehr für die Wahl der Stücke verantwortlich. An der Hofbühne geht es eben ganz unverantwortlich zu. – Vorläufig dürfen wir also Paul Lindaus Konto nicht mit der neuesten Tat des kgl. Schauspielhauses belasten: dem dreiaktigen, sehr kurzen, aber nicht kurzweiligen Lustspiel Mrs. Dot des Engländers William Somerset Maugham (sprich mom). Als das Kleine Theater unlängst seine Lady Frederick gab, habe ich einiges von ihm hier erzählt. Der Mensch ist nicht uninteressant – nicht durch das, was er geleistet, sondern durch das, was das Schicksal sich mit ihm geleistet hat. Er ist der dramatische Lehar und Leo Fall in einer Person für England, Amerika und die Kolonien. Verschluckt alle Tantiemen. Nachdem er lange gehungert. Und hat sich (o Wunder!) den Magen nicht dabei verdorben, wenn auch sein Kopf schon zu leiden beginnt, wie sich gar nicht anders erwarten ließ. – Lady Frederick hatte doch noch einen Gedanken (obwohl er schief war), eine Szene von unverbrauchter Erfindung. Mrs. Dot ist ganz Übereinkommen, Allgemeingut, verstaubter Besitz der Völker. Potenzierte Harmlosigkeit, für erwachsene Menschen nur erträglich, wenn sie unmittelbar vorher eine substantielle Mahlzeit eingenommen haben und inmitten kindlicher Gemüter sitzen, die nicht denken wollen (wie die abgerackerten Citykaufleute) oder nicht denken können (wie die hirnlosen Modedämchen). Sieht man in London einen solchen Schmarren, so amüsiert man sich unter Umständen leidlich – das Milieu steckt eben an und wirkt stimmungsfördernd; in Berlin ist er unleidlich amusisch. […] Die einzige Entschuldigung wäre, daß es süperb gespielt wird. Das Kleine Theater hat es vor kurzem ungleich besser gemacht. So steht es heute mit dem ‚vornehmsten Kunstinstitut Deutschlands’ – jede kleine Privatbühne ist ihm über. – Wahrlich, Paul Lindau ist nicht zu beneiden. Man möchte ihm einen eisernen Besen wünschen, damit er gründlich auskehre; aber mit siebzig Jahren schwingt man wohl nur noch den Staubwedel, und auch den bloß in der ersten Zeit. Allmählich läßt man den Staub liegen, und nur das Wedeln bleibt übrig. Doch nächstens wird Großes am Gendarmenmarkt geschehen. Gerhart Hauptmann, der einst mit Hannele am Hoftheater in Ungnade fiel, soll in Gnaden wiederaufgenommen werden mit – der Versunkenen Glocke, die bei Brahm so oft geläutet hat, daß sie die Leute nicht mehr lockt. Strömt herbei, ihr Pensionate!“

Kleine Chronik. NZZ, 27. Januar 1909, Erstes Abendblatt, Nr. 27.
Kurze erste Notiz von der Uraufführung von Richard Strauß’ Elektra am Königlichen Opernhaus Dresden. (Wegen der ausführlichen Besprechung siehe den folgenden Eintrag.) – „Dresden, 25. Jan. Elektra von Rich. Strauß (Text nach der Tragödie Hugo von Hofmannsthals) bezwang bei seiner heutigen Uraufführung am königlichen Opernhaus in Dresden durch die grandiose, elementare Wucht des dramatischen Aufbaus, der sich von der Mitte an lückenlos steigert und in der Wiedererkennungsszene zwischen Bruder und Schwester seinen höchsten Gipfel erreicht. Der Dramatiker Strauß hat einen unbestrittenen Erfolg errungen, der nicht nur seine eigene Salome, sondern auch die Dichtung Hofmannsthals übertrifft. Musikalisch bleibt das neue Werk an Reiz und Reichtum der Koloristik hinter Salome zurück, ragt aber durch die beispiellose Größe der Leidenschaft weit über Salome hinaus. Der erste Teil schwelgt in einem Pointillismus der Instrumentation, der selbst bei Strauß teilweise befremdet; zum Glück wird in der zweiten Hälfte die melodische Linie breiter und ruhiger. Nach wie vor überraschen bei äußerstem Raffinement der Farbengebung triviale Melodien oder vielmehr Melodienansätze. – Die Aufführung verdient uneingeschränktes Lob. […] Die Wirkung auf das Publikum war vielleicht nicht ganz so zündend wie bei der Salome, schien aber von tieferer Ergriffenheit zu zeugen. Wir haben ein musikalisches Ereignis miterleben dürfen.“

Elektra von Richard Strauß. NZZ, 29. Januar 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 29.
Uraufführung (Königliches Opernhaus Dresden, 25.01.09). – „Wer diese durchaus moderne Musik hört, wird nicht eine Minute an Hellas und den Sagenkreis der Atriden denken, wird sich keinen Augenblick versucht fühlen, in Elektra die musikalische Ausdeutung einer Gestalt der durch Ebenmaß und stille Größe geweihten Antike zu sehen. Diese von Richard Strauß vertonte Elektra hat mit Sophokles nicht das Geringste zu tun; sie beruht auf der Tragödie Hugo von Hofmannsthals, die vorgab, eine Neudichtung aus dem Geiste unserer Zeit zu sein, und sich doch des irreführenden Zusatzes ‚Nach Sophokles’ nicht enthalten konnte. Sophokles aus dem Geiste unserer Zeit: das ist gerade so, als zöge heute, am 26. Januar 1909, jemand aus, den Ichthyosaurus auf der Ringstraße in Wien zu finden; ein Wiener findet keinen Ichthyosaurus, sondern allemal nur die erste Silbe des Wortes: sein liebes Ich. Ich habe das dramatische Werk, das antike Form mit modernem oder angeblich modernem Geist füllen will, bei seinem Erscheinen vor sechs Jahren aus diesem Grunde abgelehnt [s. NZZ vom 18.11.03, Nr. 320]; ich lehne die Hofmannsthalsche Tragödie auch heute noch ab, weil ich über die artistische Inkongruenz nicht hinwegkomme. Der angeblich moderne Geist des Wieners hat in Wirklichkeit seinen Ausgang genommen von Wildes Salome, und da Richard Strauß diese schon zu einer Oper verarbeitet hatte, lag es nahe, daß er zu einem verwandten Werke greifen würde, das seiner Eigenart entgegenkam. – An dramatischer Schlagkraft bedeutet Straußens Elektra (für mein Empfinden) eine Steigerung über Hofmannsthal hinaus, bedeutet einen Fortschritt gegenüber seiner eigenen Salome, bei der er (für mein Empfinden) hinter der Dichtung zurückblieb. Die Oper setzt, nach einer erregten Mägdeszene, mit der wundervollen Anrufung Agamemnons furios ein und erreicht ihren musikalischen Höhepunkt in der Auseinandersetzung Elektras mit der Mutter, ihren dramatischen Höhepunkt jedoch erst in der Wiedererkennung der Geschwister – etwas von der Bedeutung der Anagnorisis im antiken Drama scheint bei dem literarisch versierten Strauß durchzuschimmern – und steigert sich von da an mit ununterbrochener, unentrinnbarer Vehemenz bis zum Schluß. (Vehemenz: das ist das einzige Wort, das diese dramatische Wucht annähernd deckt.) Die Nerven sind bis zum Springen gespannt, der Atem keucht wie ein Rennpferd kurz vor dem Ziel. Ich wüßte keinen lebenden Dichter, der sich an dramatischer Gewalt mit dem Komponisten messen könnte. Allerdings, das eine dürfen wir nicht vergessen: auch Elektra, obwohl die Aufführung nahezu einunddreiviertel Stunden dauert, ist nur ein Einakter wie Feuersnot und Salome, und Strauß hätte doch den Nachweis zu erbringen (denn Guntram zählt hier nicht mit), daß sein Atem nicht nur heiß, sondern auch lang ist, daß er ein mehrstöckiges Gebäude mit gleich virtuoser Beherrschung der Mittel zu errichten vermag. – Ein dramatischer Fortschritt also gegenüber der Salome, an Kraft der Leidenschaft ihr überlegen – unbedingt; aber an Glanz und Mannigfaltigkeit hinter ihr zurückstehend. Hier muß man die Verschiedenheit der Vorlagen in Erwägung ziehen. In Wildes Dichtung lodert die Liebe, die Sinnenliebe: die Liebe der Salome zu Jochanaan und die des Herodes zur Salome; der Text ist in leuchtendes Rot getaucht. Dazu kommt ein unerhörter Reichtum von Tönen, und die brünstige Glut des Orients ist in Worte gebannt, die neben dem Hohen Lied bestehen können. In Hofmannsthals Dichtung kreist alles um das Motiv der Rache; das gibt nur ein düsteres Grau. Wo daneben Liebliches sprießt, wie die Sinnenliebe Elektras zur unberührten Schwester, wächst es nicht direkt aus dem Stoff empor, sondern ist mit künstlichem, noch besser: artistischem Raffinement hineingetragen. Und das spiegelt sich in Straußens Komposition. Als getreuer Ausmaler hat er nur die Stimmung des Textes wiedergegeben. – Wie getreu er illustriert, das verblüfft immer aufs neue. Im Orchester, diesmal auf hundertzwanzig Stimmen verstärkt, liegt durchaus das Schwergewicht. Er läßt es Dinge sagen, die noch keiner vor ihm gesagt hat und die eigentlich dem musikalischen Ausdruck widerstreben. Sein fabelhaftes Können verführt ihn, das Reich der Muse zu erweitern, und er spottet ihrer natürlichen Grenzen. Jetzt ist er schon dahin vorgedrungen, fast jedes Wort zu illustrieren. Ein einziges Beispiel: wenn Klytämnestra sagt, ihre von Träumen fürchterlich geängstigte Seele wünsche sich erhängt zu sein, entsteht im Orchester ein Geräusch, als solle die Vorstellung erweckt werden eines Menschen, der sich aufgeknüpft hat und dem die Zunge zum Hals heraushängt. (So habe ich es wenigstens aufgefaßt.) Die Musik ist ganz zur Dienerin, zur Sklavin des Wortes erniedrigt. – Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Methode des Zerpflückens die Linie in lauter Punkte aufgelöst wird. Das Motiv weicht immer mehr dem Motivfetzen; und wo ein Motiv in breiter Ausmalung auftaucht, fällt es schon fast aus der Rolle. Daneben hat Strauß aber offenbar eine tiefe Sehnsucht nach dem Melos; und nun passiert ihm etwas sehr Merkwürdiges, das die Kenner seiner Lieder gewiß nicht in Erstaunen setzt: seine Melodien laben sich ganz ungeniert an Banalem, und er scheut Gemeinplätze nicht. – Danach fragt man sich beklommen: welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es für die Musik noch darüber hinaus? Zieht nicht das Ende herauf? Sie hat den Zersetzungsprozeß des Motivs, das schon eine Form der Zersetzung ist, fast bis zum einzelnen Ton getrieben. Sie ist beim Pointillismus angelangt. Sie spritzt Farbenkleckse aus dem Orchester empor. Und man fragt sich ebenso: gibt es darüber hinaus noch eine Entwicklungsmöglichkeit für Richard Strauß? Er hat die äußerste Grenze seiner Kunst längst erreicht. Wär’ er nicht ein Charakteristiker von so eminenter Treffsicherheit, so wäre diese äußerliche Art, die in der Meisterschaft der Technik aufgeht und sich an ihr genug sein läßt, schwer erträglich. Denn innerlich hungert man doch eigentlich die ganze Zeit. Ein Königreich für eine Melodie! Statt Gefühlswerte gibt die Musik ein Bacchanal des Intellekts. Sie ist nicht mehr erfunden, sondern vornehmlich gemacht. Und nur die Genialität der Mache versöhnt einigermaßen mit der auf die Spitze getriebenen und schon übertriebenen Aufgabe, die dem Orchester zugeschoben wird. Die Auflösung der Musik scheint an ihrem Ende angelangt, und Richard Strauß scheint an der Grenze des Ausdrucksfähigen angelangt. Jetzt kann es bei ihm nur noch heißen: ‚Retournons à la nature’; und die Natur heißt bei ihm vielleicht eines Tages – Haydn... – Es ist nicht schwer, der neuen Oper, die jubelnd begrüßt wurde und den Jubel durch die hinreißende Dresdener Aufführung voll verdient hat, ein Prognostikon zu stellen. Ganz so wie Salome wird Elektra einen Siegeszug durch die kultivierte Welt antreten – schon heute reißen sich nicht sieben Städte, nein: sieben Länder um sie –, und ganz so wie Salome wird sie sich in ein paar Jahren durch die Hypertrophie ihres Wesensgehalts ausgelebt haben. Ein solches Schicksal entspräche durchaus ihrer innern Natur. Dinge, die so zugespitzt sind, halten sich nicht lange, sobald das Kuriositätsinteresse der Zeitgenossen befriedigt ist. – Und in einer Hinsicht wäre es gut so: denn ähnliche Forderungen, wie Strauß sie hier an die Sänger stellt, sind wohl kaum der menschlichen Stimme jemals zugemutet worden. Selbst eine so hervorragende Gesangskünstlerin wie Frau Schumann-Heinck, die als Klytämnestra nur eine einzige, etwa zwanzig Minuten währende Szene hatte, war zum Schluß heiser. Die Partie der Elektra, die nicht von der Bühne verschwindet, geht weit über Irdisches hinaus. Wenn sich das einbürgern sollte, dann könnte man bald die letzte menschliche Gesangsstimme neben einem Ichthyosaurus im Museum zeigen.“

Berliner Theater. NZZ, 30. Januar 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 30.
Sophus Michaelis, Revolutionshochzeit (Hebbel-Theater, 21.01.09). – „Sophus Michaelis, der Karin Michaelis annoch unberühmterer Gatte, kam im Hebbel-Theater mit dem Schauspiel – richtiger: Trauer- oder Schauerspiel – Revolutionshochzeit zu Worte. Das Publikum, insonderheit das weibliche, schien stark gefesselt, wenn auch mehr äußerlich aufgeregt als innerlich erregt, durchaus entsprechend dem Tenor des Stückes. Es ist spannend und interessant wie eine Gerichtsverhandlung, mehr als spannend: es reißt an den Nerven; aber es ist mehr Reißen, als es Nerven hat. Zum Kunstwerk fehlt ihm die Ausgeglichenheit und Amalgamierung der seelischen Bestandteile. – […] Revolutionshochzeit macht infolge einer bemerkenswerten technischen Geschicklichkeit nicht den Eindruck eines Erstlingswerkes. Das Theater wird jedenfalls mit Sophus Michaelis zu rechnen haben; er ist heute schon ein dänischer Philippi. Bühnenblut bringt er mit. Das Seelische ist allerdings noch unausgebildet oder schon verbildet. Seine Menschen haben einen Theaterknacks. Um so lieber werden die Schauspieler nach den dankbaren Rollen greifen. Herrn Kayßler (vom Deutschen Theater) mit seiner starken und starren Männlichkeit gelang es fast, aus dem Marc-Arron einen Menschen zu machen; dagegen deckte sich Frl. Roland – eine ungarische Volksausgabe der Durieux – gar zu wenig mit dem Geschöpf, das sie zu verkörpern hatte. – Es ist mir ein Bedürfnis, der Übersetzerin Marie Herzfeld ein Wort des Lobes zu sagen. Das waren endlich wieder einmal deutsche Sätze, die man vernahm. Der beste Übersetzer, scheint es, ist der, den man am wenigsten merkt.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Februar 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 32.
Alexandre Bisson, Die fremde Frau (Neues Theater, 22.01.09). – „Meine Herren Geschwornen! Sie haben soeben die scharfsinnige Rede des Herrn Staatsanwalts gehört, in der er meinen Klienten, Alexandre Bisson, verdammt hat und besonders sein Schauspiel La femme X…, das uns im Neuen Theater unter dem Titel Die fremde Frau geboten wurde. Er fand es frivol, daß der Verfasser des lustigen Schlafwagenkontrolleur, der übermütigen Madame Bonivard und vieler andrer Possen, die bei Tausenden von Menschen herzliches Lachen geweckt haben, daß ein solcher Mann es wagt, ins entgegengesetzte Extrem zu verfallen, und auf die Tränendrüsen seiner Mitbürger wirkt. Ein Tragiker darf sich straflos auf den Gefilden des Humors tummeln; aber wehe dem Schwankdichter, der seine heitere Domäne verläßt, um zu höheren Gipfeln emporzusteigen! Statt daß man sein Streben vorurteilslos würdigt, verurteilt man ihn sofort mit kaltem Hohne wie einen Verbrecher. – Im besondern richtet sich die Erbitterung des Herrn Staatsanwalts gegen diese Fremde Frau, die er als einen gräßlichen Schmarrn, als albernes Rührstück, als verwerfliche Kolportage, als Kinematographtheater und wie die schmückenden Beiwörter sonst noch heißen mögen, bezeichnet. […] – Nun darf ich vielleicht darauf hinweisen, daß diese Gattung der Dramatik, die man Melodrama zu nennen pflegt, in Frankreich und England keineswegs so verpönt ist wie bei uns. An der Porte-St. Martin in Paris und am Adelphi in London ist sie immer noch im Schwange, und nicht nur die Armen im Geiste schenken ihr nach wie vor ihre Gunst. Diese naiven Völker haben sich noch nicht an der Problemdramatik, an psychologischen Filigranarbeiten heillos den Magen verdorben. Bei ihnen ist nur das Langweilige verboten. Sie schwärmen noch für Handlung, die – man sage, was man wolle – die causa movens des Bühnenuniversums bleibt, und Haß und Liebe, die stärksten Triebe der Menschenbrust, gelten ihnen noch auch als Triebräder der dramatischen Welt. Eine Frau, die aus Leichtsinn ihrem Manne davonläuft, nach drei Jahren reumütig zu ihm zurückkehrt, als sie hört, daß ihr einziges Kind schwer erkrankt sei, um Vergebung bettelt, von dem hartherzigen Gatten aber auf die Straße gestoßen wird, langsam von Stufe zu Stufe sinkt bis herab zur Dirne, ihr Leid im Absinth zu ertränken und ihren Schmerz mit Opium zu betäuben sucht, die dann einem Schurken in die Hände fällt und ihn niederschießt, als er ihrem immer noch heißgeliebten Kind ihr nicht unbeträchtliches Vermögen entreißen will, wegen Mordes angeklagt und von eben diesem Kinde, einem zum tüchtigen Rechtsanwalt herangereiften jungen Manne verteidigt wird – wer wollte einer solchen Unglücklichen sein Mitleid versagen, wen erfüllt ihr Schicksal nicht mit Furcht? In andern Ländern, meine Herren Geschwornen, gilt es nicht als Schande, diese Art von Melodramatik zu pflegen […]. – Unser größter Kritiker Lessing hat gesagt, gewisse mittelmäßige Stücke müßten schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben. Selbst wenn das Stück ganz schlecht wäre: das wird niemand leugnen können, daß es eine ungeheuer dankbare Rolle für eine große Menschendarstellerin enthält. Und wie wurde diese Rolle von Rosa Bertens verkörpert! Es war ein Erlebnis, das keiner vergessen wird, der ihm beigewohnt. Mit welcher Meisterschaft wußte sie den Verfall der Tiefgesunkenen zu veranschaulichen, wie war dieser Körper verwüstet, diese Seele zerrüttet! Mit welcher Leidenschaft beschwor sie den Mann, von seinem Schurkenstreich abzulassen! Aber ihre tiefsten Wirkungen erzielte sie im Schlußakt. Wie markerschütternd gellte ihr Schrei, als sie den Namen ihres Verteidigers erfuhr und das grausam gnädige Spiel des Zufalls ahnte! Wie machte sich jetzt ihre stumpfe Teilnahmslosigkeit, die sie bis jetzt zur Schau getragen, in heißem Tränenstrom Luft! Wie streichelte sie den Liebsten mit den Augen! Ihr Blick – Kleistisch zu reden – rutschte zu ihm und bettelte um Liebe, wie ein hungriges Kind um ein Stückchen Brot bettelt. Und dann ganz zum Schluß: wie selig verklärt strahlt ihr Gesicht, als sie das lange entbehrte Wort ‚Mutter’ vernimmt! Eine musikalische Weihe geht von ihr aus. Noch das schlechteste Stück wäre zu dulden, wenn die Kunst einer Bertens es so adelt. Kein Anwesender wird bereut haben, daß er das miterleben durfte, und wird es in dankbarer Erinnerung bewahren… Nach alle dem, meine Herren Geschwornen, bin ich fest überzeugt, daß Sie zu einem Freispruch kommen müssen.“

Berliner Theater. NZZ, 3. Februar 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 34.
Karl von Levetzow, Der Bogen des Philoktet (Berliner Theater, 27.01.09). – „Nun hätten wir auch einen neuen Philoktet. Der alte genügte offenbar nicht mehr. So fällt ein Werk des Sophokles nach dem andern der Spitzhacke unserer Dichter zum Opfer. Man könnte fast vermuten, hier läge ein tief gefühltes Bedürfnis unserer Zeit vor, so oft wiederholen sich jetzt diese Versuche; in Wirklichkeit äußert sich darin ein merkwürdiger Mangel an Phantasie. Statt Fabeln zu erfinden, scheint sie nur noch Fabeln finden zu wollen, an denen sich ein rationalistischer Drang der Ausdeutung betätigen kann. Hugo von Hofmannsthal macht Schule. Seinen Spuren folgte Karl von Levetzow, der bisher nur als Conférencier des Wolzogenschen Überbrettls hervorgetreten ist, mit der Tragödie Der Bogen des Philoktet, aufgeführt im Berliner Theater und vom Publikum, das sonst für solche Experimente nicht allzu viel übrig hat, ehrlich beklatscht. – […] Die Philoktet-Sage wurzelt in einer rohen, barbarischen Zeit. Ein Kranker wird einfach abgeschüttelt, grausam ausgesetzt, den Unbilden der Witterung schutzlos preisgegeben. Darin liegt nicht etwa der Beginn des Naturheilverfahrens, sondern ein brutal egoistisches Empfinden, das von Mitleid nichts weiß oder nichts wissen will. Und die Zeit ist voll von Aberglauben: sie hält an Orakelsprüchen fest und soll die Götter verwerfen? Philoktet selbst haust auf ödem Eiland in trauter Gemeinschaft mit Faun und Nymphe. Das sind doch Halbgötter, mögen sie auch nur als Natursymbole gedacht sein. Faun und Nymphe läßt der Zertrümmerer des Götterwahns gelten, den Halbgott Herakles leugnet er. Herakles ist ihm nur ein Mensch. Und dieses inhaltreiche Wort verleitet ihn zu einem Diskurs über Menschen und ‚Andere’. Die Menschen sind Hunde, lehrt er; aber daneben gibt es einige Auserwählte, Sehende, Wissende, Begnadete: die ‚Andern’. Philoktet prägt nur einen andern Terminus für Nietzsches Übermenschen, für Shaws Ideal des poet philosopher. Immerhin, in dieser bittern Exegese scheint Erlebtes nachzuzittern, und hier hat das Pathos des Dichters Resonanz, Wucht, Leidenschaft. Wo er sonst Leidenschaft markiert, greift er zu dem äußerlichen Mittel der Wortwiederholung. – Wohl spürt man den heißen Wunsch des Dichters, die Dinge auf eine selbständige Art zu sagen, aber das Gelingen ist ihm noch versagt. Er taumelt allzu oft in die Niederungen der Umgangssprache. Auch der Leier ‚zarten Saiten’ wollen gespannt sein. Man täte Hofmannsthal unrecht, wollte man Levetzow in einem Atem mit ihm nennen. Vorläufig steht er einem Wilbrandt näher. Gerade darum fand er vielleicht das willige Ohr des Publikums, dem die Verheißung schon wie Erfüllung klingt.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Februar 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 36.
Alexander Bródy, Die Lehrerin (Deutsches Theater, 29.01.09). – „O Freunde, wohin steuern wir? In demselben Deutschen Theater, das so viele Jahre die Hochburg einer neuen oder wenigstens für neu gehaltenen und als neu verkündeten dramatischen Kunst war, ist man zum Kunsthandwerk alten, ältesten Stils zurückgekehrt. Alexander Bródy aus Magyarenland hat mit einem unverfälschten Volksstück, Die Lehrerin, jubelnden Beifall eingeheimst; selbst wenn man den nationalen Überschwang seiner temperamentvollen Landsleute in Abrechnung bringt, bleibt noch ein starker und ehrlicher Erfolg übrig. Das Alte siegt, und neues Leben sinkt vor den Ruinen. Vorige Woche ein französisches Trauerspiel ältester Schablone (Die fremde Frau [s. o. NZZ vom 01.02.09, Nr. 32]) im Neuen Theater; jetzt ein ungarisches Lustspiel ältester Schablone im Deutschen Theater. Und beide erfolgreich, weil sie Mastkuren für das Herz, Hungerkuren für den Verstand sind. Wo soll das enden? Haben wir umsonst alle die Jahre gestritten und (Langweile) gelitten? Ist das die Rache des Publikums dafür, daß es mit Skorpionen gezüchtigt, daß es geknechtet und geknebelt, daß sein Geschmack vom Hochmut der Kritik vergewaltigt wurde? Sollen wir, wie der Ertrinkende an den Strohhalm, uns wenigstens an den einen Trost klammern, daß die Schmachtlappen aus der Fremde zu uns kommen? Nein, wir sind nicht so verbohrt, zu grollen und zu greinen. Laßt uns gute Miene zum bösen Spiel machen! Theater bleibt Theater; in Paris und Budapest genauso wie im aufgeklärten, vorgeschrittenen Berlin. Die Welt ist rund und muß sich drehen. Alles hat seine Zeit. Im ewigen Kreislauf der Dinge werden die ersten die letzten und die letzten wieder die ersten sein. Bald ist oben unten, bald unten wieder oben. Die Mode von vorgestern wird morgen die Sehnsucht des Stutzers. Was vor ein paar Jahren noch verpönt war und verhöhnt wurde, ist plötzlich wieder begehrt und wird geehrt, als hätte man es nie in Acht und Bann getan. Alles fließt. Theater bleibt aber Theater. Das Wirksame ist das Ewige; das einzig verbotene Genre das Langweilige. Es ist so, und wir alle, wie wir da sind, können es nicht ändern. Die Welt ist rund und muß sich drehen. Gott sei Dank, daß wir uns mit ihr drehen! – […] Das Handlungsklischee der ungarischen Dorfkomödie steht jenseits der Kritik, steht auf dem üppigsten Boden der Birch-Pfeifferei. Daß Bródy Qualitäten hat, zeigt er in anheimelnden Genrezügen und einem Dialog von behaglichem Witz. Die ethnographischen Momente des Werkes, das gegen die Tyrannei von Staat und Kirche und gegen die Anmaßung der Besitzenden vom Leder zieht, haben für uns kaum Bedeutung. Am besten gelungen ist die tragikomische Figur eines verhungerten Philologen, der sich und seine Strümpfe von einer liebebedürftigen Kantorstochter stopfen läßt. Wie der Schauspieler Biensfeldt diesen schnurrigen Kerl darstellte, war es eine Simplizissimus-Gestalt in einem Gartenlaube-Roman. Aber die Gartenlaube hat noch immer Tausende von dankbaren Lesern, und dramatisierte Gartenlaube füllt wieder die Theater. Sollen wir grollen und greinen? Laßt uns ruhig, zur Abwechslung, diese Mastkur fürs Herz mitmachen. Die Welt ist rund und muß sich drehn.“

Berliner Oper. NZZ, 18. Februar 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 49.
Richard Strauss, Elektra (Kgl. Opernhaus, 15.02.09). – „Genau drei Wochen nach der Dresdner Uraufführung ließ die Berliner Hofoper Elektra von Richard Strauß in Szene gehen. Der Erfolg war hier bei weitem spontaner, die Wirkung tiefer; es war ein Jubel ohne gleichen. Zwar fehlte es nicht an Widersachern, die ihre Abneigung von stillem Kopfschütteln bis zu leidenschaftlichem Händeringen äußerten, etliche bekamen sogar wahre Wutanfälle und fauchten fanatisch; aber sie wurden von der Welle des tosenden Beifalls übertönt. – Während die Dresdner Aufführung die musikalisch wertvollere gewesen sein dürfte, hatte die Berliner das größere dramatische Plus. […] – Was hätte wohl Wagner zu dem Werke seines Vornamensvetters gesagt? Vermutlich die Worte seines Hans Sachs: ‚Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf, der eignen Spur vergessen, sucht davon erst die Regeln auf!’ Das mögen alle diejenigen bedenken, die nach einmaligem Anhören der Elektra mit ihrem Verdammungsurteil fertig sind. Mir kommt es heute verwegen vor, daß irgend jemand nach der Dresdner Aufführung der Oper sein Urteil hurtig abgab. Wie anders wirkt sie schon beim zweiten Anhören! Was damals durch seine Neuheit verwirrte und durch seltsame Klangkombinationen verblüffte, hat jetzt nichts Verletzendes mehr. Schon vernimmt das Ohr einen größeren Melodienreichtum, und der Hexensabbat von Kakophonien, der sich in der Klytämnestra-Szene auszutoben schien, wird sich auch allmählich in Wohlgefallen auflösen. Nichts spricht mehr für die phänomenalen Qualitäten des Komponisten, als daß man den aufrichtigen Wunsch hegt, sein Werk immer wieder zu hören, sich intensiv mit ihm zu beschäftigen und sich innig mit ihm vertraut zu machen. Als Dramatiker ist Strauß noch ein gutes Stück gewachsen: während sich der Eindruck der Salome bei öfterem Hören abschwächte, scheint die Elektra von Mal zu Mal gewaltiger zu wirken. Das ist das einzige, was sich vorläufig mit Sicherheit feststellen läßt. Das übrige wollen wir ruhig der Zeit überlassen; und unsere Zeit hat wahrhaftig nicht einen solchen Überfluß an Kunstwerken, daß sie sich mit souveränem Achselzucken über eine Schöpfung wie die Elektra von Richard Strauß hinwegsetzen könnte.“

Berliner Theater. NZZ, 8. März 1909, Erstes Abendblatt, Nr. 67.
Gerhart Hauptmann, Griselda (Lessing-Theater, 06.03.09). – „Schon lange nicht mehr ist Gerhart Hauptmann solcher Jubel entgegengebraust wie heute in dem trotz erhöhten Preisen bis auf den letzten Platz gefüllten Lessing-Theater am Schluß seines Schauspiels Griselda. Neun Szenen nennt der Dichter sein in der Anlage Elga verwandtes Werk, und nicht allein der Verzicht auf die strengere Akteinteilung gemahnt an die lose Technik der Novelle: das Drama selbst zerfällt in zwei Hälften. Die ersten vier Bilder umfassen die Werbung des Grafen Ulrich um die Bauernmagd Griselda. Sie sind lückenlos, farbig, frisch. Nur haben sie wenig oder gar nichts mit der zweiten Hälfte gemein. Auf diese allzu breit ausgesponnene Exposition, die sich durch einen Bericht hätte erschöpfen lassen, folgt ein leider lückenhaftes Drama, dem der gegebene Stoff nicht zum Segen wurde. Die Sage will, daß Griselda eine Dulderin werde. Selbstverständlich hat Hauptmann nicht die brutalen Einzelheiten der alten Volkssage übernommen: Graf Ulrich ist kein Sadist, der die Treue seines Weibes durch unmenschliche Prüfungen versucht. Er ist bei Hauptmann ein Märtyrer seiner Liebe. Der Gedanke, daß er diese Liebe mit einem Kinde teilen solle, treibt ihn zu unvernünftigen Handlungen. Wie Hebbels Herodes leidet er an einer spitzfindigen Eifersucht. Er läßt der Mutter das Kind wegnehmen und zieht sich selbst in die Einsamkeit zurück. Griselda aber verläßt, wie sie gekommen, das Schloß. Als Magd holt man sie zurück, als Magd trägt sie ihren Knaben die Stufen des Schlosses hinan, um dem Geliebten selig in die Arme zu sinken. Der Konflikt aber besteht nach wie vor, denn das Kind lebt und Graf Ulrich wird eben lernen müssen, fortan Mutter und Kind gleichermaßen zu lieben. Auch sonst regen sich schwere Bedenken gegen das Werk, das an prachtvollen Einzelheiten reicher ist als die letzten Dramen Gerhart Hauptmanns, wie diese jedoch nicht völlig ausgebildet ist. Bezeichnenderweise bleiben die Nebenfiguren ganz im Skizzenhaften stecken, ähnlich wie in Schluck und Jau. – Die beiden Hauptrollen waren Else Lehmann und Albert Bassermann zugefallen. Als dralle Bauerndirne war unsere herrliche Frau Alving [in Ibsens Gespenstern] nicht mehr glaubhaft, weil sie dieser taufrischen Jugend entwachsen ist; um so überzeugender wirkte sie in den Augenblicken, da sie sich gegen die Grausamkeit ihres Schicksals auflehnt: hier hatte sie Momente von bezwingender Kraft, und sie fand zum Schluß Töne von hingebungsvollster Innigkeit. Vor der schwierigeren Aufgabe stand Bassermann. Es war nicht seine Schuld, daß die krankhaft zugespitzte Eifersucht des Grafen Ulrich manchem Kopfschütteln begegnete; hier wird jeder Darsteller mehr oder minder scheitern. Ob das Buch, das morgen bei S. Fischer erscheint, die von der Bühne herab gewonnenen Eindrücke wesentlich berichtigen wird, soll demnächst gezeigt werden [vgl. die folgende Kritik]. Vorläufig ist von einem großen Erfolg zu melden; von einem dauerhaften schwerlich.“

Griselda. Schauspiel von Gerhart Hauptmann. NZZ, 10. März 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 69.
Nachtrag zu vorstehender Theaterkritik. – „Nichts, gar nichts braucht man zu wissen von den Wanderungen und Wandlungen des für unsere Zeit unbrauchbaren Griseldis-Stoffes: Gerhart Hauptmanns jüngstes Schauspiel entlehnt ihm fast nur den Namen der Heldin (in der Form, wie er bei Boccaccio im Schlußstück des Dekameron steht). Aus einer Märtyrerin der Treue wird ein Märtyrer der Liebe. Ein einzigesmal taucht eine kleine literarhistorische Reminiszenz auf, wenn die zur Markgräfin erhobene Bauernmagd im Begriffe ist, das Schloß wieder zu verlassen, und die Worte spricht: ‚Ich würde nackt davongehen, aber ich bin nicht nackt gekommen!’ In diesem Augenblick hat sie sozusagen eine atavistische Regung; sie denkt ihrer Ahnfrau, die in etlichen Bearbeitungen der Sage wirklich nackt aus dem Hause getrieben wird. Aber sonst ist sie eine von keines literarischen Gedankens Blässe angekränkelte Schlesierin. – Zum Glück hat der alte Stoff kein neues Opfer gefordert. Er ist ebenso dumm wie berühmt; und vor allem: er ist ganz undramatisch, ja geradezu antidramatisch. Eine Frau, die grundlos bis aufs Blut gepeinigt wird, ohne sich zu wehren, hat keinen Anspruch auf unser Mitleid; sie ist eine Gans. Heldinnen oder vielmehr Dulderinnen von solcher Passivität haben im Drama nichts zu suchen. Wenn sie schon leiden, muß ihnen wenigstens ein Gott gegeben haben zu sagen, was sie leiden. Und ferner: der Stoff ist nicht nur dumm, sondern auch unerträglich roh. Ein Kerl, der seiner edlen Gattin die beiden Kinder fortnimmt, um ihre eheliche Treue zu erproben, sie davonjagt, ihr vorredet, er werde eine andere heiraten, und von ihr verlangt, diese andere zur Hochzeit zu schmücken – ein solcher Sadist wäre heute ernstlich in Gefahr gelyncht zu werden. – Schon Friedrich Halm [in seinem Drama Griseldis (1837)] war gescheit genug zu merken, daß die mittelalterliche Sage in wesentlichen Punkten umgebogen werden müsse, wenn sie moderner Behandlung taugen solle. Die Quälerei durfte nicht direkt von dem Gatten ausgehen, und Griseldis durfte die Prüfungen nicht mit Engelsgeduld, mit wortloser Ergebenheit hinnehmen. Tatsächlich lehnt sie sich zum Schluß auf, als sie erfährt, daß das ganze Martyrium nur ein Mummenschanz, ein Fastnachtsscherz gewesen, und verläßt ihren Herrn zur selben Stunde. Ein Norinchen lange vor Nora. Nach dieser Richtung ließe sich eine beträchtliche Steigerung denken: Griseldis könnte, nachdem sie die Quälerei auf Treue ruhmreich bestanden, ihrem Gebieter wie die auf Untreue ertappte Elga die Worte zuschleudern: ‚Ich hasse dich, ich speie dich an!’ So weit ging der gute Halm freilich nicht. – Gerhart Hauptmann kehrte zu der ursprünglichen, versöhnlichen Fassung zurück. Er konnte es, da er vollkommen souverän mit dem Stoff schaltet. Was seine Vorläufer als knappe Exposition abtaten, führt er breit aus. Er dichtet nach vorn, wie Hofmannsthal es dem Oedipus gegenüber gehalten hat. Fängt da an, wo die Bekanntschaft zwischen dem Grafen und der Bauernmagd anfängt. Und ist hier bei weitem am besten. Das hat ihm kein Toter vorgemacht; das macht ihm kein Lebender nach. Die ersten vier Bilder – von der Begegnung des ungleichen Paares bis zu ihrer ehelichen Verbindung – sind von prachtvoller Frische, von köstlichem Erdgeruch, dichterisch wie dramatisch meisterhaft, kräftig und lieblich zugleich. Die Szene auf dem Hof des Bauern Helmbrecht, wo die Dorfschöne auf einer Leiter unter dem Apfelbaum steht und von der hochnäsigen Adelsgesellschaft gehänselt wird, hat in Hauptmanns Gesamtwerk kaum ihresgleichen. Holdeste Märchenstimmung umflutet sie. Das Gütchen des Freibauern liegt zwar nicht bei Saluzzo (oder wie Hauptmann schreibt: Saluzza), sondern nahe der schlesischen Grenze, aber gerade durch diese Berührung mit seiner Mutter Erde scheinen dem Dichter immer wieder neue Säfte zuzuströmen. Griselda, diese ‚junge Ferse’, könnte Anna oder auch Rose Bernd heißen, so wenig hat sie noch mit der veilchenblauen Sagenfigur zu tun, so ganz empfinden wir sie als schlesischem Erdreich entsprossen. Oder sie könnte auch Katharina heißen, denn diese Katharina findet ihren Petrucchio. – Aber dann! Gleich der erste Satz, den die neugebackene Markgräfin spricht, ist peinlich gebildet. ‚Hat denn die Welt all ihre Güter bisher nur versteckt gehalten? Damit gekargt? Um sie plötzlich lachend und flutweise auszuschütten?’ Sie sagt ‚flutweise’, als ob es die größte Selbstverständlichkeit von der Welt wäre. Bis dahin hat Griselda gesprochen, wie ihr der Schnabel gewachsen ist; jetzt reitet sie hohe Schule. Für ihre komplizierten Empfindungen steht ihr nicht mehr der schlichte Ausdruck zu Gebote. Sie wird geschraubt und versteigt sich zu gekünstelten Sätzen: ‚Es ist etwas über mich gekommen … ich weiß nicht was! … etwas, das mich vielleicht auf eine sträfliche Weise gegen jede Antwort auf meine Frage von damals gleichgültig macht.’ So spricht keine Mähderin, nicht einmal eine gekrönte Mähderin. – Ich will die Sprache der Dichtung hier im Zusammenhang behandeln. Sie ist immer ein untrügliches Kriterium, wie weit der Dichter Herr des Materials geworden. Konnte man Gerhart Hauptmann meistens nachrühmen, daß er seine Menschen durch die Sprache zu differenzieren wisse, so hat er sich hier die Sache etwas zu leicht gemacht. Die Hofgesellschaft wird ganz gleichmäßig, ohne Abstufungen nach Stand und Alter, durch einen gezierten Witz charakterisiert. (Man denkt an das unfertige Zwischenspiel Schluck und Jau.) Es kleidet Hauptmann nicht, wenn er geistreich zu sein versucht, und die Banalität ist häufig nicht fern. Daher kommt es wohl, daß keine der Nebenfiguren aus dem Basrelief heraustritt, sie bleiben physiognomielos. Wie glücklich, wie rührend volkstümlich ist der Weber-Dichter, wenn er sein altes Bäuerlein erzählen läßt, der Sternblumentee wachse ‚beim Hühnerstall hinten, nicht gar weit vom Abtritt, weißt du’; wie geschwollen wird er, wenn er eine undurchsichtige Periode drechselt wie die folgende: ‚Freilich, es stürmt schon ein bißchen lange in ihm, aber wenn Ihr Euch gegenwärtig haltet, erstlich, was Ihr bisher über ihn vermochtet – nämlich mehr, als irgend ein anderes Weib! – und daß er Euch, wenn auch nicht das Kind, wie wir alle nicht ohne Rührung, ja fast mit Staunen gesehen haben, auf eine geradezu leidenschaftliche Weise liebt – so meine ich, solltet Ihr nachsichtig sein!’ O naturalistische Zeit, wie liegst du fern, wie liegst du weit! – Doch zurück zur Handlung. Markgraf Ulrich, der ein Leben voll unregelmäßiger Neigungen führte, dem keine Schürze zu schmutzig war, hat dem Drängen seiner Sippen und Magen, sich zu verheiraten, endlich nachgegeben und die in hartem Kampf errungene Griselda von niedrer Herkunft in den Palast seiner Väter eingeführt. Was nun? Aus dem Raufbold und Lüdrian wird mit einem Schlage ein Mensch von einer ‚geradezu lächerlichen Zartheit und Verletzlichkeit des innern Sinnes’. Er treibt fast Gottesdienst mit Griselda, umhegt sie verehrend wie ein Heiligtum. Nicht einmal ihren Namen will er von andern in den Mund genommen wissen. Jeder ihrer Gedanken soll ihm, ihm allein gehören. Er ist ein Sklave der Eifersucht und ein Tyrann aus Liebe. Das Übermaß seiner Liebe grenzt schon fast an Roheit. Griseldas alten Vater, der ihr Täubchen in die Wochenstube gebracht hat, jagt er unwirsch davon. Kein männliches Wesen soll sie auch nur zu Gesicht bekommen. Der Arzt, der ihr in ihrer schweren Stunde Beistand leisten will, wird von ihm mit scharfen, schneidenden Worten abgefertigt, als könne er sie mit lüsternen Händen betasten. Jeder Mann hat diesen Gedanken wohl einmal gehabt, aber die Vernunft hält ihn unter der Schwelle des Bewußtseins. So weit wäre die Reizbarkeit des Grafen noch zu ertragen. Doch die heftigsten Ausbrüche seiner Eifersucht richten sich gegen das zu erwartende Kind. ‚Ich will keinen Sohn! Ich hasse das Kind im Mutterleibe! Soll ich mir eine fremde Kröte gezeugt haben, die ihr das Blut aus den Brüsten saugt?’ Hier schlägt die Überspannung des Gefühls in Überspanntheit um. Derselbe Graf, der sich kein Gewissen daraus gemacht hat, Griselda Gewalt anzutun, gibt vor, in der Stunde der Geburt seines Kindes schlimmere psychische Schmerzen zu erdulden, als die Kreißende physisch auszustehen hat. Ich habe schon gehört, daß ein Ehemann in solcher Situation durch seine Überflüssigkeit lächerlich wirkt; wenn das wahr ist, wirkt Herr Ulrich doppelt lächerlich – als Mensch. Als Gestalt des Dramas bleibt er sich vorläufig konsequent. Er haßt das Kind weiter; läßt es der Mutter abnehmen und flüchtet selbst, als sie sich nach dem Verbleib ihres Sprößlings erkundigt, in die Einsamkeit. Da regt sich in ihr der alte Bauernstolz: sie kehrt in die väterliche Hütte heim und schwört, daß Schloß nicht eher wieder zu betreten, als bis man sie rufe, ‚die Treppen zu scheuern’. Arbeit schändet sie ihrer Auffassung nach nicht, wohl aber Almosenempfangen. – So weit läßt sich zur Not eine innere Konsequenz in die Vorgänge bringen. Was noch folgt, ist lose angeheftet und führt den Konflikt fix zum guten Ende. Plötzlich findet der Graf den Weg aus seinem Schlupfwinkel ins Schloß zurück. Von einer Sinnesänderung, einer Gesundung ist wenig zu merken. Er beschimpft nach wie vor das ‚muttertolle Weibsbild’ und erklärt, er möge ‚die verdammten Bälger’ nicht. Plötzlich ist auch der Balg da, vom Vater selbst in einer seiner unberechenbaren Launen herbeordert. Plötzlich kauert auch Griselda (man weiß nicht recht, wie) vor den Treppenstufen des Schlosses und hantiert eifrig mit dem Scheuerlappen. Glühende Umarmung; brünstiger Kuß. Alles vergessen und vergeben. Mit einem Male bekennt der Graf: ‚Ich liebe, ich liebe, ich liebe mein Kind!’ Sagt es dreimal, damit wir es ja auch glauben. Nun können wir beruhigt nach Hause gehen. Aber wenn der Herr Graf so einszweidrei zur Raison kommt, dann gestatte man submissest die Frage, warum er nicht ein bißchen eher, mindestens bei seiner Rückkehr ins Schloß, Vernunft annehmen wollte. – Ich sagt’ es schon: die Überspannung des Gefühls artet in Überspanntheit aus. Das ist die Klippe, die Hauptmann nicht zu vermeiden gewußt hat. Er macht eine Marotte zum Mittelpunkt der Geschehnisse und kann infolgedessen den Knoten nur lösen, indem er ihn durchhaut. – In der Anlage ist das Werk vorzüglich. Es hat herrliche Momente, besonders in dem künstlerisch geschlossenen ersten Teil; auch später noch, wenn Griselda ihr Kind die Stiege hinaufträgt, so flüchtig gerade dies motiviert ist (die Amme verknackst sich den Fuß). Schlimmer ist der Knacks im Charakter des Grafen. Daran wird das Drama zeitlebens laborieren. Es ist genial herausgeschleudert, aber es fehlt ihm die Durchbildung, namentlich die sprachliche. Was die Begeisterung des Schöpfungsprozesses geboren, daran hat der wache Verstand nicht eindringlich genug gearbeitet. Und trotzdem – welches zeitgenössische Dramengebilde kann sich mit einem solchen Hauptmannschen Siebenmonatskinde messen?“

Berliner Theater. NZZ, 17. März 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 76.
Frank Wedekind, Die junge Welt (Akademische Bühne im Hebbel-Theater, 12.03.09); Georges Thurner, Die Laterne [Le Passe-Partout] (Neues Theater, 13.03.09). – „Als zweiten Kantus ließ die Akademische Bühne [gegründet 1908 von den Rotter-Brüdern] Frank Wedekinds Komödie Die junge Welt im Hebbel-Theater steigen. Hatte sie mit ihrem ersten Streich [Der letzte Streich der Königin von Navarra von Johannes Raff (Lessing-Theater, 08.01.09)] bewiesen, daß man das talentvolle Werk eines Unbekannten durch eine miserable Aufführung unverdientem Gelächter preisgeben kann, so wollte sie jetzt offenbar zeigen, daß man das talentlose Werk eines bekannten Autors durch eine passable Aufführung nicht vor verdientem Gelächter schützen kann. Was ihr ruhmreich gelungen ist. Jetzt bleibt ihr nur noch eins: an einem talentlosen Werke durch eine miserable Aufführung ihr Mütchen zu kühlen; oder aber vor der Verübung weiteren Unfugs möglichst lautlos von der Bildfläche zu verschwinden. Was die Öffentlichkeit mit aufrichtiger Genugtuung begrüßen würde. Man mag es begreiflich finden, daß Studenten das Recht, sich zu blamieren, beanspruchen; aber man muß es unverzeihlich nennen, daß sie in solchen Bestrebungen von ernsten Männern der Kunst und Wissenschaft unterstützt werden. Wir danken für so unzureichende Aufführungen oder für Aufführungen so unzureichender Stücke und sprechen der Akademischen Bühne trotz Maximilian Harden und Erich Schmidt und Richard M. Meyer und Wilamowitz jede, aber auch jede Daseinsberechtigung ab. – Was hat es für einen Sinn, Frank Wedekinds bereits in München durchgefallenen Erstling nach einem Jahrzehnt auszugraben? Keinen andern als: dem Dichter die Sympathien zu entfremden. Man findet in dieser frühen Arbeit, die etwas literarische Satire gegen den Naturalismus mit sozialer Satire gegen die Mädchenerziehung verbindet, kaum eine Spur der späteren ironischen Weltbetrachtung Wedekinds, dafür aber eine potenzierte dramatische Unfähigkeit, von der eine bleierne Langeweile ausgeht. Und selbst das probate Rezept: ‚Lernen Sie lächeln, lächeln und immer lächeln, dann werden Sie sich schließlich auch wohl mit der modernen Poesie abfinden’ vermag uns hier keinen Trost zu spenden; denn diese traurige Öde ist nur dazu angetan, uns das Lächeln verlernen zu lassen. Schwamm drüber! ● Auf der Spur der Franzosen ist das Neue Theater nach der Fremden Frau [von Alexandre Bisson (vgl. MMs Besprechung vom 01.02.09)] an einen fremden Mann geraten, Georges Thurner [1878-1910], gegen dessen waschechtes Galliertum sich leise Zweifel regen; denn die Technik seines Lustspiels Die Laterne (Le Passe-Partoutque veut ça dire?) läßt die noch im fadesten Boulevardstück geübte Tugend der leichten Mache schmerzlich vermissen und ist so redlich unbeholfen, daß man an deutschen Ursprung denken möchte. Dafür besitzt M. Thurner allerdings die Gabe, aus etlichen Flaschen – auch die sentimentale fehlt nicht – ein leidlich schmackhaftes Gebräu zusammenzugießen, und diese Fähigkeit hat ihm beim Publikum einen ganz freundlichen Erfolg verschafft. – Dem Stoffe nach ist Die Laterne ein modernes Journalistenstück. Aber das Problem des modernen Journalismus, hinter dem der Riese Kapitalismus mit seinen Raubinstinkten steht, wird von Thurner kaum geahnt. Sein skrupelloser Zeitungsbesitzer ist im Nebenberuf ein verwegener Don Juan, und so wird durch ein Hintertürchen der Redaktionsstube die Liebe eingelassen, die im Theater immer noch dankbarere Abonnenten findet als in der Presse. Der Herausgeber der Laterne, eines vom Skandal lebenden, auf die niedrigsten Regungen der Menge spekulierenden und in unsaubern Geschäften arbeitenden Sensationsblattes, nützt seine Macht dazu aus, die Frauen zu erobern. Keine leistet ihm Widerstand. Nur eine: eine kleine Witwe aus Limoges, die er zu seiner Sekretärin gemacht hat und an deren Reizen er lange achtlos vorübergegangen ist, um nun eine ernstliche Neigung für sie zu empfinden. Auch sie erliegt dem Zauber seiner Persönlichkeit und stürzt sich ihm in einem Moment der Sinnenverwirrung um den Hals, wird jedoch unmittelbar darauf von dem Bruder des Gewaltigen, einem dumpfen und stumpfen Bankkommis, der ehrbar um ihre Hand anhält, zur Besinnung gebracht. Und als der Sieggewohnte merkt, daß hier keine neuen Lorbeeren für ihn zu holen sind, macht er gute Miene zu seiner Niederlage und vereinigt die brave kleine Witwe mit seinem braven Bruder, der aus eigener Kraft nie zum Ziele gelangt wäre. So verliert er den Schein der Überlegenheit auch dann nicht, wenn er einmal ausnahmsweise verliert. – Lionel Régis, Besitzer der Laterne, ist ein letzter Nachkomme unseres Konrad Bolz [in Gustav Freytags Journalisten] und ein Vorläufer jenes für die Bühne noch unentdeckten Typus des Zeitungsverlegers mit napoleonischen Allüren, der aus Amerika stammt. Die Umrisse der Gestalt sind nicht übel gegeben; aber als Einzelwesen führt sie keine überzeugende Existenz. Ein solcher ungekrönter Herrscher im Reiche der Druckerschwärze verplempert nicht so viel Zeit mit seinen Liebschaften. Und ferner: wer andere beständig angreift, zu erpresserischen Zwecken angreift, muß selbst (bis zu einem gewissen Grade wenigstens) in seiner Lebensführung unangreifbar sein, sonst wäre sein verbrecherisches Treiben im grellen Lichte der Öffentlichkeit nur von kurzer Dauer. ‚Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen’, sagt ein gescheites Sprichwort. Lionel Régis sitzt in einem zu dünnen Glashaus und wirft mit zu dicken Steinen. Einem Schwindler zahlt man nur hohe Summen, wenn man machtlos gegen ihn ist; hat er aber selbst so viel auf dem Kerbholz, so wird er über kurz oder lang mit ins Verderben gerissen, und die Residenz ist nur zu begierig, zu erfahren, wie man Präsident wird. Der Ehrgeiz eines solchen Mannes, der mit Ministern spielt und die Politik des Landes von seinem Schreibtisch aus dirigiert, langt außerdem nach höheren Kränzen als nach den leicht erreichbaren kleinen Gattinnen seiner eigenen Angestellten. In Frankreich mag derlei möglich sein, und den Parisern, die an die Macht des Unterrocks glauben in einer Zeit, wo die Mode den Jupon fast ganz verbietet, mag es glaubhaft erscheinen – und uns entlockt es ein Lächeln. Die Zustände jedoch, die in der Redaktion der Laterne herrschen sollen, sind nicht einmal in Frankreich möglich. Das hat ein krasser Outsider geschrieben, ein ahnungsloser Engel, der in seiner zur Karikatur neigenden Phantasie da einen veritablen Sumpf sieht, wo höchstens eine Pfütze ist, über die man bequem hinüberspringt. Merkwürdig, wie der Journalismus, sobald er auf der Szene dargestellt werden soll, entstellt und verzerrt wird! Noch keinen sah ich glücklich enden (Gustav Freytag ist antiquiert), der sich an dieses schwierige Thema heranwagte. Vielleicht muß man aber doch ein klein wenig mehr davon wissen als Georges Thurner, dessen Kenntnis des modernen Zeitungswesens sich auf einen Besuch beim Feuilleton-Redakteur beschränken dürfte, der ihm eine Arbeit mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgegeben hat.“

Berliner Theater. NZZ, 22. März 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 81.
Lothar Schmidt, Nur ein Traum (Berliner Theater, 18.03.09). – „An allem war die Maibowle schuld. Die Nachtigall flötete so süß in den Büschen; der Flieder duftete ‚so mild, so stark und voll’ [Hans Sachs’ Fliedermonolog in den Meistersingern von Nürnberg]; zwei Pärchen wiegten sich im Walzertakt… – Der Gatte – Architekt von Beruf – verabredet mit der niedlichen Frau des Botanik-Professors eine Zusammenkunft. Während er sie zur Haltestelle der Elektrischen bringt, leistet sein Sozius der Gattin Gesellschaft. Streckt die Fühlhörner aus. Der Gatte kommt zurück und schwindelt ihr vor, er habe mit Freunden noch eine Poker-Partie vereinbart. Die Gattin lockt ihn zum Bleiben. Umsonst. Die Enttäuschte rüstet sich zu des Lagers mißvergnüglicher Feier. Da springt der Partner, der auch ein sleeping partner werden möchte, durch das Gartenfenster herein. Bestürmt, umschmeichelt sie. Er ist im rechten Augenblicke gekommen. Wenn der Gatte pokert, blüht der Weizen des Hausfreundes. Noch sind sie nicht über die Vorpostengefechte hinausgediehen, werden sie jäh gestört: Der Hauptmannsbursche von nebenan dringt durch dasselbe Fenster ein, um mit dem Dienstmädchen … Am nächsten Morgen erzählt die Gattin, teils um den Ausreißer zu reizen, teils um ihre Gewissensbisse los zu werden, dem Gatten am Frühstückstisch das Abenteuer der letzten Nacht. Erzählt, nicht daß es sich wirklich zugetragen, sondern gibt vor, es nur geträumt zu haben. Und der Gatte lacht. Lacht vor allem darüber, daß die Gattin solche Dinge – sei es auch nur im Traum – seinem Sozius zutraut, den er für eine durchaus unerotische Natur hält. Das Lachen vergeht ihm bald. In aller Herrgottsfrühe erscheint der Botanik-Professor, der in der vorigen Nacht wie gewöhnlich Schach gespielt hat, deshalb aber nicht weniger gut über das Treiben seiner kleinen Frau unterrichtet ist. ‚Gardez la reine!’ [Schach der Königin!] dachte er offenbar, ließ die kleine Frau von einem Detektiv beobachten und hat auf diese Weise mit genauen Zeitangaben erfahren, daß, während er Schach spielte, der vermeintliche Pokerspieler zwei Stunden in seiner Wohnung weilte. Schon ist die Ungetreue nach Hause gereist und die Scheidungsklage eingereicht. Der Architekt wird in dem Prozeß vor Gericht erscheinen müssen. Und bald fliegen ihm die Vorladungen zu. Es bleibt ihm keine Wahl: er muß der Gattin seinen Fehltritt beichten. Sie schnaubt vor Wut. Und spielt ihren höchsten Trumpf aus: was sie ihm als Traum erzählt hat, war Wirklichkeit. Er lächelt über die plumpe Rache der beleidigten Weiblichkeit und fragt seinen Kompagnon um Rat. Der macht ein schlaues Gesicht und empfiehlt ihm, um des lieben Friedens willen die Sache zu glauben. An allem war nur die Maibowle schuld; ‚der Flieder war’s’, und das hat mit ihrem Singen die Nachtigall getan ... – Lothar Schmidt hat dies Lustspiel Nur ein Traum geschrieben und damit ein Werkchen geschaffen, das als norddeutsches Gegenstück zu dem Wienerischen Zwischenspiel Arthur Schnitzlers gelten darf. Eine gescheite, liebenswürdige Komödie, wie wir nicht viele in den letzten Jahren der Dürre erlebt haben, und die dem Publikum des Berliner Theaters mit vollem Recht ausnehmend zu gefallen schien. Ob die Provinz auf den Geschmack der pikanten Sache kommen wird, läßt sich schwer sagen; aber in Paris könnte sie ihr Glück machen, so anmutig und geistreich ist sie. Auch sonst hat sie Vorzüge, die von den Franzosen geschätzt und eifriger als bei uns gepflegt werden. Die spielend leichte Technik kann sich sehen lassen. Mit drei Hauptfiguren bestreitet Lothar Schmidt mühelos die Kosten des Abends. Nicht ganz so glücklich ist er in der Erfindung der Episodengestalten, die ihre Provenienz aus dem Schwank nicht verleugnen. Aber es spricht für seine außerordentliche Geschicklichkeit, daß, wie er selbst nie ermattet, er den Hörer keinen Augenblick ermüdet; und er ist raffiniert genug, im Stile der feineren Konversationskomödie mit einem Epigramm abzubrechen, statt die Folgen der Eheirrung überflüssigerweise auszumalen. Sein Dialog kann sich hören lassen. Er ist von einer gewissen norddeutschen Nüchternheit oder zum mindesten Sachlichkeit, die den Menschen des Stückes durchaus konform wirkt; doch fehlen ihm keineswegs aparte Witzworte, so etwa, um nur eines hervorzuheben, wenn der Architekt, dem die Frauen anderer Männer ebenso begehrenswert erscheinen wie die eigene, von seiner unehelichen Treue spricht. Kurz, ein echtes Lustspiel, an dem wir unser Vergnügen haben, und das seinem Verfasser nicht weniger Freude zu machen verdient.“

Berliner Theater. NZZ, 30. März 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 89.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil (Deutsches Theater, 25.03.09). – „Neueinstudiert: Faust im Deutschen Theater. Tragödie von Goethe; Regie: Max Reinhardt; Dekorationen von Professor Alfred Roller in Wien; Musik von Felix Weingartner. – Das ist mehr als ein Lokalereignis; mehr als eine Sensation für die Stammgäste der Schumannstraße. Neueinstudierungen Max Reinhardts sind geradezu Wiederbelebungen klassischer Werke geworden. So wurde etwa der Sommernachtstraum, von ihm geträumt, ein Zugstück der deutschen Bühne [in den beiden Inszenierungen vom 31.01.1905 und 07.06.1906 (vgl. MMs Besprechung vom 11.02.1905)]. Und da die dramatische Literatur der Zeitgenossen keine lohnenden Aufgaben abwirft, sind wir darauf angewiesen, in die Vergangenheit zu tauchen und ihre Schätze emporzuholen. – Also: Faust. Von 7-12 Uhr. Fünf geschlagene Stunden. Soll ich wieder die prinzipielle Frage erörtern, wie lange der moderne Nervenmensch imstande ist, Kunst zu genießen? Was man auch sagen möge, das eine weiß ich: er ist nicht imstande, fünf Stunden im geschlossenen Raum mit unverminderter Aufmerksamkeit dem gesprochenen Worte zu folgen. Mit den alten Athenern, die drei Tragödien nebst einem Satyrspiel hinter einander aufzunehmen vermochten, und den heutigen Japanern, die fast einen ganzen Tag im Theater sitzen, ist gar nichts bewiesen: es müssen Menschen von anderer Art gewesen sein, es sind Menschen von anderer Rasse. Fiele es irgendeinem zivilisierten Mitteleuropäer ein, fünf Stunden in einer Gemäldegalerie Bilder zu betrachten? Er könnte seine Nerven im Panoptikum zeigen. – Deshalb handelt es sich in jeder Faust-Aufführung in erster Linie darum, das Gedicht so zusammenzustreichen, daß ein Maximum, ein alleräußerstes Maximum von dreieinhalb Stunden nicht überschritten werde. Glaubt man so frevles Beginnen nicht verantworten zu können, so hat man nur eine Wahl (wie es schon [Adolf] Wilbrandt in Wien getan): den ersten Teil auf zwei Abende zu verteilen – erster Abend: bis zur Hexenküche; zweiter Abend: Walpurgisnacht und Gretchen-Tragödie. Selbstverständlich muß die Gretchen-Tragödie, als der dramatisch wertvollste Teil, unangetastet bleiben. Dafür muß eben der philosophische Teil so gekürzt werden, daß er in das Prokrustesbett hineinpaßt. Es hilft alles nichts. Und wenn einem das Herz im Leibe blutet, daß die schönsten Verse unter den Tisch fallen: der Kunstgenießende verlangt es; hat ein Recht, es zu verlangen, denn wer Kunst genießen will, darf nicht physisch ermattet werden. Pietät gegenüber dem Kunstwerk ist gewiß eine edle Sache; mir steht (‚der Teufel ist ein Egoist’ [Vers 1651]) die Pietät gegen den Kunstgenießenden höher. Das Problem des Faust auf der Bühne will mir, so viele Einrichtungen wir auch haben, noch immer nicht gelöst scheinen, solange nicht ein Barbar über ihn kommt und ohn’ Erbarmen mit dem Dichter, voll Erbarmen mit dem Publikum, den Rotstift rasen läßt, daß man zur Rechten sieht und sieht zur Linken ganze Partien des Textes heruntersinken. Wem es nicht behagt, der mag seinen Faust daheim im stillen Kämmerlein lesen, und ein unendlich höherer, reinerer Genuß ist ihm sicher. – Schon so war es des Guten allzuviel. Dabei hatte man sich erst im letzten Augenblick entschlossen, die Walpurgisnacht zu opfern, so daß jetzt auf die Domszene unmittelbar die Kerkerszene folgte. Die Goethe-Philologen werden Trauer anlegen müssen; aber ihnen braucht man nicht zu sagen, daß der Faust nicht für die Bühne gedacht ist und so wie er im Buche steht, auf den Brettern nicht bestehen kann. – Was wir sahen, war ein kühnes Wagen, wenn auch noch teilweise in der Wirkung unausgeglichen. Max Reinhardt, rerum novarum cupidus, geht sozusagen voraussetzungslos an jede Dichtung heran. Sie brauchte vor ihm nicht gespielt worden zu sein, er kennt keine Vorläufer oder will sie nicht kennen, er denkt von sich aus den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal. Recht so! Phantasie und Kühnheit zählen in der Kunst mehr als Tradition und Respekt. Doch ist es bisweilen auch eine schöne Sache um das, ‚was du ererbt von deinen Vätern hast’ [Vers 682], und der Wunsch, es um jeden Preis anders machen zu wollen, darf nicht in Monomanie ausarten. Eine dünne Wand nur trennt Originalität von Originalitäthascherei. – Gleich der Prolog im Himmel, der übrigens nur für das Gesamtwerk unentbehrlich ist, war ein unerhörtes Novum. Man sah nicht den Märchenhimmel mit seinen weißen Engelscharen, die frisch vom Zuckerbäcker hergestellt scheinen; man sah ein Vacuum. Irgendwo im unermeßlichen Raume klebte Mephisto an einem Felsenriff und unterhielt sich mit dem lieben Gott, dessen milde, gütige Stimme aus weltenweiter Ferne drang. Und selbst die drei Erzengel blieben unsichtbar; drei breite Lichtstreifen, die den Raum durchfluteten, versinnbildlichten sie. Drei Männer sprachen ihre unvergleichlich herrlichen Verse; und der Italiener Alessandro Moissi sprach die wundervollsten Verse des wundervollsten Deutschen wie eine süße Verdische Melodie. Es war Musik. – Dann kam die Studierstube. Mit einem bartlosen Faust. Auch hier gegen allen Brauch (und selbst gegen den Wortlaut der Dichtung) verstoßend; aber doch im Einklang mit neueren Forschungen, die den uralten Mann verworfen haben. Nur so wird es dem Darsteller möglich, den gefährlichen Sprung vom Grübler zum Liebhaber zu machen. Friedrich Kayßler gelang die Metamorphose mühelos. Allerdings, dieser Faust – ein rüstiger Forscher, Ende der Vierziger – hatte den Verjüngungstrank kaum nötig und konnte auf den Gang zur Hexenküche verzichten. Weg mit der Hexenküche! Sie war wohl besser gemacht als man sie sonst zu sehen bekommt; aber das Übersinnliche fehlte ihr gleichwohl. Bengalisches Feuer wirkt nun einmal nicht furchtbar. Statt eines dämonischen erzielt man nur einen grotesken Eindruck. – Ich kann nicht jedes einzelne Bühnenbild beschreiben, möchte aber als besonders gelungen Frau Marthes Garten mit blühenden Kirschbäumen und den Zwinger hervorheben. Auch die Dekoration des Osterspaziergangs war ganz köstlich, nur perspektivisch etwas umständlich, wie wenn jemand die rechte Hand über den Hinterkopf legen wollte, um ans linke Ohr zu gelangen. Daneben weniger Gelungenes: so Auerbachs Keller; so Valentins Sterbeszene, die sich auf viel zu engem Raum abspielt. Bei solchen Massenauftritten machen sich die Unzulänglichkeiten der Drehbühne recht empfindlich bemerkbar, und selbst ein Roller ist an ihre architektonischen Existenzbedingungen gebunden. Immer wieder bewundert man die Ausnützung des verfügbaren Raumes; aber das Bühnenbild, das unbestreitbar an Intimität gewinnt, schrumpft leider nicht selten zum Puppenstubenhaften, zum niedlich Spielerischen zusammen. – Darstellerisch ragte die Aufführung weniger hervor als dekorativ. Schildkrauts Mephisto ohne einen Schuß von Dämonie war ihr wunder Punkt. Den Gipfel nach oben bedeutete das Gretchen der Höflich: bürgerlich, naiv, rührend innig. Glänzend waren einige Episoden vertreten, so die Marthe durch Frau Wangel, die aus solchen Kupplerinnen eine Spezialität macht. – Endlich Weingartners Musik. Nach den kargen Bruchstücken, die im Deutschen Theater zu Gehör kamen, läßt sie sich schwer beurteilen. Immerhin verstärkte sie wirksam die Schauer der Domszene durch mächtige Posaunentöne, die wie zum Jüngsten Gericht riefen. – Der erste Wurf ist getan mit den Unvollkommenheiten, die bei einem so unendlich schweren Werke nicht überraschen dürfen, aber doch so viele köstliche Keime bergend, daß sicher ein Großes daraus erblühen wird. Man wird die angezeigten späteren Aufführungen abwarten müssen, um Reinhardts Unternehmen in seinem ganzen Umfange würdigen zu können. Hoffen wir, daß der deutschen Bühne dauernder Gewinn daraus erwächst.“ – Die Inszenierung wurde 323mal aufgeführt: das letzte Mal am 27.05.1924.

Berliner Theater. NZZ, 14. April 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 103.
Guy Louis Busson Du Maurier, Eines Engländers Heim (Neues Theater, 11.04.09). – „Selten oder nie hat man in Berlin einen solchen Skandal erlebt wie am Abend des Ostersonntag im Neuen Theater, wo die dreiaktige ‚Satire’ Eines Engländers Heim von Du Maurier aufgeführt wurde. Schon während des ersten Aktes verriet das Publikum eine bedrohliche Ungeduld; im zweiten Akt machte es seinem Unwillen Luft, indem es unvorschriftsmäßigen Anteil an der Handlung durch scharrende Geräusche nahm; und der dritte konnte überhaupt nicht zu Ende gespielt werden, denn die Worte, die auf der Bühne gesprochen werden sollten, wurden von beständigen Schluß-Rufen, von wüstem Trampeln, Zischen, Johlen, Pfeifen übertönt. Es war eine kakophonia domestica. Der Lärm im Zuschauerraum, verbunden mit dem Schießen und Bollern auf der Szene, nahm bisweilen solche Dimensionen an, daß nicht viel an einer Panik gefehlt hätte. Bewundernswert blieb, unter so schwierigen Verhältnissen, die Haltung der Schauspieler, die mit wahrer Todesverachtung auf ihren verlorenen Posten ausharrten. – Was ist das für ein Stück, das so heftig, aber leidenschaftslos von einem unterhaltungsbedürftigen Feiertagspublikum abgelehnt wurde? Ein englischer Sensationsschmarrn schlimmster Sorte, von dessen Riesenerfolg in London man schon viel gehört hat, der bei uns aber nichts, nichts, nichts zu suchen hat. Wenn die Zensur einmal ein Recht hätte einzugreifen, versagt sie natürlich. Die Spannung zwischen England und Deutschland ist auch ohne diese überflüssigen Reibereien gerade groß genug; man vermeide doch die Gelegenheiten, böses Blut zu machen! Oberst Du Maurier, der Sohn des Trilby-Dichters, will zeigen, daß die Engländer die Invasionsgefahr, die ihnen droht, unterschätzen. Sie leben für den Sport, während sie vom Krieg und von der Kriegführung keine Ahnung haben. Sie spielen Diabolo, interessieren sich mit brennendem Eifer für den Ausgang des letzten Cricket-Match, treiben allerlei Allotria, und mit einemmale stehen die feindlichen Truppen, deren Landung durch den herrschenden Nebel begünstigt wird, mitten im Zimmer. (Wer mit dem Feind gemeint ist, braucht nicht ausdrücklich gesagt zu werden; jeder Engländer weiß es, jeder Deutsche lacht darüber.) Nun ist das Unglück da, denn die Engländer haben kein Landheer. Ihre Freiwilligen, die sich schnell sammeln, um die ‚nordische’ Armee am Vordrängen zu hindern, machen einen fast so kläglichen Eindruck wie Falstaffs Krüppeltruppe und können das Verderben nicht aufhalten. England, England, dein Stündchen hat geschlagen! – Was hat die ruhigen Berliner gegen diesen gräßlichen Kitsch aufgebracht? Ich glaube, es war nur die Rache für ausgestandene Langweile. Sie wurden ungemütlich, weil sie es sträflich öde fanden. Ich glaube nicht, daß es ein Protest gegen die künstlerischen Qualitäten des Stückes war – wenigstens nicht in erster Linie. Wäre es aber ein solcher gewesen, so müßte er als eine Demonstration für England aufgefaßt werden. Denn die Berliner hätten dann durch den Skandal zeigen wollen, daß sie sich so eine hanebüchene Karikatur der Engländer nicht gefallen lassen. Sie haben zu große Hochachtung vor diesem Volke. So kindlich, so albern, so dumm können die Vettern jenseits des Kanals doch nicht sein. Allerdings, ihre gegenwärtige Angst vor dem Anwachsen der deutschen Flotte und vor einer plötzlichen Invasion läßt sich nur mit dem Worte Hysterie bezeichnen. Haben sie Furcht vor unsrer militärischen Überlegenheit, so ist es jedenfalls unklug, sie zu verraten. Wie kann dem abgeholfen werden? Oberst Du Maurier möchte seinen Landsleuten gründlichst einschärfen: England ist rettungslos verloren, wenn es nicht ein starkes Landheer aufbringt. Da die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vorläufig noch an den übertriebenen Begriffen von persönlicher Freiheit scheitert, gibt es nur ein Mittel, der Gefahr zu begegnen: Freiwillige vor! Eines Engländers Heim mißbraucht die Bühne dazu, für die Vermehrung der Volunteers Propaganda zu machen im Stile einer politischen Flugschrift. Das geht so weit, daß auf dem englischen Theaterzettel die Adresse des nächsten Quartiers angegeben ist, in dem sich Freiwillige melden können. Und sie melden sich in Scharen. Was mit allen ihren Reden Roberts und Kitchener nicht vermocht haben, der Kitsch hat es getan mit seinen blutrünstigen Bildern. – Aber was geht uns das im Theater an, welches eine Stätte der Kunst sein soll? Was kümmert es uns (fern vom Leitartikel), wie die Engländer zu ihrem Landheer kommen? Wir haben ein miserables Stück gesehen, und dieses ist nach Verdienst niedergezischt worden. Ein noch größeres Verdienst wäre es freilich gewesen, dieses verboten schlechte Machwerk wäre polizeilich verboten worden. Wozu haben wir eine Zensur, wenn sie ihre Präventivgewalt nicht ausübt? Immerhin macht es dem Berliner Publikum alle Ehre, daß es sich auf die Lynchjustiz besonnen hat. Offenbar wollte es den hirnverbrannten Blödsinn, daß wir die Engländer eines Tages überfallen könnten, nicht einmal im Bilde sehen. Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, wenn er davor sitzt.“

Berliner Theater. NZZ, 18. April 1909, Drittes Blatt, Nr. 107.
Anton Tschechow, Die Möwe (Hebbel-Theater, 13.04.09). – „Zwei Tage nach dem englischen Bumbum-Stück, dem der Geschmack unseres Publikums ein vorzeitiges Ende bereitete, brachte das Hebbel-Theater Anton Tschechows Schauspiel Die Möwe. Größere Gegensätze lassen sich kaum denken. Ein amerikanischer Gassenhauer und ein Beethovensches Adagio sind nicht verschiedener. Der englische Schmarrn gleicht einem russischen Karrngaul, das russische Kunstwerk einem englischen Rennpferd. Das Merkwürdige des Falls liegt darin: daß das westlichste europäische Volk, (die Iren, ein Kapitel für sich, zählen nicht mit), dem wir die höchste Lebenskultur zuerkennen müssen, an der niedrigsten Sorte dramatischer Erzeugnisse nach wie vor Gefallen findet, während das östlichste europäische Volk, dessen Lebenskultur noch geboren werden soll, im intellektuellen Drama bereits einen Gipfel erklommen hat. Die Engländer haben von allen Kulturnationen unseres Erdteils das rückständigste Drama (Ausnahmeerscheinungen wie Bernard Shaw und Granville-Barker ändern daran wenig); die Russen pflegen, wie die Skandinavier, eine neue Gattung dramatischer Kunst, die weit über den allgemeinen Bildungsgrad ihres Sondervolkes hinausragt und sich an die Gemeinde der vorgeschrittensten Geister des gesamten Europa wendet. An Geister, die auf feinste Stimmungen reagieren und von knalliger Handlung abstrahieren gelernt haben. – Das könnte fast den Eindruck erwecken, als ob sich in Tschechows Werk gar nichts ereignete, als ob es in der Ausmalung des Zuständlichen schwelgte. Dem ist keineswegs so. Im Gegenteil: es geht sogar sehr viel vor, was unter die landläufige Marke ‚Bühnenhandlung’ fällt. Eine alternde Schauspielerin, Mutter eines erwachsenen Sohnes, sucht einen berühmten Modeschriftsteller mit allen Mitteln an sich zu fesseln. Ein junges Mädchen aus guter Familie entläuft dem Elternhaus, geht zur Bühne und wirft sich dem Modeschriftsteller an den Hals. (Sehr brutal ausgedrückt; sie sagt das so: ‚Wenn du jemals mein Leben brauchen solltest, so komm’ und nimm es’.) Der Sohn der Schauspielerin wird von einem Mädchen vergöttert, das, weil seine Liebe nicht erwidert wird, einen armseligen Schullehrer heiratet. Die ganze Neigung dieses Sohnes gehört der Andern, die Schauspielerin geworden ist; und als sie, die Möwe, die der Pfeil des Schriftstellers durchbohrt und dann achtlos beiseite geworfen hat, nun gebrochen, zerbrochen, zurückkehrt, geht ihm, dem eben der Erfolg zu lächeln beginnt, ihr Jammer so zu Herzen, daß er sich erschießt. Den russischen Menschen ist ein ungeheures Maß des Leidens zugemessen, aber es wird ihnen erleichtert durch eine ungeheure Kraft des Mitleidens, durch einen bewundernswerten Altruismus. – Eigentlich ist dieses Schauspiel also vollgepackt mit Bühnenhandlung. Aber nun die spezifisch russische Note: die Ereignisse werden ihrer rohen Gegenständlichkeit entkleidet. Sie stolzieren sozusagen nicht mehr in dröhnenden Kanonenstiefeln über die Bretter, sondern schleichen still in Filzpantoffeln dahin. Sie sind nicht mehr der Hebel, sondern der Nebel der Handlung. Hier schreien die russischen Menschen nicht, wie wir es in andern Bühnenwerken dieses Volkes erlebt haben (bei Tolstoi, bei Andrejew), ihre Leiden laut hinaus, sondern sie tragen in einer dumpfen Atmosphäre ihr Weh stumm mit sich herum, und nur bisweilen entringt sich ein Seufzer der gequälten Brust. ‚Jetzt weiß ich’, sagt die Möwe, ‚daß in unserer Arbeit, ganz gleich, ob wir Theater spielen oder schriftstellern, die Hauptsache nicht der Ruhm, nicht der Glanz ist, nicht das, wovon ich geträumt, sondern die Fähigkeit zu dulden. Wisse dein Kreuz zu tragen und dulde!’ Das ist es, was allen diesen Menschen ihr nationales Gepräge gibt: die Fähigkeit zu dulden. Lautlos. Sie wehren sich nicht mehr, der Alp lastet auf ihnen, und sie machen gar keinen Versuch, ihn abzuschütteln, die Hände sind ihnen gebunden, das Leben als solches, nicht etwa besondere Erlebnisse, hat sie abgestumpft und der Schwungkraft beraubt, hat sie entweder zu Fatalisten oder blasiert gemacht. Gesenkten Hauptes wandeln sie ihre vorgezeichnete Straße. Sie wollen nicht mehr. Der erste Satz der Möwe: ‚Warum tragen Sie immer Schwarz?’ ist das Leitmotiv des Gesamtwerkes. Alle Figuren tragen Schwarz oder zum mindesten Grau. Die einzige, die sich auf weiße Blusen kapriziert, die alternde Komödiantin (von Rosa Bertens in ihrem überlegenen Stil dargestellt) bringt mit der frischeren Farbe auch zugleich Abwechslung in das eintönige Milieu. Sie ist eine amüsante Egoistin, die mit dem Leben noch nicht abgeschlossen hat wie ihre flügellahme Umgebung, und ihr hat der Dichter die einzige laute Szene zugewiesen, wenn sie und ihr Sohn, der die russische Volksseele vielleicht am reinsten spiegelt, sich derbe Wahrheiten an den Kopf werfen. – Im Hebbel-Theater werden solche Stimmungsbilder nicht übel veranschaulicht, wenn es dazu freilich auch keiner besondern Kunst bedarf. Der Regisseur hätte für ein Werk mit so ausgesprochener Melodie das Pedal etwas weniger gebrauchen können.“

Berliner Theater. NZZ, 27. April 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 116.
Maurice Leblanc u. Francis de Croisset, Arsène Lupin (Hebbel-Theater, 22.04.09). – „Mir geht es wie dem ‚Meister’ von Hermann Bahr [vgl. MMs Theaterkritik von Bahrs Der Meister am 07.01.04]: ich habe eine gewisse Schwäche für Kriminalromane und Detektivkomödien. Der Geist wird auf eine so angenehm aufregende Art beschäftigt, die Phantasie zu reger Mitarbeit herangezogen. Man treibt in diesem literarischen Tiefland eine heilsame Gymnastik des Gehirns, gestattet der Imagination ein kurzweiliges Hazardspiel. Das Stoffliche ist unsereinem natürlich Nebensache; aber das Technische mit seinen tausend Möglichkeiten und tausendunddrei Unmöglichkeiten interessant. Darum ist Grundbedingung für solche niedere Ware: sie muß brillant gemacht sein. Man muß das Können, die überlegene Technik spüren. Wehe, wenn ich den Verfasser solcher Kriminalstücke bei faulen Tricks ertappe oder einem Diebsroman gegenüber mich in der Lage des Detektivs befinde! Dann lehnt sich der beleidigte Geschmack auf und lehnt die ganze Gattung als verwerfliche Spekulation auf die rohesten Triebe erbarmungslos ab … – Das Hebbel-Theater, das sonst zwar nicht auf Hebbels einsamer Höhe weilt, aber bei Shaws Exzentrikspäßen sich in seinem Element fühlt, hat zuerst von allen Berliner Bühnen Sommer gemacht, indem es der Detektivkomödie Arsène Lupin von Maurice Leblanc und Francis de Croisset Zutritt gewährte. Wie gesagt: wenn man dergleichen aufführt, muß es tadellos gemacht sein; muß es vor allem tadellos gespielt werden. Beides war nicht der Fall. – Arsène Lupin ist der Gentlemaneinbrecher, der Gaunerkönig, der Hochstaplerherzog. Vollendete Manieren sind sein Rüstzeug, alle Errungenschaften der modernen Technik sein Werkzeug. Im Grunde hat dieser Verbrecher eine gewisse Verwandtschaft mit dem Romanhelden einer früheren Zeit, etwa wie er in vollstem Glanze sich bei Spielhagen findet. Er kann alles und fürchtet nichts – ein Dreadnought sozusagen. Er entstand als Gegenspieler des Sherlock Holmes, welcher die Gerissenheit des Detektivs in der höchsten Potenz verkörpert. Das konnte sich Verbrecherschläue nicht bieten lassen; denn schließlich erleben wir doch jeden Tag, daß Kriminalfälle ungesühnt bleiben, und so mußte nach den Triumphen des Sherlock Holmes der triumphierende Verbrecher feudalen Stiles kommen. Und er kam in Raffles [E.W. Hornungs ‚gentleman thief’ (1898 ff.)]. Ich kann nicht feststellen, ob das Werk der französischen Firma Leblanc und Croisset älter ist als das der englischen Firma Hornung und [Eugene] Presbrey [nein: Hornung und Presbreys Koproduktion Raffles, The Amateur Cracksman stammt aus dem Jahr 1903, Leblancs und Croissets Gemeinschaftsarbeit aus dem Jahr 1908]; aber daran ist kein Zweifel möglich: die eine Firma hat die andere nach Noten ausgeplündert. (Scherzfrage: welche von beiden ist Arsène Lupin?) Einzelheiten noch – so wenn ganz zum Schluß der Verbrecher im Automobil des Beamten davonjagt – sind mit einer Ungeniertheit entlehnt, als hätte das Dargestellte auf die Darsteller verhängnisvoll abgefärbt. Franzosen und Engländer mögen unter sich ausmachen, wer die Priorität der Figur zu beanspruchen hat; jedenfalls dürfen wir auch auf diesem Gebiete eine Entente cordiale konstatieren! – Aber Raffles arbeitet mit der Exaktheit einer gut geölten Maschine, während sein Zwillingsbruder in allen Fugen knarrt. Was hat es für einen Sinn, daß der Herzog von Charmerace, hinter dem sich der gefürchtete Arsène Lupin verbirgt, seinen künftigen Schwiegervater fortwährend bestiehlt! Er brauchte nur seinen Hochzeitstag abzuwarten, und alles, was er sich ante festum aneignet, fiele ihm im Laufe der Zeit von selbst zu. Er stiehlt auch nicht aus Manie oder Passion, sondern aus Großmut: denn er läßt, wodurch er uns schwerlich sympathischer wird, seine Beute den Armen zukommen. Aber während Mr. Arthur J. Raffles für sich und in seine eigene Tasche arbeitet (der stärkste Gauner der Welt ist derjenige, der allein steht – könnte man ein berühmtes Wort Ibsens paraphrasieren [‚Der stärkste Mann auf der Welt ist der, der allein steht’ (Ein Volksfeind)], ist Arsène Lupin von einer ganzen Banditenbande umgeben. Und so ist bei den Franzosen alles plumper als bei den Engländern. Es lohnt wirklich nicht, an solchem Zeug seinen Witz zu wetzen. Gut gemacht ist nur die große Szene zwischen dem Verfolger und dem Verfolgten im letzten Akt, aber so unerträglich lang, daß sie um jede Wirkung gebracht wird. – Entschuldigen läßt sich die Wahl des Hebbel-Theaters kaum; wie es den Gegenstand seiner Wahl spielte, das war vielfach eine Qual. So elegant wie hier in einem französischen Schlosse dürfte es auch in Kyritz an der Knatter [volkstümliche Bezeichnung von Kyritz in Nordwest-Brandenburg] zugehen. Und diese Pariser Toiletten – frisch von Jandorf [1904 eröffnetes Warenhaus in Berlin-Mitte (Brunnenstr.)] bezogen! Sollte die Provinz, die nach Ostern ihre engagementlosen Mimen in die Hauptstadt ausspeit, ihre fürchterliche Invasion schon begonnen haben?“

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1909 / 1910

Berliner Theater. NZZ, 16. September 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 257.
Beginn der Theatersaison; Richard Dehmel, Der Mitmensch (Kleines Theater, 11.09.09). - "Pünktlich am 1. September trägt der Zettel den Vermerk: ,Eröffnung der Winterspielzeit.' Sie ist eröffnet - auf dem Papier; denn einstweilen denkt kein Mensch an Winter und Winterspielzeit, so lange der saumselige Sommer die Welt mit wonnigem Wetter beschenkt. - Wir lassen uns aber nicht vom Kalender tyrannisieren. Vorläufig streiken wir. Das Leben hat uns noch. Und das Leben ist, bei allem Respekt vor der Literatur, tausend-, hunderttausendmal wichtiger. Vielleicht haben wir das manchmal vergessen; wahrscheinlich werden wir es wieder vergessen, wenn wir erst eine Zeit lang im Dunstkreis der Literatur geweilt haben. Jetzt fühlen wir noch so und freuen uns dessen von ganzem Herzen und von ganzem Gemüte. - ,Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust': eine Sommer- und eine Winterseele. Die Sommerseele flüchtet in die Natur; die Winterseele züchtet Kunst. ,Kunst und Natur sei eines nur' [Lessing, ,In eines Schauspielers Stammbuch']: das glaubt heute niemand mehr; sondern jeder hält es mit dem Schillerschen Vers: ,Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen' [,An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte']. Im Sommer leben wir stärker; im Winter empfinden wir feiner. Im Sommer begeistern wir uns für Zeppelin und Wright; im Winter für Kleist und Shelley. Die Sommerseele ,hält mit derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen'; die Winterseele ,hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher' - Dramen [Faust I, 1112-17, wo es ,Ahnen' statt ,Dramen' heißt]. - Gewaltsam. Wir müssen uns erst allmählich wieder in das Dämmerlicht des Scheins zurückfinden, müssen unser Nervensystem erst wieder trainieren, damit es willig Gefolgschaft leiste. Der Übergang ist schwer und schmerzlich. Fast so schwer, wie es dem Kinde wird, nachdem es wochenlang während der Ferien seinen Spieltrieb in heiterer Ungebundenheit ausgetobt, sich wieder an die Schule mit ihrem ernsten Zwang zu gewöhnen. Immer tiefer fühlen wir die Trennung zwischen Leben und Literatur oder, da es nicht notwendig eine Trennung zu sein braucht, die unendlich größere Bedeutung des Lebens. Es ist sehr schön, sich literarisch zu betätigen - zweifellos. Es gibt kaum eine schönere Beschäftigung. Aber es ist unsagbar viel wichtiger, zu leben. Wenn die Literatur eine beneidenswerte Geliebte ist, so nenne ich das Leben die Allmutter. Und von sämtlichen Zweigen der Literatur scheint mir keiner lebensfremder, dem echten, ungeschminkten Leben abgewandter als das Theater. Dieser Zweig ist eine Branche geworden. In den langen Sommermonaten ist uns diese Welt der schiefen Pespektiven, der knalligen Landschaften, der Zimmer ohne vierte Wand, diese Welt des grellen Rampenlichts, der Kulissen, Soffiten, Perücken und falschen Bärte entschwunden, versunken wie Vineta, und wir müssen jetzt wieder Fühlung zu gewinnen suchen mit ihren besondern Daseinsbedingungen, mit ihrer eigentümlichen Optik und Akustik. - Auch im Sommer bin ich gelegentlich (sehr vereinzelt allerdings nur und keineswegs einem starken Willen, eher einem Mutwillen gehorchend) ins Theater gegangen. Wie es auf mich gewirkt hat? Ich erröte nicht, es niederzuschreiben: ich habe gelacht, herzhaft und herzlich gelacht. Während man in Paris und London sehr gut im Sommer das Theater besuchen kann, scheint die Atmosphäre Berlins diesem Luxus wenig günstig zu sein. Man findet es stillos; man lacht. Wie ein Kind lacht, wenn plötzlich ein Fremder zur Tür hereintritt. Er braucht durchaus nicht komisch auszusehen oder in seinem Wesen irgendwelche Absonderlichkeiten zu verraten; lediglich der ungewohnte Anblick wirkt auf die Lachmuskeln des Kindes. Nicht anders ergeht es einem mit dem Berliner Theater im Sommer. Und die Ursache davon ist nicht so sehr das Theater wie der Sommer. Ich habe selbst über Werke gelacht, die mir im Winter gar nicht lächerlich vorkamen. Einfach aus dem Grunde, weil ich nicht darauf eingestellt war. Was mir die Leute auf der Bühne vormimten, prallte an mir ab, traf mein Empfinden nicht, berührte mich nicht und rührte mich nicht. Ich fand sie komisch und konnte zuweilen den Gedanken nicht unterdrücken, daß sich produzieren bis zu einem Grade sich prostituieren heißt. - Mir fällt ein kleines amerikanisches Erlebnis ein, das ich vor sieben Jahren unbegreiflich fand, das ich heute jedoch nicht mehr mit einem Kopfschütteln abtue. Ich war mit einem musikliebenden Millionär [dem Zeitungsmagnaten Joseph Pulitzer] in einem Konzert. Ob er nun an diesem Abend nicht in der richtigen Stimmung war oder ob der berühmte Baritonist, der ein Lied nach dem andern zum Besten gab, vor seinem Ohre nicht Gnade fand: während ihn sonst die Musik zu Tränen bewegen konnte, saß er den ganzen Abend gleichsam unbeteiligt da, und als wir - lange vor Schluß des Konzertes - fortgingen, sprach mein Millionär die geflügelten Worte: ,Why does that man make a fool of himself?' (Warum macht sich der Mann zum Hanswurst?) Um Geld zu machen, wäre vielleicht die treffendste Antwort gewesen; das gilt ja sonst in den Vereinigten Staaten als Entschuldigungsgrund für alles. Ich war so verblüfft, als ich das hörte, daß ich laut auflachte. Der Standpunkt war mir neu. In diesem Lichte hatte ich die Dinge nie gesehen. Ich will nicht sagen, daß ich jetzt diese Auffassung teile, aber ich kann sie zur Not begreifen. Erschreckend kommt mir dabei zum Bewußtsein, daß ich inzwischen sieben Jahre älter geworden bin. Vielleicht mußte ich sieben Jahre älter werden, um es zu verstehen; wahrlich, dann habe ich einen hohen Preis dafür bezahlt. - .Wir werden älter, und die Literatur, die uns einst über alles ging, muß, wie es sich gehört, hinter dem Leben zurückstehen. Weit, weit zurückstehen. Wir waren in Gefahr, die Literatur zu ernst zu nehmen. Wir alle haben sie maßlos überschätzt. Haben so getan, als ob von einem Dramachen das Heil der Welt abhinge. Haben den Anschein erweckt, als glaubten wir, daß ,vivere non necesse est', daß dagegen die Kunst eine Notwendigkeit ist. Der Rückschlag konnte nicht ausbleiben. Nun sind wir zu der unverlierbaren Erkenntnis vorgedrungen, daß nur eines von Wichtigkeit ist: zu leben, und daß daneben alles von verschwindend kleiner Bedeutung. Wir leben in einer herrlichen, glorreichen Zeit: Zeppelin vermag im Luftballon von Friedrichshafen nach Berlin zu fahren; Orville Wright steigt vor unsern Augen, mit der Selbstverständlichkeit eines Vogels, hundert Meter empor und durchsegelt, schön und sicher wie eine Schwalbe, den Äther; der Nordpol ist entdeckt - gleich zweimal, damit der eine Forscher den andern anrempeln kann (putzige Menschen!); nächstens werden wir uns von Nauen aus mit Kamerun verständigen. Jeder Tag bringt neue, ungeahnte Entdeckungen. Und wir sitzen am Schreibtisch und zerpflücken ein Dramachen! Einst sollte, von Friedrichshagen aus, die Welt aus den Angeln gehoben werden; jetzt sind die Augen der Welt nach Friedrichshafen gerichtet. So ändern sich die Zeiten. Und wir sitzen am Schreibtisch und . - Ich weiß, diese wehmütigen Betrachtungen entspringen meiner Sommerseele. Leider sind ihre Tage gezählt. Sie wird nicht mehr lange regieren. Schon rumort in den Tiefen die Winterseele und will ans Licht. Sie wird nicht fassen können, daß ich so ketzerische, lästerliche, abtrünnige, banausische Ansichten zu vertreten wagte. Darum sollten sie rasch aufgezeichnet werden, ehe sie für eine Weile zu entgleiten drohen. Warte nur, balde hat uns das Theater wieder. ●●● Vielleicht nicht ganz so bald. Die Eröffnung der Winterspielzeit, die im Kleinen Theater Richard Dehmels Tragikomödie Der Mitmensch [Erstfassung 1895] brachte, war ein Triumph für die Sommerseele. Der erste Vorstoß der Winterseele ist glänzend zurückgeschlagen worden. O, Richard Dehmel, warum mußten Sie der Protesilaos sein! Wie konnten Sie Ihre Zustimmung geben, daß ein solcher Versuch von Ihnen nach zehn und etlichen Jahren an den Pranger gestellt wird? Merkten Sie denn nicht, daß es dem Direktor des Kleinen Theaters nicht um die Sache, sondern um Ihren erlauchten Namen zu tun war? Hatten Sie denn keine Freunde, die Ihnen sagten, daß Herr Barnowsky nicht den Mitmenschen spielen, sondern seine Mitmenschen mit Richard Dehmel ein übles Spiel treiben lassen wollte? Ein verehrter und verehrungswürdiger Lyriker mag sich in einer schwachen Stunde auch einmal zum Dramatiker berufen fühlen, besonders wenn alles um ihn herum, wie es in den Wickeljahren des Friedrichshagener Naturalismus der Fall war, zur Bühne drängt; aber in einem wachen Augenblick vernichtet er, was er mit unzulänglicher Kraft geschaffen, oder verbirgt es im untersten Schubfach seines Schreibtisches. So etwas nimmt man nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke auf, weil es selbst die Anhänger schmerzen muß. Noch viel weniger schickt man ihm eine anspruchsvolle Abhandlung über ,Tragik und Drama' voraus, weil sich Theorie und Praxis mit Haut und Haar verschlingen. - Immerhin, es hätte eine Möglichkeit gegeben, das Stück zu retten: wenn man nämlich die falsche Etikette ,Tragikomödie' berücksichtigt hätte. (Was man nicht rubrizieren kann, das sah man damals als Tragikomödie an.) So wie Shaw seine schwächsten Arbeiten als Verspottungen des englischen Melodrams ausgibt, hätte man den Mitmenschen als blutige Groteske herunterspielen sollen. Es hätte zwerchfellerschütternd wirken müssen, wenn der Vater, nachdem ihm die Tochter eben ihre Schande gestanden, gleich darauf der Tochter seinen Bankrott enthüllt hätte. Es wäre als witzige Verulkung aufgefaßt worden, daß ein brutaler Börseaner von amerikanischem Habitus beständig das Wort ,Goddam' im Munde führt, das zwar nicht in der englischen Sprache, dafür aber in der Phantasie vieler Deutschen existiert. Und das Lachen wäre zum Wiehern angeschwollen, wenn einem Kerl, dem das eine Auge ausgehauen worden ist, das zweite ausgeschossen worden wäre. Ja, warum hat niemand diesen erlösenden Gedanken gehabt? Uns wäre der Glaube an den Dramatiker Dehmel und Dehmel der Glaube an sein Drama erhalten geblieben. - Goddam, war das ein Anfang! Zum bösen Zeichen nehm' ich dich [Schiller, ,Die Kraniche des Ibykus': ,Zum guten Zeichen nehm' ich euch']. Wenn es nächstens nicht besser wird, sattle ich um. Dann werde ich Luftschiffer oder schreibe, was mir einstweilen noch sicherer erscheint, fortan über die Probleme der Technik."

Berliner Theater. NZZ, 20. September 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 261.
Die ersten Produktionen der Wintersaison; Otto Erich Hartleben, Hanna Jagert (Hebbel-Theater, 14.09.09). - "Ein früher Otto Erich Hartleben, die Komödie Hanna Jagert [1893], steht zu erneuter Diskussion. Im Hebbel-Theater. Es scheint die Signatur dieser Spielzeit, daß man sich nicht recht getraut anzufangen. Bewährte Namen werden als Stimmungspioniere entsandt. Im Schauspielhaus gräbt man Alfred de Mussets On ne badine pas avec l'amour zu kurzem Scheindasein aus; im Lessing-Theater werden längst bekannte Arbeiten von Schnitzler (Die Gefährtin) und Hauptmann (Hannele) als Eisbrecher verwendet; das Neue Theater, dem das Neue nicht zum Segen gedieh und das deshalb, mit plötzlicher Kursänderung, jetzt beim Alten sein Heil sucht, entbietet Lessing (Emilia Galotti) und beschwört Gutzkow (Das Urbild des Tartuffe) aus der Gruft. Mitte September, und noch ist über allen Gipfeln Ruh. Wo bleiben die neuen Werke? Sind sie noch nicht da, wie einige munkeln, oder werden sie nur ängstlich für einen späteren Zeitpunkt zurückgestellt? Doch Reinhardt - triumphator in partibus -, Reinhardt, mit frischem Provinzlorbeer geschmückt, ist noch nicht heimgekehrt. Wenn er erst wieder in die Hauptstadt eingezogen, dann werden wir reich in Nahrung gesetzt, und wie die Wagnersche Wunschmaid treibt er ,zu neuen Taten' [Götterdämmerung]. - Nach Dehmels Débâcle behauptet sich Hartleben auf einer anständigen mittleren Höhe, obwohl er kein geborener Dramatiker war. Dazu fehlte seiner bedächtigen und behaglichen Natur das wichtigste Erfordernis: die Leidenschaft, die Eruption, welche dem Seelengemälde erst Farbe verleiht. Aber die Erziehung zum Dramatiker hat er mit Eifer und Erfolg an sich vorgenommen. Er hatte eines vor den meisten seiner Mitstrebenden voraus: Kunstverstand, man könnte auch sagen: literarischen Geschmack. Was ihm an schöpferischer Kraft abging, suchte er durch Stilgefühl zu ersetzen. Ein Fontane der Bühne. Wie dieser als sanfter Satiriker am stärksten. Wie dieser mit besonderm Scharfblick für die Schwächen der Bourgeoisie ausgerüstet; sonst vornehmlich ein akustisches Talent, das die Menschen durch ihre Sprechweise zu charakterisieren weiß. Der Ton, die Nuance macht bei ihm die Musik. - Hanna Jagert ist eine frühe Komödie von ihm. Merkwürdigerweise sind die meisten Modernen gerade in ihren Anfängen am genießbarsten; oder vielleicht auch nicht merkwürdigerweise, wenn man an ihre Entwicklungskargheit denkt. Hanna Jagert war Hartlebens Absage an die Sozialdemokratie. Doch dies Persönliche, das dem Stück vor zwei Jahrzehnten ein unbegreifliches Zensurverbot eintrug, kümmert uns heute kaum noch. Otto Erich war nie ein Sozialdemokrat, höchstens ein Sozialaristokrat. Was für Menschen hat er gezeichnet, und haben sie irgendwelche Bedeutung für uns? Das ist die Frage. Nun, die Zentralfigur sagt uns gar nichts mehr. Sie scheint von A bis Z konstruiert. Die Tochter eines Maurerpoliers, die sich zuerst der sozialistischen Bewegung in die Arme wirft, dann zum Individualismus vordringt und als liebendes Weib endet, das uns guter Hoffnung, guter Hoffnung auf ihre baldigen Mutterfreuden entläßt - sie soll, höre ich, im Friedrichshagener Kreis verkehrt haben und ist ja dann wohl, was man so nennt, nach der Natur gezeichnet. Gleichwohl finde ich, sie ist viel stärker nach der literarischen Schablone jener Jahre gezeichnet. Ohne ein bißchen Sozialismus ging es damals nicht. Es war die Mode von vorgestern. Wer sie nicht mitmachte, gehörte nicht zur jungen Generation. Heute glauben wir weit eher, daß Hanna das Zeug zur Baronin von Vernier hat (das ist der Vernier cri), als daß sie in ungeklärtem Gefühlsdrang die Braut eines biderben Genossen wird. Trotzdem sie der Reihe nach die Verlobte, die Freundin und die Geliebte dreier Männer ist, trotz dieser angepinselten Sinnlichkeit ist die Figur von einer gewissen Unsinnlichkeit, die ihre dreiste ,Bolle' von Base und andre Nebenpersonen zum Glück nicht haben. Und wenn ihr zum Schluß nachgerühmt wird, sie habe Humor, so kommt dies Kompliment eigentlich mehr ihrem geistigen Vater zu, der eine so konstruierte Gestalt eben noch erträglich zu machen wußte. - Hartlebens Hauptstärke - ich sagt' es schon - lag im Formalen. Der Dialog, blitzblank wie immer bei ihm geputzt, hat nichts von seinen Vorzügen eingebüßt. Und die Dialogführung ist so geschickt, wie sie von den Neueren keinem außer Schnitzler gelingt. Allerdings, in diesem Werke, dem der Naturalismus Geburtshelferdienste leistete, finden sich Wendungen, die unverkennbar die Schutzmarke ,literarisch' tragen; etwa die folgende: ,Ich habe ein gutes Gewissen. Ein neues vielleicht . Und dies ist nun der Kampf mit dem alten.' Hat man je eine Maurerpolierstochter sich so ausdrücken hören? Traut man ihr ernstlich diese Antithese zu? Und wenn selbiger Maurerpolierstochter, als sie der Mutter ihr Herz ausschüttet, vom Dichter vorgeschrieben wird niederzuknien, so ist das Theater - absolut. Ich habe niemals im Leben eine Tochter vor ihrer Mutter knien sehn; auf der Bühne kniet dafür jede Tochter, so bald sie weich wird oder erweichen will. Solche Verstiegenheiten, lernt man daraus, wollen nicht weichen, wollten es selbst zu einer Zeit nicht, als es keine andern Götter neben der Natur gab. Oder sollte sich nur, auch in solchen kleinsten Zügen, Hartlebens Theaterblut nicht verleugnet haben?"

Berliner Theater. NZZ, 21. September 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 262.
Molière, Der eingebildete Kranke (Schauspielhaus, 18.09.09). - "Seitdem Paul Lindau ins Schauspielhaus eingezogen, ist etwas neues Leben aus den Ruinen des königlichen Instituts erblüht. Er hat den Wagemut besessen, Ibsens Nora und Hauptmanns Versunkene Glocke dem Spielplan einzufügen. Man denke, welche unerhörte Kühnheit! Ibsen und Hauptmann, die beiden ärgsten modernen Ketzer - und es fiel kein Feuer vom Himmel, das solchen Frevel ahndete. Aber vielleicht darf man nicht spotten, weil man die Verhältnisse am Gendarmenmarkt nicht genügend kennt. Nun hat er gar den neuesten Sudermann zur ersten Aufführung erworben [Strandkinder: s. MMs Besprechung in der NZZ vom 06.01.10, Nr. 5], und wir werden es gewiß noch erleben, daß verschiedene Dramatiker, die an andern Berliner Bühnen keine Heimstätte mehr fanden, im Hoftheater ihr Nachtasyl finden werden. Wenn die Kunst dabei auf ihre Kosten kommt, uns soll es recht sein. - Vorläufig dient die französische Literatur als Lückenbüßerin. Nach Alfred de Musset kam Molière an die Reihe. Der eingebildete Kranke. - Ein Wort zum Titel. Ludwig Fulda, der modernste, radikalste und gewandteste Molière-Dolmetsch, sieht keine Möglichkeit, das französische Le malade imaginaire sinngerecht ohne Umschreibung wiederzugeben, und beruhigt sich bei diesem ,sprachwidrigen' (?) Titel, weil er den Vorzug besitze, ,bekannt und allgemein angewandt zu sein' [Molières Meisterwerke, Bd. 1: ,Vorwort']. Das, scheint mir, ist kein stichhaltiger Grund, obwohl sich Eingebürgertes natürlich nur schwer verdrängen läßt. Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit, Le malade imaginaire sinngerecht zu verdeutschen als mit Der nur in seiner eigenen Einbildung Kranke? Ich glaube, eine sehr einfache, einwandfreie Übersetzung gefunden zu haben - nämlich: Der eingebildet Kranke. Das mag im Anfang etwas hart klingen, weil es unserm Ohr noch fremd ist; aber mit der Zeit wird es sich schon daran gewöhnen. Hat man das Richtige erst einigemal gehört, so ist das Falsche schnell vergessen. Meines Wissens ist noch niemand auf diese ,Ei des Kolumbus'-Lösung verfallen. Sie sei dem nächsten Molière-Mittler großmütig geschenkt. [Vgl. in der Sektion "Aufsätze" MMs Artikel ,Le malade imaginaire. Zur Verdeutschung des Titels', LE, 15.03.18.] - Also: der eingebildet Kranke. Unter dem Titel stehen folgende weitere Angaben auf dem Zettel: ,Faschingskomödie in drei Akten von J. B. P. Molière. In der Übersetzung von Wolf Grafen Baudissin mit einem Vorspiel (unter Benutzung Molièrescher Motive) und mit dem Originalschluß (Zeremonie einer burlesken Doktorpromotion) für die Bühne bearbeitet von Paul Lindau. Die zur Handlung gehörige Musik nach zeitgenössischen Originalen von J. B. Lully und M. A. Charpentier und Gounodschen Kompositionen zum Arzt wider Willen eingerichtet und für Streichorchester instrumentiert von Ferdinand Hummel.' Wer das liest, muß an die vielen Köche denken, die den Brei verderben. Etwas weniger Zutaten wären uns allerdings erwünscht gewesen, weil wir dann eher auf den Geschmack von Molière gekommen wären. Darunter gab es auch etliche Gewürze, die fehl am Orte waren; etwa wenn in einem Duett aus einer Oper Lullys das Liebespaar singt: ,Und die Sterne sind diskret'. Das schmeckt doch fatal nach den ranzig sentimentalen Liedern im Metropoltheater. - Auch die Inszenierung hätte sich größerer Einfachheit befleißigen dürfen. Reinhardt ging um. Weil er uns in Was ihr wollt einen Einblick in die Werkstatt des Regisseurs gönnte und die Geheimnisse der Drehbühne enthüllte [Premiere am 17.10.07], deshalb brauchte nicht für eine Molièresche Komödie, in der die Einheit des Ortes gewahrt ist, der Mechanismus der Schiebebühne gezeigt zu werden. Auch sonst wurde man gelegentlich die Empfindung nicht los, daß sich der siebzigjährige Herr ein wenig selbstgefällig an die Brust schlug und schmunzelnd sprach: ,Na, Kinder, wie hab ich das wieder gemacht?' - In der Aufführung verblüffte am meisten, daß man die Rolle der Toinette von der alten [Anna] Schramm [1835-1916] spielen ließ. Rationalistisch könnte man das so begründen, daß sich nur ein altes Faktotum derartige Freiheiten erlauben darf; aber der Rationalismus hat in Molières Welt nichts zu suchen, und die Drolerie eines vorwitzigen Kammerkätzchens ist mir lieber als die Bärbeißigkeit eines Hausdrachens. [Arthur] Vollmers [1849-1927] Argan bleibt eine bewundernswerte Menschenschöpfung in einem Werke, dessen Menschlichkeit schon reichlich mit Kuriosität behaftet ist; dessen Satire auf die Ärzte - anno 1673 eine Tat - unserm Jahrhundert nichts mehr zu geben hat. Doch da wären wir bei dem schwierigen Kapitel Molière angelangt, das heute nicht zu weiterer Erörterung einlädt."

Berliner Theater. NZZ, 24. September 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 265.
Henning Berger, Sintflut (Berliner Theater, 21.09.09). - "Ort der Handlung: die Bar einer großen Stadt am Mississippi. Zeit: der Verlauf von vierundzwanzig Stunden. Tropische Glut. Die Menschen stöhnen unter der erbarmungslos sengenden Sonne. Schwere Wolken ziehen herauf. Der Sturm bricht los. Mächtig zürnt der Himmel im Gewitter. In Kübeln fällt der Regen; Hagelkörner, groß wie Hühnereier, prasseln nieder. Der angeschwollene Fluß tost über seine Ufer. Mit fürchterlichem Krachen birst der Damm. Weltuntergang? Jüngstes Gericht? . Ein halbes Dutzend mehr oder minder wurmstichiger Kreaturen, die sich in die Bar geflüchtet, sind darin wie in einer Mausefalle gefangen. Es gibt kein Entrinnen. Das Unwetter wütet weiter. Schon sind sie von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten. Das Telephon versagt; also muß das Amt schon überschwemmt sein. Bald erlischt auch das elektrische Licht. Schon droht das Wasser hereinzudringen. Es gibt keine Rettung mehr. Keine. Sterben, sterben! Adieu, süßes Leben . - Wie verhalten sich die Menschen im Angesicht des sicheren Todes? Henning Berger, ein junger Schwede vom Stamme jener neuen nordischen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, die in Johannes V. Jensen vorläufig ihren prominentesten Vertreter gefunden haben, behandelt das nicht mehr ganz neue Thema in seinem Schauspiel Sintflut. Den Zeitgenossen, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen, schien das krasse Werk, von einer mäßigen Darstellung nicht genügend über Wasser gehalten, so an den Nervensträngen zu zerren, daß sie ihren Unwillen, teilweise durch Pfeifen, äußerten. - Wie verhalten sich die Menschen im Angesicht des sicheren Todes? Werden ihre rohen Triebe wach, oder aber drängen ihre religiösen Gefühle an die Oberfläche? Was ist stärker in dem Erwachsenen: das Tier oder das Kind? Flucht er oder betet er? Verliert er den Verstand und zieht er ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vor, oder aber ergibt er sich demütig in sein Schicksal, mit gefalteten Händen gleichsam? Bricht ein schrankenloser Egoismus durch, oder verbrüdert das Leid die Menschen in solcher Situation? Wollen sie bis zum letzten Atemzuge genießen, oder sind die Lebensfunktionen gelähmt? - Ich weiß es, offen gestanden, nicht. Vermutlich wird es, je nach Temperament und Charakter, verschieden sein. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß, so lange noch der schwächste Hoffnungsschimmer glüht, das eigene Leben zu retten, die brutalen Instinkte überwiegen; daß dagegen von dem Augenblick an, wo die Gewißheit des Todes unerschütterlich ist, sanftere Regungen Platz greifen. Nur wollen wir nicht vergessen, daß der Mensch auch dann noch hofft, wenn er schon Gewißheit erlangt hat. - Bis zu einem gewissen Grade bleiben die Gefühle der Menschen, die sich in solcher Lage befinden, unkontrollierbar. Da hat der Poet das Recht, seine Phantasie spielen zu lassen, uns letzte Aufschlüsse zu geben. Nur muß er sich der Schwierigkeit des Falles gewachsen zeigen, darf sich nicht damit begnügen, einen Zipfel des Seelenschleiers zu lüften. Henning Berger, scheint mir, hat mehr Mut in der Wahl seines Gegenstandes als in dessen Ausführung bewiesen. Es war ein glücklicher Gedanke von ihm, die Handlung nach Amerika zu verlegen (was man nicht kontrollieren kann, das siedelt man in Amerika an), weil er hier ganz freies Spiel hatte. Doch die Sonderpsychologie dieser exotischen Menschen ist er schuldig geblieben. Die ,letzten Masken' fallen nicht. Er hat fast nur die grenzenlose Geldgier der Eingesperrten gegeben. Die Eingesperrten selbst sind zu sehr über einen Kamm geschoren: verflachte, verkrachte, verlachte Existenzen. Bergers Psychologie ist nicht tief in den Stunden der Not; sie wird seicht im Moment der Erlösung. Da sagt er mit verletzender Deutlichkeit: so bald das Leben von neuem anfängt, sind auch die niedrigen Leidenschaften der Menschen sofort wieder da. Eben waren die Todgeweihten noch Brüder; kaum hat sie das Leben wieder, so triumphiert die bête humaine. Vielleicht ist es bühnenwirksam, sicher ist es nicht richtig; denn wer dem Tode so nah ins Auge geblickt, in dem zittert die Erregung noch tagelang nach, der wird die Erinnerung sein ganzes Leben nicht los. Wer so Schweres durchgemacht, der geht nicht, als ob nichts geschehen wäre, kaltlächelnd aufs Gericht oder zur Börse. Gerade das ist ein amerikanischer Sonderzug, wird man einwenden; nun, dann wäre es der einzige amerikanische Sonderzug in diesem Werke. - Daß den Menschen die feineren Unterscheidungen fehlen, wird um so empfindlicher fühlbar, als die Handlung selbst von gefährlicher Gleichförmigkeit ist. Man stellt sich vor, das Motiv der Todesangst sei hochdramatisch; man täuscht sich. In diesem Falle wenigstens. Ich will zeigen, warum. Der erste Augenblick, der Augenblick, da die in der Bar Versammelten merken, daß es mit ihnen zu Ende geht, ist für sie der niederschmetterndste, für uns der überwältigendste. Alles Folgende, mag es auch ihre Gewißheit verstärken, bedeutet daneben eine Abschwächung. Es fehlt das Element der Steigerung, die für die Bühne eine Notwendigkeit ist. Die ganze Situation eignet sich wohl nur zu episodischer Behandlung. Sie kann eine sehr wirksame Szene in einem Drama sein, und Björnson hat diese Szene im zweiten Teil von Über unsere Kraft geschrieben. Mehr nicht. Es sei denn, daß das Motiv ins Tragikomische umgebogen werde. Doch diese Möglichkeit hat sich Henning Berger entgehen lassen. Immerhin, er hat eine unverdient laue Aufnahme, sein peinliches, aber talentvolles Schauspiel eine unverdient laute Ablehnung gefunden."

Berliner Theater. NZZ, 29. September 1909, Erstes Morgenblatt, Nr. 270.
Max Dreyer, Des Pfarrers Tochter von Streladorf (Lessing-Theater, 23.09.09). - "Was für prächtige Menschen hat doch Max Dreyer in seinem neuen Schauspiel Des Pfarrers Tochter von Streladorf gezeichnet! Rassige Naturen, tüchtig, wacker, gesund, zum Bersten gesund, frisch, fromm, fröhlich, frei, hochgemut, resolut, ehrlich, ohne Arg und Falsch, vollblütig, kraftstrotzend - mit einem Wort: Prachtgestalten, denen Herz und Mund auf dem richtigen Fleck sitzen. Die Familie Reimers mit ihrer mecklenburgischen Derb- und Herbheit kann sich weit und breit sehen lassen. - Da ist zunächst der Herr Pastor. Ein Prachtexemplar des deftigen Dorfpfarrers. Ein Seelsorger, wie ihn sich seine Gemeinde nicht schöner malen kann. Ein pater familias, wie ihn sich seine Kinder nicht besser wünschen können. Er wettert zwar gelegentlich; aber in der rauhen Schale steckt ein weicher Kern. Er raucht zwar ein bißchen viel (für einen Vicar of Streladorf) und trinkt auch ein bißchen viel; aber das sind Eigenheiten, die den vortrefflichen Mann nur noch liebenswerter machen. - Da sind seine beiden Söhne: Prachtkerle. Der jüngere noch Student, ein Springinsfeld, ein Fechtgenie, ein Pumpgenie, aber treu und ehrlich. Wenn ihm der Alte Hausarrest zudiktiert und er ohne Stiefel in der Johannisnacht durchbrennt, hält er es doch für seine Pflicht, dem Vater am nächsten Morgen die Wahrheit zu gestehn. Der andre schon Regierungsbaumeister. Wortkarg, aber mit goldenem Herzen und steifem Rückgrat. Er erdreistet sich - man denke! - eine wirkliche Exzellenz vor den Kopf zu stoßen. Seine Kunst geht ihm über seine Karriere. Er soll ein kitschiges Medaillon anbringen und weigert sich, seinen guten Geschmack auf dem Altar der Beförderung zu opfern. Wenn er heftig wird, bricht er allen Stühlen die Lehne ab, so daß ihm der Vater rät, sich einen eignen Hausstand zu gründen. Das wird er auch bald tun. Er liebt eine Senatorstochter, die unheimlich viel Geld besitzt; ein mondänes Mägdelein, das für eine amerikanische Segeljacht schwärmt, den Ehrgeiz hat, mit einer Prinzessin zu verkehren, und so gar nicht zu ihm paßt. Es stimmt nicht zu seinem Wesen, daß er gerade die zur Frau haben will, aber das verschlägt nichts. Wenn es darauf ankommt, zeigt sie doch, daß sie nicht so hohl ist, wie er und wir dachten. Diese Umwandlung, diese Hinaufwandlung stimmt nicht zu ihrem Wesen, aber das verschlägt nichts. Konsequenz steht nicht in Dreyers dramaturgischem Lexikon. Den Knacks, den seine gerade gewachsenen Mecklenburger von Haus aus nicht haben, bringt er ihnen im Verlaufe der Handlung bei. Er gibt - wie nenn' ich es gleich - Klischeefiguren mit individuellen Zügen. Die individuellen Züge sind amüsant, aber es sind aufgesetzte Ornamente. - Da ist zuguterletzt in dieser erlauchten Familie des Pfarrers Tochter Käte. Ein Prachtmädel; eine homerische Jungfrau der Gegenwart; eine Nausikaa von der Waterkant. Herrlich und derb. Verlobt ist sie mit einem Privatdozenten der Archäologie, einem kalten, korrekten Burschen, einem Streber, der zum Überfluß der Stiefbruder der Senatorstochter ist. Es stimmt zwar nicht recht zu Kätes Wesen, daß sie just den zum Manne haben will; man könnte es freilich zur Not damit erklären, daß eine so starke Natur die Sehnsucht hat, einen Schwachen zu stützen, zu bemuttern. Vielleicht läßt sich der Bräutigam ihrer Wahl noch eben begreifen. Daß sie sich aber von diesem Privatdozenten der Archäologie vor der Hochzeitsnacht ein ,Privatissimum' der Biologie lesen läßt - niemals, niemals! Es stimmt nicht. Und wie ist das Unbegreifliche begründet? Rein äußerlich, theatralisch im schlimmsten Sinne. Käte tut es nicht, um den Schwächling, der ihrem Vater ein Dorn im Auge ist, an sich zu ketten. Mit diesem Gewaltmittel hätte sie den Widerstand des Alten brechen können. Das Motiv wird einmal angeschlagen, fällt dann aber völlig unter den Tisch, wie so manches in dieser an Motiven reichen, an durchgearbeiteten Motiven armen Dichtung. Sie tut es, weil Johannisnacht ist, weil die Freudenfeuer lohen - Freudenfeuer Sudermannscher Provenienz. (Bengalisches Licht scheint in Streladorf nicht unbekannt zu sein.) Und während draußen die Holzstöße brennen, geht das ungleiche Paar ins Haus. - Was geschieht, errät der literaturkundige Leser aus dem Titel. Des Pfarrers Tochter von Streladorf befindet sich in derselben Lage wie die Heldin der Bürgerschen Ballade [,Des Pfarrers Tochter von Taubenhain']. Im Vertrauen gesagt: wahrscheinlich stimmt es zwar nicht, aber Dreyer will es so. Kurz vorher hat Käte, die tragische Ironie nicht ahnend, über den Bauch des Vaters gescherzt; jetzt - - Auch einen so wenig gewählten Scherz verschmäht Dreyers plattdeutsche Art nicht, die dann allerdings mehr platt und deutsch ist. Nun muß Käte erfahren, daß ein Unglück selten allein kommt. Ihr Verlobter enthüllt sich in all seiner Kleinheit und Gemeinheit. Um Professor zu werden, wird er Verräter an seinen wissenschaftlichen Überzeugungen. Das erträgt sie nicht. Sie setzt ihn an die Luft. Und ob dieser heroischen Tat verzeiht ihr sogar der Vater. Sie braucht nicht, wie so viele ihrer Schicksalsgenossinnen, in den Mühlbach zu gehn; die Familie wird ihr das Schwere tragen helfen. Sie könnten an die Rampe vortreten und den Schlußkantus anstimmen: ,Wir halten fest und treu zusammen.' - Der glückliche Ausgang besiegelte den Erfolg des Stückes im Lessing-Theater; doch über die künstlerischen Qualitäten der Arbeit herrschte wohl nur eine Ansicht. Immer wieder täuschten über die innere Unwahrscheinlichkeit der Handlung und die Brüchigkeit der Charaktere der frische Dialog und Max Dreyers flotter Witz hinweg. Wenn einem alten Baron nachgesagt wird, die Gehirnerweichung sei seine einzige geistige Beschäftigung, oder wenn der alte Pastor von dem Privatdozenten behauptet, er komme ihm vor wie eine nikotinfreie Zigarre, so haften diese Witzworte länger im Gedächtnis als vieles andere. - Auch die Aufführung hielt das Werk tapfer über Wasser. Alle Achtung vor Brahms pädagogischem Talent! In seinem Hause ist die beste Tradition lebendig. Diesmal war er fast ganz auf seine junge Garde angewiesen. Eine Vorstellung im Lessing-Theater ohne Rittner, ohne Bassermann, ohne Sauer, ohne Reicher, ohne die Lehmann, ohne die Triesch; und doch eine ausgezeichnete Vorstellung, die es beinah zuwege brachte, aus Charakterklischees volle Menschen zu machen. An erster Stelle ist der famose Herr Gebühr (aus Dresden) zu nennen, der den Studenten mit köstlicher Liebenswürdigkeit ausstattete. Gleich nach ihm Hilda Herterich [1886-1935]. Die Pfarrerstochter war ihre erste tragende Rolle in Berlin, nachdem sie bisher nur in Episoden ihre diskrete Kunst zeigen konnte. War sie früher angenehm aufgefallen, so behauptete sie sich jetzt vollwertig neben den ersten Darstellern. Sie sieht gut aus, wie eine verjüngte [Louise] Dumont, spricht gut, wenn auch noch ein wenig unfrei, und ihr Mienenspiel, das am meisten von Else Lehmann gelernt hat, blieb keiner seelischen Regung etwas schuldig. Das Lessing-Theater darf sich dieses Besitzes freuen und wird ihn hoffentlich nach Gebühr zu nützen wissen."

Berliner Theater. NZZ, 7. Oktober 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 278.
Robert Overweg, Der Befehl des Fürsten (Berliner Theater, 30.09.09). - "Unfein ist das mildeste Wort für Robert Overwegs Lustspiel Der Befehl des Fürsten, das dem stumpfen Gaumen des Familienpublikums im Berliner Theater, vielleicht gerade seiner Unfeinheit wegen, trefflich zu behagen scheint. Man wird diesen salzlosen, aber gepfefferten Schwank (j'appelle un chat un chat) über die Bühnen der Provinz schleppen; Onkel Gustav wird brüllen, Tante Malchen kichern und der Verfasser sich die Hände reiben, daß er den Geschmack der Menge so gut zu treffen wußte. Um so mehr haben wir die Pflicht, ihn in den Vorhof des Tempels der Kunst zu verweisen. Dort mag er nach Herzenslust mit dem Gesinde schmausen. - Selten hat man die Diskrepanz zwischen Stoff und Form stärker und störender empfunden. Eine Simplizissimus-Schnurre, im Tone der Meggendorfer-Blätter vorgetragen. Eine saftige Serenissimus-Anekdote, mit zahmen Typen aus den Fliegenden Blättern bevölkert. - Selten hat man die Diskrepanz zwischen Inhalt und Format stärker und störender empfunden. Ein Witz, der lang gestreckt wird, bis er langweilig wird. Ein Histörchen, das breit geschlagen wird, daß die Hörer dabei einnicken. Tempo ist die Seele des Witzes. - Ein Nest, das der regierende Herzog zum Sommeraufenthalt erkoren, steht im Rufe besonderer Sittenlosigkeit. Um diesen Ruf zu rechtfertigen, muß der Gemeinderat einer Frauensperson zu einem unehelichen Kinde verhelfen und schickt sie dann außer Landes. Auf Befehl des Fürsten wird also ein illegitimer Knabe gezeugt. Doch der Edle macht herrlich wieder gut, was die allzu diensteifrige Ergebenheit seiner Minister und Räte verbrochen. Der Schuldige, der - mit Lessing zu reden - das Bankbein gedrechselt hat [,Der über uns'], geht leer aus, und die intellektuellen Urheber müssen, so will es Hoheit, Alimente bezahlen. Es ist die einzige wirklich ergötzliche Situation des Stückes, wenn der Hofmarschall mit dem Zylinder in der Hand die Phalanx der Schranzen abschreitet und die Raten der Räte einsammelt. - Zweifache Satire sollte die Fabel würzen. Beschränktheit der Hofbeamten auf der einen, Hornochsigkeit der Bauern auf der andern Seite. Wer verdient den Preis der Dummheit? Der Herzog spricht zum Schluß das erlösende Wort: die Gemeinderäte sind nicht dümmer als die Regierungsräte. Aber wenn der Herr Herzog ein so erleuchteter Landesvater, wenn er so klug und weise ist, müssen wir staunen, daß er solche Esel in seiner nächsten Umgebung duldet. - Und damit keine Partei vor der andern etwas voraus habe, wird durchgängig nach der Schablone gezeichnet. Typen hüben wie drüben. Bei den Schranzen herrscht der Instanzenzug des Anschnauzens. Vom Hofmarschall an schimpft jeder den ihm zunächst Untergebenen aus, und die Schuld wird auf den Untersten abgewälzt. Wer kennt das nicht aus Militärhumoresken? Da führt die Stufenleiter vom Herrn Oberst bis zum Gefreiten. Die Bauern andrerseits sind borniert; nichts weiter. Und doch soll es auch, wie selbst die Fliegenden Blätter gelegentlich verkünden, Bauernschlauheit geben. - Zwischen Militärhumoreske und Witzblatt alten Schlages tänzelt als einziges Individuum, auch dieses reichlich typisiert, ein Luftikus von Gemeindeschreiber; verheiratet, aber jeder Schürze im Dorf gefährlich und von seiner eignen Unwiderstehlichkeit durchdrungen. Er hat einmal Berliner Luft geatmet. Seinem Schöpfer wäre etwas mehr von ihr zu wünschen. - So hat er mit seinem Schwank ein richtiges Provinzfressen zusammengerührt. Onkel Gustav in Erlangen wird brüllen, Tante Malchen in Göttingen kichern. Wir aber sind höflich genug, ein Gähnen zu unterdrücken."

Berliner Theater. NZZ, 9. Oktober 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 280.
Leonid Andrejew, Das Wunder [Ignis sanat] (Hebbel-Theater, 01.10.09). - "Russische Dramen wecken immer die Erinnerung an russische Musik. An Tschaikowsky besonders. Themen aus seinen Sinfonien melden sich, werden zur Begleitung der Bühnenvorgänge. Melodien steigen auf von bittersüßer Melancholie, von einer dolce tristezza. Melodien von einer Wehmut, als hätten sie allen Jammer, wenn nicht der Welt, so doch des geknebelten, darbenden russischen Volkes aufgesaugt. Ihre Traurigkeit dringt zu Herzen wie der rührende Blick aus dem brechenden Auge eines angeschossenen Wildes. Doch neben dem Schluchzenden findet sich (seltener) das Juchzende. Eine geräuschvolle, mitunter tobende Ausgelassenheit. Ihr Jubel redet für uns eine allzu grelle Sprache. Sie ist, auch bei dem großen Tschaikowsky, von dem Bumbum der Zirkusmusik nicht weit entfernt. - Was in der Musik das Schluchzende und das Juchzende genannt wurde, diese beiden Elemente sind auch in dem Drama Das Wunder [Ignis sanat] von Leonid Andrejew zu finden. Sie könnten hier das Quallige und das Knallige heißen. Auf der einen Seite Abstraktionen, auf der andern Dynamit. Die Übergänge fehlen. Wie bei schlechten Klavierspielern gibt es nur zwei Abstufungen der Tonstücke: entweder pp oder ff. So lange die Menschen in diesem Drama reden, folgt man ihnen willig; wenn sie sich aber anschicken zu handeln, wird es peinlich. Und da Andrejew, wie seine Landsleute insgesamt, von der Technik der Bühne kaum eine Ahnung hat, setzt er das bißchen Handlung wie einen dicken Tintenklecks recht brutal an das Ende des Aktes. - In ihrem Mittelpunkt steht ein Terrorist. Er möchte das Leben von Grund aus umgestalten und vor allem die Dummheit ausjäten. Zu diesem Zwecke plant er einen Anschlag gegen das wundertätige Heiligenbild eines Klosters, das die Gläubigen von nah und fern herbeilockt. Ein heruntergekommener Mönch soll das Attentat ausführen. Doch der zieht, von Gewissensbissen bedrängt, den Abt des Klosters ins Vertrauen, welcher auf ein sehr einfaches Rettungsmittel verfällt: er läßt das Gnadenbild in Sicherheit bringen, so daß ihm, als die Höllenmaschine explodiert, nichts geschehen kann. Natürlich glauben jetzt die frommen Brüder und das blöde Volk erst recht an die Wunderkraft des unversehrten Bildes, und der spottende Attentäter, der sich stolz zu seiner Freveltat bekennt, wird von dem empörten Pöbel in Stücke gerissen. ,Unsinn, du siegst, und ich muß untergehn!' könnte der Nihilist mit Talbot ausrufen [Schiller, Die Jungfrau von Orleans, III. vi]. Die Dummheit ist unheilbar, weil sie unausrottbar ist. Und der am eifrigsten gegen sie wettert, ist auch nicht ganz frei von diesem Erbübel, wenn er meint, man nähme den armen Kreaturen ihre Dummheit dadurch, daß man ihnen ihren Gott nimmt. Man nimmt den Menschen immer noch am sichersten ihre Dummheit, indem man ihnen den Verstand nimmt. Das scheint auch Andrejew sagen zu wollen, indem er zwei Besessene durch das Drama schleichen läßt. Der eine sieht, wie Ibsens Rubek, überall nur Fratzen: traurige Fratzen, komische Fratzen, Fratzen rings im Kreise; der andere ist ein phantastischer Ahasver in der Kutte, König Herodes genannt, weil er sein eigenes Kind getötet hat. Aber selbst wenn die Menschen an nichts mehr glauben, müssen sie zum mindesten an den Schnaps oder an eine fixe Idee glauben. - Wie kommt es, daß dies Werk mit seinen Dialogfeinheiten und seiner Fülle anregender Gedanken so zwiespältig wirkt? Zum erstenmal finden wir bei einem Russen ein Element der Skepsis. Der Dichter kann es sich nicht versagen, ab und zu ein Tröpflein des Spottes einzuträufeln. Das ist nicht nur ein ganz besonderer Saft, sondern auch ein ganz besonders gefährlicher Saft. Denn er zerreißt die Stimmung. Wir werden wach, unsere eigene Skepsis springt empor, und wir weigern fortan die Gefolgschaft. Diese waidwunden Wesen müssen sich furchtbar ernst nehmen, wenn sie ernst genommen sein wollen; wehe, wehe, wenn sich einer über sie lustig macht oder auch nur mit dem Finger auf diese Wichtigkeit deutet! Das Übermaß fremden Jammers wirkt zu leicht auf den Lachmuskel. - War es ein Verdienst, Leonid Andrejew, dessen pantheistischen Gesang Zu den Sternen wir noch in guter Erinnerung bewahren [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 21.02.07, Nr. 52], mit diesem schwächeren Werke zu Worte kommen zu lassen? Schwerlich für das Hebbel-Theater, das auf den Verdienst angewiesen ist, das um seine Existenz ringt. Wer sich in solcher Notlage befindet, hat eher ein Recht zur Aufführung seichter Zeitvertreiber als zur Aufführung sicherer Publikumsvertreiber. Es müßte ein großes Wunder geschehen, wenn dieses Wunder dem gefährdeten Theater die ersehnte Sanierung seiner Finanzen brächte."

Berliner Theater. NZZ, 12. Oktober 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 283.
Dario Nicodémi, Die Zuflucht [Le refuge] (Kammerspiele, 08.10.09). - "Bassermanns Entree bei Reinhardt: Die Zuflucht (Le refuge) von Dario Nicodémi, für die deutsche Bühne bearbeitet von Paul Block, dem Pariser Korrespondenten des Berliner Tageblatts (er übersetzt, genau wie sein Vorgänger, der jetzige Chefredakteur Theodor Wolff, jedes passé défini mit dem Imperfekt; leistet sich auch sonst, genau wie sein Vorgänger, manche Gallicismen). - Das Stück hat eine pikante Vorgeschichte: Nicodémi, welcher Sekretär bei der Réjane ist, soll ein von Jules Case eingereichtes Drama in unerlaubter Weise benutzt haben. Adhuc sub iudice lis est. [Horaz, Ars Poetica, 78: ,noch wartet des Spruches der Rechtsfall.'] Nicodémi hat die Nachwehen, Jules Case das Nachsehen. Sollte das Reinhardts Sekretäre zur Annahme bewogen haben? Oder galt es nur, den Star in einer Paraderolle herauszustellen? - Er erwies sich dankbar dafür. Schleckte und schlürfte das unedle Gewächs mit delikater Zunge. Leerte es bis zur Neige. Widerstand aber dem Hang zum Komödiantentum nicht immer. Wenn er sich eine Zigarre anzustecken hat, tut er es mit einer Umständlichkeit, als ob die Haltung des Streichhölzchens eine bedeutende Seelenregung spiegele. Wenn er sich die Hände am Kaminfeuer zu wärmen hat, versäumt er nicht, mit seinen schlanken Fingern zu kokettieren. Und dergleichen. Er macht das alles noch unnachahmlich diskret; aber es könnte ihm eines Tages gefährlich werden. Er sei gewarnt! Neben unserm deutschen [Sacha] Guitry der Komödie, unserm deutschen [Ermete] Zacconi der Tragödie behauptete sich Tilla Durieux durch die überragende Einfachheit künstlerischer Linienführung, während die andern Mitspielenden statt Paris Hannover und Leitmeritz gaben. Auch Treuenbrietzen war vertreten. - Und das Stück? Eine knallige, klobige, klotzige Ehebruchsgeschichte mit teilweise raffinierter Technik. Juliette betrügt ihren Mann seit drei Jahren. Drei Jahre hat er dazu geschwiegen; und nicht nur dazu: er ist ein großer Schweiger geworden, der sich von ihr und der Welt zurückgezogen hat. (Daher der Titel Le refuge.) Gérard weiß, daß ihn Juliette mit einem Schubiak der bessern Gesellschaft hintergeht. Er brütet fürchterliche Rache. Hast du mir die Frau verführt, stehl' ich dir die Braut, denkt er. Gedacht, getan. Dora sollte ihm nur die Rechnung begleichen helfen, sollte das Werkzeug seiner Rache sein. Und da erwuchs dem Einsamen aus der Fülle des Hasses die große Liebe seines Lebens. Durch einen Zufall - die Seligen verschlafen sich! - kommt die Sache heraus. Der betrogene Betrüger schnaubt vor Wut. Er sieht sich um eine Partie gebracht, die ihn aus seinen Geldverlegenheiten herausreißen sollte. Um sie, trotz dem Fleck auf seiner Ehre, nicht zu verlieren, spielt der Lump seinen letzten Trumpf aus: er schleudert Dora die niederschmetternde Wahrheit ins Gesicht, daß sie dem Rachsüchtigen nur Mittel zum Zweck gewesen. Das junge Mädchen ist gebrochen; will, um den Skandal zu vermeiden, sogar die Kanaille heiraten. Doch Juliette hat bereits die Scheidung eingeleitet und gibt den angebeteten Mann frei. (So edelmütig sind Frauen in Frankreich, damit die Liebe triumphieren kann.) - Nichts ist an diesem Boulevard-Kitsch erwähnenswert außer der Technik. Da gibt es im ersten Akt eine Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau, die durch einen geschickten Trick in zwei Monologe aufgelöst wird. Zuerst hält sie Abrechnung, dann er. Sie: warum behandelst du mich so schlecht? Er: schweigt. Sie: warum machst du mich zum Gespött aller meiner Bekannten? Er: schweigt. Sie: aber warte nur, ich lasse mir das nicht länger gefallen. Er: schweigt. Sie: ich schaffe mir einen Geliebten an. Er: schweigt. Sie: redet sich immer mehr in Rage und holt allmählich alle Waffen aus dem Arsenal der gekränkten eifersüchtigen Frau hervor. Er: schweigt. Sie: ich kann es nicht länger ertragen, ich habe deiner Mutter geschrieben. Das ist sein Stichwort. Nun legt er los: meinst du, ich weiß nicht, wie du es getrieben? Sie: ist entsetzt. Er: der Kummer über deine Untreue hat mich zum Misanthropen gemacht. Sie: bricht in Tränen aus. Er: aber ich habe mich schadlos gehalten. Sie: weint still vor sich hin. Er: ich habe eine Geliebte, ich liebe wie nie in meinem Leben. Sie: geht schluchzend ab. - Das ist immerhin mit bemerkenswertem Geschick gemacht, wenn wir auch in solchem Raffinement nicht mehr den höchsten Gipfel der Bühnenkunst erblicken. Je wahlloser der Autor in seinen Effekten wird, um so qualvoller werden seine Defekte. Auf die Dauer ist dieses erklügelte, hundeschnäuzige Spiel mit Alternativen, diese ununterbrochene Folge großer Szenen kaum erträglich. Nicodémi will um jeden Preis packen, geht aber auf die Nerven. - Und dazu Reinhardt? Dazu die Kammerspiele? Dazu Bassermanns refuge?"

Berliner Theater. NZZ, 13. Oktober 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 284.
Anker Larsen u. Egill Rostrup, Per Bunkes Vorgeschichten (Kleines Theater, 09.10.09). - "Wenn die Komödie Per Bunkes Vorgeschichten von den beiden dänischen Mimen Anker Larsen und Egill Rostrup - es ist ein richtiges Mimenstück -, statt in der Bearbeitung eines gewissen A. Halbert, von einem oberbayrischen Dialektdichter zugestutzt; wenn sie, statt in dem ausgesprochen großstädtischen Kleinen Theater, von den Schlierseern aufgeführt; wenn die Hauptrolle eines nach dunkeln Punkten (lies: Vorgeschichten) schnüffelnden und aus seiner Kenntnis Kapital schlagenden Dorftrödlers, der sich seiner Philosophie nach neben Anzengrubers Steinklopferhanns [in den Kreuzelschreibern (1872)] stellen möchte, von Xaver Terofal [1862-1940] gespielt; wenn die endlos langen Zwischenakte von durchaus stilgemäßen Zithervorträgen und Schuhplattlern, statt von einem an Restaurationsbetrieb erinnernden Ventilator, ausgefüllt worden wären - dann hätte es vielleicht einen nachhaltigen Erfolg gegeben. Vielleicht. So war das rührsame Volksstück mit der sentimentalen Handlung und dem ,goldigen' Humor vor die falsche Schmiede gekommen und erlebte einen sanften Abfall. Die Stammgemeinde des Kleinen Theaters, die für die Gräfin Strachwitz entschieden mehr übrig hat als für eine gestrauchelte Näherin mit einem illegitimen Sprößling, ging nur so lange willig mit, wie die recherche de la paternité betrieben wurde. Da jedoch schon im ersten Akt kein Zweifel mehr sein konnte, daß der Kammerherr - er trägt, trotz dänischer Abstammung, die jedem Deutschen geläufigen Vornamen Johann Wolfgang - sich in höchsteigener Person um die Vermehrung der Bevölkerungszahl auf seinem Herrensitz bemüht hat, so mußte sich das erlahmende Interesse der recherche de la maternité zuwenden, der minder belangvollen Frage, welche von zwei Schwestern, die sich etliche zwanzig Jahre als Tanten redlich in den Besitz eines Jungen geteilt, auf die klangvollere Bezeichnung ,Mutter' Anspruch habe. Drei Akte lang sträuben sich die beiden ,Jungfern' gegen die Preisgabe ihres Geheimnisses. Weder Tante Sophie noch Tante Juliane will mit der Sprache herausrücken. Selbst als der junge Mann mit allem Nachdruck darauf besteht, seine Mutter kennen zu lernen, weigern sich die siamesischen Tanten, ,zwei Rosen an einem Stengel', beharrlich, Farbe zu bekennen. So malt sich im Kopf der dänischen Dichter das heiligste Recht der Frau. Credat Judaeus Apella. Sein Glaubensgenosse, Salomo der Weise, der in einem ähnlichen Falle die echte Mutter so scharfsinnig herauszufinden wußte, hätte sicher nicht geglaubt, daß der stärkste Trieb des Weibes so lange unterdrückt werden kann. Aber selbst nachdem Tante Sophie endlich, endlich, endlich (Schluß des dritten Aktes) das erlösende Wort gefunden hatte - kein Auge blieb da tränenleer -, wollte die Stammgemeinde des Kleinen Theaters nicht an diese hanebüchene Lösung glauben, und im Zwischenakt wurden zahlreiche Wetten auf Tante Juliane abgeschlossen. So vertreibt sich die Stammgemeinde des Kleinen Theaters die Zeit. Sie ließ, nachdem der Witz der Dichterlinge zu Ende war, ihren eigenen Witz spielen und sah sich bitter enttäuscht, als Tante Sophie Siegerin blieb. Das Stück war unverkennbar vor die falsche Schmiede gekommen. - Hätten es die Schlierseer gespielt mit Gesang und Tanz, man hätte den warmen ,Hamur' der Komödie, nein: des verkappten Volksstückes, bewundert; hätte unter Tränen gelächelt, weil sich die beiden alten Mädchen gar so kindlich gebärden; hätte veritabel geweint, als der brave Junge mit einem Glucksen in der Stimme erzählte, er könne nicht, wie sein armer Schulkamerad, am Grabe der Mutter stehn und es mit schlichten Blümlein schmücken; hätte vielleicht verlangt, daß er an dieser Stelle ein gefühlvolles, schmalziges Lied einlege: ,Wenn du noch eine Mutter hast'; und hätte Tränen gelacht über die saftigen, wiewohl etwas anrüchigen Späße Per Bunkes. Dieser Filou mit dem goldenen Herzen betreibt neben seinem ,Antikotheken'-Handel ein Geschäft mit Vorgeschichten, will sagen: er kennt den Klatsch oder die Vergangenheit der Menschen, und läßt sich von dem Kammerherrn, der einen Skandal fürchtet, dafür, daß er reinen Mund hält, gelegentlich fünf Kronen zustecken. Nicht einmal dies aktuelle Moment vermochte die Stammgemeinde des Kleinen Theaters milder zu stimmen; im Zeitalter der Dahsel und Konsorten erscheinen so winzige Summen offenbar lächerlich. - Nur eine Stelle müßten die Schlierseer ausmerzen, obwohl sie uns die köstlichste dünkt. Zum Schluß, wenn Per Bunke parabasenhaft - er war den ganzen Abend basenhaft - den tiefen Sinn seiner Vorgeschichten in wohlgesetzter Rede deutet, verneigen sich die Verfasser tief vor Meister Ibsen, der solche Vorgeschichten Gespenster genannt habe. Sie sprechen von ihm wie von einem Klassiker. Das war die einzige Stelle, die man im Kleinen Theater besser zu würdigen verstand, als es bei den Schlierseern der Fall sein dürfte. Doch wenn nicht im Bauerntheater, im Schiller-Theater wird die Komödie, der man nicht gram sein kann, einst fröhliche Urständ feiern."

Berliner Theater. NZZ, 20. Oktober 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 291.
Ludwig Fulda, Das Exempel (Neues Schauspielhaus, 16.10.09). - "Professor B. hat eine Studentin gehabt, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte: intelligent, fleißig, strebsam. Eines Tages traf ein Paket mit der Post ein. Als er es öffnete, fiel ein Brief heraus, worin ihm besagte Studentin ihre Verlobung anzeigte. Aus diesem Anlaß schickte sie ihre sämtlichen Kolleghefte zurück . Nicht sehr geschmackvoll, aber sehr typisch. - So sind sie nun einmal, die lieben Weiblein. Sie sind die gebornen Trabantinnen, machen alle Modebewegungen mit: die neue Moral, die neue Religion, die Wissenschaft, den Sport, die Kunst; sobald jedoch der Mann in den Brennpunkt ihrer Interessen tritt, kehren sie der heiligen Sache mit frivolem Lächeln den Rücken. Das Kind geht ihnen immer noch über Nietzsche, und keine Rolle spielen sie lieber als die der bezähmten Widerspenstigen. Von Natur aus sind sie die großen Fahnenflüchtigen, Deserteurinnen ihrer Veranlagung nach, Abtrünnige ihrer Bestimmung nach, Apostatinnen ihrer Überzeugung nach. Und die Führerinnen sind die Nasführerinnen, sind die schlimmsten. - Marianne Vogt ist eine solche Führerin. Sie schreibt Aufsehen erregende Artikel für eine Frauenzeitschrift und vertritt die vorgeschrittensten Ansichten über das freie Zusammenleben von Mann und Weib. Sie hat auch den Mut, die Probe auf das Exempel zu machen, die Theorie in die Praxis zu übertragen, nämlich: mit einem geliebten Mann in freier Vereinigung, also ohne den Segen der Kirche und die Sanktion des Standesbeamten, zu leben. Noch ist der Mann an eine andere gekettet; in dem Augenblick aber, wo die Scheidung vollzogen ist, besteht er mit allem Nachdruck auf dem Trauschein, weil die Welt, die dumme, schlechte Welt für so gewagte Experimente noch nicht reif ist. Und nun weigert sich Marianne aus Prinzipienstarrheit, auf seinen Vorschlag der legitimen Verbindung einzugehen, weigert sich, trotzdem das dümmste Luder im Theater weiß: sie tut es nur, damit Ludwig Fulda den dritten Akt seines Lustspieles Das Exempel zustande bringt. Zwar ist sie schon auf dem Wege zur Mutterschaft, und einer Marianne geht selbst der Embryo über die Prinzipientreue; wohlweislich verschweigt sie aber ihren Zustand, damit der Kinderwagen, der zu Beginn des dritten Aktes auf der Bühne steht, einen Heiterkeitserfolg einheimse. Jetzt gibt es kein Weigern mehr. Die Emanzipierte ist kirre. Sie wird keine Feder mehr anrühren, sondern nährt ihren Jungen. Und der Vater des Jungen erklärt, was jede Philisterhenne längst weiß: wenn die Ehe noch nicht existierte, hätte sie für uns beide erfunden werden müssen. Amen! - Unser liebenswürdiger Ludwig Fulda hat diese verwässerte L'Arrongiade geschrieben. Sie ist nicht warm, sie ist nicht kalt; sie ist flau und lau. Lauheit auf der ganzen Linie. Dem entsprechend fiel der Beifall im Neuen Schauspielhaus aus. Dem entsprechend war die Aufführung, aus der Harry Walden mit Sommersonnenglut hervorstach, auf Lauheit abgestimmt. - Unser liebenswürdiger Ludwig Fulda, gefragt, warum ihm das Bühnenglück nicht mehr lächle, gab zur Antwort: ,Wenn man heute in Deutschland Erfolg haben will, muß man ein toter, perverser, ausländischer Dichter sein.' Der lebendige, deutsche Normalmensch Ludwig Fulda läßt es aber nicht an krampfhaften Anstrengungen fehlen, den Geschmack der Zeit zu treffen. Statt jedoch seine Phantasie zu bemühen, schickt er sein Ohr auf die Suche. Er hat viel gehört in letzter Zeit. Er hat von Helene Stöcker gehört und von Roda Roda und - doch nein, ich sträube mich, diese Indiskretion niederzuschreiben. Er hat gehört, daß es Frauen gibt, die mit ihrem geschiedenen Mann Plauderstündchen halten, und er steigert beherzt die Wirkung, indem er eine geschiedene und dann wiedervermählte Frau mit ihrem ersten Mann durchbrennen läßt. Er hat gehört, daß es sehr unsittliche Ehen und sehr sittliche ,wilde Ehen' gibt, und er steigert beherzt die Wirkung, indem er seinen Kunstgewerbler, welcher mit der Redaktrice das Liebesleben in der Natur auskostet, sagen läßt: ,In wilder Ehe hab ich nur mit meiner ersten angetrauten Frau gelebt.' Also sprach Ludwig Fulda. Er hat gehört, daß sich jeder reinen oder ursprünglich reinen Bewegung unsaubere Elemente anschließen, die ihre unlauteren Absichten mit tönenden Phrasen drapieren, und er steigert beherzt die Wirkung, indem er der Reihe nach eine Kabarettsängerin, eine lyrisch-dramatische Tänzerin und eine Russin mit gespanntem Revolver dem Reigen einordnet. Er hat gehört, daß selbst Regierungsräte auf außerehelichen Schleichwegen betroffen werden, und er steigert beherzt die Wirkung, indem er, just als der Regierungsrat seine Fühlhörner ausstreckt, dessen Gattin zum Zwecke der Missionsarbeit auf der Bildfläche erscheinen läßt und dann beide an die Luft befördert. Nein, dieser Reichtum an Phantasie - es ist nicht zu sagen! Solche Episoden sind schon beim seligen L'Arronge dem Vorwurfe der Verbrauchtheit nicht entgangen; sie werden wirklich durch Bügelfalten nicht moderner. - Soll dieses laue Lustspiel mit einem Worte charakterisiert werden, so müßte es als über drei Akte verteilter Five o'clock-Schwatz bezeichnet werden."

Berliner Theater. NZZ, 22. Oktober 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 293.
William Shakespeare, Hamlet (Deutsches Theater, 16.10.09). - "Ich möchte einige Worte über die Hamlet-Aufführung des Deutschen Theaters sagen, obwohl wir sie aus zweiter (oder gar dritter) Hand empfangen haben. - Zwei Bilder dieser im Bildhaften überaus kargen Darbietung sind unvergeßlich. Das eine: Moissi-Hamlet an einen hoch aufstrebenden Pfeiler gelehnt; ein schmächtiger Jüngling mit wundem Lächeln und tristen Augen. Ein Jüngling - das ist gut so. Wie sich die Gelehrten darüber streiten können, ob Hamlet neunzehn oder dreißig Jahre alt, bleibt ein Rätsel, lösbar nur durch die Erwägung, daß in der Wissenschaft das Meiste durch Zerebralarbeit, statt durch die Empfindung entschieden wird. ,Wenn ihr's nicht fühlt' . Hamlet muß ein Jüngling sein; er ist nicht anders denkbar. Ein Student von dreißig Jahren, frisch von der Universität Wittenberg zurückgekehrt, höheres Semester wohl, durch reichlichen Biergenuß in seinen Studien gehemmt? Es ist, gelinde gesagt, grotesk. Widersprüche im überlieferten Text beweisen nichts, gar nichts. Wenn Shakespeare später, für die Bühnenzwecke, Änderungen vornahm, sich zu Einschiebseln genötigt sah, so war es eine plumpe Rücksicht auf seinen fetten Kollegen Richard Burbage, welcher die meisten seiner Hauptrollen ,kreierte'. Aber in der Konzeption ist die Figur des Hamlet unbedingt neunzehnjährig. Wie kann man darüber einen Augenblick im Zweifel sein? ,Wenn ihr's nicht fühlt' . Schon sein Verhalten zu Ophelia ist ausschlaggebend. Nur ein Neunzehnjähriger mit ungeklärtem erotischem Drang streckt so die Fühlhörner aus, laviert so ängstlich scheu mit seinem Liebesverlangen. Aber, aber - Haupteinwand - nur ein Mann mit gereifter Lebenserfahrung kann die tiefen philosophischen Betrachtungen Hamlets anstellen; ein Jüngling niemals. Sind sie wirklich so tief? Erscheinen sie uns nicht schon ein wenig abgegriffen, vielleicht allerdings, weil sie uns in Fleisch und Blut übergegangen? Doch gerade das Kokettieren mit dem ,Selbstmord' (wann endlich wird man dies dumme Wort aus der deutschen Sprache ausstoßen?), das Schwelgen in Schwermut, die Sucht, Held und Zuschauer in einer Person sein zu wollen - sind sie nicht überaus bezeichnend, mehr: unentbehrlich für den frühreifen Neunzehnjährigen? Ihr traut ihm so profunde Weisheit nicht zu; eure Schuld. Er hat eben seine Universitätsjahre ausgenützt: hat die Schopenhauer und Nietzsche der damaligen Zeit - Montaigne! - gelesen, statt zu saufen und zu raufen. Laßt die müßige Frage, die die Wissenschaft, nebst etlichen andern, in den Hamlet geworfen hat, damit ein- für allemal entschieden sein. - Moissi an den Pfeiler gelehnt, ein schmächiger Jüngling mit wundem, welkem Lächeln. Kein Dänenprinz. Schwerlich ein Prinz; sicher kein Däne. Ein Ephebe, von einer wärmeren Sonne beschienen, von des Nordens Nebeln nicht berührt. Un Mignon. - Und das zweite Bild: vier Recken aus des Mannes Fortinbras Umgebung - wie soll der köstliche Kontrast herauskommen, wenn man an dem verbummelten Studenten von dreißig Jahren festhält? -, vier Recken heben Hamlets Leiche hoch und tragen mit gereckten Armen, unter den Klängen eines dumpfen Marsches, den schlanken Leib hinaus. Ein prachtvoller, nicht mehr zu verlierender Abschluß, der stärker bewegte als Hamlets Gewissensängste und Seelennöte. - . Ich habe das Bleibende vorausgenommen; kann im übrigen nicht finden, daß der Hamlet zu Reinhardts gelungensten Schöpfungen zählt. Für die elisabethanische oder fast schon spartanische Dürftigkeit der Bühnenbilder war kein anderer Grund ersichtlich, als daß man die (von München her [am 17.06.09]) vorhandenen Szenerien verwenden wollte. Spärlichkeit aus Sparsamkeit. Markierende Kulissen. (Ich gebe markanten den Vorzug.) Was im Künstlertheater [München] eine Notwendigkeit sein mochte, legte im Deutschen Theater beständig die Frage nahe: warum? Warum muß der Oberkämmerer Polonius, der auf Reichheit des Anzugs Wert legt, in einem pauvren Raume hausen? Stimmt die Verfeinerung des Empfindens und die durchaus nicht karge Kleidung zum Primitiven der Ausstattung? Oder sollte sich dieser Anachronismus mit den Anachronismen der Dichtung decken? Und selbst im Vorhandenen fiel eine Dissonanz auf, die Reinhardts schönheitssicheres Auge nicht dulden sollte: zu einem fraisefarbenen Vorhang trug der König ein orange Gewand und rotbraunes Haar. Innendekoration, Horatio! Doch das kommt auf [Fritz] Erlers Konto. - Auf Reinhardts muß die lässige Sprachbehandlung gesetzt werden. O großer Alexander Strakosch, du bist zu früh [am 18.09.09] in jenes Reich gegangen, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt! Du mühtest dich nach Kräften, den babylonischen Augiasstall zu säubern, und wurdest von einem edlen, unvollendeten Werke abgerufen. Du hättest mit deiner spaßigen Berserkerwut gegen die Mißhandlung des Verses gewettert. Hättest bei allen Propheten geschworen, daß es den Sinn unnütz verschiebt, wenn Moissi sagt: ,Ich werde nimmer seinesgleichen sehn' (hat Hamlet schon in der zweiten Szene des ersten Aktes Todesgedanken?); daß es unsinnig ist, wenn er betont: ,Nur reden will ich Dolche, keine brauchen'; daß ihm solche und ähnliche Entgleisungen mehrfach unterlaufen. Du hättest, großer Alexander Strakosch, gewiß gefunden, daß der Kartenkönig Wegener die Verse kaut, daß Ophelia-Eibenschütz, konservatoristisch hilflos, sie miaut. Aber du hättest auch deine helle Freude gehabt, Ludwig Hartau in der winzigen Episode des ersten Schauspielers zu hören: es war die einwandfreieste Leistung, ein Meisterstück des Vortrags. - Reinhardts größtes Verdienst scheint mir darin zu liegen, daß seine Hamlet-Vorstellung von keiner Schulweisheit bedrückt ist. Er hat allen Ballast der Kommentare ausgeworfen, schleppt keinerlei Auffassungen mit. Sein Spürsinn bewährt sich darin, daß er ,einhertritt auf der eignen Spur' [Schiller, ,Das Lied von der Glocke'], ohne der Dornenhecke von Interpretationen - vestigia terrent [Horaz, Epistel, I. i. 74] - zu achten. Seine Helfer gehen völlig unbefangen an die verklärteste Dichtung heran. Sie sollen und wollen ihrer Natur zum Siege verhelfen. Sind es leider auch nicht so starke Naturen, daß ihnen dies restlos gelingt, so bleibt uns doch die Unnatur erspart und der Dichter braucht nicht hinter seinen lästigen Auslegern zurückzustehen. Rom ist nicht an einem Tage gebaut, und Hamlet wird nicht auf den ersten Hieb bezwungen."

Berliner Theater. NZZ, 26. Oktober 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 297.
Ernst Hardt, Tantris der Narr (Lessing-Theater, 20.10.09). - "Hans von Bülows Prophezeiung: ,Je preiser ein Werk gekrönt ist, desto durcher fällt es', hat sich an Ernst Hardts zweimal prämiertem Drama Tantris der Narr in Berlin nicht erfüllt. Nachdem es von Köln bis Königsberg seinen Siegeszug durchmessen hat, schien man hier nur sanktionieren, nicht revidieren zu wollen. Dank dieser Konstellation errang das Lessings Namen tragende Haus einen völlig unbestrittenen Theatererfolg. (An der rein theatralischen Wirksamkeit dieser Tristan-Bearbeitung war kaum zu zweifeln.) Schon der Beifall nach dem ersten Akt zeigte, daß das Publikum gesonnen schien, dem Urteil der Merker recht zu geben. Äußerlich wurde der dritte Akt - Isoldes Preisgabe an die Siechen - am stärksten akklamiert. Es hätte nicht viel gefehlt, und die erst seit kurzem geltende Bestimmung des Lessing-Theaters, daß ,im Interesse einer einheitlichen Wirkung' die Autoren erst am Schluß vor der Gardine erscheinen dürfen, wäre durchbrochen worden. Danach senkte sich die Kurve beträchtlich: der dichterisch bei weitem eindrucksvollste vierte Akt, in dem Hardts Phantasie zwei einprägsame Situationen geschaffen, wurde ziemlich kühl aufgenommen, weil man offenbar der Nicht-Wiedererkennungsszene mißtraute. Nach dem Schlußakt rief man, als Quittung für den ganzen Abend, Ernst Hardt wohl fast ein dutzendmal, oder eigentlich rief man Irene Triesch, die Darstellerin Frau Isots. - Die Aufführung dieses Kostümdramas war, wie nicht anders zu erwarten, keine Ruhmestat des Lessing-Theaters; es zog sich sozusagen mit Anstand aus einer Affäre, die ihm nicht liegt und die es getrost dem Deutschen Theater oder besser noch: dem königlichen Schauspielhaus hätte überlassen können. Immerhin muß ein großer Fortschritt seit der traurigen Zerstörung des Geretteten Venedigs von Hofmannsthal festgestellt werden [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 11.02.05, Nr. 42]; aber von der Vollendung, an die wir bei Brahm in modernen Stücken gewöhnt sind, war man noch weit, weit entfernt. Es fehlte der Vorstellung jener dem Versdrama unentbehrliche stilo culto, den man durch eine gewisse gutbürgerliche Nüchternheit ersetzte. Es fehlte ihr das musikalische Element. Es fehlte ihr vor allem der glanzvolle Protagonist. Am besten fand sich noch Irene Triesch mit ihrer Aufgabe ab. Ihre Isolde ist zum Glück keine Primadonna mit wogendem Brustkorb, wie wir sie von der Opernbühne her in schrecklicher Erinnerung haben; aber königliche Hoheit, die in der Gerichtsszene des zweiten Aktes gefordert werden muß, ist ihr auch nicht in die Wiege gelegt worden. Solange diese Isolde sich in Sehnsucht nach Herrn Tristan verzehrte, war sie durchaus glaubhaft, fast rührend, obwohl sie einen Meineid nach dem andern schwört; wenn ihr aber dann zugemutet wird, den zehn Jahre unaufhörlich Ersehnten weder an der Stimme noch an den Händen, weder am Ring noch an seinen anzüglichen Redensarten wiederzuerkennen, so schien die Künstlerin selbst das Unfaßliche nicht glauben zu können. Und wenn sie gar zur Rekognoszierung die Dienste der Hundenase in Anspruch nehmen muß, so soll die Isolde noch geboren werden, die das glaubhaft zu machen weiß. Sie kann es nicht, so wenig wie sich der Zwiespalt überbrücken läßt, daß sie Herrn Marke seine zornestrunkenen Worte verweist, während sie sich von dem fremden Narren vor versammelten Rittern nicht nur ruhig beschimpfen läßt, sondern sogar duldet, daß er die Geheimnisse ihres Leibes mit loser Zunge ausplaudert. - Herr Monnard gab dem Tristan die Bescheidenheit seiner Natur. Etwa Oktavformat. Falsche Töne hatte er nicht, doch auch keine sieghaften. Aber wenn der Schwarm der Bettler vor dem Eindringling auseinanderstiebt, so muß ein Leuchten von der Gestalt ausgehen, muß ein jauchzender Trompetenton in das dumpfe Stimmengewirr hineinschmettern. Ohne hohes C ist das nicht zu erreichen. Dafür hatte der fremde Narr wenigstens die Träne in der Stimme, und seine Klagen und Anklagen klangen zum Teil seltsam ergreifend. Gar nichts Ergreifendes war dem Darsteller König Markes eigen. Dieser alte Mann (schon in der Maske war er viel zu jung) muß unser Mitleid haben, wenn er nicht einfach abstoßend wirken soll, und es muß zum Ausdruck kommen, daß auch ihn eine tiefe Liebe zu Isolde beherrscht, sein Wesen erfüllt. Nur so wird sein absonderliches Handeln verständlich. Er muß beständig zwischen Liebe und Zweifel hin und her geworfen werden. Ihn als polternden Wüterich zu spielen, der Peinigungen für die Untreue ersinnt, raubt der Figur jede innere Anteilnahme. Von den Vertretern der Nebenrollen ragte einzig Emanuel Reicher als finsterer, starrer Herzog Denovalin durch seine markige Sprechkunst hervor; er wäre der gegebene Darsteller für den Marke gewesen. - Über das Werk selbst habe ich mich hier nach dem Buche (im Insel-Verlag [1907] erschienen) geäußert [s., in der Sektion Aufsätze, MMs Artikel in der NZZ vom 23.11.08 (Zweites Morgenblatt)]."

Berliner Theater. NZZ, 28. Oktober 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 299.
Henri Bataille, Der Skandal (Hebbel-Theater, 19.10.09). - "Wir leben im Zeitalter der Reißer-Renaissance. Einst mit Schimpf und Schande aus Deutschlands Gauen verbannt, als Aussätzige der Kunst gebrandmarkt, sind französische Reißer wieder an der Tagesordnung - [Henry] Bernstein war ihr Pionier [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 12.02.08, Nr. 43] - und werden skrupellos von unseren literarischsten Bühnen umworben. Nach dem Vater im Lessing-Theater [richtig: Residenz-Theater (12.10.1890)], nach der Zuflucht [von Dario Nicodémi] in den Kammerspielen [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 12.10.09, Nr. 283] suchte nun auch das Hebbel-Theater bei einem solchen Athleten der Bretter seine Zuflucht. Er heißt Der Skandal, sein Vater Henri Bataille, und die literarischen Rhadamantysse rufen: es ist ein Skandal! - Wie erklärt sich der Umschwung? Nach einer Periode übertriebener Verachtung des Kunsthandwerks erfreut es sich jetzt der ihm gebührenden Wertschätzung oder eigentlich fast schon einer Überschätzung. Und wie erklärt sich diese? Aus der völligen Vernachlässigung, mit der das Technische von unsern meisten heimischen Autoren behandelt wird. Was man nicht hat, soll man ja am meisten bewundern. Das Publikum, das nicht viel nach den Mitteln fragt, ist entzückt, wenn es sich im Theater nicht langweilt; und wir sind im Grunde dafür dankbar. Wenn der Import solcher Stücke wenigstens das eine Gute hätte, daß unsere Bühnenfabrikanten von der sorgsamen Arbeit der Ausländer lernten, brauchen wir uns nicht entrüstet zu zeigen. Gebet dem Theater, was des Theaters ist; ohne Technik kommt ihr nicht aus. Das habt ihr zur Genüge am eignen Leibe erfahren und solltet durch Schaden klug geworden sein. Aber verschont uns um des Himmels willen mit dem Raffinement der Boulevardiers, das auf die Dauer ebenso unerträglich ist wie die naturalistische Hilflosigkeit. - Mit Raffinement ist Henri Bataille gesalbt; ein glorreiches Muster der Technik vermag ich jedoch nicht in seinem Skandal zu erblicken. Es gibt Motive darin, die sich der Kontrolle entziehen; die einmal angeschlagen werden und dann jählings unter den Tisch fallen. Allerdings, es kommt dem Hörer nicht sogleich zum Bewußtsein; er wird durch die Fülle des Stoffes, die Kunst des Baues und das scheinbar selbstverständliche Ineinandergreifen der einzelnen Glieder so überrumpelt, daß ihm erst nachher, bei genauerer Nachprüfung, einiges auffällt, was in dieser dramatischen Algebra nicht stimmt. Um eines herauszugreifen: die Folterqualen ausstehende Ehebrecherin setzt den Staatsanwalt von dem erpresserischen Treiben ihres Galans in Kenntnis, aber der Herr Staatsanwalt läßt nichts von sich hören. Anfechtbar scheint es auch, daß der betrogene Gatte zwei Akte lang wie ein Blinder neben seiner Frau hergeht und nichts von ihrer fürchterlichen Seelenpein, ihrer Noraserei ahnt; mit einem Mal fallen ihm die Schuppen von den Augen, und er sagt plötzlich im dritten Akt: ,Man müßte ja ein Rindvieh sein, wenn man nicht merkte, daß hier etwas vorgeht.' Woher sein Verdacht stammt, ist mit keinem Worte verraten. Und so verträgt manches Detail nicht, daß man es unter die Lupe lege. Aber der erste Akt ist doch mit einer ganz brillanten Technik gemacht (reizend das Schlußbild der einen nicht verlorenen Ring Suchenden), und der letzte überrascht sogar durch literarische Feinheiten. - Seltsam, oder vielleicht auch nicht seltsam, daß das Publikum an diesen Feinheiten keinen Geschmack fand. Nachdem im dritten Akt die Bombe geplatzt war, schien es zu verlangen, daß sie nun auch einschlägt, und zeigte sich einigermaßen enttäuscht, als die ganze Sache im Sande verlief. Der Ehrenmann wütet und tobt, als er die Gewißheit vom Treubruch seiner Frau hat. Er will sie vor seinen Kindern und seinem Gesinde beschimpfen, findet aber im entscheidenden Augenblick nicht die Kraft, das Fürchterliche auszusprechen. Im Schlußakt zieht er dann die Konsequenz seines Tuns oder Lassens: er trotzt dem Skandal, opfert seine politische Karriere, zieht sich ins Privatleben zurück, behält die zerknirschte Sünderin aus Rücksicht auf die Kinder bei sich und malt sogar - nur ein Franzose kann ein so gutes Herz haben - das verlockende Zukunftsbild aus, daß vielleicht eines Tages eine neue, wenn auch anders geartete Liebe aus der Asche erstehen werde. Während der Edle sich in solchen optischen Betrachtungen ergeht, schläft die erschöpfte Gattin, die drei Nächte kein Auge geschlossen hat, auf der Ottomane ein. Das ist von entzückender Lebensechtheit; das Publikum freilich will nach den vorausgegangenen Explosionen keinen Kaviar und war ernüchtert, weil auf die hochgespannten Erwartungen ein kalter Wasserstrahl - so wirkte der Witz - niederprasselte. - Noch eines zeichnet diese französischen Stücke aus: sie enthalten Bombenrollen. Im Hebbel-Theater waren Friedrich Kayßler und Ida Roland damit betraut. Er, mit seiner breiten deutschen Brust, zu ehrlich für solches gallisches Feuerwerk, nicht genug Virtuose in Seelentricks, aber gerade darum beklemmend echt in seinen Zornesausbrüchen; sie ohne das kaum entbehrliche Blendende der äußeren Erscheinung für solche Kunststücke, die Tür an Tür mit der Kunst selbst hausen. Wenn diese Gattung bei uns weiter blühen sollte (zu wünschen wäre es nicht, weil sie immer déracinée ist), werden unsre Schauspieler auch bald den Stil für sie gefunden haben. Einstweilen gereicht ihnen ihre nationale Befangenheit wahrhaftig nicht zur Unehre."

Berliner Theater. NZZ, 1. November 1909, Erstes Abendblatt, Nr. 303.
Rudolf Herzog, Der letzte Kaiser (Neues Theater, 28.10.09). - "Rud. Herzogs tönendes, dröhnendes, rasselndes, prasselndes Schauspiel Der letzte Kaiser gelangte unter der Flagge des Neuen Theaters gerade noch mit heiler Haut in den Hafen. Dieses Werk, das die wackern Bürger von Köln am Rhein schon über sich ergehen lassen mußten [Premiere 15.10.09], hätte in der Stunde seiner Geburt ein Opfer seiner Lebensuntauglichkeit werden müssen. Dieses Werk hätte in Berlin nicht gespielt oder, da die Direktoren nie alle werden, nicht zu Ende gespielt werden dürfen. Die intelligenteste oder im Rufe der Intelligenz stehende Bevölkerung unserer Stadt hätte mit aller ihrer Rüdigkeit, Ruppigkeit, Rauhbeinigkeit ein homerisches Gelächter anstimmen müssen. Es ist fast ein Skandal, daß die Aufführung nicht zu einem größeren Skandal wurde. Schon im ersten Akt, als der Volkstribun seinen Wortschwall - riesengroß, hoffnungslos! - über die Majestäten ausgießt und dann wie ein sanftes Lämmchen zu der jungen Kaiserin ins Bette steigt, hätte sich das einsichtige Publikum auf sich selbst besinnen müssen. Statt dessen besann es sich, von falscher Scheu gezügelt, auf seine Höflichkeit und Wohlerzogenheit und hörte, seine Lachkrämpfe erstickend, den heillosen Phrasenwust bis zum Schlusse an. Es war nicht anders, als wenn der Unterprimaner Reinhold seine Robespierre-Tragödie vorliest. Nur ist Reinhold der Unterprimaner hoffentlich talentvoller als der ,rühmlichst bekannte' Romanschriftsteller Rudolf Herzog. Riesengroß, hoffnungslos. - Die Kritik muß es unter ihrer Würde halten, ein solches Werk zu richten. Barer Unfähigkeit gegenüber gilt nur ein Gebot: zu schweigen. Ich verhülle mein Haupt und schweige. - Nach desselben Autors dramatischem op. II [Auf Nissenskoog (1907)] schrieb ich hier: ,Rudolf Herzog hat durch seine Romane - ich kenne sie nicht - schnell einen Namen gewonnen; ich glaube, man kann ihn durch Dramen noch schneller verlieren.' O mein prophetisches Gemüt!"

Berliner Theater. NZZ, 5. November 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 307.
Ernst von Wildenbruch, Der deutsche König (Schauspielhaus, 02.11.09). - "Herr Dr. Gambrinus, Geschichtslehrer in Quarta, erzählt seinen Schülern: ,Da wir gerade bei Konrad dem Franken stehn, will ich heute von dem nachgelassenen Drama Der deutsche König unsers vaterländischen Dichters Ernst von Wildenbruch sprechen, welches gestern abend im Königlichen Schauspielhaus in Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers, Ihrer Majestät der Kaiserin, zweier Prinzen und einer erlauchten Hofgesellschaft zum erstenmal aufgeführt, mit patriotischer Ergriffenheit angehört und besonders nach den prophetischen Stellen bejubelt wurde. - Die Handlung des Schauspiels setzt gegen Ende der Regierungszeit Konrads I. ein. Der König ist bereits ein müder Mann, und er vermag die Feinde, welche das Reich von allen Seiten bedräuen, nicht mehr abzuwehren. Schon zehrt eine schleichende Krankheit an ihm, und er ist ängstlich bemüht, einen kraftvollen Nachfolger oder, wie es der Dichter so schön ausdrückt, dem Schatten einen Leib zu finden. Im Hause der Witwe Herzog Ludolfs von Sachsen, einer ehrwürdigen, mehr als hundert Jahre alten Greisin, die noch dem großen Kaiser Karl in die Augen geblickt, sieht er zum erstenmal ihren herrlichen Enkel Heinrich, welcher von seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Vogelfang, den Beinamen des Voglers oder Finklers trägt. Er kommt eben, ein zweiter Jung-Siegfried, mit seinen wackern Gefährten von der Bärenjagd zurück, erkennt den König nicht sogleich, da es damals noch keine Photographien gab, huldigt ihm aber dann, indem er sich vor ihm aufs Knie senkt. Beim Anblick dieser leuchtenden Reckengestalt ist König Konrads Wahl getroffen; ein solcher Held, denkt er offenbar, tut dem Reiche not. Da stürzt der finstere Burggraf Osdach herein und meldet, daß seine Feste in der Nähe von Merseburg bedroht sei. Der König, dessen Heerbann teils an der Grenze steht, teils die unbotmäßigen Fürsten in Schach halten muß, kann ihm, so sehr es ihn betrübt, nicht Hilfe bringen. Doch als des Grafen Weib jammernd hinzukommt und auch ihrerseits um Beistand bittet, da rafft sich der junge Heinrich zu seiner ersten Tat auf. Er verspricht, das bedrohte Merseburg zu schützen. Aber der Burggraf erhebt zu gleicher Zeit schwere Anklagen gegen sein Weib: er beschuldigt sie der Untreue und zeiht sie geheimer Buhlkünste. Sie jedoch beteuert ihre Unschuld und gelobt dem Abte von Hersfeld - ihr kennt den Namen dieses Klosters aus Wildenbruchs Ballade ,Das Hexenlied' - sie gelobt also, den Schleier zu nehmen und ihre Tage im Kloster bei frommem Gebet zu beschließen. - Im nächsten Akt sehen wir, wie der Grenzgraf (seine Burg führt den bezeichnenden Namen ,Keuschberg' - es gibt gar nichts zum Lachen, Cohn!) . wie der mißtrauische Osdach sein Weib von den Knechten mit Stricken festbinden läßt, weil er Verrat von ihr befürchtet. Sie aber hofft unentwegt auf die Ankunft Heinrichs, denn sie weiß: wenn ein Sachsenherzog etwas verspricht, dann hält er sein Wort. Und wirklich, er kommt zur rechten Zeit. Schnell werden die Feinde in die Flucht geschlagen; Osdach fällt von der Hand eines tückischen Knechts. Nachdem das arme Weib von seinen Ketten befreit ist, gesteht ihr Heinrich seine große Liebe. Dadurch lädt er allerdings eine gewisse Schuld auf sich; denn er hat daheim eine liebe zarte Braut, die edle Mathildis, die er im Stiche läßt; um mit dem wilden Weibe zu leben. Doch dies ist nur eine vorübergehende Liebesirrung, und wir dürfen daraus nicht schließen, daß Liebesirrungen schon damals in Sachsen an der Tagesordnung waren. (Cohn, wenn du noch einmal lachst, bekommst du eine Stunde Arrest.) Wir haben vielmehr die unerschütterliche Zuversicht, daß ein so wundervoller Sachse sich nicht verlieren kann, seinem wahren Selbst treu bleiben muß, wenn er auch einmal vom rechten Wege abweicht. Und der Dichter zeigt, wie gerade aus dieser Verbindung mit dem leidenschaftlichen Weibe Herr Heinrich die Kraft zu neuen Taten schöpft. Edles Blut kann sich eben nicht verleugnen. - Inzwischen hat sich das Befinden des Königs verschlimmert. Es geht langsam mit ihm zu Ende. Die größte Sorge bereitet ihm das Reich. Denn die Hunnen haben sich eingefunden und fordern gebieterisch den Tribut. Konrad sagt ihnen, sie möchten in 16 Tagen wiederkommen; da fänden sie einen, der werde ihnen Antwort geben. Und der Sterbende schickt seinen Bruder zum Sachsenherzog Heinrich, damit er diesen zu seinem Nachfolger ernenne. Heinrich ist noch in den Banden des argen Weibes. Als ihm aber jetzt die Königskrone übertragen wird, da besinnt er sich auf den Adel seines Charakters, da weiß er, die Schäferstündchen sind nun vorbei. (Cohn, eine Stunde Arrest!) Und das geliebte Weib will ihm kein Hindernis sein; sie erinnert sich ihres Schwures und geht ins Kloster. Er aber findet glühende Worte der Begeisterung für seinen schweren Beruf. Die Deutschen, sagt er, müßten auf sich selbst zählen können, da sie von Feinden umringt seien und ihr Land von der Natur nicht so günstig bedacht sei wie andere Länder. Seine erste Tat ist die Vertreibung der Hunnen. Als sie nach sechzehn Tagen wiederkommen, um den Tribut abzuholen, wirft er ihnen einen toten Hund vor die Füße, was so panischen Schrecken unter ihnen erregt, daß sie auf der Stelle Fersengeld geben. Und die deutschen Fürsten geloben ihm allesamt Treue, und er heiratet zuguterletzt die sanfte Mathildis. Diesem Bunde ist, wie ihr wißt, Otto der Große entsprungen. - . Wer sich in der nächsten Woche durch gute Leistungen in der vaterländischen Geschichte auszeichnet, soll durch einen Besuch des Königlichen Schauspielhauses belohnt werden.' - Nachwort des Kritikers: Herr Dr. Gambrinus hat recht: Der deutsche König von Ernst v. Wildenbruch ist ein Stück für Quartaner. Unrecht ist es aber, dem kleinen Cohn eine Stunde Arrest zu geben, weil er eine ausgesprochene Begabung zum Theaterkritiker verraten hat."

Berliner Theater. NZZ, 10. November 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 312.
George Bernard Shaw, Major Barbara (Kammerspiele, 05.11.09). - "Bernard Shaws Komödie Major Barbara gefiel in den Kammerspielen oder schien zu gefallen. Die Leute lachten, als ob sie einen Schwank von Fulda vor sich hätten; lachten vielfach auch am falschen Ort, bei Stellen, die bitterernst gemeint sind. Wenn diese would-be-Elite-Hörerschaft sich schon so bloßstellt, welche Verlegenheiten mag Shaw erst einem Durchschnittspublikum bereiten! Ist die Menge noch nicht Shaw-reif? Vielleicht schon ein wenig überreif durch Dressur. So lange ist ihr eingebleut worden, dieser Ire sei ein Spaßmacher, der um jeden Preis amüsieren wolle, ein Clown, der meistens auf dem Kopfe stehe, daß sich die Köpflein nun bei dieser Abstempelung beruhigen. Sie wittern auch da noch Ulk, wo weder Ulk noch etwas zu wittern ist, und bekunden damit einen erschreckenden Mangel an Intelligenz. Wenn es nicht besonders gescheit aussehen sollte, ,man wär' versucht, es herzlich dumm zu nennen' [Schiller, Wallenstein, Teil II, II. vii]. - Wollte man diese Komödie erschöpfen, man müßte eine Abhandlung von so viel Bogen verfassen, wie man jetzt Spalten schreibt. Die Buchausgabe (S. Fischer Verlag, Berlin) hat zweihundertfünfzig Seiten (nur!); neunundsiebzig davon sind Einleitung. Nach Rudolf Herzog, dem Wildenbruch-Pygmäen, und nach Ernst v. Wildenbruch, dem großen Herzog-Ahnen [s. o.], wirkt Bernard Shaw nicht anders, als wenn man von Gustav Nieritz und Felix Dahn zu Platon kommt. Wie faß ich dich, du Fülle der Ideen! Aber schließlich ist eine Komödie zu beurteilen und kein philosophisches System. - Rein als Theaterstück zählt Major Barbara nicht zu Shaws gelungensten Werken. Es ist in der Erfindung schwächlich und willkürlich von einer souveränen Laune eingegeben. Der Dichter hielt es für nötig, den Verlorenen Vater [1906] aufzuwärmen. Wieder findet sich, wie in You never can tell, nach vielen Jahren der Abwesenheit ein Vater bei seiner snobistischen Familie ein und kennt die eigenen Kinder nicht. Ist das wirklich so unterhaltsam, daß es ein zweitesmal gemacht werden mußte? (Wie ein kleinbürgerlicher Kartenspieler haut Shaw hier auf den Tisch, wenn er seine Trümpfe zieht. Zuerst hält der entfremdete Papa seine Schwiegersöhne für seinen leiblichen Sohn; dann verwechselt er seine beiden Töchter. Posseneffekte. Unangenehm, fast peinlich. Bei allem europäischen Ruhm kommt Shaw nie ganz von seinen Broadway-Usancen los. Dort muß man den Leuten alles dreimal sagen und gründlich unterstreichen, sonst verstehn sie's nicht; aber wir sind wahrhaftig nicht solche Pachydermen. Es ist der englische Mühlstein, den der Ire von seinen Anfängen her mitschleppt.) Sobald die Maschine einmal im Gang ist, braucht sie keinen Konflikt mehr, sondern wird einzig von den gegensätzlichen Meinungen bewegt. - Wie der verlorene Vater Shaws Lieblingsfabel, ist der Übermensch seine Lieblingsfigur. In John Tanner [Man and Superman] glaubten wir die Fassung letzter Hand, die Meisterschöpfung dieser Gestalt zu erblicken. Das war der Dichter-Philosoph, dem die Zukunft gehören sollte: ein Zerebralmensch, den alle voraufgegangenen Geschlechter erzeugen halfen. Nun wird als Übermensch der Kanonenkönig vorgeführt, eine Legierung von Krupp und Carnegie. Nach dem Mann des Gehirns - keine ,Hinaufpflanzung', will mich bedünken - der Mann der Macht; der Macht, die das Geld verleiht; Herr über Leben und Tod; der Fürst der Finsternis. Shaw verkündet durch seinen Mund, aber unverkennbar persönlich engagiert, das Evangelium des Reichtums; in bewußter Opposition zum Christentum als der Religion der Armut. Es ist gewiß verdienstlich, den Armen die Wohltaten des Reichtums mit tausend Zungen zu predigen und in leuchtenden Farben zu malen; aber verdienstlicher scheint es, in einem durchaus materialistischen Zeitalter, das fast ausschließlich von dem Durst nach Gelde beherrscht wird, den Reichen die Segnungen der Armut - nein, das hat der heilige Franz von Assissi besorgt -, die Segnungen des bescheidenen Besitzes zu schildern, ihnen immer wieder zurückzurufen, was sie für ihren Reichtum nicht kaufen können. Das brauchte keineswegs sentimental, im Stile des Göttinger Hains zu geschehen, sondern könnte den veränderten Zeitläuften angepaßt sein. - ,Armut ist ein Laster, ist das gemeinste Verbrechen' wird von Shaw in vielen Variationen ausgeführt. Doch niemand dreht den Satz um und behauptet: ,Reichtum macht nicht glücklich.' Wenn jemand die eine Lehre im Grunde so banal findet wie die andere, stimme ich ihm vollkommen bei. Nur möchte ich einen kleinen geistigen Vorbehalt anbringen: jeder reich gewordene Grünkramhändler steht auf Shaws Standpunkt, daß die Armut etwas Verwerfliches sei, wenn man nicht zufällig selbst mit diesem Übel behaftet ist. Der arme Shaw hat einmal gesagt, er habe mit keinem Millionär zu tauschen brauchen, denn die Nationalgalerie und das Britische Museum hätten ihm ebenso gut gehört, und er habe, selbst wenn er mit hungrigem Magen zu Bett gegangen sei, nur die Augen zu schließen brauchen, um in einer unvergleichlichen Märchenwelt zu leben. Das war das Preislied der Phantasie . Jetzt kommt der reiche Shaw und sagt: Kinder, die ganze Sache ist ja Schwindel; gebt mir eine Million, und ihr könnt mir alle gestohlen werden . Meine Waschfrau wäre genügsamer: wenn sie hunderttausend Mark in der Lotterie gewänne, würde sie genauso sprechen. Ich sehe wirklich kein besonderes Verdienst darin, sich zu solchen Anschauungen zu bekennen. Aber muß sich denn Shaws Ansicht unbedingt mit der seines Multimillionärs decken? Ja, in der Vorrede identifiziert er sich mit ihr und bringt uns zum Bewußtsein, daß der arme Sozialist von ehemals in der Zwischenzeit ein Kapitalist geworden ist. Ehe er selbst Millionär wurde, hat er eine Millionärin geheiratet, das ist bei den Genossen ein nicht unbekannter Brauch. - Auch Shaws Dialektik - das Zeichen, in dem er stets gesiegt hat - ist eine andere geworden. Früher konnte er, wie der Rhetor Karneades, im selben Augenblick für und wider ein Ding zeugen, konnte jetzt eine Sache und im Augenblick darauf ihr Gegenteil beweisen. Er könnte es auch heute noch, denn an Schlagkraft hat seine Rednerkunst nichts eingebüßt, aber er will nicht mehr. Er arbeitet jetzt stärker als früher mit dem Mittel der Überrumpelung. Läßt den Gegner nicht zur Besinnung kommen, gestattet ihm nicht, seine Einwände vorzutragen. Die Art etwa, wie ein Rowdy durch ein solches dialektisches Meisterstück mundtot gemacht wird, ist grandios. Aber glaubt allen Ernstes jemand, daß der Rowdy so lange still hielte? Er würde sich mit Worten wehren und, wenn das nicht nützen sollte, mit der Faust. Shaws Menschen, an denen von jeher der Mund das größte war, und die jetzt ganz Mund zu werden drohen - Shaws Menschen werden nicht mehr durch Vernunftgründe überzeugt, sondern: nachdem sie eine Zeit lang, wie die Mitglieder eines Debattierklubs, hin und her geredet haben, werden sie vom Autor, wie Schachfiguren, einfach dahin geschoben, wo er sie hin haben will. Plötzlich mucken sie nicht mehr. Shaw denkt, er sei Sieger geblieben; aber in Wirklichkeit hat die Einseitigkeit gesiegt. - Nicht ohne Einseitigkeit wird in Major Barbara auch die Heilsarmee behandelt, obwohl der Vorwurf, sie werde verspottet, nicht zu Recht besteht. Sie muß, wenn sie Gutes tun [will], Geld nehmen, einerlei woher, und sie kann von diesem Geld, wie weiland Vespasian, sagen: ,non olet'. Shaw zieht mit Verstandesgründen gegen sie zu Felde - er sagt: Heilsarmee und meint vielfach die Kirche -, dürfte aber ihren Gefühlswerten kaum ganz gerecht werden. Welche segensreiche Rolle die Salvation Army in England spielt, kann nur der ermessen, dem bekannt, ein wie verbreitetes nationales Laster die Trunksucht im Lande des Whisky ist. Warum soll die Heilsarmee nicht das Geld eines Branntweinbrenners und eines Kanonenfabrikanten annehmen? Allen Religionen hat der Zweck die Mittel geheiligt. Wenn das genügt, Barbara ihrem barmherzigen Werke abspenstig zu machen, so hätte sie niemals die unschöne Uniform angezogen. - Und so regen sich auf Schritt und Tritt Bedenken gegen diese Komödie; aber wo ihr ihn packt, den Shaw, da ist er interessant und neben dem kindlichen Gestammel seiner deutschen Kollegen ein wahres Labsal."

Berliner Theater. NZZ, 13. November 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 315.
Richard Skowronnek, Hohe Politik (Berliner Theater, 06.11.09). - "Herr Richard Skowronnek trat (mit einem bedauerlichen Mangel an esprit de corps) aus dem Verbande der dramatischen Autoren aus, um seinen Schwank Hohe Politik der boykottierten Bühne des Berliner Theaters überlassen zu können. Hier fand er in dem Mitdirektor Carl Meinhard einen prädestinierten Darsteller für seinen Kommissionär Siegfried Jonas aus Nakel, welcher zwar nur eine Neuauflage des Hühneraugenoperateurs Hirsch, aber in jedem Betrachte die ,Seele vom Buttergeschäft' [Redewendung] ist. Der lustige erste Akt erweckte Hoffnungen. Der laxe Herzog von Laxenburg, der häufig nach Berlin ausreißt, mit seiner Einsamkeit alle Schönen ködert und eben an einer reizenden Malerin, welche die Frau seines als Museumsdirektor an den Hof der Residenz berufenen Jugendfreundes ist, eine neue Eroberung gemacht hat: das fing ganz pikant an. Wird die Künstlerin straucheln? Wird der Herzog seinem Bonner Korpsbruder die Hörner aufsetzen? Unmöglich. Zur rechten Zeit fiel Herrn Skowronnek ein, daß die Tugend nicht zu Falle kommen dürfe; leider fiel ihm danach nichts Rechtes mehr ein. Er biegt die Geschichte hofbühnenmäßig um und läßt das Faktotum Jonas in hoher Politik arbeiten. Laxenburg droht nämlich, was Gott verhüte, an Preußen zu fallen, wenn der Mannesstamm der regierenden Linie ausstirbt. Und nun weiß es Jonas mit seiner bewährten Schläue so zu deichseln, daß der Herzog eine echte Prinzessin ergattert. Dafür erhält der Vielgewandte einen Orden. Ganz Nakel wird vor Neid platzen. In der seligsten Stunde seines Lebens schickt er ein Telegramm an die einzige Frau in Nakel, die sich über seine Auszeichnung freuen wird: an seine Mutter. So geht auch das Herz nicht leer aus . Ob das Berliner Theater mit diesem Schwank das große Los gewonnen hat, ist fraglicher als der heftige Beifall anzudeuten schien. Einst wird aus seinen Knochen ein Operettentext erstehen. Das ist das große Los des Schönen auf der Erde."

Berliner Schiller-Feiern. NZZ, 15. November 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 317.
Die Berliner Feiern zu Schillers 150. Geburtstag; Friedrich von Schiller, Don Carlos (Deutsches Theater, 10.11.09). - "Im Passage-Kaufhaus las der Schauspieler Alexander Moissi am Vormittag Bruchstücke aus Schillerschen Dramen, hielt der Schriftsteller Felix Hollaender am Nachmittag einen Vortrag über Friedrich Schiller. Was John Wanamaker in New York kann, kann Wolf Wertheim in Berlin auch; und wenn Richard Strauß in einem Warenhaus am Broadway ein Sinfoniekonzert dirigiert, dürfen die Herren Moissi und Hollaender (zwischen den neuesten Modellen und getrockneten Heringen) Schiller und über Schiller sprechen. Wir werden ganz amerikanisch - wenn wir es noch nicht geworden sind ... - Am Abend fanden zwei Feiern statt. Die eine im Königlichen Schauspielhaus, vor dem Kaiserpaar und seinen Angehörigen. Zwei Granden aus dem Reiche der Kunst halfen mit: Joseph Kainz, der das ,Lied von der Glocke' sprach, und Albert Niemann, der das Lied ,Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!' in Wallensteins Lager sang. Der achtundsiebzigjährige Recke stand an diesem Abend wohl zum letztenmal auf den Brettern, von denen er in seiner Vollkraft, sang- und klanglos, Abschied genommen, und das Publikum ließ die Gelegenheit nicht vorübergehen, ihm seine ungeschmälerte Verehrung zu bezeugen, indem es ihn, wie in seiner Glanzzeit, mit Beifall überschüttete. So wurde am 150. Geburtstag des deutschesten Dichters der deutscheste Sänger geehrt. - Der andern Feier im Deutschen Theater, wo man eine ganze Woche nur Schiller spielt, wohnte der Kronprinz nebst Gefolge bei. Er sah die Tragödie des Thronfolgers Don Carlos. Anfang: 6 Uhr; Ende: nach Mitternacht. Sechs volle Stunden. Wenn der Besuch des Theaters, statt eines Kunstgenusses, eine körperliche Abspannung und eine Nervenprüfung sein soll, dann kommt man durch solche Dauervorstellungen dem Ziel sehr nahe. Aber man hielt, weil Schillers Geburtstag war, ohne Murren aus. Als Marquis Posa Gedankenfreiheit forderte, brach ein Jubel los, der den Worten des Dichters mindestens ebenso galt wie ihrem Interpreten. Man hätte meinen können, auch im zwanzigsten Jahrhundert sei noch Tyrannenwillkür zu brechen. Das gerade ist das Wundervolle an Schiller, daß er nach hundert Jahren junge Herzen noch so begeistert. Sein Name ist eine Zauberformel in Deutschland: er hat die Jugend für sich, und wem das gelungen, der hat gelebt für alle Zeiten. - Die Aufführung des Deutschen Theaters unter Max Reinhardts Regie zeichnete sich durch hervorragende Stilmischung aus. Es war etwa so, als ob man in einer Ausstellung Anton v. Werner neben Manet hängen oder als ob man unmittelbar nach Schillerschen Versen etliche Seiten aus der Schiller-Biographie von Otto Brahm lesen wollte. Die Extreme der Vorstellung waren Harry Walden als Don Carlos und Albert Bassermann als König Philipp. Herr Walden hätte in Weimar zu Schillers Lebzeiten mit Glück bestanden; Herr Bassermann hätte dort Entsetzen, nichts als Entsetzen geweckt. Dieser glänzende moderne Menschendarsteller, der zehn Jahre unter Brahms Fahnen gedient hat und jetzt in Reinhardts Lager übergegangen ist, weil es ihn nach den Klassikern gelüstet, hat sich zu der Umfrage des Literarischen Echos über ,Schiller und die Schauspieler' also geäußert: ,Schiller deklamieren und seine Verse schön sprechen kann jedes Kind. (Schon dieser Satz ist, abgesehen davon, daß er nicht zutrifft, sehr anfechtbar, wenn man bedenkt, wie erschreckend die Kunst des Sprechens auf deutschen Bühnen zurückgegangen ist.) Schiller auf der Bühne spielen, d. h. seine Figuren erleben und sie einheitlich durchführen, so daß der Zuschauer im Parkett das Theater vergißt, das ist für uns die herrlichste, aber auch schwierigste Aufgabe, die bis jetzt bedingungslos noch von keinem gelöst worden ist.' [Literarisches Echo, 12. Jg., H. 3, 01.11.09, 168 f.] Mir scheint das - für Schiller! - ein ganz schiefer Standpunkt, weil er seiner Stilkunst das Natürlichkeitsprinzip entgegensetzt. Gewiß, erschöpfende Charakteristik ist unendlich wichtiger als bloße Schönrednerei, als hohles Wortgepränge; aber Verse bleiben Verse, und Verse wollen vor allem gesprochen sein. Auch der genialste Künstler kann sich diesem Teil seiner Aufgabe nicht entziehen. Eine bis ins kleinste Detail ausgearbeitete pathologische Studie (das war Bassermanns Philipp) mag an sich verdienstlich sein, hat aber bei Schiller nichts zu suchen. Drum soll der Darsteller mit dem Dichter gehn, aber nicht über ihn hinausgehn wollen; sonst kann sich kein Gebild oder nur ein stilfremdes gestalten. Es ist eine üble naturalistische Gewohnheit, die Jamben in Prosa aufzulösen und Natürlichkeitspausen an falscher Stelle anzubringen, etwa das Substantiv von seinem Adjektiv zu reißen (,sonderbarer' - fünf Sekunden Intervall - ,Schwärmer' [Don Carlos, III. x]). Dazu kommt die besondere Angewohnheit dieses Darstellers, die Silben auseinander zu ziehen, als ob sie aus Lakritze wären. - Herr Bassermann ist unbestreitbar eine außerordentlich wichtige Akquisition für das Deutsche Theater, doch ebenso unbestreitbar eine große Gefahr für das klassische Repertoire und daher mit Vorsicht zu verwenden. Wie man modernere Anschauungen mit den Forderungen des Stildramas in Einklang bringen kann, ohne dieses zu vergewaltigen, das hat einwandfrei Tilla Durieux gezeigt; ihre Prinzessin Eboli war der Gewinn des von widerstrebenden Eindrücken erfüllten Abends."

Berliner Theater. NZZ, 16. November 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 318.
Walter Harlan, Der lateinische Esel (Neues Schauspielhaus, 13.11.09). - "Unsere Herren Dramatiker haben allmählich einen solchen Gipfel des Tiefstandes erklommen, daß die ernsthaften Kunstkritiker sich schlankweg weigern, ihre Erzeugnisse öffentlich zu besprechen. In wenigen Wochen hat sich dieser Fall drei- oder gar viermal ereignet. Wenn es so weiter geht, wird man eine Rubrik für Unglücksfälle unter dem Strich eröffnen. Was zurzeit an Harmlosigkeit und Albernheit geleistet wird, ist eben ,unter aller Kritik'. Auch Herr Walter Harlan muß sich mit der Konstatierung der Tatsache begnügen, daß seine Komödie Der lateinische Esel im Neuen Schauspielhaus mit einigem Beifall aufgeführt wurde. Von ihrem Inhalt wäre zu erzählen, daß ein Unterprimaner, der sich für seine Mitschüler opfern will, statt des tödlichen Giftes ein wohltätiges Abführmittel erhält. (Man könnte dies als die causa movens der Komödie nennen.) Von ihrer Tendenz wäre zu bemerken, daß die jetzt so beliebte Anrempelung des humanistischen Gymnasiums mitgemacht wird. Gewiß, diese Institution ist reformbedürftig, da sie mit dem Wandel der Zeiten nicht gleichen Schritt zu halten vermochte, und ernste Pädagogen sind eifrig am Werke. Aber wenn man die zahllosen Anklagen der Literaten gegen unsere Schule und vor allem gegen die Borniertheit der Lehrer betrachtet, läßt sich der Gedanke kaum unterdrücken, daß diese Angriffe zum großen Teil einem kleinlichen Rachegefühl entspringen. Der Unterprimaner von ehedem dreht den Spieß herum und donnert sein Quos ego [Aeneis, I, 135]! Dabei fühlt er sich als Dichter, wenn er seine einstigen Peiniger an den Pranger stellt. Hat er in der Klasse eine klägliche Rolle gespielt, so kam es nur daher, daß seine Individualität (Wickelkinder lutschen schon an diesem Schlagwort) vom Zwang der Schule erstickt wurde. Wobei höchstens zu bedauern bleibt, daß diese Individualität nicht mehr geduckt worden ist: dann wäre ihr vielleicht die Abfassung solcher Komödien vergangen."

Englisches Gastspiel in Berlin. NZZ, 23. November 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 325.
William Shakespeare, Hamlet (Gastspiel von Gerald Lawrence und Fay Davis mit ihrer Schauspieltruppe im Kgl. Operntheater, 18.11.09). - "Bei Kroll stellten sich Mr Gerald Lawrence [1873-1957] und Miss Fay Davis [1872-1945] - ach, die Gattin ist's, die teure [Schiller, ,Das Lied von der Glocke'] - mit ihrer englischen Truppe in Hamlet vor. Sie kamen, wurden gesehen und . belächelt. Der Beifall des spärlichen Publikums war von kühler Höflichkeit diktiert. - Beerbohm Trees Spuren haben diese unternehmungskühnen Eheleute nicht abgeschreckt. Weder seine üblen Erfahrungen mit dem denkbar ungeeignetsten Berliner Theaterlokal, noch sein glänzender Mißerfolg, der durch das Schönheitspflästerchen eines kaiserlichen Ordens zugedeckt wurde [im April 1907]. Gerald Lawrence kommt von Beerbohm Tree her, nachdem er als Eleve bei Henry Irving gewesen; er hat also die hohe englische Theaterschule durchgemacht. Miss Fay Davis - seine böse Fay sozusagen - muß als Empfangsdame bei einem Photographen, als Pensionsvorsteherin oder als Ehrenmitglied des Dilettantenvereins ,David Garrick' gewirkt haben. Warum ließen sie die Tragödie nicht damit enden, daß sich Ophelia und Hamlet als Verlobte empfahlen? Es wäre so schön gewesen. Behüt euch Gott, es hat nicht sollen sein. - Das englische Theater ernsten Stils, mehr eine Kulturkuriosität als eine Kunstangelegenheit, ist im Ausland verraten und verkauft; vor fremden Menschen wirkt es komisch. (Die englischen Komiker dagegen sind durchaus ernst zu nehmen.) Die Verschiedenheit der Sprache schafft die Kluft nicht. Hamlet könnte in Berlin von einer hinterindischen Gesellschaft oder in irgendeinem chinesischen Dialekt des fünfzehnten Jahrhunderts agiert werden: wenn ein hinterindischer Rossi oder ein chinesischer Salvini auf den Brettern stünde, wäre er in einer Viertelstunde Herr der Situation, hätte die Brücke geschlagen und die fremden Laute vergessen gemacht. Das ist es. Die Verschiedenheit der Temperamente schafft die Kluft. Um verstehen zu können, müssen die Zuschauer dasselbe Temperament oder im Falle der Engländer: dieselbe Temperamentlosigkeit haben. Darauf kommt es an. Bei den Engländern herrscht eine traditionelle Schauspielerei vor. Das Wort sagt alles. Sein erster Bestandteil legt das Schwergewicht auf die Eindrücke des Auges. Zu sehen gibt es immer bei ihnen etwas: große, schlanke, schöne Menschen; die Männer vielfach den Gestalten der Renaissance ähnelnd, wie sie uns von den italienischen Fresken her geläufig sind, Männer von stolzem Wuchs, mit scharfen Gesichtszügen, vorspringendem Kinn und dunklem Haar; die Frauen meistens dem von den Präraffaeliten ausgebildeten Typus gleichend, mehr Verheißung als Erfüllung, mehr Sehnsucht als Leidenschaft, mehr Begehren als Gewähren. Zu sehen gibt es bei diesen Menschen: edle Haltung, gemessene Bewegungen, sichere Gesten, den Wurf des Mantels, den Fall der Schleppe. Kurzum, mehr optische als seelische Eindrücke. Und der zweite Bestandteil des Wortes sagt: Spiel bieten wir, kein Erlebnis; den holden Schein geben wir, nicht das garstige Sein. Wir spielen nicht die Rollen, sondern eigentlich mit den Rollen. Das Wesen der englischen Schauspiel-Oberflächenkunst ist: sie schwitzt nicht. (Gewiß eine sympathische Eigenschaft.) Ein Gentleman gerät nicht in Schweiß; eine Lady verliert nie die Fassung. Das nationale Ideal hat das Künstlerische in Mitleidenschaft, lies: Mitleidenschaftslosigkeit gezogen. Der ganze Ehrgeiz dieser ehrenwerten Herren und Damen besteht darin, im Leben als Gentlemen und Ladies zu gelten. Wollen sie das sein, so müssen sie es auf der Bühne bleiben. Und der Preis, den sie dafür zahlen, ist die Emotionslosigkeit ihrer Kunst. Einer Kunst, die sich auch da noch mit Würde wappnet, wo das Menschentum, aller Hüllen beraubt, in seiner Nacktheit dastehen müßte. Einer Kunst, der das Dekorum über alles geht ... - Eine Hamlet-Aufführung wie die von Gerald Lawrence wäre am Hoftheater in Dessau noch eine Unmöglichkeit. Doch zum Troste der Engländer sei es gesagt: eine Aufführung von Major Barbara (oder irgendeinem modernen Konversationsstück) wie die der Berliner Kammerspiele [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 10.11.09] wäre in Pimlico nicht minder eine Unmöglichkeit. Der Grund liegt nicht in dem größeren oder geringeren Werte der künsterischen Vorstellungen, sondern in dem Unterschied der nationalen Vorstellungen von der Kunst. - Haben wir es nötig, unter solchen Umständen Shakespeare aus England zu importieren? Wären wir nicht eher befugt, diesen Shakespeare, welcher ein deutscher Dichter geworden ist, nach England zu exportieren? Was können unsere Schauspieler von den englischen lernen? Wie man geht, wie man steht (doch dafür haben wir Lehrmeister im eigenen Lande: die Gardeoffiziere); vielleicht wie man spricht. Was können die englischen von unsern Schauspielern lernen? Nichts. Denn das, was diese vor ihnen voraus haben, ist das Unerlernbare. Das hat man entweder, oder man hat es nicht. Aber wenn man es nicht hat, ist keine Möglichkeit es zu erwerben. Jedenfalls dürfen die englischen Schauspieler von sich behaupten, daß sie seit den Tagen David Garricks nichts gelernt und nichts vergessen haben. Und sie behaupten sich damit - im eignen Lande."

Berliner Theater. NZZ, 30. November 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 332.
Oskar Bendiener, Der Unbekannte (Neues Theater, 25.11.09). - "Herr Oskar Bendiener, in Wien bereits mit dem Raimund-Preis gekrönt, für uns annoch ein Unbekannter, kam im Neuen Theater mit einem ,Stück in drei Szenen' zu Worte: Der Unbekannte. Kennen wir ihn jetzt? Paul Lindaus Vetter bringt eine entschiedene Begabung für die Bühne mit; doch sein Geschmack ist vorläufig noch weniger ausgebildet als sein Blick fürs Theatermäßige. Der Österreicher, dessen geistige Heimat die Philippinen sind, hatte diesmal einen französischen Frack angezogen, auf den äußeren Boulevards gemacht. Als Knopflochblume trägt er die Pariser blague - wenn man es nicht vorziehen sollte, sie bluff zu nennen. Viel mehr läßt sich einstweilen nicht von ihm sagen; nur dies noch, so man eine vaticinatio ex eventu gestatten will: er wird vielleicht einmal ein in mehr als drei Ländern gesuchter Bühnenschriftsteller werden. - Sein Unbekannter ist ein in drei Ländern gesuchter Banknotenfälscher. Herzenknicker im Nebenberuf. Sonst durchaus kein Knicker. Er hat die eigene Note, daß er seine Liebsten mit Banknoten bezahlt: die unechten mit falschen, die echten mit echten Scheinen. Besondere Merkmale: gewandtes, chevalereskes Auftreten (so heißt es ja wohl in der Sprache der Steckbriefe). Trotzdem die echte Geliebte also einen echten Schein erhält, ist der Schein gegen sie. Darauf baut sich das Stück auf. - Im Thema berührt sich Bendiener auffällig, doch sicher unabhängig mit Henri Batailles Skandal [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 28.10.09]. Hier wie dort läßt sich eine soi-disant anständige Frau mit einem Abenteurer ein und zittert vor der Entdeckung des Geheimnisses durch ihren Mann. Bataille biegt das Thema mit anmutigem Handgriff ins Komödienhafte um; Bendiener gibt das Kriminalistische des Falles. - Worin liegen seine besonderen Merkmale? Er zeigt, daß sich eine bis dahin unbescholtene Frau, deren Mann auf Reisen ist, dem ersten besten Hochstapler an den Hals wirft, ohne ihn nach ,Nam' und Art' zu fragen [Wagner, Lohengrin]. (Damit wir diese immerhin gewagte Voraussetzung glauben, wird die Handlung nach Frankreich verlegt, ins gelobte Land des Ehebruchs.) So ein kleines Erlebnis in Abwesenheit des Gatten, sagt der Wiener mit gallischem Leichtsinn, ist ja die harmloseste Sache von der Welt; man darf nur nicht die Dummheit begehen, sich mit dem Herzen zu engagieren. Sonst gerät man in Schwulitäten. Und wirklich, die arme Frau kommt in den Verdacht der Hehlerei, weil sich auf ihrem Schreibtisch eine Banknote findet, von deren Existenz sie keine Ahnung hatte. Kaum ist der Verbrecher fort, hält die Polizei bei ihr Haussuchung. Auch nur die Bekanntschaft mit dem Schwindler eingestehn, heißt: sich in den Geruch der Mitwisserschaft bringen. An dieser Stelle scheint der Autor mit erhobenem Finger sagen zu wollen, wie unendlich schwer es ist, seine Unschuld nachzuweisen. Darum so schwer, weil jeder von uns irgend etwas auf dem Kerbholz hat. Wenn man auch nicht gerade das verbrochen hat, dessenwegen man verhaftet werden soll, so ist es doch meist etwas anderes. Du sollst wegen Hehlerei eingesperrt werden und hast nur einen kleinen Ehebruch begangen; aber wenn du diesen einräumst, ist es schließlich auch um dich geschehen. Den ausübenden Organen der Polizei ist also Macht über Leben und Tod gegeben. Sie können Schuldlose durch einfache Haussuchung ins Verderben stürzen. Wehe, wenn sie mit plumpen Fäusten betatschen, was mit feinsten Fingern angefaßt werden müßte! Wo sie mit äußerstem Zartgefühl ihres Amtes walten sollten, packen sie mit roher Gewalt zu . Schon gähnt der Abgrund vor der schuldlosen Schuldigen: jeden Augenblick kann ihr Mann zurückkehren. Da souffliert ihr in zwölfter Stunde eine Freundin, daß der Frau - wir sind im Lande Madame Steinheils [Marguerite Steinheil (1869-1954), Mätresse des frz. Präsidenten Félix Faure (1841-1899), 1908/09 wegen Mordes angeklagt, aber schließlich freigesprochen] - unbeschränkte Macht über den Mann, selbst über einen Kommissar gegeben ist; durch einen Schlafzimmerschlüssel mit allen Konsequenzen läßt er sich kirren. Die Verzweifelte greift zu diesem letzten Rettungsmittel. Jetzt kommt der Polizeichef und der Witz: die beschlagnahmte tausend Francs-Note ist nach sorgfältiger Prüfung als echt erkannt worden. - Ein kriminalistisch gewiegter Kopf hat dieses Gemisch von bittrem Ernst und blutiger blague ersonnen. Noch verrät Bendiener gelegentlich den Amateur; so wenn er, um nur eine Ungeschicklichkeit anzuführen, den Polizeikommissar, der im Nebenzimmer eine lange Unterredung zwischen der verdächtigen Frau und ihrer Freundin belauscht oder doch durch die angelehnte Tür belauschen könnte, nicht sogleich eingreifen läßt. Entweder dürfte diese Unterredung nie stattfinden, oder aber der Kommissar müßte danach hereintreten und sprechen: ,Pardon, Madame, wir haben Ihnen Unrecht getan, Sie sind glänzend gerechtfertigt, die Polizei hat in Ihrem Hause nichts mehr zu suchen.' Gleichwohl steht die Technik des Verfassers heute schon auf respektabler Höhe. Kann er auch mit den Franzosen noch nicht konkurrieren, so braucht er sich vor keinem Philippi mehr zu verkriechen. - In der Paraderolle der unschuldigen Schuldigen zeigte Alma Renier Fähigkeiten, die eigentlich weit über den Rahmen des Werkes hinausragten. Sie nahm die Rolle nicht zu schwer, lieh ihr aber eine gesteigerte geistige Bedeutung. Wenn sie die Duse-Weis' abstreifen lernt und ihre eigene Melodie findet, wird man ihr Aufgaben von tragischem Gehalt anvertrauen dürfen."

Berliner Theater. NZZ, 4. Dezember 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 336.
Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang (Lessing-Theater, 30.11.09). - "Am 20. November [richtig: Oktober] 1889 fand die erste Aufführung des sozialen Dramas Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann durch die Freie Bühne statt; nach zwanzig Jahren (mit einer Verspätung von zehn Tagen) veranstaltete sie, selber schon eine Vorstellung der Vergangenheit, eine Gedenk-Vorstellung des Werkes im Lessing-Theater, also an derselben Stätte, wo sich damals im Zuschauerraum fast noch wüstere Szenen abspielten als auf der Bühne und wo sich jetzt das Publikum in schöner Eintracht zu einer rauschenden Huldigung für den Dichter vereinigte, wie er sie lange nicht mehr in Berlin erlebt hat. - Nach zwanzig Jahren! . Die Kinder von damals sind zu Männern herangewachsen; die Männer von damals haben die Mittagshöhe des Lebens überschritten. Der tastende Anfänger von einst gilt heute als Deutschlands bedeutendster Dramatiker; seine beiden heftigsten Helfer, Otto Brahm und Paul Schlenther, einst die kühnsten theoretischen Rufer im Streit, sind die kühlsten Theaterpraktiker geworden. - Wer sich von allen Erinnerungen frei machen konnte und nur das Werk auf sich wirken ließ, der fand bestätigt, was der alte Fontane schon vor zwanzig Jahren [in der Vossischen Zeitung vom 21.10.89, Nr. 492] konstatiert hatte: daß die Szenen vorwiegend den Eindruck der Langeweile hervorbringen. Diese Detailschilderung schlesischer Bauern-Parvenus interessiert kaum noch. Damals wurde sie wegen der Anhäufung von Greueln als etwas Unerhörtes bestaunt. Aber wo sich unsere Vorgänger entrüsteten, da lächeln wir bloß. Wir wissen, daß das naturalistische Schwelgen in Kruditäten mißverstandener oder falsch angewandter Zola war. Kunst ist das nicht; denn alles Dichten ist in erster Linie ein Verdichten, ein Sieben und Sondern, ein Ausscheiden und Zusammenraffen. Hauptmanns Familie Krause ist zu entartet, um als künstlerisch vollwertig gelten zu können. Ein Vater, der säuft und sich an der eignen Tochter vergreift; eine Mutter, die sich von ihrem halbblöden Neffen trösten läßt und ihn zum Dank für seine Dienste mit der Stieftochter verkuppeln will; die andre Tochter gleichfalls der Flasche ergeben und Mutter von Kindern, die entweder tot zur Welt kommen oder als Opfer des Alkoholismus bald sterben: in volkswirtschaftlichen Broschüren, in agitatorischen Pamphleten ließe sich aus einer solchen Familie Kapital schlagen; da wären die Krauses ein Musterbeispiel der Depravation. In einem Drama, für das selbst das hochtönende Wort ,sozial' keine Beschönigung bildet, wirkt diese wahllose Ansammlung von Scheusalen und Scheusäligkeiten - ich finde keine andre Bezeichnung - dilettantisch. Vollständigkeit ist immer das unverkennbare Merkmal, war von jeher das Losungswort des künstlerischen Dilettantismus. - Aber wenigstens die Echtheit der Milieuschilderung glaubte man rühmen zu müssen. Ist sie wirklich so echt? Ich gestehe, daß ich meine Zweifel habe. Auf welchem schlesischen Bauerngut trinkt man Veuve Cliquot, schlemmt man Austern, bezieht man den Hummer direkt aus Hamburg? Es sind ja verschwindend kleine Züge; doch in einem Drama, das so mit verschwindend kleinen Zügen arbeitet, das seine Größe in solchen kleinen Zügen sucht, fällt der kleinste Zug auf, da ihm der Zug ins Große fehlt. - Er sollte offenbar in der dem Werke zugrunde liegenden Vererbungstheorie gefunden werden. Aber diese Theorie ist längst überholt. Was vor zwanzig Jahren vielleicht als richtig galt, ist heute widerlegt. Wissenschaftliche Ideen haben im allgemeinen nicht einmal ein so langes Leben; sie tragen den Todeskeim in sich, sobald sie zum Gemeinplatz werden. Dazu kommt, daß Hauptmann seine Vererbungstheorie zwar mit doktrinärer Starrheit, aber auch mit kindlicher Leichtgläubigkeit vorträgt. So wie er sie darstellt: rein abstrakt und aller Menschlichkeit fremd, konnte sie vor zwei Jahrzehnten unmöglich als richtig empfunden werden. - In der Vollständigkeit der Milieuzeichnung und in der Rigorosität der Idee liegt also nicht die Bedeutung dieses Erstlings. Sondern einzig und allein in der herrlichen Liebesszene des vierten Aktes. Hier pocht ein Dichter vernehmlich an die Pforte. Noch lallt und dalbert er ein wenig, aber die Empfindung ist golden echt. Halbe Worte, ganze Gefühle. Diese Liebesszene wurde vor zwanzig Jahren von urteilsfähigen, vorurteilsfreien Menschen bewundert; diese Liebesszene verdient auch heute noch in ihrer Mischung von süßem Stammeln und inniger Poesie unsere uneingeschränkte Bewunderung. Ecce poeta! - Nach zwanzig Jahren! . Von der Hälfte der Jahre sagt der Ingenieur Hoffmann im Stück: ,'n ekliger Fetzen Zeit'. Er hat recht. Eine wie lange Zeit sind zwanzig Jahre im Leben des einzelnen Menschen; eine wie kurze Spanne sind zwanzig Jahre im Leben der Menschheit, in der Geschichte oder in der Literaturgeschichte! ,Wie ein Tag, der gestern gewesen.' Aber im Dasein des Individuums . Wo sind sie hingekommen, die Schauspieler jener stürmischen Nachmittagsaufführung? Teilweise gestorben, wie die treffliche Luise v. Pöllnitz; teilweise verdorben; teilweise von Reproduzierenden zu Produzierenden aufgerückt, wie Gustav Kadelburg; teilweise an andern Bühnen, in andern Städten tätig. Doch das Schmerzlichste: Else Lehmann, die vor zwanzig Jahren die Helene Krause und damit den Grundstein zu ihrem Rufe schuf, konnte diese Rolle in der Jubiläumsvorstellung nicht mehr spielen, weil sie dem äußeren Bilde des erblühenden Mädchens entwachsen ist. Eine jüngere Kraft trat für sie ein: Hilda Herterich, deren Können in schönem Aufstieg begriffen ist und zu schlichter Menschendarstellung vordringt. Einer stand am alten Platze, der Inhaber einer winzigen Episode. Wer weiß, ob das nicht das Allerschmerzlichste war!? - Im Parkett aber saßen die Männer, die ehedem bei der Gründung der Freien Bühne eine Rolle gespielt haben. Da sah man so manchen alten Kämpen, gebleicht von der Fülle der Jahre. Die goldenen Locken sind gesunken, die Begeisterung ist verflogen. Nur einer schien allem zu trotzen, wie er allen getrotzt hat, sich selbst treu: Otto Brahm. Er ist der Fanatiker von damals geblieben - ein Fanatiker ohne die Borniertheit des Fanatismus, ein Realist mit Idealen, ein Idealist, der Realpolitik treibt. Zwanzig Jahre ist er kaum um eines Fingers Breite von seinem Programm und seinen Prinzipien gewichen. Wohl mußte er gelegentlich dem Zeitgeschmack Zugeständnisse machen; aber wie und wohin man ihn warf: er kam immer heil auf seinen naturalistischen Beinen an. Ein singulärer Mensch. Und es war ganz in der Ordnung, daß man mit dem Dichter den sich selbst treuen Direktor, den treuen Freund Otto Brahm vor den Vorhang rief."

Berliner Theater. NZZ, 15. Dezember 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 347.
George Bernard Shaw, Heuchler (Kleines Theater, 04.12.09). - "Als er seinen dramatischen Erstling Widowers' Houses, der jetzt im Kleinen Theater unter dem völlig irreführenden Titel Heuchler gespielt wurde, vor einem Vierteljahrhundert schrieb, war Bernard Shaw noch nicht Kapitalist, sondern Sozialist. Ein armer Schlucker, der aus Überzeugung sozialistische Ansichten vertrat. (Heut ist er ein reicher Knopf, der sich den Luxus sozialistischer Anschauungen leistet.) Aber schon damals machte er im Geiste den Tanz ums goldene Kalb mit. Schon damals, in dieser ganz frühen Komödie, blickte er bewundernd zum Reichtum auf; schon damals schien durch sein Gemüt nur ein liebliches Geläute zu ziehen: der Klang des Geldes. ,Sei reich!' war seine ideale Forderung. Und sie ist es, wie sein Heilsarmeestück Major Barbara beweist, bis zum heutigen Tage geblieben. Wenn du Geld hast, kannst du kostspielige Rheinreisen unternehmen, kannst deiner Tochter die beste Erziehung angedeihen lassen, kannst eine geschmackvolle Villa bewohnen, kannst dich zum Überfluß noch auf einen durchaus legalen Standpunkt stellen, indem du den Übertreter des Gesetzes anzuzeigen drohst. Wenn du nur Geld hast! Woher du es hast, ist Nebensache. Mag es auch auf die gemeinste Weise erworben sein, nämlich: durch schändliche Schröpferei der Armen, die in elenden Spelunken hausen - es riecht nicht. Schuld hat schließlich nicht der einzelne, sondern unsere sozialen Zustände, der Staat, der sie schafft und duldet. - So radikal, so radikal reaktionär dachte schon der junge Shaw. Es ist keine Überraschung, daß der Mann, welcher in seinem Heilsarmeestück das Evangelium des Reichtums verkündet, seine Primitien an demselben Altar darbrachte. Wenn er nicht der smarteste Dramatiker geworden wäre, er hätte Geschäftsmann werden müssen. (Vielleicht vereinigt sich beides recht gut zusammen.) - Von seiner Smartheit ist freilich in diesem frühen Werke noch nicht viel zu spüren. Der Anfänger arbeitet noch mit unmöglichen Voraussetzungen. Er will uns glauben machen, daß die Tochter des Armenschinders keine Ahnung von dem Ursprung des väterlichen Vermögens hat. Er will uns ferner einreden, daß der junge Arzt, der als präsumtiver Schwiegersohn das Geld des Armenschinders zurückweist, keine Ahnung hat, wieso er mit seinem Gelde sieben Prozent macht, daß er an demselben schmutzigen Unternehmen beteiligt ist. Und er kündigt, als er diese unsauberen Geschichten in ihrem ganzen Umfang kennen lernt, nicht seine Hypothek, sondern heiratet noch obendrein die Tochter des alten Spitzbuben. - Auch die Geschlechtertheorie des Iren ist hier bereits vorhanden. Alles Wortschwalles entkleidet, heißt sie: wenn ein Mann einer Frau gefällt, ist er ihr verfallen. Blanche Sartorius führt die lange Reihe von Shaw-Mädchen an, die sich den Mann nehmen, statt sich von ihm nehmen zu lassen. Die Schiebende und nicht Geschobene, die Jägerinnen und nicht Wild sind. - Die Sucht nach Reichtum beim Manne, die Sucht nach dem Manne bei der Frau: das sind die beiden ewigen Melodien in den Werken Bernard Shaws. - Auffallend unbeholfen mutet hier die Technik an. Kein Rekrut dürfte es sich heute so leicht machen, daß er die Person, die just überflüssig ist, unter dem nichtigsten Vorwand verschwinden läßt. Auch der Dialog wirft noch kaum die Schatten des künftigen Meisters voraus. - Im Kleinen Theater wurde die Komödie aufs Kasperletheater hinaus gespielt. Der Shaw-Stil in Deutschland, leider auch bei Reinhardt, besteht darin, daß man die Unnatur unterstreicht, um die vermeintliche Natur der englischen Gestalten hervorzukehren. Der Engländer, scheint man zu denken, oder der Engländer, wie ihn Shaw zeichnet, ist kein Mensch, sondern ein wandelndes Stück Spleen. Es ließe sich Gewichtiges gegen eine solche Auffassung vorbringen. Aber einerlei wie man den Iren spielt: es ist beschämend, daß in einer Stadt wie Berlin jeder englische Eigenname bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Eine Selekta-Schülerin weiß es besser. Der Anglophile windet sich auf seinem Stuhl, wenn er österreichische Schauspieler nach den Nationalklängen eines Deutsches von Siegfried Trebitschs Gnaden Engländer markieren sieht."

Berliner Theater. NZZ, 16. Dezember 1909, Viertes Morgenblatt, Nr. 348.
Otto Falckenberg, Doktor Eisenbart (Freie Volksbühne, 05.12.09); Octave Mirbeau u. Thadée Natanson, Das Heim [Le Foyer] (Kammerspiele, 09.12.09); Oliver Goldsmith, She Stoops to Conquer (Gastspiel von Meta Illing mit ihrer englischen Truppe im Neuen Schauspielhaus, 08.12.09). - "Von einer deutschen Komödie, einem französischen Schauspiel (oder eher schon: einem Schauerspiel) und einem englischen Gastspiel ist zu berichten. - Die Freie Volksbühne stellte Otto Falckenberg mit seinem Doktor Eisenbart vor. Einen verheißungsvollen Mann, dessen Werk interessierte, wenn es auch nur an wenigen Stellen von uns Besitz ergriff. Der Anfänger ist unverkennbar: an der Hypertrophie des Stofflichen. Motive kommen, Motive gehen, wie Bilder in einem Guckkasten. Bunte Bilder drängen sich . ganz gut geschaut, doch nur halb verdaut. Schon der erste Akt trägt seinen Teig aus vielen Schüsseln zusammen, ohne daß dieser im weiteren Verlauf der Handlung durchgebacken würde. Es fehlt die Bärme [Hefe]. An einem Beispiel sei gezeigt, daß der Verfasser seine Motive noch nicht ausmünzt. Spezialität des berühmten Charlatans ist die Herstellung von Ringen, welche den Treubruch der Ehefrau anzeigen. Damit allein ließe sich eine Komödie ausfüllen; man sieht das Thema des betrogenen Betrügers wetterleuchten. Aber Falckenberg vergißt die Wolken zusammenzuballen. Natürlich besitzt auch Frau Dr. Eisenbart einen solchen Ring. Der Stein springt, als ein junger Graf den Ring zu Boden schleudert. Der junge Graf hat Absichten auf die Frau Doktor; hat sie sich seinen Wünschen willfährig erwiesen? Es wird nicht recht klar. Das heißt: die beiden haben nichts miteinander gehabt: doch wenn der Stein geplatzt ist, müßte Eisenbart vor Eifersucht platzen. Statt dessen läßt er den jüngferlichen Grafen, der als Famulus bei ihm eingetreten, an der kinderlosen Frau Herzogin die Wunderkur vollziehen. Es geht ein bißchen kraus in dieser Komödie her. Die Fülle der Motive sorgt für eine gewisse Bewegtheit der Aufzüge, aber sie sind mehr mit Aufzügen als mit Sonderzügen staffiert, und die Farbigkeit dehnt sich vom Stofflichen nicht oder nicht genug auf die Charakteristik aus. An etlichen gefühlvollen Stellen von Gauklerlos und Heimatliebe, an der Sehnsucht nach domestic joys spürt man den Dichter. Und es war kein Unwürdiger, dem die Freie Volksbühne Gastrecht gewährte. - Leider läßt sich das nicht den Kammerspielen nachsagen, als sie uns mit Le Foyer (Das Heim) von Octave Mirbeau und Thadé Natanson bekannt machten. Wozu das? Es genügte, daß diese skrupellose, wenn auch streckenweise unterhaltsame Kompagniearbeit den Parisern zum Ärgernis wurde. (Man erinnert sich: [Jules] Clarétie [1840-1913], der das Stück für die Comédie Française angenommen hatte, wollte den zweiten Akt, weil er überpfeffert, nicht spielen; auch stieß er sich an einigen allzu durchsichtigen Anspielungen.) Wir entdeckten, daß die Franzosen mit naturalistischen Schilderungen da anfangen oder da nicht Halt machen, wo wir aufgehört haben. Um einem, von uns nicht als dringend empfundenen Bedürfnis abzuhelfen, ließen uns die Verfasser den Sumpf eines Erziehungsheims für gefallene Mädchen schauen. Sie verstatteten Einblicke, die zwar nicht überraschend neu, aber widerlich wirkten. Das mag ja alles auf gründlichen Studien an Ort und Stelle beruhen - die Enthüllungen die wir kürzlich in unserer nächsten Nähe schaudernd erlebt haben, geben den Pariser Verhältnissen kaum etwas nach -, doch die Bühne soll nicht als Filiale des Gerichtssaales mißbraucht werden; vor Gericht spielt sich derlei übrigens meist bei verschlossenen Türen ab. Das Nur-Peinliche, dem Himmel sei Dank, zieht bei uns nicht mehr. - Neben dem Wirklichkeitsabklatsch nimmt der Klatsch der Firma Mirbeau und Natanson breiten Raum ein. Wenn sie als Hauptfigur einen Philanthropen großen Stils, Mitglied der Akademie, vorführen, der die Wohltätigkeit zur Befriedigung seiner Eitelkeit betreibt und das dazu nötige Kapital aus den zarten Beziehungen seiner Gattin bezieht, so mag es für die Pariser einen pikanten Reiz haben, nach dem Modell zu schnüffeln. Dieses persönliche Moment fällt bei uns unter den Tisch. - Bleibt als Drittes, das Künstlerische. Hier gibt es eine außerordentliche Szene: der Baron beschwört seine Frau, die Hilfe des entlassenen Liebhabers in Anspruch zu nehmen, weil seine Unterschlagungen sonst ans Licht kommen und er der Schande preisgegeben ist. Ich erinnere mich einer ähnlichen Szene in dem lesenswerten Roman Double Harness von Anthony Hope [vgl. MMs Buchbesprechungen in der Vossischen Zeitung vom 13.04.05 und in der Nation vom 29.04.05], aber sie ist von den Franzosen mit ungleich größerer Verve behandelt. Die ganze Skala weiblicher Gefühle wird hier im Sturmschritt durchmessen, und man wird einigermaßen entschädigt für die voraufgegangenen Greuel. - An dieses im Grunde unerquickliche Boulevardstück verschwendeten die Kammerspiele eine geradezu glänzende Aufführung. Tilla Durieux entwickelt sich immer mehr zu einer Berliner Réjane. Sie verfügt über eine virtuose Natürlichkeit, die mehr wert ist als die vielfach unnatürliche Virtuosität ihrer gefeierten Pariser Kolleginnen. Und die abstoßenden Szenen im Heim wurden mit einem Naturalismus wiedergegeben, der zeigt, daß das zum Glück überwundene Genre jeden Tag neu aufleben könnte. Die kleinste deutsche Schauspielerin hat es auf diesem Gebiete zur Meisterschaft gebracht. - Gegenüber solchen Leistungen merkt man, wie überflüssig das Gastspiel der Frau Meta Illing mit ihrer englischen Truppe ist. Sie will allerdings nicht mit unsern heimischen Histrionen in künstlerischen Wettbewerb treten, sondern nur eine Art dramatischen Anschauungsunterricht geben; doch seit wann ist die Bühne eine Filiale der Berlitz School? Das Programm Frau Illings deckt sich also mit dem Titel der als Eröffnungsvorstellung gewählten Komödie von Oliver Goldsmith: She stoops to conquer (deutsch etwa: Durch Erniedrigung zum Sieg). Wir sahen ein Ensemble, das in den London-lüsternen englischen Provinzstädten sicher nicht, in den nördlichen Vorstädten Londons zur Not geduldet würde. Wer mit absolutem Maßstab messen wollte, könnte auf den freventlichen Gedanken kommen, eine Deutsche habe sich vorgenommen, die englische Schauspielkunst zu diskreditieren. Mir liegt es durchaus fern, das behaupten zu wollen; aber so unzureichenden Kräften gegenüber habe ich nur die eine Frage: wozu das?" - Meta Illing (27.02.1872 - 26.12.1909) war eine deutsche Schauspielerin, die von 1894-1898 am Schillertheater und Lessing-Theater in Berlin engagiert war. Nach zwei weiteren Jahren am Thaliatheater Hamburg befaßte sie sich mit der Errichtung eines englischen Theaters in Deutschland und spielte mit ihrer Gesellschaft in Berlin.

Berliner Theater. NZZ, 21. Dezember 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 353.
Felix Josky, Ein königlicher Spaß (Neues Theater, 10.12.09). - "Nachdem das Kammergericht entschieden, daß die Komödie Ein königlicher Spaß von Felix Josky eine selbständige Schöpfung gegenüber dem Roman If I were king des Engländers Justin Huntly McCarthy bedeute, stand ihrer Aufführung im Neuen Theater nichts mehr im Wege. Und nachdem das Publikum, das eine große Gemeinde von Verwandten, Freunden und Bekannten zu sein schien, mit rührender Familieneinigkeit entschieden, daß ein lebenskräftiges Werk geboren worden sei, bleibt der Kritik die dankbare Aufgabe, ihm den Totenschein in aller Form auszustellen. Da es für diese Welt zu schlecht, soll es herzlos, aber schmerzlos in eine bessere Welt befördert werden. - François Villon, der geniale Dichtervagabund, der Urahn aller Literaturbohémiens, steht im Mittelpunkt der Komödie. Sein Reich ist die Verbrecherspelunke; Degen und Dichtung bilden seine Waffen, Diebe und Dirnen seinen Hofstaat. Unter diese gemischte Gesellschaft mischt sich eines Abends in einer Harun al Raschid-Anwandlung Frankreichs Herrscher, Ludwig XI. Der unerkannte König muß sich von dem anerkannten König der Lumpen die Leviten lesen lassen: Villon schmettert ihm sein Trutzlied ,Si j'étais roi' entgegen. Du sollst zeigen, was du kannst, denkt der Mächtige. Er läßt den trunkenen Prahler in den Palast schaffen und, sobald er wieder nüchtern geworden, die Fiktion in ihm erwecken, er sei der Connétable von Frankreich. Das ist der königliche Spaß, der jedem Literaturfreund aus dem Vorspiel zu Der Widerspenstigen Zähmung geläufig. Doch dem Spaß sitzt blutiger Ernst im Nacken: sieben Tage darf sich Villon der Kanzlerwürde freuen, sieben Tage sind ihm gegönnt, seinen Worten die Tat folgen zu lassen; und als schwerste Prüfung wird ihm auferlegt, in diesen sieben Tagen die Liebe einer spröden Hofdame zu gewinnen. Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist, und dir das Schwere gelungen nicht ist, so mußt du am Galgen erblassen [Anspielung an Schiller, ,Die Bürgschaft']. Selbstverständlich - wir sind ja im Märchenland - besteht der Tausendsassa die Prüfung mit sehr gut. - Herr Josky ist, wie die meisten Anfänger, handlungsbeflissen. Ich habe neulich am Beispiel Otto Falckenbergs zu zeigen gesucht, daß nicht die Fülle der Motive, sondern ihre Durchknetung den Wert einer Dichtung ausmacht. Auch Herr Josky arbeitet mehr mit Aufzügen als mit Sonderzügen. Die äußeren Geschehnisse werden möglichst bunt, die inneren schwarz-weiß gehalten. Doch selbst im Äußeren bevorzugt er bisweilen die kunterbunte Unmöglichkeit. Es genügt ihm nicht, daß sich der König als ungebetener Gast in die Kneipe schleicht. Eben dort muß sich auch der verräterische Großconnétable einfinden. Und auch damit noch nicht genug: sogar die stolze Hofdame, die in heißer Liebe zu dem Poeten entbrannt ist, erscheint an diesem unpassenden Orte, zu nachtschlafender Zeit noch außerdem, und verlangt von ihrem Dichter nichts Geringeres, als daß er den ihr durch seine Bewerbung lästigen Connétable hinwegräume. Herr, halt' ein mit deinem Segen! möchte man dem unerschöpflichen Schöpfer zurufen. - Dieser erste Akt, der kein Genug zu kennen scheint, würde schon genügen, Herrn Joskys mangelnde Qualitäten zu erweisen. Es kommt noch schlimmer. Zu Beginn des zweiten Aktes gibt es eine Szene, die nur einem ganz undichterischen Hirn entspringen konnte. Villon soll seine Kanzlertätigkeit damit eröffnen, seine Spießgesellen abzuurteilen. Sie alle erkennen ihn nicht; der struppige Kumpan schreitet, gewaschen und gekämmt, in prächtigem Gewande einher. Zuletzt naht sich ihm seine Geliebte. Wenn Herr Josky ein Dichter wäre, müßte sie ihn trotz der Verwandlung erkennen. (Sie müßte ihn erkennen, sag' ich.) Aber da er ein sentimentaler Stückeschreiber ist, läßt er die Dirne nach ihrem abwesenden François schmachten. Psychologie, Herr Josky, Psychologie! Wenn er ein Dichter wäre, müßte sich der Pseudokanzler jetzt seinem Kellerschätzchen entdecken. (Er müßte sich ihr zu erkennen geben, sag' ich.) Aber da Herr Josky ein handlungsbeflissener Dramenbearbeiter ist, spart er sich diese unwirksame Anagnorisis für das Ende des dritten Aktes auf. Er täte gut, einmal The King's Threshold von dem Dichter William Butler Yeats zu lesen: da naht dem traurigen Dichter, dessen Kummer nichts verscheuchen kann, zuletzt seine Geliebte, und sobald er nur den Druck ihrer Hand spürt, ist seine Schwermut geheilt. Psychologie, Herr Josky, Psychologie! - Auf gleicher Höhe bewegt sich die Sprache. Sie zeichnet sich (neben etlichen empfindlichen grammatikalischen Entgleisungen) dadurch aus, daß sie sämtliche Situationen mit einer einzigen Restaurantsauce begießt. Mit einer Jambensauce, die als Hauptingredienz die Banalität verwendet. Und wenn gar poetische Knöchlein in sie eingetaucht werden, dann gibt es einen Klischeeklang, der sich mit einem Euphemismus als Fulda-Epigonentum bezeichnen ließe. - . Das Kammergericht hat in letzter Instanz entschieden, daß die Komödie Ein königlicher Spaß von Felix Josky eine selbständige Schöpfung sei; doch das Kammergericht ist für solche Angelegenheiten zum Glück nicht die letzte Instanz."

Berliner Theater. NZZ, 23. Dezember 1909, Drittes Abendblatt, Nr. 355.
Hermann Sudermann, Strandkinder (Schauspielhaus, 21.12.09). - "Hermann Sudermanns vieraktiges Schauspiel Strandkinder brachte es nicht einmal am kgl. Schauspielhaus zu einem Erfolg. Nur nach einer gut geführten Gerichtsszene am Schluß des zweiten Aktes klang der Beifall freundlich, während sich von da an freundschaftliches Klatschen in den Chor der Mißvergnügten mischte. Das unverfälschte Resultat des Abends war eine nicht mißzuverstehende Ablehnung. Warum das Werk von der kgl. Bühne aufgeführt wurde? Weil es keine andere ernsthafte Berliner Bühne angenommen hätte. Denn es gehört zu jener Gattung von Stücken, die (nach [Francisque] Sarceys Einteilung) mit einer bloßen Inhaltsangabe kritisch erledigt werden können. Heute nur so viel vom Inhalt, daß darin zwei Paare vorkommen: ein schwarzes und ein blondes; das schwarze singt Bariton und Alt, das blonde Tenor und Sopran. Der Baritonist liebt die Altistin, diese wird aber seinem Bruder als Weib zugesprochen; da er sie endlich an sich reißt, gilt es, den Tenoristen aus der Welt zu schaffen, und bei diesem freventlichen Beginnen findet das schwarze Paar seinen Tod. Der blonde Bruder wird von einer ostpreußischen Mignon angeschwärmt; als er endlich sein Herz entdeckt, entdeckt er auch - eine feine Verbeugung des Autors vor dem Käthchen-Dichter - ihre fürstliche Abstammung, und somit steht der Verbindung des Tenoristen und der Sopranistin nichts mehr im Wege. Ein gesprochener Operntext; nicht einmal ein guter, denn die Handlung ist so kraus, daß sie sich in der Kürze nur schwer nacherzählen läßt. Neben dem wilden und dem milden Hauptfigurenpaar stehen die Wachspuppen der Strandkinder, eine ebenso heimatlose wie physiognomielose Horde von Enterbten. ,Das Stück spielt auf der Halbinsel Hela zur Zeit der Ordensherrschaft.' - Die Darstellung (unter Dr. Paul Lindaus Regie) war überwundenes Genre wie das Dargestellte; moderne Künstler wären solchen Rollenklischees gegenüber vermutlich noch machtloser gewesen." - S. auch MMs Besprechung vom 06.01.10.

Schwarz-weiß-Kritik. NZZ, 24. Dezember 1909, Zweites Morgenblatt, Nr. 356.
William Shakespeare, Der Widerspenstigen Zähmung (Deutsches Theater, 15.12.09). - "(Am Abend des 15. Dezember wurde Shakespeares Lustspiel Der Widerspenstigen Zähmung zum erstenmal unter der Regie Max Reinhardts im Deutschen Theater aufgeführt. Nach der Premiere treffen sich der fünfzigjährige Theaterkritiker Friedrich Zopf und der fünfundzwanzigjährige Theaterkritiker Gustav Adolf Wild im Café Zum gestiefelten Kater.) - Zopf: Scheußlich! - Wild: Herrlich! - Zopf: Scheußlich - skandalös - grauenvoll! - Wild: Herrlich - glänzend - wundervoll! - Zopf: Unerhörte Frechheit! - Wild: Unerhörte Kühnheit! - Zopf: Kollege Silbermann hat das Theater nach dem zweiten Akt unter Protest verlassen. - Wild: Ja, ich weiß. Und man hörte von den höchsten Stufen auf einmal eine Stimme rufen: ,Blödsinn, du siegst!' - Zopf: In diesem Theater scheint es das Schicksal der Klassiker zu sein, ausgezischt zu werden: Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist, Grillparzer - sie alle . - Wild: Und in diesem Theater werden die Blumenthal, Kadelburg, Lindau, Fulda nicht beklatscht, weil sie nicht gespielt werden. Dafür erleben die ausgezischten Klassiker mehrere hundert Aufführungen. - Zopf: Aber diese neueste ,Tat' setzt allem die Krone auf - eine Tempelschändung! - Wild: Eine Genieleistung ersten Ranges! - Zopf: Diesen Professor Reinhardt gelüstet es nach herostratischem Ruhm. - Wild: Dieser Reinhardt ist ein Napoleon der Regie. - Zopf: Aber diesmal hat er sein Rußland gefunden. - Wild: Diesmal hat er eine Orgie der Phantasie gefeiert. - Zopf: Na, dann nennen Sie es schon eine augustische Phantasieorgie. Wobei es Ihnen überlassen bleibt, ob Sie das Adjektiv von Augustus oder dem August im Zirkus ableiten wollen. - Wild: Gewiß, ich leugne nicht, daß viel Zirkus mit unterlief. - Zopf: Euphemist! Es war die von den Berliner Schauspielern für den nächsten Monat geplante Zirkusvorstellung. Nur mit dem Unterschied, daß der Schauplatz nicht die Manege, sondern das Deutsche Theater war. Das Deutsche Theater!! - Wild: Ich kann darin kein Verbrechen sehn. Brahm hat doch auch den Nestroy . - Zopf: Aber Shakespeare sollte zu gut sein, um als Vorwand für Purzelbäume, Bauchrutschen, Exzentrik-Exerzitien und Clownspäße zu gelten. - Wild: Vergessen Sie nicht, daß der Clown auf Shakespeares Bühne eine ganz andere Rolle gespielt hat. Denken Sie an altbritischen Humor! Da ging es wohl noch toller her als bei Reinhardt. Die Rolle der Katharina wurde damals doch von einem Manne dargestellt. - Zopf: Und wie hat der Dichter trotzdem den Charakter des Weibes vertieft und veredelt! - Wild: Finden Sie? Sie wollen doch dieses rohe Stück nicht retten? - Zopf: Es ist die in Deutschland beliebteste Komödie Shakespeares. - Wild: Für Reinhardt kein Grund, wenn etwas tausendmal vor ihm gemacht worden ist, es zum tausendhundertsten Mal nicht auf seine Manier vorzutragen. - Zopf: Originalitätshascherei! - Wild: Nun, den Reichtum der Phantasie müssen Sie doch anerkennen. - Zopf: Mätzchenmacherei! Sucht, um jeden Preis aufzufallen! - Wild: Aber es ist doch unendlich viel leichter, eine abgeleierte Sache auf die alte Art zu spielen. - Zopf: Wollen Sie mir einmal sagen, worin - abgesehn von dem Schnickschnack - das Neue lag? - Wild: In der konsequent durchgeführten Fiktion, daß dieser zweifelhafte Scherz von einer wandernden Truppe einem beschwipsten Kesselflicker vorgemimt wird. - Zopf: Wobei der Kesselflicker, nach bewährtem Reinhardtschem Rezept, die Hauptsache wird und die Zähmung der Widerspenstigen unter den Tisch fällt. - Wild: Halten Sie das für einen so großen Verlust? - Zopf: Immerhin - die Komödie heißt doch nicht Der betrunkene Kesselflicker. - Wild: Aber das prachtvolle Vorspiel, an dem man wirklich die Klaue des Löwen spürt, ist vielleicht lebendiger geblieben und sagt den Zeitgenossen mehr als das brutale Spiel selbst, dessen Gewaltkur modernem Geschmack unerträglich ist. - Zopf: Und trotzdem werden Sie nicht leugnen können, daß der Dichter auch hier seine rohe Vorlage vermenschlicht, ja geradezu humanisiert hat. - Wild: Mit Verlaub, das ist eine literarhistorische Phrase. Vermenschlicht, vielleicht für seine aristokratischen Zuhörer, aber nicht mehr für uns im Zeitalter der nach Gleichberechtigung strebenden Frau. - Zopf: Doch es stammt von Shakespeare und sollte schon aus diesem Grunde heilig sein. - Wild: Pietät am falschen Ort. Wir leben drei Jahrhunderte später. Wir leben. Und der Lebende hat recht. Überdies war Shakespeare ein so ausgesprochen praktischer Theatermensch, daß er sicher an dieser schlagenden Darstellung . - Zopf: Sie meinen: Purzelbäume schlagenden . - Wild: . seine helle Freude gehabt hätte. - Zopf: Würde sich im Grabe herumdrehen. Und dieses Sakrileg wird der erste Nagel zu Max Reinhardts Sarge sein. Seine Beresina. Schon bricht der Gerichtstag an. - Wild: Und dann, was wäre gewonnen? Ohne Reinhardt ist das Berliner Theaterleben eine graue Monotonie. Er bringt Abwechslung, Farbe, Fasching hinein. Wenn er nicht existierte, verdiente er erfunden zu werden. - Zopf: Wenn er so erfindet, verdient er nicht zu existieren. Sie werden sehen, daß ihm das Publikum diesmal nicht auf den Leim geht. - Wild: Das Publikum? Ich wette, es wird in Scharen hinströmen. - Zopf: Warten wir morgen früh die Zeitungen ab. - Wild: Sie werden sich streiten, und der tertius gaudens wird Reinhardt sein. - Zopf: Gute Nacht, Herr Kollege. - Wild: Gute Nacht, Herr Zopf."

Berliner Theater. NZZ, 27. Dezember 1909, Zweites Abendblatt, Nr. 358.
Julius Meier-Graefe, Adam und Eva (Hebbel-Theater, 18.12.09). - ",Ich bin ein Dichter, aber ich habe kein Talent', sagt ein komischer Kauz von Kunsthändler in Julius Meier-Graefes Drama Adam und Eva. Er hat Talent, aber er ist kein Dichter, wird man nach diesem auf den Brettern des Hebbel-Theaters absolvierten Debut von dem bekannten Kunstschriftsteller sagen müssen. Und die Diagnose wird keinen Kenner seiner Persönlichkeit überraschen: denn wo so viel heller Kunstverstand, da ist für die dumpfe dichterische Begabung schwerlich Raum. Der Zweck der Übung wird also nicht recht ersichtlich. Wenn sich Meier-Graefe, was man immerhin annehmen könnte, ein Erlebnis von der Seele schreiben wollte, so war entweder das Erlebnis oder seine Seele nicht stark genug oder, wahrscheinlicher noch, seine Fähigkeit, zu objektivieren. - Sein Drama ist eine Etude über das Thema ,Kunst und Leben'. Unnötig zu sagen, daß die Betrachtungen über die Kunst bei ihm durchaus überzeugend klingen. Es ist kein Verdienst, sondern eine selbstverständliche Frucht seines Berufes. Warum sollte ein Mann, der sein halbes Leben in Ateliers oder vor Bildern verbringt, die Sprache des Metiers nicht auch in Dialogform reproduzieren können? Ich vermag darin nichts Besonderes zu sehen. Doch wo das Leben mit seinen unerbittlichen Realitäten einsetzt, schiebt er gewissermaßen eine Staffelei vor, hinter der man sich bequem verstecken kann. Und wo er seinen Gestalten Leben, starkes, blutrotes Leben einhauchen müßte, wickelt er sie in eine weiche, blasse Phrasenschicht. - Anfangs scheint er sagen zu wollen: die Kunst ist unendlich wichtiger als das Leben. Der gewesene Offizier Fritz Lassen wird sich bei seinem Maltalent schon durchsetzen. Ausharren - darauf kommt es an. Die Zähne zusammenbeißen. Noch rücksichtsloser als das rücksichtslose Leben sich seine Kreise nicht stören lassen. Durch! Weg mit den kleinlichen Sorgen des Alltags. Ein paar tausend Mark Schulden: Lumperei. Nur nicht sich von solchen Lappalien unterkriegen lassen. Auch eine launische Frau darf dem ringenden Künstler nicht die Laune verderben. Dafür hat er an dem Kritiker Karl Jäger einen - Meier-Graefe, einen Freund, der nicht nur an ihn glaubt, sondern ihn auch lanciert. Mehr noch: der ihm sogar Geld vorstreckt. Mehr noch: der sich bereit erklärt, diese hemmende Frau, die sich ihm hingegeben, zu heiraten, einmal um so das Unrecht, das er an dem Freunde begangen, aus der Welt zu schaffen, und dann, damit der Künstler unangefochten weiter arbeiten kann. Die Kunst ist unendlich wichtiger als das Leben ... - Enter das Leben. Als die Frau des Malers den Kritiker mit einem Modell überrascht, als sie merkt, daß sie ihm nur so viel ist wie irgend eine andere, gesteht sie im Jähzorn ihrem Manne alles. Rechenschaft zu fordern, geht er zu seinem besten Freund. Die Auseinandersetzung der beiden Männer gipfelt in der Erkenntnis, daß das Leben doch gewisse Probleme bietet, denen auch mit den gewähltesten Worten nicht beizukommen ist. Sollte das Leben am Ende doch wichtiger sein als die Kunst? Noch ehe sie sich darüber schlüssig geworden sind, trifft die Nachricht ein, daß sich das Weibchen erschossen hat. - Sie lebt noch gerade lang genug, um die beiden Männer an ihr Sterbelager treten zu sehen - rechts den Gatten, links den Freund. Und während sie ihre letzten Atemzüge tut, erledigen die Freunde nebenan im Atelier den Fall theoretisch. Die Kunst wird dem Maler über seinen Schmerz hinweghelfen; der Schmerz wird seine Kunst adeln: fortan wird ihn das Bild der Entschlafenen zu Madonnen inspirieren. Allerlei tiefsinnige Sprüche steigen aus der Tiefe auf, denen just in diesem Augenblick die Überzeugungskraft fehlt, weil es ihrem Präger an dichterischer Zeugungskraft gebricht. Selten hat man eine abstraktere, in eitlem Kunstschwatz befangenere Threnodie vernommen. Ist nun die Kunst wichtiger als das Leben? . - Einmal erhebt die Situation den Verfasser zu ihrer Höhe: in der Abrechnungsszene der beiden Männer, wo man bei aller Verhaltenheit einen dramatischen Hauch spürt; während des ganzen dritten Aktes erhebt sich Meier-Graefe jedoch nicht zur Höhe der Situation. Hier vermag er einfach nicht das gegebene Niveau zu wahren und läßt seine dünnen Menschen ihre Blutarmut hinter einer Mauer von tönenden Worten verbergen. Eine eigene Physiognomie hat nur der Kritiker gewonnen, während der Künstler als Schemen dahinschleicht. Die Episoden sind in einer flotten Manier heruntergestrichelt, unauffällig, ohne Sonderzüge. - Was war der Zweck der Übung? Einst wird man Meier-Graefes Grabschrift eine Zeile hinzufügen müssen, die von seinem Drama Adam und Eva Notiz nimmt. Sie wird (ungefähr) so lauten: ,Er hat den Böcklin jäh entthront, / den Marées nach Gebühr belohnt, / Velasquez in den Sand gestreckt / und Greco für den Markt entdeckt; / hat manchen großen Meister vernichtet / und selbst ein kleines Drama gedichtet, / als welches Adam und Eva hieß - / es war ein verlorenes Paradies.'"

Berliner Theater. NZZ, 29. Dezember 1909, Drittes Morgenblatt, Nr. 360.
Hermann Bahr, Das Konzert (Lessing-Theater, 23.12.09). - "Hermann Bahrs Lustspiel Das Konzert brachte es im Lessing-Theater zu einem ungewöhnlichen Heiterkeitserfolg. Kammermusik ist dieses Konzert wohl nicht, eher Salonmusik; aber auch der feinere Geschmack kann sich daran delektieren. Alle verheirateten Frauen, die über die Flitterwochen hinaus sind, werden (aus Selbsterhaltungstrieb) für dieses amüsante Werk schwärmen; man müsse verheiratet sein, meinten sie mit Mona-Lisa-Lächeln, um seine Vorzüge ganz verstehen zu können. Aber wenn dies der Preis ist, den Bahr fordert, so finde ich ihn ein bißchen hoch, und ich will gerne auf die letzten Feinheiten des Konzerts verzichten, wenn sie sich nur dem Wissenden offenbaren. - Das Konzert ist der Vorwand, unter dem ein von den Frauen vergötterter Pianist gelegentlich für einige Tage in Begleitung einer Schönen verschwindet. Seine eigene Frau kennt diese Eskapaden längst, ohne ihnen indes besonderes Gewicht beizulegen; denn sie weiß, wenn er sich ausgetobt hat, kehrt er in seinen ehelichen Stall zurück. Außerdem kommt der Meister allmählich in die Jahre, wo von seiner Leidenschaft nichts mehr zu fürchten ist, wo er das bewegte Liebesspiel mehr aus Eitelkeit und Berechnung als aus Veranlagung treibt. Eigentlich sind ihm die überspannten Frauenzimmer, die ihn anhimmeln, recht gleichgültig, und er würde sich lieber in seinen Mußestunden behaglich auf dem Sofa ausstrecken, als ihren Launen dienen. Aber sein Beruf verlangt von ihm solche Opfer: will er sich als Künstler behaupten, so muß auch sein Privatleben die Öffentlichkeit beschäftigen (diese Art von Klappern gehört bei ihm zum Handwerk), und in dem Augenblick, wo seine Triumphe bei den Frauen nachlassen, würde auch seine faszinierende Wirkung auf das Publikum eine merkliche Einbuße erleiden. Sein Ruf als schöner Mann muß ihm erhalten bleiben. - Nun hat er einmal wieder eine Konzertreise unternommen, hinauf in die Berge, wo er ein Lustschlößchen sein eigen nennt. Mit der Frau eines andern. Dieser andere wird durch ein anonymes Telegramm - es stammt von einer Konkurrentin der glücklichen Erkorenen - über die seinem häuslichen Frieden drohende Gefahr aufgeklärt. Und setzt sich daraufhin mit der Gattin des Meisters in Verbindung. Schnell haben sie ein Intrigenspiel ausgeheckt: sie wollen den Flüchtigen vortäuschen, daß sie mit einer Scheidung völlig einverstanden und selbst zu neuem Bunde bereit sind. Sie folgen also dem Pärchen in seine Bergeinsamkeit. Und natürlich gelingt es ihnen ohne allzu große Mühe, den früheren Zustand wieder herzustellen. Bei dem Gedanken, er könne seine kluge, seine herzenskluge Marie für immer verlieren, sind die ohnehin gemäßigten Gefühle des Meisters für Delphinchen im Nu erkaltet. Dem Mann von fünfzig Jahren kommt mit unabweisbarer Deutlichkeit zum Bewußtsein, daß ihm Marie weit mehr als eine liebe Gewohnheit, daß sie ihm eine harte Notwendigkeit ist. Aber auch Delphine ist, als sich der Meister in seinem schrankenlosen Egoismus enthüllt, rasch kuriert und kehrt nur zu gern in die Arme ihres putzigen Männleins zurück. Bei ihr dürfte es eine Radikalkur sein; beim Meister werden vereinzelte Rückfälle nicht ausbleiben. Aber Frau Marie, die alles verstehende, alles verzeihende, wird auch weitere (unfreiwillige) Seitensprünge ihres Gustav ohne heftige Wallungen des Blutes ertragen; weiß sie doch, daß solche Abenteuer keine ernstliche Gefahr ihres ehelichen Glückes bedeuten. - Nur ein Bedenken wäre gegen die Fabel der Komödie vorzubringen: daß sich eine Frau Marie, eine Frau von ihrer Klugheit, ihrer Güte, ihrem Takt, zu einer so wohlfeilen, etwas frivolen Intrige hergibt. Noch dazu mit einem Menschen, den sie kaum kennt. Leichter wurde es dem Dichter, dies bei ihrem Mitverschwornen glaubhaft zu machen. Da hat Bahr sehr geschickt für seine Zwecke einen Luftikus konstruiert, dem alles zuzutrauen ist, dessen Grundsatz: lieben und lieben lassen lautet. Die konsequente Durchführung der Figur läßt fast vergessen, daß sie ad hoc erfunden ist; aber sie bleibt doch ein Irrlicht neben der Prachtgestalt des Pianisten, der wie Wedekinds ,Kammersänger' anfängt und sich zur Höhe des Pastor Morell in Shaws Candida erhebt. - Wir dürfen uns freuen, daß wir für die Dauer eines Abends auf so lustige Art von einem leichten Geist unterhalten werden, der - nächstens selbst ein Mann von fünfzig Jahren - von den Bohémiens zu den Philistern heimgefunden hat. Aber statt des Gewiehers wäre wohl eher ein Schmunzeln am Platze gewesen; und statt des lauten Geschreis: seht, uns ward ein Lustspieldichter geboren! darf man in aller Ruhe sagen, daß Hermann Bahr diese ein klein wenig billige Frucht mühelos vom Baume seiner Ehekenntnis gebrochen hat. - Die Aufführung des Lessing-Theaters war etwas geräuschvoller, als es sonst in diesem stillen Hause der Brauch ist, in den Einzelleistungen allerdings vorzüglich. Else Lehmann konnte der überlegenen Frau so viele köstliche Mütterlichkeit aus dem Quickborn ihrer Natur spenden, daß ihr Instrumentalkammersänger (Emanuel Reicher) neben ihr wie ein großes Kind erschien, obwohl gerade diese Seite des Charakters in seiner Darstellung zu kurz kam. Und Hilda Herterich, von Hause aus zu herberen und derberen Wesen veranlagt, war ein ganz allerliebstes Schusselchen."

Berliner Theater. Strandkinder. Ein Schauspiel in vier Akten von Hermann Sudermann. (Erste Aufführung im Königlichen Schauspielhaus zu Berlin am 21. Dezember.) NZZ, 6. Januar 1910, Zweites Abendblatt, Nr. 5.
"Einer der besten Kenner des Theatermechanismus, der selige [Francisque] Sarcey, war der Ansicht, es genüge, den Inhalt gewisser Dramen nachzuerzählen, um sie kritisch zu erschöpfen [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 23.12.09]. - Wilde Fehde herrscht zur Zeit der Deutschordensritter zwischen den Bewohnern von Putzig und der Halbinsel Hela, die in edlem Wettbewerb das Geschäft des Seeraubes treiben. Rynke von Hela, der Schlimmsten einer, ist vor vierzehn Jahren in einer wilden Sturmnacht den Putzigern zum Opfer gefallen. Blutige Rache haben seine beiden Söhne Gregor und Heimeringk geschworen. So manches Schiff haben sie seitdem durch falsche Signalfeuer an ihren Strand gelockt, die Besatzung getötet, die Beute unter sich geteilt und die armen Kinder, die mit ihren rauhen Vätern aufs wilde Meer hinausgezogen, als Hörige heranwachsen lassen. Das sind die ,Strandkinder', Stiefkinder des Schicksals, heimatlose Waisen, Geknechtete, Unterdrückte, Enterbte, Heloten, Sklaven; doch auf dem Grunde ihrer trotzigen Seelen rumoren wilde Rachgefühle gegen ihre Peiniger, zumal gegen die ostpreußischen Quitzows des Meeres. - Unter ihnen befindet sich auch ein zarteres Geschöpf, ein feineres Wesen, die milde Melide, der es gegeben ist, die Aufrührerischen durch die Kunst des Liedes zu beschwichtigen. Sie nimmt eine bevorzugte Stellung ein, darf den unvermählten Rynkesöhnen die Wirtschaft führen, waltet als züchtige Magd auf ihrem Hofe und trägt längst eine stille Liebe zu dem milderen Herrn Heimeringk Rynkesohn im Herzen. Alle Strandkinder sind ihr in unverbrüchlicher Treue zugetan; sie würden für die Gurli-Enkelin [Gurli: Name des populären Naturkindes in Kotzebues Indianer in England (1790)], die Base Rautendeleins [Elfengestalt in Gerhart Hauptmanns Die versunkene Glocke], die Schicksalsschwester des Kleistschen Käthchens, durchs Feuer gehen. Man ahnt: kommen wird der Tag, an dem sie ihrer Hilfe bedarf. - Und wieder zieht eine wilde Sturmnacht herauf. Und der wildeste Putziger segelt auf das tobende Meer hinaus, um Beute zu machen, und wird durch ein falsches Leuchtfeuer an den Strand von Hela getrieben. Es ist just der, welcher vor vierzehn Jahren den Rynke erschlagen. Nun trifft ihn das gleiche Los von der Hand des wilden Rynkesohnes. Doch des Getöteten Tochter, die nicht minder wilde Brigolla (man beachte die sonoren Namen!), erhebt Klage wegen Mordes bei den Ordensrittern in Danzig. Gregor Rynke wird vorgeladen, und der bloße Anblick der ,Falknerstochter' erschüttert ihn bis in seines Wesens tiefste Tiefen. Was sich haßt, ist auf den ersten Blick in heißer Lieb' entbrannt. - Und der Komtur, ein Greis von erstaunlichem common-sense, kommt mit der Klägerin auf den Hof der Rynkesöhne, um Gericht zu halten. Anfangs leugnen sie alles; doch als Brigolla sie mit wilden Worten reizt, räumt der ältere das Verbrechen ein. Ein Mord ist den andern wert. Der Komtur steht betroffen. Was tun, um die Blutfehde aus der Welt zu schaffen? Er ist nicht nur ein weiser Richter, sondern auch ein humoriger Mensch (unleugbar die einzige Gestalt des Dramas mit individuellen Ansätzen). Damit das Böse nicht fortzeugend Böses gebäre, entscheidet er, einer der Rynkesöhne solle die Rachwütige heuren; welcher, das mögen sie unter sich ausmachen. Betroffen stehen die beiden Brüder. Furchtbarer Kampf, wer die Braut heimführt. Der ältere erklärt sich außer stande, weil er die Teufelin im Grunde liebt (Sudermannsche Paprika-Psychologie; künstliches Hinausschieben der Eruption!). So muß sich denn der jüngere opfern, obwohl er von dem Strandkind Melide geliebt wird. Ein Theatraliker wildester Observanz hat die Fäden übers Kreuz geschlungen. Wie wird er es anstellen, daß was sich liebt, schließlich doch noch zusammenkommt? Ruhig Blut, er wird alles zum Guten fügen; laßt ihn nur gewähren! - Brigolla zieht als Herrin ein auf den Hof der Rynkesöhne. Mißhandelt das Aschenbrödel Melide und spottet ihres geduckten Gemahls. Im stillen wühlt die verzehrende Liebe zu ihrem aus demselben Holze geschnitzten Schwager weiter. Als sie ihre erste Auseinandersetzung mit ihm hat wegen Herausgabe der Leiche ihres Vaters, legen sie zwar ein Beil zwischen sich, aber über das Beil hinweg, durch allen Haß hindurch lodert siegreich die Leidenschaft hoch; und ehe sie wissen, wie ihnen geschah, liegen sie sich in den Armen und beißen sich die Lippen wund. Ha! Jetzt muß der milde Bruder beseitigt werden, damit das wilde Paar sich angehören kann. Es trifft sich besonders gut, daß er gerade vor den Komtur nach Danzig zitiert wird. Wenn man dem Heimkehrenden ein falsches Fanal sendete! Allein die Liebe wacht. Melide wittert den Frevel. Während die Treulosen auf dem Heidenhügel am Werke sind, die Spur des Seefahrers abzulenken, läßt Melide von ihren getreuen Strandkindern den richtigen Holzstoß in Brand setzen. Er weist Herrn Heimeringk den Weg. Das wilde Liebespaar hat sich unterdessen auf die wild wogenden Wellen gewagt und springt, selig umschlungen, mit trunkenem Schrei in den Tod. Haha! Heimeringk dankt der Magd das Leben und kann ihr zum Lohne für so viel Aufopferung verkünden, daß sie eine Fürstentochter ist. Somit kann der zum Ordensritter Avancierte eine Ebenbürtige ehelichen. Und frei erklärt er alle seine Knechte ... - Ein merkwürdiges Gemisch von Langeweile und Knalleffekten; von öden Strecken und Explosionen. Nach einem umständlichen Expositionsakt, den der Techniker Sudermann früher mit ganz anderer Verve herauszuschleudern vermochte, kommt die Handlung erst langsam in Gang, ist aber trotz Explosionen nicht imstande, auch nur das rohstoffliche Interesse festzuhalten. Warum nicht? Weil sie nicht durch innere Notwendigkeit, durch die Existenzbedingungen der Charaktere weiter geschoben wird; sondern rein äußerlich reiht sich Geschehnis an Geschehnis. Dramatik auf der untersten Stufe oder Theatralik. Eine gewisse Erfindung steckt wenigstens in dem Motiv der Heirat wider Willen, der Heirat auf höheren Befehl. Das gibt immerhin eine überraschende Situation und eröffnet Entwicklungsmöglichkeiten, die leider völlig ungenützt vorüberstreichen. Sie werden alsbald vom Theatercoup abgelöst, und hierin leistet unser Dichter, selbst für seine Verhältnisse, Erkleckliches. Es scheint, als ob er Wildenbruchs Erbe antreten wolle. Nicht nur die Rynkesöhne erinnern an die Brüder Quitzow [Die Quitzows (1888)], sondern auch die Falknerstochter hat den Habitus der Rabensteinerin [Die Rabensteinerin (1907)]. Aber Wildenbruch hätte niemals versäumt, das patriotische Register zu ziehen, hätte zum mindesten die Kulturmission des Ritterordens in schwungvollen Worten ad majorem patriae gloriam gepriesen oder sonst irgendwelche ethischen Werte in die Kraftmeierei zu wirken getrachtet. Nichts dergleichen bei Sudermann. Er beschränkt sich auf wilde Menschen in einer wilden Zeit, wobei er uns nur, mit wahrhaft rührender Selbstgenügsamkeit, das Menschentum schuldig geblieben ist. - Man will ihn nicht scharf anpacken. Er ist nun ein Zweiundfünfziger und sieht noch mit eignen Augen, wie sein Ruhm zu Grabe getragen wird. Aber wie ein Mann in vorgerückterem Alter, der eine Position zu verteidigen hat, der im Glashause der öffentlichen Anerkennung sitzt, einfach Steine werfen kann, daß die Scheiben klirren; wie er das Bedürfnis fühlen kann, einen Gartenlaube-Roman ältesten Kalibers auf die Szene zu bringen, bleibt psychologisch fast ein Rätsel. Heutige Leser von Familienblättern würden sich schwerlich so grobes Geschütz bieten lassen; drohte doch selbst das dramatische Familienblattpublikum des königlichen Schauspielhauses ungemütlich zu werden. Wenn nichts andres, sollten die Jahre einem Schriftsteller Pflichten gegen sich selbst auferlegen - höhere Pflichten, als daß er einen mäßigen Operntext kaltlächelnd der Schaubühne ausliefert. Oder wollte er für die Umkehrung eines Satzes von Beaumarchais eintreten: daß man das, was zu dumm ist gesungen zu werden, spreche?" - Vgl. auch MMs Theaterkritik in der NZZ vom 23.12.09.

Berliner Theater. NZZ, 16. Januar 1910, Drittes Blatt, Nr. 15.
Rücktritt der Direktoren des Friedrich Wilhelmstädtischen Theaters und des Hebbel-Theaters; August von Kotzebue, Wirrwarr (Hebbel-Theater, 12.01.10). - "Wir stehn in einer Zeit der Theaterkrisen. Unmittelbar nacheinander sind zwei Direktoren gestürzt: der des Friedrich Wilhelmstädtischen Theaters im Norden und der des Hebbel-Theaters im Süden. - Die nördliche Bühne hat fast nur lokales Interesse. Sie trägt ausgesprochenen Peripetiecharakter. Zu bescheidenen Preisen werden hier dem Kleinbürger, jener breiten Volksschicht, die man in angelsächsichen Ländern als die lower middle-class bezeichnet, recht anständige Vorstellungen geboten. Die bewährten Stücke siedeln, nachdem ihre Anziehungskraft auf die Bemittelteren verbraucht, dorthin über. Gelegentlich hat man den Ehrgeiz, den Stammgästen etwas Neues vorzusetzen; dann geht ein krasser Außenseiter über die Bahn, um den Favoriten nach den obligaten drei Runden das Feld wieder zu überlassen. - Dem Hebbel-Theater dagegen verstand sein erster Leiter, Dr. Eugen Robert, in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Stellung zu geben und, was schwieriger war, diese Stellung zu behaupten. Er fing mit einer mißlungenen Verbeugung vor dem Namenspatron des Hauses an [am 29.01.08: s. MMs Theaterkritik vom 04.02.08] und wandte sich darauf, von keinem Rückfall bedroht, energisch der Pflege der Modernen zu. Sein Repertoire hielt sich - nehmt alles nur in allem - auf respektabler Höhe. Frau Warrens Gewerbe brachte den ersten klingenden Erfolg, der wohl der einzige geblieben sein dürfte. Desselben Shaw Liebhaber und des Dänen Michaelis Revolutionshochzeit kamen immerhin noch auf eine stattliche Anzahl von Aufführungen, während Freksas Ninon de l'Enclos und Schönherrs Erde verpufften. Aber von vornherein hatte das junge Unternehmen mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Schon vor der Eröffnung starb ihm sein genialer Regisseur, Richard Vallentin, und die Geldsorgen wollten nicht aufhören. Schließlich mußte Herr Robert aufhören, weil er seine Gläubiger nicht mehr befriedigen konnte. Momentan haben die ersten männlichen Kräfte des Hauses die Herrschaft annektiert, bis ein neuer Regent eingesetzt ist. Wer es auch sein mag: er wird es nicht leicht haben; denn der Bankrott ist in Berlin erfahrungsgemäß ein dauerhafter Mieter, und wo er einmal Quartier bezogen hat, entwickelt er sich bald zum genius loci. - Die Leidtragenden sind die Schauspieler. Es kann einem wirklich leid tun um das tüchtige Personal. An seiner Spitze standen die Damen Rosa Bertens und Maria Mayer, die Herren Nissen, Otto, Kayßler. Doch am meisten hervorgetreten ist Ida Roland, deren Wesen, eine Mischung von Intellektualismus und Sensualität, nicht jedermanns Geschmack zusagt. Daß sie sich überraschend entwickelt hat, kann niemand leugnen: bei Reinhardt spielte sie, vor wenigen Jahren noch, keine Rolle und kleine Rollen; bei Robert war sie la maîtresse de maison. Nun, wenn der Herzog fällt, muß der Mantel nach, könnte man ein Schiller-Zitat variieren [Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, V. xvi: ,Nun, wenn der Purpur fällt, muß auch der Herzog nach!']. Allzuviele Tränen dürften beiden nicht nachgeweint werden. - Jetzt spielen die Hinterbliebenen, solange das Interregnum währt, auf Teilung. Wir möchten ihnen glänzende Geschäfte wünschen; aber wir fürchten, sie waren nicht gut beraten, als sie sich für Kotzebues Posse Der Wirrwarr entschieden. Nach dem Skandal [von Henri Bataille: s. MMs Besprechung vom 28.10.09] kommt der Wirrwarr an die Reihe, ließen sie durch die Zeitungen mit Galgenhumor mitteilen. Eine Posse, die gewiß das Entzücken unsrer anspruchsloseren Ahnen bildete, bei den Enkeln jedoch nur noch ein Gränchen Heiterkeit und eine reiche Ration Müdigkeit weckt. Dieser Kotzebue, der Prügelknabe unsrer Literarhistoriker, der bestgehaßte Mann des klassischen Zeitalters, hatte selbst in einem schwächeren Werk für ein halbes Dutzend moderner Lustspieldichter Talent. Man sollte es endlich unterlassen, auf ihm herumzuhacken, weil er den Publikumsgeschmack besser zu treffen verstand als die Dioskuren und die Plejade der Romantiker. Ohne ihn und den verwandten Iffland hätten die Schauspielhäuser einfach leer gestanden, und wer weiß, ob wir heut über eine so reiche Theaterkultur verfügten, wenn diese beiden nicht die gangbaren Stücke geliefert hätten. (Daß er nebenbei ein sehr bedenklicher Charakter war, steht auf einem andern Blatt.) Trotzdem finden wir heute natürlich, daß er ein wenig einschläfernd auf uns wirkt. Seine Figuren, durchaus im Typischen haftend, reden zwar unsre Sprache, sagen uns aber nichts mehr. Das ist eben das Schicksal der Possenautoren: sie zahlen der Zeit sehr schnell ihren Zoll. Wenn man einen Kadelburg in hundert Jahren einmal ausgraben sollte, was mir keineswegs sicher scheint, wird er den Vergleich mit Kotzebue schwerlich aushalten können. Wobei allerdings zu berücksichtigen bleibt, daß das Lebenstempo ein viel, viel rascheres geworden ist. - Die Schauspieler des Hebbel-Theaters, durch Shaw und andere Skeptiker erzogen und für solche Aufgaben verdorben, übten selbst Kritik an ihren Rollen, weil sie fühlten, daß ihnen diese naive Lustigkeit nicht mehr zu Gebote steht, weil sie verlernt haben, harmlos heiter zu sein. Und so glaubten sie, den alten Kotzebue schmackhafter zu machen, indem sie ihn parodistisch nahmen. Aber man soll Reisbrei in Milch nicht mit Mostrich würzen. Für derartige leichte Kost muß man die Leichtigkeit des Gemüts haben; sonst läßt man besser die Finger davon. - Es tut mir leid um die guten Kräfte des Hebbel-Theaters; denn was bei der Teilung der Einnahme des Wirrwarrs am dritten Abend herauskommen mag, dürfte zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel sein. Aber wenn ich Theaterdirektor wäre, ich wüßte, wen ich mir von dieser zur Zeit herrenlosen Bühne zu holen hätte. Ein Theater weniger in Berlin, das schadet nichts (ein halbes Dutzend könnte ruhig von der Bildfläche verschwinden); doch jeder Künstler, der etwas Besonderes ist oder kann, soll uns erhalten bleiben."

Berliner Theater. NZZ, 23. Januar 1910, Drittes Blatt, Nr. 22.
André Rivoire, Der gute König Dagobert (Deutsches Theater, 19.01.10). - "Frankreich, Frankreich über alles in der dramaturgschen Welt! heißt es seit einiger Zeit wieder auf dem rechten Ufer des Rheins. Auch die Pariser Halberfolge scheinen uns, bei der Mißernte im eigenen Lande, nicht erspart zu bleiben. Also gab man im Deutschen Theater Le bon roi Dagobert von André Rivoire; ,für die deutsche Bühne übersetzt und bearbeitet' (warum nicht kürzer: deutsch?) von Felix Salten, dem Wiener Tausendsassa, der vorhandener Musik einen neuen Text unterschieben und, trotz Hebbels Warnruf, da weiter dichten kann, wo ein anderer aufgehört hat. Alexandrinerreime winken; es lockt der Bräutigam die Braut; wenn sie sich in die Arme sinken, ei! klappert da das Reimwort laut. - Dieser Operettentext ohne Musik hat keine französischen Sondermerkmale. Die fabulöse Fabel könnte von unserm Max Dreyer ersonnen sein (Hochzeitsfackel, Tal der Liebe [richtig: Tal des Lebens], so in dem Genre [vgl. MMs Kritiken in der NZZ vom 29.12.06 und 27.02.08]); die spitzige Sprache dürfte von unserm Ludwig Fulda stammen. An einer sehr markanten Stelle, wenn die Königin ihrem Gemahl sein Lieblingslied singen soll und die Sklavin es singt, konnte man sich sogar an Grillparzers Medea erinnert fühlen (,Jason, ich weiß ein Lied'), zumal auch sonst der literarisch parodistische Einschlag nicht fehlt. Französisch durchaus mutet nur die Schlußpointe an: daß der König die geliebte Sklavin zum Throne erhebt und die ihm rechtens angetraute Gattin, die sich ihm bei Nacht bisher verweigert hat, nach Hause schickt. Nicht das Politische, der demokratische Zug, scheint hieran französisch, sondern die chevalereske Gesinnung: daß die Geliebte triumphiert; ,l'amour de ma mie', wie es schon bei Molière im Misanthropen heißt, übertrifft alles. Wenn der Schlußakt, wie die Kundigen versichern, auf das Konto Saltens käme, so hätte er wirklich das Kunststück fertig gebracht, da weiter zu dichten, wo ein anderer aufgehört hat, und somit Hebbels Wort widerlegt. - Die Königin allerdings muß es als unmöglich erkennen, da weiter zu lieben, wo eine andere aufgehört hat. Zuerst versagt sie sich dem launenhaften König, weil sie nur widerwillig diese Heirat eingegangen und daheim einen Liebsten hat. Sie läßt daher von einer gedungenen Wahrsagerin dem König den Tod androhen, wenn er seine Gemahlin umfängt - eine Voraussetzung, die ebenso umständlich und gezwungen und selbst im Bezirk des Märchens hanebüchen ist. Zum Glück findet sich eine Sklavin, die sich bereit erklärt, die Stellvertreterin der Königin im Brautgemach zu spielen, weil sie den König wahrhaft liebt. Natürlich wird dadurch die Eifersucht der Königin geweckt, und in der dritten Nacht will sie selbst den ihr zukommenden Platz einnehmen. Doch der König merkt den Betrug, als er ein Schlummerlied von ihr zu hören begehrt, mit dem sie ihn an den früheren Abenden erfreut hatte. Die Sklavin als die Königin der Liebe erhält die Krone, und die Königin als eine Stümperin der Liebe muß mit leeren Händen abziehen. - Lohnte es, die Anstrengung gereimter Alexandriner an das burleske Spiel zu wenden? War es der Mühe wert, diesen Importartikel, der bei uns nicht schlechter fabriziert wird, im Deutschen Theater zur Aufführung zu bringen? Der Erfolg gab jedenfalls den Bemühungen nicht recht; denn das Publikum fühlte sich nur zu hohlem Höflichkeitsbeifall animiert. Man spürte übrigens - wie nicht selten an dieser Stätte, wenn das Urteil über ein Werk sozusagen vor der Verhandlung schon feststeht -, daß auch hinter den Kulissen nicht allzuviel Stimmung für die Sache vorhanden war, die nur mit halbem Eifer durchgefochten wurde. Die Schauspieler waren nicht ganz sattelfest, wie Herr Walden, oder peinlich unzureichend, wie Frau Bassermann, deren Sprechtechnik heillos im Argen liegt, und nur Frau Durieux, die alles kann, vermochte gelegentlich darüber hinwegzutäuschen, daß sie etwas ganz anderes darstellte, als sie vorzustellen hatte. Diese Sitte, mit den Rollen zu spielen, statt sie zu spielen, bürgert sich in Berlin immer mehr ein; man hält es offenbar für besonders witzig, den Zuschauer empfinden zu lassen, daß hier eigentlich eine falsche Besetzung vorliegt. In solcher Lage helfen sich die Künstler mit parodistischer Übertreibung; sie üben Kritik in ihrer Rolle. Aber ich sehe nicht ein, warum sie dem Kritiker einen Teil seiner Aufgabe abnehmen wollen. Auch im Dekorativen herrscht bei Reinhardt für solche mit Offenbach liebäugelnden Stücke ein Ton parodistischer oder karikaturistischer Übertreibung vor. Der sehr begabte Maler Ernst Stern liefert jedesmal den szenischen Rahmen. Immer weht dieselbe Flagge: das Sternenbanner. Es ergeht einem damit wie mit einem Bonmot: einmal hört man es mit Genuß: wiederholt es sich zu oft, so weckt es nur Verdruß."

Berliner Theater. NZZ, 26. Januar 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 25.
Herbert Eulenberg, Der natürliche Vater (Kammerspiele, 21.01.10). - "Nach der Aufführung von Herbert Eulenbergs vorletztem dramatischem Werke standen hier die folgenden Sätze: ,Dreimal hat der rheinische Naturbursche seinen ungepflegten Tenor in Berlin hören lassen; dreimal haben wir uns redlich bemüht, die Vorzüge seiner Stimme zu entdecken. Was nützt es, wenn einer von der Natur ein schönes Organ empfangen hat und es nicht gebrauchen lernt! Immer wieder treten Eulenbergs Mängel so stark hervor, daß man seiner ursprünglichen Begabung nicht froh zu werden vermag. Sie zeigt sich im Sprachlichen am echtesten. Da fällt ihm hin und wieder eine wirklich originale Wendung ein, ein Bild von poetischer Schlagkraft, eine kühne Metapher von fast Shakespeareschem Format. Er reckt sich und greift nach dem Sternenhimmel. Gleich darauf folgt aber eine erschreckende Trivialität. Er strauchelt und fällt in den Straßenschmutz. Sternenhimmel - Straßenschmutz; Originalität - Vulgarität: das sind die beiden Pole, zwischen denen dieser Bühnenschriftsteller haltlos pendelt.' - Wort für Wort trifft das auf sein ,bürgerliches Lustspiel' Der natürliche Vater zu und wird, fürchte ich, in alle Ewigkeit auf ihn Anwendung finden. Er lernt nicht Maß halten. Die Stilunsicherheit, das hervorstechendste Merkmal des Dilettanten, scheint seine unzertrennliche Begleiterin! Vielleicht rekelt er sich hier noch ungebärdiger, weil er romantischen Grund und Boden unter den Füßen spürt. Er schüttet eine Pandorabüchse von Schrullen und Eigenwilligkeiten aus. Die Handlung irrlichteliert, wie bei Tieck und Brentano, im Zickzackkurs, von keinem dramatischen Gesetz, einzig von der Willkür bewegt. Ab und zu leuchtet wohl in dem Sprachengemenge ein unverbrauchtes, treffsicheres Bild auf, an einer Stelle strahlt durch das Dunkel ein dichterischer Edelstein (in der Wette des Liebespaares, wer von ihnen unglücklicher sei) - aber genügt das wirklich, die dramatische Begabung eines Menschen zu legitimieren? Es käme mir gerade so vor, als wollte ich einen, der wie toll auf dem Klavier herumphantasiert und alle zehn Minuten einen schönen Ton anschlägt oder auch einmal ein Melodienfetzchen aufflattern läßt, einen Komponisten nennen. - Schon der Titel dieses bürgerlichen Lustspiels (die Etikettierung ist blague) muß die Menge befremden; sie wird, ohne an die euphemistische Analogie des ,natürlichen Kindes' zu denken, sich auf die vorherrschende Bedeutung des Wortes berufen und den ,natürlichen' Vater einigermaßen unnatürlich finden. Denn er läßt nach kurzer Ehe Weib und Kind im Stich, treibt sich in fernen Ländern herum, kommt nach zwanzig Jahren zurück, nicht von der Sehnsucht nach seiner Familie gelockt - eine neue, ganz unsentimentale Spielart der in der Weltliteratur häufigen Gestalt des heimkehrenden Gatten, deren populärste Verkörperung Tennysons Enoch Arden ist -, will sich mit einem blutjungen, blutarmen Mädchen verbinden, das im letzten Augenblick sein Jawort zurückzieht, begegnet dann seinem Sohn, ohne daß sich die Stimme des Blutes in ihm regt, und findet in diesem Sohn einen bevorzugten Mitbewerber um die Hand Beatens. Erst im vierten Akt (eine dramaturgische Ungeheuerlichkeit!) taucht die Frau des Durchbrenners auf, und als er von ihr erfährt, daß sie in seiner Abwesenheit die Scheidung vollzogen, jubelt er über die wiedergewonnene goldene Freiheit - derselbe Mann, der sie unmittelbar vorher einem zweiten Ehebund opfern wollte. In einer unerklärlichen Anwandlung von Edelmut bezahlt der Unstete die Schulden des armen Kindes, das schleunigst seinen Sohn heiraten mußte, pfeift wie der Rattenfänger von Hameln den Nagetieren und verduftet. - So dünn die Komödie stofflich geraten ist, so üppig wuchert das Rankenwerk. Aus der Hexenküche der Romantiker hat Herbert Eulenberg seine Ableger bezogen, und der skurrile Humor E.T.A. Hoffmanns spukt mehr als einmal durch das dämonische Düster. Nur ein Dichter konnte den unheimlichen Gesellen im trüben Schein der Gasthofslaterne mit seinem eigenen Schatten tanzen lassen. Solcher fahler Dämmerbilder huschen etliche vorüber, und ganz wie im romantischen Revier fehlt es auch nicht an fratzenhafter Verzerrung. Aber ich habe doch gelinde Zweifel, ob diese Tonart der Ausfluß von Eulenbergs wahrer Natur ist, ob sie nicht mehr seinem stark entwickelten Anlehnungsbedürfnis entspringt. - Der ruhige Bürger, der sich an die Brocken hält und den Brocken verschmäht, griff zur Wehr und zischte den schüchternen Beifall weniger Hände, die sich in den Kammerspielen regten, robust nieder. Und doch wollen wir die Hoffnung nicht begraben; denn wo Funken sind, kann es auch einmal Feuer geben. Aber Eulenberg schicke endlich sein ungezügeltes Talent in die Schule, deren er nicht spotten kann, wenn es ihm ernstlich darum zu tun ist, etwas anderes als Spott beim Publikum zu ernten." - Eulenbergs Lustspiel wurde nur zweimal aufgeführt.

Berliner Theater. NZZ, 28. Januar 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 27.
Julius Magnussen u. Paul Sarauw, Der große Tote (Neues Schauspielhaus, 22.01.10). - "Wenn das lustige Trauerspiel Der große Tote wirklich, wie der Zettel angibt, von den beiden Dänen Julius Magnussen und Paul Sarauw stammt und nicht von dem betriebsamen Übersetzer A. Halbert, der auch die gesinnungsverwandte, gleichfalls von einer Doppelfirma gezeugte Komödie Per Bunkes Vorgeschichten verdeutscht hat [s. MMs Theaterkritik vom 13.10.09], dann muß etwas faul sein im Staate Dänemark. Denn - seltsames Zusammentreffen! - in beiden Stücken [er]nähren sich Personen treu und redlich von Erpressungen, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die von einer unanständigen Sache nicht das geringste Aufsehen macht. Per Bunke ließ sich mit klingender Münze bezahlen, daß er reinen Mund hielt, und konnte noch obendrein den Biedermann hervorkehren, als ob das in Dänemark so an der Tagesordnung wäre. Hier fällt, obwohl das Delikt beständig geübt wird, nicht einmal das Wort Erpressung. Wie der eine aus der Gemeinheit des andern seelenvergnügt Kapital schlägt, das ist zu einer imposanten Skala gesteigert. Zunächst tun sich die Frau des Verstorbenen und ihr Liebhaber zusammen, um den Nachruhm des in Afrika verschollenen Dichters auszubeuten, und als der tot Geglaubte, vom Fieber stark verändert, heimkehrt, erkennen sie ihn nicht an, um ihres sichern Gewinnes nicht verlustig zu gehen. Sobald der Freund des vermeintlich Toten das schwarze Komplott durchschaut, beansprucht er für seine Person die Einnahme aus dem Cederlund-Museum, wenn er schweigt. Sobald die Freundin des vermeintlich Toten, die ihre Gunst auf den Freund übertragen, Mitwisserin des Geheimnisses wird, will sie diesen nur unter der Bedingung heiraten, daß ihr der Ertrag des Museums zugute kommt. Und schließlich verschwindet Cederlund selbst vom Schauplatz mit dem Vorbehalt, daß ihm die Gelder zufließen. Eine schöne Gesellschaft! Das Merkwürdige ist: nicht daß uns solche Subjekte vorgeführt werden, sondern daß sie gar kein Gefühl für die Anrüchigkeit ihres Treibens haben. Es hat den Anschein, als müßte es so sein, als wär' es unnatürlich, wenn es anders wäre. Sollten im Lande des Dänenprinzen die Menschen, deren angeborene Farbe der Entschließung nicht von des Gewissens Blässe angekränkelt ist, wirklich so faul sein? - Doch das ist nur ein ethnologischer Zug in diesem ,lustigen Trauerspiel', dessen Stoff schon mehrfach in Deutschland bearbeitet wurde. Am feinsten in Jakob Wassermanns Skizze Hockenjos [vgl. MMs Theaterkritik vom 17.11.11], bühnengewandt im Nachruhm von Robert Misch. Die Handlung baut sich auf dem Gedanken auf, daß ein Dichter erst gestorben sein müsse, um zu der ihm gebührenden Anerkennung zu gelangen; er selbst, der dann plötzlich aus der Versenkung auftaucht, ist am meisten über die mutatio rerum erstaunt und sieht ein, daß es das Klügste ist, sich unter den gegebenen Verhältnissen möglichst schnell aus dem Staube zu machen. Nun ja, die Großen dieser Erde sind bei Lebzeiten vielfach verkannt und erst nach dem Tode ihrer Bedeutung entsprechend geschätzt worden. Aber es gehört eine gesegnete Dosis Dreistigkeit dazu, uns vorzureden, irgendein Blödian, der zufällig Verse schrieb, der patriotische Dramen verfaßte, die selbst von dem Nationaltheater als ,absolut ungeeignet' zurückgewiesen wurden, der nebenher oder im Hauptberuf trank, sich außerehelich betätigte und sich Hörner aufsetzen ließ - ein solcher Literaturgimpel und -Simpel brauche nur zu sterben, um von der Nachwelt verehrt zu werden. Aus dieser gewagten oder fast schon verwegenen Prämisse haben die oder der Verfasser nach Kräften die komischen Konsequenzen gezogen. Es fehlt nicht an einigen erheiternden Situationen. So ist es ein ganz feiner Zug, daß der Biograph des Dichters in seinem Privatleben besser Bescheid wissen soll als der Dichter selber; auch das geht noch an, daß der Sohn den Vater an der Art, wie er ihn zu knuffen pflegte, wiedererkennt. Aber die verborgene Tragik bleibt ungehoben; der Spaß wird auf die Spitze getrieben und grenzt schließlich an Gefühlsroheit. Daß der große Tote als Irrsinniger verhaftet wird, ist schon eine peinliche Zumutung; daß er einen ganzen Akt dazu braucht, seine Identität nachzuweisen, ist eine unmögliche, nur von dem Bedürfnis nach einer abendfüllenden Komödie diktierte Zumutung. - Das Publikum des Neuen Schauspielhauses schien sich leidlich zu unterhalten, ahnungslos, daß es selbst in letztem Betrachte die Zielscheibe des Spottes bildete. Die Kenner sahen sich einem ergiebigen Stoffe gegenüber, dessen derbe Behandlung ihrem Geschmack auf die Dauer nicht zusagte, und sahen eine Darstellung, die, mehr laut als überzeugend, von der jetzt ziemlich allgemein herrschenden Stilunsicherheit ergriffen war."

Berliner Theater. NZZ, 1. Februar 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 31.
F. Holm [Helene Gräfin v. Leiningen], Der Philosoph von Sanssouci (Neues Theater, 28.01.10). - "Am Abend des Kaisers Geburtstag wurde im Neuen Theater das patriotische Schaukelpferd geritten in Gestalt eines vieraktigen ,Zeitbildes' Der Philosoph von Sans-Souci, dessen hinter dem Pseudonym F[rithjof] Holm versteckter Verfasser sich als die Gräfin Leiningen [geb. 1865] entpuppte. Von Anbeginn hatte man eine Luise Mühlbach [vielgelesene Unterhaltungsschriftstellerin (1814-1873)] in Verdacht, und war daher nur überrascht, eine Luise von Mühlbach zu finden. Nach dem zweiten Akt, als der große Friedrich höchst eigenhändig die Flöte angesetzt hatte, um in einem des Metropoltheaters würdigen lebenden Bilde mitzuwirken, erschien die Dichterin, von aufmunterndem Beifall gerufen, mit Anstand und Würde auf der Bühne. Sie trug einen rosa Hut zu einem blauen Kleide (es kann aber auch ein blauer Hut zu einem rosa Kleide gewesen sein); jedenfalls durften die Farben - wer sah im Geiste nicht die Schärpen holdseliger Mädchen auf einem Sommerausflug? - als symbolisch für die Seele der Luise rediviva gelten. - Man muß es Direktor Schmieden hoch anrechnen, daß er in der schweren Not der Zeit einen Sommerausflug in vaterländische Gefilde unternimmt. Patriotismus ist ein Luxusartikel - ob man nun die Zimmer eines Schlosses vom Dekorationsmaler reproduzieren läßt oder seine Fenster mit Wachskerzen illuminiert. Jetzt haben aber auch (wie ein Lakai sagen würde) die höchsten und allerhöchsten Herrschaften (wie Friedrich der Große gesagt haben würde) die verfluchte Schuldigkeit, das Neue Theater mit ihrem Besuche zu beehren. Alle Kriegervereine der Mark Brandenburg müßten es als ein nobile officium betrachten, sich vollzählig einzufinden. Sämtliche Regimenter der Garnison Berlin müßten diesen patriotischen Anschauungsunterricht genießen. Alle Schüler und Schülerinnen der höhern Lehranstalten bis zum Alter von fünfzehn Jahren (die Volksschüler zählen nicht, weil sie nicht zahlen) müßten hingeführt werden. Sie würden vieles, was ihnen schon aus der Geschichtsstunde bekannt ist, freudestrahlend wiederfinden: daß die Pompadour - Gott strafe sie! - gegen den großen Friedrich gemein intrigiert hat und ihn isolieren wollte; daß Voltaire, des Königs Gast und Freund, ein Lump war; daß der alte Fritz einen Krückstock trug, die Schnupftabaksdose fleißig benutzte, und jeden Nachmittag im Schlosse zu Sanssouci ein Konzert veranstaltete; daß er die berühmten Ausdrücke tat: ,In meinem Staate kann jeder nach seiner Fasson selig werden' und ,Gazetten müssen nicht geniert werden'. - Immerhin bliebe einem gewissenhaften Schulvorsteher noch einiges zu erklären. Er müßte den Kindern den Begriff der poetischen Freiheit auseinandersetzen, die sich etwa darin äußert, daß der König mit seiner ausgesprochenen Vorliebe für die französische Literatur plötzlich die Ankunft deutscher Klassiker prophezeit. Müßte ihnen beibringen, daß es nicht angeht, Voltaire einen Mann mit ,selten scharfem' Verstande zu nennen, weil das für jeden Menschen mit Sprachgefühl genau das Gegenteil von dem bedeutet, was es bedeuten soll; daß es schon aus historischen Gründen nicht angeht, weil der falsche Gebrauch des Adverbs selten in der Bedeutung von ,außerordentlich' eine verwerfliche moderne Erfindung ist. Und etliches dieser Art. - . Der Kritiker schlief den halben Abend den Schlaf des Gerechten und ertappte sich in seinen wachen Momenten auf allerhand nichtsnutzigen Gedanken. - Er dachte an den Ausspruch des Kaisers, der unlängst nach einer Aufführung der Sudermannschen Strandkinder [vgl. MMs Besprechung vom 06.01.10] den Dichtern empfahl, ihre Stoffe aus der ruhmreichen vaterländischen Geschichte zu holen. Sollte man nicht lieber, im Interesse der Kunst, Warnungstafeln aufstellen mit der weithin leuchtenden Inschrift: ,Unbefugten ist der Zutritt zu diesem Bauplatz verboten'? - Er dachte darüber nach, daß man eine dramatisierte Geschichtsklitterung, eine dialogisierte Anekdotensammlung schwerlich ein Zeitbild nennen kann. ,Zeitbild' heißt doch nur: ein Bild der gegenwärtigen Zeit. Shakespeare gebrauchte für das, was der Verfasserin vorschwebte, den Ausdruck Historie. - Er dachte ferner daran, daß jeder Autor heutzutage einen neuen dramatischen Gattungsbegriff zu finden bemüht ist. Die alten Marken ,Trauer-, Schau-, Lustspiel' reichen der heutigen Differenziertheit längst nicht mehr aus. Man schafft Unterabteilungen. Vorige Woche erlebten wir ein lustiges Trauerspiel [s. MMs Kritik vom 28.01.10]. In dieser Nomenklatur wäre das vorliegende Werk ein trauriges Schauspiel. - Er dachte auch über den höfischen Brauch nach, vor einem König so lange zu knicksen, bis man glücklich die Tür erreicht hat, und dann rückwärts abzugehn. So verlangt es die Etikette. Da dies aber nicht immer gelingt, muß die in Audienz empfangene Person die Tür mit dem Hinterteil aufstoßen, was unsagbar komisch wirkt. Die Damen zum mindesten sollten endlich mit dem unschönen Brauch brechen, ihre hintere Partie hoch zu ziehen - wie eine Katze, wenn's donnert. - Er dachte weiter über die dilettantenhafte Unsitte nach, große Geister auf die Bühne zu zerren und sie wie kleine Vorstadtintriganten handeln zu lassen. Es sollte nicht gestattet sein. - Als der Kritiker drei Akte aus der Feder der Gräfin Leiningen erduldet hatte, war er am Ende seines Fassungsvermögens angelangt. Er möchte jedoch nicht schließen, ohne die gesinnungstüchtige Dichterin wärmstens für eine Auszeichnung zu empfehlen. - Es ist - wir alle wissen es - ein Verdienst der Krone, daß sie dem Verdienste seine Krone nicht vorenthält."

Berliner Theater. NZZ, 7. Februar 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 37.
Rudolf Lothar u. Robert Saudek, Kavaliere (Hebbel-Theater, 03.02.10). - "Neben mir - im Hebbel-Theater, als Rudolf Lothars und Robert Saudeks Sportkomödie Kavaliere gegeben wurde - saß ein Kommerzienrat, ein königlich preußischer Geheimer sogar, der einen Kollegen auf der Bühne mit den Worten abfertigte: ,Solche Kommerzienräte gibt's ja gar nicht'. Hinter mir saß ein Aristokrat, der an etlichen Stellen seinem Unwillen Luft machte. Vor mir saßen zwei Lebejünglinge, die die Vorgänge des Stückes bald mit einem Schütteln des Kopfes, bald mit opponierendem Lächeln begleiteten. Auch wer keine Standesrücksichten kennt und nicht Sportsmann ist, mußte die dumpfe Empfindung haben, daß in dieser ,Sportkomödie' vieles nicht stimmt. - So dürfte es kaum der Wirklichkeit entsprechen, daß eine Dame vom Vorsitzenden eines feudalen Klubs in Gegenwart männlicher Zeugen vernommen wird. So dürfte es bei der Vereinbarung der Bedingungen eines Duells doch wohl nur in einer tollen Simplizissimus-Schnurre zugehen, wie hier, wo zuerst die Forderungen nicht scharf genug gestellt werden können und dann das Festgesetzte Punkt für Punkt von den Sekundanten widerrufen wird. Eine blutige Farce! In einer Komödie, die Abklatsch der Wirklichkeit sein will, müßte aber alles bis auf den letzten Gamaschenknopf exakt gearbeitet sein. - Die Menschen des Stückes sind nicht das, was sie scheinen. Da ist eine russische Großfürstin Nikotewna, die sich als eine geborne Franke entpuppt. Da ist ein berühmter Jockey John Evans, der eigentlich Benicke heißt. Beide stammen noch obendrein aus Berlin, aus Stadtteilen, wo es noch richtige Berliner gibt. (Nachdem sie die Masken haben fallen lassen, hätten sie ein Couplet auf die Reize Berlins singen sollen, das, je nach Bedarf, lokal variiert werden müßte, so daß das Pärchen in Dresden sächselte, in Ulm schwäbelte, in Hamburg platt spräche.) Und wie es so geht im Leben: gleich und gleich gesellt sich gern. Der Berliner findet sich zur Berlinerin. Der Jockey liebt die Fürstin. Aber er weiß, daß die Liebe für einen Jockey das sichere Verderben ist, und gelobt daher unmittelbar vor Beginn des Rennens, nie wieder ein Pferd zu besteigen. Schnell kauft er das Pferd an, engagiert den frühern Besitzer als Jockey und wird demnächst einen Rennstall halten. Selbstverständlich auch die millionengesegnete Fürstin heiraten. Der Jockey mit dem unwahren Namen ist der wahre Kavalier. - Auch die ,Kavaliere' sind nicht das, was sie scheinen. Sie lassen Pferde laufen, von denen ihnen nur noch ein Drittel gehört. Sie sind Mitglieder des feinsten Klubs und nennen nur noch eine Visitenkarte und ein Taschentuch ihr eigen. Ein silbernes Zigarettenetui schenkt man am besten dem Stalljungen, weil es einem sonst ja doch vom Gerichtsvollzieher gepfändet wird. Aber mit der letzten Visitenkarte erklärt man seinen Austritt aus dem Klub, erwirbt damit die Lizenz zum Reiten, zieht den Dreß an, schwingt sich auf den bereit stehenden Gaul (Leihgebühr 2 Mark pro Abend) und macht das Rennen. - Die Wahl des Milieus, nicht die Ausgestaltung, kommt auf das Pluskonto der Verfasser. Sie haben ein Stück mit interessanten Schauplätzen geschrieben. Der 1. Akt spielt im Speisewagen eines Zuges auf der Fahrt von Frankfurt nach Berlin. (Mäßige Dekoration, aus Leipzig bezogen; Leihgebühr: 15 Mark pro Abend.) Der zweite Akt geht im Jockey-Klub vor sich, und mancher erschauert, daß er einen Blick in diese exklusiven Räume werfen darf. Der dritte Akt endlich führt uns auf den grünen Rasen; profanen Augen wird die Wage enthüllt, die sonst nur Stalleuten und Stallbesitzern sichtbar. Das Stück der interessanten Schauplätze: so wird man diese Kavaliere im Gedächtnis buchen. - Armes Hebbel-Theater, wie rasch bist du gesunken! Unter Roberts Regime wäre die Komödie nicht gespielt, wäre sie gewiß nicht so schlecht gespielt worden. Die Aufführung machte den Eindruck, als ob in der Nähe des Halleschen Tores schon die Provinz anfange. Zwei oder drei nennenswerte Künstler (allen voran Herr Paul Otto, der sich schleunigst nach einem andern Wirkungskreis umsehen sollte), der Rest Schweigen. Wenn die herrenlose Truppe so fortfährt, wird sie sich bald auch noch um den literarischen Kredit gebracht haben. Wer jetzt in der Königgrätzer Straße herrscht, ich weiß es nicht; das eine weiß ich aber: es herrschen dort unhaltbare Zustände."
 
Berliner Theater. Cristinas Heimreise. Komödie von Hugo von Hofmannsthal. (Erste Aufführung im Deutschen Theater am 11. Februar.) NZZ, 16. Februar 1910, Erstes Morgenblatt, Nr. 46.
"Venedig. Ende des 18. Jahrhunderts. Offner Platz, im Hintergrund die Lagune. Mondenschein glänzt auf dem Wasser. Winklige Gäßchen; niedrige Brücke. Grauschwarze, verwitterte Häuser mit Balkon. Gelbseidene Gardinen hängen darüber. Ein kleiner Bub muß aufpassen, daß das Liebesspiel nicht gestört wird. Vor dem Hause einer Courtisane kauert im Düstern, Nüsse knackend, ein malaiischer Mischling, Calibans zahmer Enkel. Drinnen gedämpfter Lichterschein. Ein blutjunges Ding kommt heraus, und der Wildling umschmeichelt es mit Affengeilheit. Gegenüber im Haus verschwindet ein Jüngling, auf verbotenen Liebespfaden wandelnd, mit einer verhüllten Frau. Es ist ein Kommen und Gehen ohn' Unterlaß. Derselbe Schauplatz wie im weichsten Werke des Wieners, Der Abenteurer und die Sängerin. Es ist die heitere Welt Casanovas mit holden Aventüren und ohne die Bleikammern. - Ein andres Bild. Intérieur. Ein italienischer Gasthof. In Ceneda, auf der Straße nach Mestre. Die mürrischen Angestellten werden aus ihrer Ruhe aufgescheucht. Gäste kommen. Plötzlich ist das Haus voll. Ein Hasten und Rennen treppauf, treppab. Die Tafel wird gedeckt. Ein vornehmer Herr kann es nicht fein genug bekommen. Wo er speist, dürfen Blumen und Musik nicht fehlen. Taghell soll der Raum beleuchtet sein. Lichter, immer mehr Lichter. Die Musikanten aus dem Dorf treten an. Fasanen und Champagner werden serviert. Nebenan erklingt ein Lied ... - Im Bildhaften liegen die Reize der Hofmannsthalschen Komödie. Eine wählerische Phantasie hat den graziösen Rahmen komponiert. Es ist, als ob leicht beschwingte Töne die Vorgänge begleiteten. Gavotte oder Menuett. Man denkt an Shakespeares Komödienwelt: Courtisane; Caliban; Kapitän - Was Ihr wollt. Man denkt (mit mehr Berechtigung) an Hofmannsthals früheres Spiel, eh' er sich zu den Blutorgien Elektras verstieg. Aber da hat er die Melodie festgehalten; die eigne Melodie. Hier gibt er reichlich Kapellmeistermusik, und es sind nicht immer Meister, bei denen er sich Anleihen gestattet. - Cristinas Heimreise scheint nicht als Drama, sondern als Text einer komischen Oper konzipiert. Der Dichter trug offenbar mehrere Stoffe bei sich und wußte noch nicht, welchen er Richard Strauß übergeben solle. Der Keim hat sich dann zu einer Komödie ausgewachsen. Aber es ist kein natürliches Wachstum, sondern der Schößling wurde umgepflanzt, bis er zu einem Stück von fast vierstündiger Dauer emporschoß. Eine Stilwidrigkeit. Gewisse Kunstformen sind eben an eine gewisse Zeit gebunden. Ein Menuett etwa darf nicht die Ausdehnung einer Sinfonie gewinnen, wenn es nicht um seine beste Wirkung gebracht werden soll. (Diese übermäßige Länge hat dem Werk unbedingt geschadet, und es ist nicht einzusehen, warum der Regisseur Reinhardt das Wort des Dichters wie ein Heiligtum geschont hat, wenn er dem Dramatiker durch einige beherzte Striche wesentlich nützen konnte. Der Schrei nach dem Rotstift sollte auch vor Hofmannsthal nicht verstummen.) - ,Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen', hat unser braver Matthias Claudius gesungen [in ,Urians Reise um die Welt']; die resolute Wirtin Cristina aus Capodiponte drückt das so aus: ,Es widerfährt einem halt allerlei, wenn eins auf Reisen geht.' Sie war in Venedig zu Besuch, um sich einen Bräutigam zu holen. Aber es findet sich keiner. Dafür verlieben sich am Abend vor ihrer Heimreise gleich zwei Männer in sie. Auf den ersten Blick. Der eine ein Kapitän, der viel erlebt hat in fernen Ländern und nun in seinem Heimatort zur Ruhe kommen möchte. Der andre (angeblich) ein Advokatenschreiber, ein Windhund, der im Besitze einer Frau schon nach einer andern verschmachtet und nie zur Ruhe kommen wird, ,der immer auf Reisen sein muß'. Was geschieht? Der Tagedieb verführt Cristina; der Kapitän heiratet sie. Als ob es das Natürlichste von der Welt wäre. Cristina trägt nicht das geringste Bedenken, sich dem Jungen hinzugeben; der Alte trägt nicht das geringste Bedenken, sie deshalb zu seiner Frau zu machen. (Von Hebbel hat der Seebär nie gehört.) - Moralfreies, vorurteilsloses Italien! Was sind das für Menschen, die so denken und handeln können, die mit freier Stirn, von keiner Reu' ergriffen, des Brauches und der Sitte spottend, sprechen: ,Die Leute sind dort, und ich bin hier'? Des Brauches spottend . wirklich? Wir werden sehen. - ,Ist denn Heiraten gar so was Schönes?' tröstet sich die ohne Mann von Venedig abziehende Cristina. Und sie setzt wie ihre Berufsgenossin Josepha bei - Gott verzeih mir die Sünde! - bei Oscar Blumenthal [Im weißen Rößl (1898)] hinzu: ,Die mich hätten haben wollen, die haben mir nicht gepaßt, und dir mir gepaßt hätten -' (hier bringt sie, wahrscheinlich sich ihrer Quelle schämend, eine diskrete Aposiopese an. Sollte etwa der Gasthof der Locandiera in Capodiponte Cavallino bianco heißen [Blumenthals Titel, ins Italienische übersetzt]?). Diese herbe, gerade gewachsene Jungfrau findet nichts Besonderes darin, ,wenn man nichts als unschuldig ist'. Und gibt sich daher mit Leib und Seele dem ersten Mann, der ihr über den Weg gelaufen kommt, dem ersten, den sie liebt, hin. Schön; sie hat das mit sich auszumachen. Aber sie wird uns nie im Leben einreden, daß damit die Sache für sie erledigt ist. Sollte der Erste, dem eine Frau mit vollem Bewußtsein ihre Liebe geschenkt, wirklich so geringen Eindruck bei ihr hinterlassen? ,Was tut der Mann mir Böses? Der hat mir nichts weggenommen. Nie hat dem nichts gehört!' Sie flunkert ein bißchen, die treuherzige Cristina; sie flunkert, um ein Loblied auf den heiligen Ehestand singen zu können, recht im Gegensatz zu ihrer früher geäußerten Ansicht: ,Gut ist die Ehe. In ihr ist alles geheiligt. Das ist kein leeres Wort. Das ist die Wahrheit.' Aber wenn das Wahrheit ist, Cristina, mußtest du erst deine Jungfernschaft opfern, um zu diesem letzten Schluß deiner Weisheit zu gelangen? Und willst du uns allen Ernstes glauben machen, daß du die alte Teerjacke mit Freuden gegen den heißen Springinsfeld eintauschst? - Nein, es ist eine Stillosigkeit, daß diese italienische Komödie so gut deutsch bürgerlich in den Hafen der Ehe einläuft. Nachdem sie sich [in] eine heitere, moralfreie Luft erhoben, sinkt sie zum Schluß auf das moralgefestigte Niveau einer Hofbühne herab. (Die Prinzessin August Wilhelm [i.e. Prinzessin Alexandra Viktoria von Schleswig-Holstein], die schon nach dem ersten Bilde das Theater verließ, wäre doch besser bis zum Ende geblieben.) Blumenthal hätte es nicht anständiger wenden, hätte das Stück nicht versöhnlicher ausklingen lassen können als mit einem Schwur der Treue. Aber selten hat man eine absurdere Szene gesehen als die Auseinandersetzung dreier Menschen, die miteinander abzurechnen hätten und sich allerlei Gutes für die weitere Lebensreise wünschen. - Florindo, der Liebhaber, ist die liebenswürdigste Gestalt der Komödie, die vom Dichter das volle Maß seiner Liebe empfangen hat. ,Die dich erhört, die ist schon betrogen. Aber die dich hat, der ist wohl,' sagt eine verflossene Geliebte von ihm. Nicht weniger als neun Frauenzimmer waren oder sind ihm gewogen. Er ist unwiderstehlich, für die Küchenmagd sowohl wie für die Gräfin. Aber er versteht auch das Handwerk und weiß den Augenblick zu nutzen. ,Eine Stunde - sechzig Minuten. Sechzig Abgründe unsagbarer Seligkeit.' Nur dagegen muß sich Widerspruch regen, wenn er behauptet, es seien uns fünfzehn, wenns hoch kommt, zwanzig Jahre gegeben, die Frauen auszukosten. Seltsam, wie neuerdings die Liebefähigkeit des Mannes von deutschen Dichtern unterschätzt wird! Hoffentlich reden sie nicht aus eigener Erfahrung so. - Der Kapitän Tomaso, ein Fünfziger, der eine Junge freit, könnte seinen Schöpfer eines besseren belehren. Im übrigen ist die Figur nicht gerade mit markanten individuellen Zügen ausgestattet. Ein Weitgereister, der heimfindet; mit sentimentalen Anwandlungen. Einer, der fest auf dieser Erde steht, als Kontrast zu dem flatternden Florindo. Die breite Brust, an der Cristina Zuflucht sucht. - Sein Begleiter, der getaufte Malaie Pedro, vertritt das komische Element. Als adriatischer Raisoneur glossiert er die Vorgänge. In einem Kauderwelsch von mäßigem sprachschöpferischem Gepräge. Wenn die Gestalt trotzdem ein originales Gesicht erhielt, so war es vorzüglich das Verdienst des Schauspielers Schildkraut, der mit eigner Phantasie die dünnen Umrisse kräftig nachzeichnete. - Wie denn überhaupt die Aufführung des Deutschen Theaters dem Werke sehr zu Hilfe kam. Im Anfang besonders spürte man Max Reinhardts karessierende Hand, die das Tempo des Spiels aufs glücklichste abgestimmt hatte; später allerdings vermochte sie das Allegro nicht durchzuhalten und schlug ein gemächliches Andante an, das nicht energisch genug über die weniger belebten Strecken der Komödie hinwegglitt. Die Hauptrollen wurden durchaus ins Plastische übertragen. Else Heims hatte die Erscheinung und die gesunde Natur der Cristina; sie brauchte sich nur zu geben, wie sie ist, um ein entzückendes Wesen zu geben. Was Alexander Moissis äußere Erscheinung etwa dem Idealbilde des sieghaften Verführers schuldig bleibt, das macht dieser begnadete Sprachsänger mit dem Wohllaut der Stimme, und er berauschte nicht nur seine Opfer mit dem feurigen Wein seiner Worte, sondern auch sich selbst an den Lyrismen, die ihm der Dichter in den Mund legt. In der Nebenrolle eines mißvergnügten Hausknechts schuf Victor Arnold aus eigener Machtvollkommenheit ein lebensvolles Gebilde, von dem im Buche nur ein schwacher Schatten sichtbar wird. - An der Darstellung lag es also gewiß nicht, daß Cristinas Heimreise beim Publikum sehr gemischte Empfindungen weckte. Beifall und Opposition lieferten eine Schlacht; mehr als ein stark bestrittener Erfolg ist nicht zu melden. Soll sich das Werk halten, so müßte es, seinem heiteren Charakter entsprechend um die Dauer einer vollen Stunde gekürzt werden. Dann würde sich zeigen, ob die Handlung kräftig genug ist, das Interesse für sich in Anspruch zu nehmen, oder aber ob die in manchem Betrachte kostbaren Details allein den Reiz der barock gebauten Komödie ausmachen." - Cristinas Heimreise wurde lediglich fünfmal aufgeführt.

Berliner Theater. NZZ, 19. Februar 1910, Erstes Morgenblatt, Nr. 49.
Franz Molnár, Der Herr Verteidiger (Neues Schauspielhaus, 15.02.10). - "Auch die Kriminalkomödie, an sich eine entartete literarische Spezies, entartet; ist beim Schwank angelangt. Titel: Der Herr Verteidiger; Urheber: Franz Molnár, gebürtig aus Ungarn, einmal vorbestraft (Der Teufel [1907]); Strafkammer: Neues Schauspielhaus; Vorsitzender: sein Direktor Alfred Halm, der sich zu einer freien Bearbeitung bekannte; Verteidiger: der beliebte Schauspieler Harry Walden, für solche leichtere Fälle unschätzbar, bei Kapitalverbrechen mitunter fehl am Ort; Ergebnis: der Angeklagte und sein Komplice wurden unter dem Beifall des amüsierten Publikums freigesprochen. - Soll man rasch die Entwicklung der Kriminalkomödie aufzeichnen? - 1. der triumphierende Detektiv. So bei Conan Doyle. Sein Sherlock Holmes das Muster aller Gerissenheit. Diebe sind schlau, Detektive schlauer. Geistiges Ringen zwischen den beiden; der Dieb zieht den kürzeren. Moral: ,das Auge des Gesetzes wacht'. - 2. der triumphierende Verbrecher. Wie erklären sich alle die ungesühnten Kriminalfälle? Detektive sind schlau, Diebe schlauer. Fabelhafte Vervollkommnung ihrer Technik; chevalereskes Auftreten; teilweise edle Motive (Unterstützung der Armen). Dagegen sind Detektive nur Subalternbeamte; ihr Witz langt nicht. Satirischer Einschlag. - Raffles der Gentlemaneinbrecher war englischen Ursprungs, Arsène Lupin der Hochstaplerherzog eine französische Kopie. Sie kämpfen nicht mehr, spielen nur noch mit dem geistig inferioren Gegner. Nimbus des Verbrechertums; Verspottung des Beamtentums. - Molnár siedelt die Handlung im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten an, was so viel besagen will, daß er unbegrenzte Möglichkeiten bietet. Sein Detektiv (Merkmal des Verfalls!) ist zur Puppe herabgesunken; er läßt alles mit sich geschehen, was dem Verbrecher beliebt. Er ist überhaupt kein Gegenspieler mehr. Aber dadurch wird nun und nimmer die Genialität des Diebes bewiesen. Zweiter Hauptmangel: die Handlung setzt streckenweise aus; es gibt sogar tote Partien. Doch Spannung ist die Seele des Kriminalstücks. Wehe, wenn Leitungsstörungen eintreten. Am schlimmsten macht sich dies Übel im Schlußakt fühlbar, dem es nicht gelingen will, von seiner Existenzberechtigung zu überzeugen. - Tim Boots gehört, wie Raffles und Arsène Lupin, zur Gattung der anständigen Diebe. Neu ist an ihm die Sentimentalität. Er hat die schöne Maud geliebt und verhilft ihrem Hohlkopf von Gatten, einem ehrgeizigen Rechtsanwalt, zu einer glänzenden Praxis. Teils durch Klientenschacher, teils dadurch, daß er ihm achtmal Gelegenheit gibt, für seine eigene Freisprechung zu plädieren. Alles aus Liebe zur Frau, über deren Treue er eifervoll wacht. Nachdem er sein Geheimnis verraten und wiederholt beteuert hat, daß er ein Genie, aber kein Lump, zieht er sich auf einen andern Schauplatz zurück, wo er als Justizminister lohnende Beschäftigung finden wird. - Wenn die Kriminalkomödie noch tiefer sinken sollte, wird man sich bald schämen müssen, daß man für diese Gattung einmal etwas übrig hatte."

Berliner Theater. NZZ, 25. Februar 1910, Drittes Abendblatt, Nr. 55.
Melchior Lengyel, Taifun (Berliner Theater, 19.02.10). - "Ein neuer Mann: Melchior Lengyel aus Ungarn, dessen Schauspiel Taifun das Publikum des Berliner Theaters mächtig packte. Ob er ein Dichter ist, läßt sich noch nicht sagen; daß er starke dramatische Qualitäten besitzt, steht fest. Nationale Züge findet man nicht bei den importierten Ungarn der Bühne, im Gegensatz zu den ungarischen Musikern; dafür läßt sich ihnen die internationale Geschicklichkeit nicht absprechen. Herr Franz Molnár kam neulich (Der Herr Verteidiger) mit amerikanischem Milieu und amerikanischem Witz; diesen Taifun könnte ein Amerikaner so gut wie ein Franzose, ein Däne so gut wie ein Engländer oder auch ein handfester Deutscher geschrieben haben. Das europäische Theater wird eines Tages mit Herrn Lengyel zu rechnen haben. - Gutes Theater sind die beiden ersten Akte seines Schauspiels, weniger gutes die beiden letzten. Als Gesamteindruck wird man einen zivilisierten Reißer konstatieren können. Vielleicht fällt unser Urteil um einige Teilstriche günstiger aus, weil wir die vom Autor gewählte japanische Welt nicht genügend kontrollieren können. Er operiert mit den Begriffen und Vorstellungen, die sich der bessere Europäer von Nipon gebildet hat; ob er uns nicht ein X für ein U vormacht, wer will es entscheiden? - Ein junger japanischer Gelehrter hat in Paris ein wichtiges wissenschaftliches Werk zu schreiben. Es ist seine Mission, die ihm ebenso am Herzen liegt wie seinen Landsleuten und die ohne ersichtlichen Grund in mystisches Dunkel gehüllt ist. Neben seiner Mission hat der fleißige Dr. Tokeramo aber auch eine Missie oder, da wir in Frankreich sind, eine Maitresse. Dieses Mädel ist eine Kanaille. Untreu, verlogen, heimtückisch, hysterisch. Sie quält ihren kleinen gelben Freund bis aufs Blut, möchte ihn zu ihrem willenlosen Sklaven erniedrigen und ihn ganz in ihre Gewalt bekommen. Als er sie deswegen auf die Straße setzen will, zeigt sie ihm mit frecher Deutlichkeit ihr wahres Gesicht. In einem Wutanfall erdrosselt er die Bestie. Wie ein Taifun ist die Leidenschaft über die geruhige, heitere Seele des Japaners gebraust; sobald sie ausgetobt, besinnt er sich wieder auf seine Arbeit. Was wird nun aus ihr werden? Damit er sie, zum Ruhme des Vaterlandes, vollenden kann, erklären sich seine rasch zum Kriegsrat zusammenberufenen Freunde bereit, die Tat auf sich zu nehmen. Ein edler Wettstreit entbrennt zwischen ihnen, bis der Jüngste zum Märtyrer erkoren wird. (Schon diese Vorspiegelung eines falschen Tatmenschen geht nicht ohne gewagte Tricks ab: der Diener Tokeramos, der während des Mordes in der Wohnung war - warum? er hätte sich unter irgendeinem Vorwand wegschicken lassen -, muß schleunigst von einem andern Japaner zum dreifachen Lohn engagiert werden und am nächsten Tag bereits die Reise nach Asien antreten, damit sein Zeugnis vor Gericht nicht auf die richtige Spur lenke.) - Immerhin, diese beiden ersten Akte sind bis auf etliche leicht zu beseitigende Längen von einer sichern Hand gebaut, wirksam gesteigert und auch in der Charakteristik der Personen durchaus annehmbar. Die Szene, in der alle für einen einstehn und der jugendliche Held mit leuchtenden Augen vortritt, um sich als Opfer anzubieten, hat sogar für den egoistischen Europäer etwas Bezwingendes. - Dann wird die Sache zwar nicht minder theatralisch, aber minder glaubwürdig. Der Gerichtsakt mit seiner farcenhaften Prozeßführung muß selbst dem Laien ein Lächeln entlocken, denn mit der Vorsicht einer Katze gehn die Herren Juristen um den heißen Brei und an den wichtigen Fragen vorüber. Erst ganz zum Schluß gibt Lengyel der Verhandlung eine geschickte Wendung. Als nämlich die Zweifel an der Echtheit des Täters nicht mehr abzuweisen sind und der wahre Mörder sich als Schuldigen bekannt hat, erklärt ein alter Japaner mit feiner List, es sei bei ihnen des Landes Brauch, daß sich ein Unschuldiger opfere. Auf diese Weise wird der Falsche ins Gefängnis geschickt. - Elegisch klingt der letzte Akt aus. Tokeramo findet wohl die Kraft, sein Werk im Dienste des Vaterlandes zu beenden, aber nicht den Mut, ein neues Leben zu beginnen. Er geht an dem Mädel, dessen Tod er nicht verwinden kann, zugrunde. Ein gnädiger Herzschlag befreit ihn von seinen Seelenqualen. Eben hat ihm der alte Freund von einem Taifun erzählt, der in ihrer Heimat gewütet und die Häuser dort wie Kartenhäuser umgeblasen. Aber neue Häuser werden gebaut werden, setzt er hinzu, und neue Menschen werden sie beziehen. Was ist an dem Leben des einzelnen gelegen! Die Hauptsache bleibt: sein Erdenwerk ist erfüllt. Der Gelbe hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen. Blumen der Heimat decken seinen Leib, weiße Blumen, Chrysanthemen ... - Ein Theatraliker aus Ungarn läßt diese japanische Fabel in Paris spielen. Die Geschehnisse interessieren mehr als die Gestalten. Seelisch wird die Oberfläche nur gekräuselt. Diese fremden Menschen, könnte jemand einwenden, tragen eben eine undurchdringliche Maske; aber schönster Beruf des Dramatikers (und zugleich seiner Aufgabe schwererer Teil) ist: nicht die Maske vorzubinden, sondern sie zu lüften. Und wichtiger als die Charakteristik der Rasse dünkt uns die psychologische Offenbarung des Individuums. - Der literarische Gewinn des Stückes ist unbeträchtlich, doch es hinterläßt eine überaus dankbare Rolle, die der Schauspieler Karl Clewing virtuos durchführte. Er ist von allen jüngern Kräften der Berliner Bühnen heute der vielseitigste Könner, und immer, als Held der Tragödie wie als Possenprinz, macht er glänzende Figur; aber in so vielen Verwandlungen wir ihn auch schon gesehen haben, seine Seele ist er uns noch schuldig geblieben. Neben diesem Künstler wirkten zwei so verboten unzulängliche Darstellerinnen, daß den Bewohnern von Treuenbrietzen schwerlich gefallen würde, was sich Berlin gefallen läßt."
 
Berliner Theater. NZZ, 4. März 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 62.
Wilhelm Schmidtbonn, Hilfe! Ein Kind ist vom Himmel gefallen (Kammerspiele, 28.02.10). - "Hilfe! Ein Kind ist vom Himmel gefallen nennt Wilhelm Schmidtbonn mit marktschreierischem Pathos oder mit der Sensationssucht einer amerikanischen head-line eine Tragikomödie, die in den Kammerspielen des Deutschen Theaters unter diskreten Äußerungen des Hohnlachens begraben wurde. In keinem andern Berliner Theater wäre dieses den Spott des geistig intakten Zuschauers herausfordernde Werk so glimpflich behandelt worden. Ein totgeborenes Kind ist ins Grab gesunken. [Es gab insgesamt nur 2 Aufführungen.] . - Am gleichen Orte scheiterte neulich Herbert Eulenberg, als er romantisch-phantastische Fetzen auf einen Stoff aus der bürgerlichen Lustspielsphäre aufnähte (Der natürliche Vater) [s.o. NZZ vom 26.01.10, Nr. 25]. Er wollte uns Moselwein aus einem Totenschädel trinken lassen. Immerhin, hier wäre noch eine Möglichkeit der Amalgamierung gewesen, wenn der Dichter mit sicherem Stilgefühl die heterogenen Elemente zusammengeschweißt hätte. Bei Schmidtbonn scheint nicht einmal die Möglichkeit mehr vorzuliegen. Es ist so, als wollte er einen Gebirgsbach im Danaidenfaß einfangen. ,Du kannst doch aus der Welt kein Märchen machen', wird seiner unnatürlichen Tochter entgegengehalten, worauf sie aus reiner Freude an der Antithese erwidert: ,Dann vielleicht aus dem Märchen eine Welt'. Der gleiche Vorwurf trifft den Dichter: er glaubte einen kraß realistischen Stoff ins Märchenreich hinüberspielen zu können, ohne sich im mindesten über das Gesetz der stofflichen Gebundenheit klar zu werden. In seinem dramatischen Erstling (Mutter Landstraße) [s.o. NZZ vom 21.03.04, Nr. 81] hat er einen ähnlichen Versuch unternommen; schon damals ohne volles Gelingen. Wenn er trotzdem eine gewisse Wirkung erzielte, so lag es daran, daß dort eine neue und starke Melodie erklang. Sie ist auch hier unverkennbar, und dem kühnen Wollen, von der brutalen Realität loszukommen, in die lindere Luft des Volksliedes aufzusteigen, soll die Anerkennung nicht geweigert werden. Nur ein Poet hat den Mut zu solcher Verstiegenheit - aber ein Poet mit einem bedauerlichen Mangel an Stilgefühl. Wie anders hat Heinrich v. Kleist ein verwandtes Thema angepackt, mit welcher Meisterschaft hat er es bewältigt! Es ist die Novelle der Marquise von O. - Ein Einbrecher klettert nachts in das Schlafzimmer der jungen Tochter des Hauses, vergreift sich aber nicht an den Kassenscheinen, sondern an dem Mädchen selbst. Daß sie dieses nächtliche Erlebnis, ihr erstes auf diesem Gebiete, nicht am andern Morgen ihren Eltern erzählt, ist kaum glaubhaft, selbst wenn man die weibliche Schamhaftigkeit als Grund ihres Schweigens gelten läßt. Endlich, als sich schon die Folgen bemerklich machen, vertraut sich Maria ihrer Mutter an, und der von einer längeren Reise zurückgekehrte Vater erfährt erst nach der Geburt des Kindes davon. Er will sogleich den Bastard aus dem Hause schaffen, stößt jedoch bei seiner in den Wonnen der Mutterschaft schwelgenden Tochter auf heftigsten Widerstand. Daß sie ihr Kind nicht hergeben will, ist reinste Natur; daß die Vergewaltigte aber den Vater ihres Kindes vor ihrem Vater verteidigt, scheint mir in Anbetracht der Umstände - es handelt sich um eine wohlerzogene junge Dame und um einen Dieb - die barste Unnatur. Sollte wirklich weibliches Schamgefühl einer solchen Perversion fähig sein? Sollte den Dichter nicht eher, sehr zu seinem Schaden, die Goethesche Ballade ,Vor Gericht' verblendet haben: ,Mit wem ich mich traute, das sag' ich euch nicht. Mein Schatz ist lieb und gut'? Hätte er sich nicht besser, statt Motive des Volksliedes zu benutzen, an das Vorbild der Marquise von O. gehalten, die den Räuber ihrer Ehre, noch dazu einen ebenbürtigen Mann, mit glühendem Haß von sich stößt? Aber Maria Vogelsang bei Schmidtbonn ist ein freiheitslüsternes Vögelchen, das aus seinem goldenen Käfig fort will, und der Wunsch, dem Kinde zu einem rechtmäßigen Vater zu verhelfen, wird ihr zum Vorwand, das Elternhaus zu verlassen. Sie kennt durch einen anonymen Brief den Aufenthaltsort ihres Verführers. Dorthin wendet sie sich. Und bleibt bei ihm in seiner Diebsspekulunke bis nach der Trauung, führt sogar ernste und tiefe Gespräche mit ihm. Der Spitzbub ist nämlich kein gewöhnlicher Verbrecher: er hat ein unbezähmbares Verlangen ,nach oben', will empor aus den Tiefen, in die ihn sein Leichtsinn geworfen. Jetzt ist die große Gelegenheit für ihn da. Er läßt sich mit der feinen Dame trauen und macht dann seine Rechte als Schwiegersohn geltend. Bald scheint er von dem höheren sozialen Drang beherrscht, bald fällt er in die Rolle des gemeinen Erpressers zurück. Eine peinlichere Szene als die Auseinandersetzung zwischen Schwiegervater und Sohn hat man selten auf der Bühne erlebt. Darum so peinlich, weil jeder Kontakt mit der Wirklichkeit fehlt. Da die Handlung ,heutzutage' in einer großen Stadt vor sich geht, statt, wie es der Charakter des Stückes mit Notwendigkeit erheischt, vor zweihundert Jahren in einem Neste zu spielen, brauchte der Alte nur ans Telephon zu gehen und die Polizei zu rufen; dann würden wir nicht zu Zeugen seiner seelischen Folterqualen. - Und das soll eine Tragikomödie sein? Es wurde eine Tragikomödie, weil der Ernst des Autors von der Lachlust eines in diesem Falle gesund empfindenden Publikums korrigiert wurde. - Warum spielt Max Reinhardt ein solches, von vornherein verlorenes Werk, dem jede Möglichkeit des Erfolges genommen ist? Lockten ihn szenische Probleme? Wollte er seinen Darstellern lohnende Aufgaben bieten? Nichts dergleichen. Es gibt nur einen Grund: weil Wilhelm Schmidtbonn der Verfasser ist. In seinen eigenen Anfängen hat er diesen begabten Schriftsteller entdeckt, vor zwei Jahren [am 22.12.08] dankte er ihm mit dem fragwürdigen Grafen von Gleichen einen respektablen Erfolg. Man kann diese treue Anhänglichkeit menschlich schätzen, man kann sie künstlerisch nur aus einer Mode der Zeit begreifen. Längst ist es dahin gekommen, daß nicht mehr Werke, sondern Namen aufgeführt werden. Man spielt ein Werk nicht um seiner selbst willen, sondern um des Namens seines Urhebers willen. Man spielt nicht ein brauchbares Stück von Herrn X., sondern ein unbrauchbares von Herrn Namhaft. Es ist die dramatische Krankheit der Gegenwart: die Nameningitis. Sie ist allein daran schuld, daß jedes Jahr weniger Unbekannte das Licht der Rampenwelt erblicken, weil sie bei der Betriebsamkeit, der scheinbaren Fruchtbarkeit bekannter Produzenten, die ihr Absatzgebiet haben, keine Chance besitzen, auf den Markt zu gelangen. So genießen wir das nicht eben erfreuliche Schauspiel, daß die, die im Sattel sitzen, nicht reiten können, während die, die vielleicht reiten könnten, überhaupt nicht mehr in den Sattel gesetzt werden."

Berliner Theater. NZZ, 18. März 1910, Zweites Abendblatt, Nr. 76.
Charles Marlowe, Die goldene Ritterzeit (Neues Theater, 15.03.10). - ",When knights were bold', ein Londoner Schlager von Charles Marlowe, wurde unter dem Titel Die goldene Ritterzeit im Neuen Theater aufgeführt und weckte in den sonst meist von grauer Langweile heimgesuchten Räumen so rosige Heiterkeit, daß sie vielleicht sogar eine goldene für den nicht eben erfolgverwöhnten Direktor werden kann. Recht wesentlich zum Gelingen trug der ungenannte Bearbeiter bei, der einen unverfrorenen Witz Berlinischer Marke spielen ließ und selbst vor den blutigsten Kalauern nicht zurückschreckte. Hätte er noch den Mut gehabt, den allzu breiten ersten Akt tüchtig zusammenzustreichen und dem lendenlahmen dritten auf die Beine zu helfen, so wäre nicht ein Tröpfchen Wermut in den Freudenbecher dieser englischen Burleske gefallen. - Ihr Verfasser hatte den nicht übeln Einfall, die romantische Ritterzeit, wie sie jedem Eton-boy aus Sir Walter Scotts Romanen geläufig ist, zu verspotten. Hie Reckentum voll Rodomontade - hie moderne Nüchternheit; Zusammenprall mittelalterlicher Lebensformen mit den Sitten des 20. Jahrhunderts. Ein prosaischer schottischer Schloßherr, der die Verehrung seiner Gäste für die glorreiche Vergangenheit nicht teilt, wird im Traum siebenhundert Jahre zurückversetzt, bewegt sich im Smoking unter Geschienten und Geharnischten, unter Kriegsvolk, Herolden, Knappen, Mönchen, Nonnen und besiegt seinen gefährlichen Gegner, einen Goliath von Raubritter, im Boxkampf (es lebe der nationale Sport!). Zur Wirklichkeit zurückerwacht, die ihn eine Zeitlang noch im Traume festhält, entlarvt er diesen Gegner, seinen Nebenbuhler in der Liebe, als Falschspieler und erringt die Hand der von ihrer Schwärmerei geheilten Lady. - Der verwegene Einfall wird mit britischer Energie ausgepreßt. Dabei gibt es zwei oder drei wirklich komische Momente. Man lächelt, wenn der Schloßherr im Jahre 1210 eine Zigarette anzündet und die Burginsassen wie vor einem Wunder zurückweichen. Man wiehert, wenn er, der als Großgrundbesitzer das Recht hat, die Mägdlein zu küssen, den Befehl erteilt: sie sollen alle, alle, alle kommen. - Nur im Lande der erwachsenen Kinder gedeiht eine so fröhliche Harmlosigkeit. Sie stammt zur Hälfte aus dem Märchen, zur Hälfte aus dem Zirkus. Der Clown hüpft aus der Manege in den Salon, wo ihn ein wohlerzogenes Publikum mit Jubel begrüßt und sich über seine Sprünge scheckig lacht. Die Anspruchslosigkeit des englischen Volkes, das die Welt für eine Kinderstube hält, ist erstaunlich. Und es ist rührend naiv, daß der einzige Schubiak in diesem edlen Kreise von Lords und Ladies ein Ire ist, der zur Strafe an die Luft befördert wird. Ein Engländer dürfte es nicht sein (das vertrüge der Nationalstolz nicht), nur ein Ausländer hat einen Freibrief auf Gemeinheit. Gott erhalte ihre Unschuld! - Erstaunlich bleibt es aber auch, daß unser an derbere Kost gewöhntes Publikum sich mit diesem Milchbrei befreundete und daß sogar die verrufene Berliner Kritik sich kindisch darüber freute. Man nimmt davon Notiz, weil ihr in den letzten Wochen einmal der Vorwurf gemacht wurde, sie richte zu streng und trage mit die Schuld daran, daß so wenige Stücke einschlügen. Ein süddeutscher Dramatiker [nicht identifiziert], der gar nicht über schlechte Behandlung klagen kann, hat die Frage angeschnitten, und ein Berliner Universitätsprofessor [nicht identifiziert] hat daraufhin einen ,Appell' an die reichshauptstädtischen Theaterkritiker gerichtet, sie möchten etwas weniger scharf urteilen. Er gab die Parole aus: liebenswürdig gegen Lebende - derselbe Herr Professor, der sich sein Recht, die Toten nur nach ihren literarischen Verdiensten zu bewerten, von keinem Menschen antasten ließe. Aber wenn die dramatische Produktion (trotz unleugbarer vorübergehender Stockung) ein ungewöhnlich hohes Niveau einnimmt, wenn die Vorstellungen in Berlin den Vergleich mit denen keiner andern Hauptstadt zu scheuen brauchen, so darf sich einen wesentlichen Anteil daran die Berliner Kritik zuschreiben, in der ungewöhnlich gescheite, gebildete und vor allem unbestechliche Männer vertreten sind. Gerade ihre Unbestechlichkeit, ihre von allen persönlichen Rücksichten freie Sachlichkeit hat die Berliner Kritiker ihre Kollegen in Wien, Paris und London überflügeln lassen. Vielleicht sind sie gelegentlich um eine Nuance zu ,rüdig' oder doch schärfer, als es die Empfindlichkeit der Autoren verträgt. Aber sie haben noch immer eine gute, zukunftsstarke Sache gefördert, und mir ist, aus den letzten Jahren wenigstens, kein Fall erinnerlich, daß ein wirklicher Dichter sich über mangelndes Verständnis bei der Berliner Kritik beklagen konnte. Was literarisch wertvoll ist, wird hier allemal unterstützt; und neuerdings werden sogar Bühnenschriftsteller, die dem Theater einfach geben wollen, was des Theaters ist, wenn sie nur das Handwerk beherrschen, einer viel weniger peinlichen Leibesvisitation unterzogen. Deshalb soll man der Berliner Kritik ihren Ton lassen (oder doch den paar Männern, auf die es ankommt). Er mag nicht immer lieblich sein, dafür ist er immer echt. Den Mund lassen sie sich nicht stopfen; aber ihnen die Hände binden, ihnen die Tonart vorschreiben wollen, heißt sie ihrer lautersten Vorzüge berauben. Und das werden sie weder den Dramatikern, die es angeht, noch einem Universitätsprofessor, den es nichts angeht, gestatten."

Berliner Theater. NZZ, 23. März 1910, Viertes Morgenblatt, Nr. 81.
Abel Hermant, Luxuszug (Kleines Theater, 18.03.10). - "So wie wir den Luxuszug von Abel Hermant [1862-1950] im Kleinen Theater gesehen haben, war es eher eine Vicinalbahn. Ein ödes, eingleisiges Bimmelbähnchen im Bummeltempo. Ohne Verve, ohne Eleganz, ohne Schmiß, ohne Schneid, ohne erste Klasse. Die Erwartungen waren aufs höchste gespannt; denn die Polizei hatte die ,weitest gehenden' Vorsichtsmaßnahmen getroffen und für strenge Absperrung gesorgt. Lange wollte sie überhaupt nicht dulden, daß der Zug unsere Station passiere, weil sie fürchtete, es könne etwas passieren. Schließlich gestattete sie ihm die Einfahrt nur unter der Bedingung, daß jedes öffentliche Ärgernis vermieden würde, daß der deutsche Zugführer Rudolf Lothar, dem die Leitung über die Grenze anvertraut war, kräftig bremse. Und so fauchte kein stolzer Luxuszug in die festlich geschmückte Halle, sondern es krauchte eine knarrende Maschine mit etlichen ramponierten Wagen herein. Und das Publikum brach nicht in spontane Hurrarufe aus, sondern empfing den berühmten Gast mit reserviertem Wohlwollen. - War es ein berühmter Gast? Man versicherte, in Paris hätten Trains de luxe außerordentlich gefallen, und nach den Anstrengungen zu schließen, die hier zur Freigabe der Komödie gemacht wurden, muß man sich etwas von ihr versprochen haben. Die Zensur ließ sich lange nicht erweichen, und als sie endlich in eine öffentliche Aufführung einwilligte, soll sie beträchtliche Opfer gefordert haben. Aber so geht es nicht. Was übrig blieb, ist eine zahme Unanständigkeit mit geringem Geist. Nichts Ganzes und nichts Halbes. Entweder wollen wir ein witziges Stück in der Form sehen, in der es die Pariser entzückt hat, oder wir verzichten lieber darauf. Feilschen lassen wir nicht mit uns. In seiner jetzigen, an Haupt und Gliedern gekürzten Gestalt wird der Luxuszug zu jenen Bühnenwerken gehören, von denen vor der Aufführung so viel gesprochen wird, daß sie nachher mit wenigen Worten erledigt sind. - Zur Abwechslung, ohne daß diese Abwechslung besonders erfreulich wäre, handelt es sich hier um den verführten jungen Mann, Sohn eines Präsidenten einer südamerikanischen Republik. (Kein Zweifel, es muß Castro sein; die Kastrierung verrät es.) Die Weiber stellen ihm nach. Shaw hat darauf eine Theorie der Geschlechter gegründet: daß der Mann das Wild und nicht der Jäger sei. Aber hier wird dies nicht am Beispiel der Ehe erläutert, sondern am Beispiel eines Vergnügens, daß auch außerehelich floriert. Zwei Frauen werben um die Gunst des Spröden: seine Jugendgespielin, eine Prinzessin undefinierbarer Herkunft, und eine alternde Infantin. Beide unter erschwerenden Umständen: das Mädchen ist mit einem trottelhaften russischen Großfürsten verlobt; die Matrone wird von den Argusaugen eines nicht minder trottelhaften, hoffnungslos liebenden Seladon bewacht. Die Ältere treibt den Widerstrebenden der Jungen in die Arme dadurch, daß sie den Schlüssel zu deren Schlafzimmer abzieht und so dem Jüngling den Weg zur Flucht abschneidet. Dann nimmt sie ihn selbst mit auf Reisen, als sie plötzlich an das Wochenbett ihrer Monarchin berufen wird, und tritt ihn, nachdem sie sechs Wochen seine Gesellschaft mit aller erwünschten Exklusivität genossen, edelmütig der rasch entlobten Braut ab. - Eine Cochonnerie ohne Frechheit und selten durch Anmut gewürzt. Manches erscheint in der vergröbernden und doch sicher gemilderten deutschen Ausgabe fast widerlich. (Etwa wenn die Infantin einen stämmigen Hausknecht anschmachtet.) Will denn die Zensur nie einsehen, daß das ausgesprochene Wort unter Umständen viel weniger verletzend wirkt als das andeutende? Die einer exotischen Kolonie in Paris angehörigen Figuren - der Luxuszug steht als Symbol für sie - sind kaum über die Lustspielschablone hinaus gediehen. Sonderzüge hat einzig der junge Mann abbekommen, ohne daß es gerade Sonderluxuszüge wären. Es ist ganz amüsant, wie er sich mit seinem Phlegma und seiner Verwöhntheit gegen die Temperamentsausbrüche seiner Verfolgerinnen wehrt; wie ihm der Hunger über die Liebe geht; wie er ein halbes kaltes Rebhuhn den glühenden Umarmungen seines Hühnchens vorzieht; wie ihm sein kostbarer Spazierstock mehr am Herzen liegt als die Schöne, die ihm am Herzen liegen möchte. Dem Schauspieler freilich, der diesen unwiderstehlichen Widerstehenden gab, fehlte bei seiner Semmelblondheit jeder Schatten von Glaubwürdigkeit. - Überhaupt hatte die Aufführung des Kleinen Theaters ihren redlichen Anteil an dem Mißlingen. So etwas muß einen mondänen Anstrich haben, aber keine halbseidene Eleganz. Mehr Boulevard, weniger Friedrichstraße! Wenn man dergleichen spielt, muß man es unverstümmelt spielen und dann in der Aufmachung, die vielleicht über die innere Hohlheit hinwegtäuschen könnte; sonst - lieber gar nicht."

Berliner Theater. NZZ, 29. März 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 86.
August Strindberg, Ostern (Die Literarische Gesellschaft im Hebbel-Theater, 24.03.10). - "August Strindbergs Passionsspiel Ostern wurde am Gründonnerstag von der Literarischen Gesellschaft im Hebbel-Theater aufgeführt. Cui bono? Es bedurfte wahrlich nicht des Nachweises, daß die Leiter unserer literarischen Bühnen, die auf dieses undramatische Drama Verzicht leisteten, mehr Einsicht besaßen als die Leiter einer Dilettantenvereinigung, die einem in der Provinz schon mehrfach erfolgreich - durchgefallenen Werke den Weg zu einer Berliner Bühne ebneten. - Man kann das Gesamtschaffen August Strindbergs sehr hoch einschätzen, kann ihn für die stärkste intellektuelle dichterische Potenz im heutigen Europa halten und braucht sich darum nicht der Tatsache zu verschließen, daß neben wirklich Großem bei ihm recht Minderwertiges steht, daß er besonders in seinen Dramen häufig das Opfer seiner Monomanie geworden ist und Steine statt Brot gibt. - Dieses sogenannte Passionsspiel, losgelöst von allem Klimbim, ist ein realistisches Miserestück mit Misererebegleitung, ein qualvoller Ausschnitt aus der Wirklichkeit mit mystischem Einschlag. Eine Familie leidet unter den Nachwirkungen eines Verbrechens, das der Vater begangen hat. Sie kann sich des Daseins nicht mehr freuen, da sie sich von Gläubigern bedroht fühlt. Als endlich der Hauptgläubiger erscheint - sein Schatten auf der Gardine hat vorher schon Bestürzung geweckt -, macht er nicht hartherzig Ansprüche geltend, sondern klärt die schwarzen Wolken, daß die Sonne wieder hervorbrechen kann. - Losgelöst von allem Klimbim . Der Dichter glaubte, einer unbedeutenden Handlung einen bedeutungsvollen Anstrich geben zu müssen. Nannte seine drei Akte Gründonnerstag - Karfreitag - Osterabend. Ließ dazu Haydnsche Musik spielen. Aber mit demselben Rechte hätte er die Schildchen ,Heiliger Abend - Christmas-day - Boxing-day' aufkleben und dazu das Bachsche Weihnachtsoratorium erklingen lassen können. Einzig der Umstand, daß die Personen des Stückes leiden, ohne eigenes Verschulden leiden, ist doch kein zureichender Grund für die anspruchsvolle Bezeichnung ,Passionsspiel'. Sonst würde mindestens die Hälfte aller naturalistischen Dramen unter diese Rubrik fallen. - Warum versagt hier Strindbergs Mystizismus? Weil er an irdisches Ungemach geheftet ist, das mit etlichen Banknoten aus der Welt zu schaffen wäre. Man soll kleinliche Alltagssorgen, Geldverlegenheiten mit den daraus resultierenden Unbequemlichkeiten so wenig zu Dingen voll ewiger Bedeutung emporsteigern, wie man eine schlechte Verdauung zum Mittelpunkt einer Weltanschauung machen soll. Selbst unverschuldetes Leiden, das an sich immer traurig ist, kann von Seelengröße weit entfernt sein. - Es bleibt einer rührenden poetischen Figur zu gedenken. Eleonore, ein junges Mädchen, hat den Verstand verloren, mußte ein Jahr in einer Irrenanstalt zubringen und leitet ihre Rückkehr in die Welt mit einem unbedachten Schritt ein, der als Diebstahl ausgelegt werden könnte. Sie öffnet nämlich mit ihrem eigenen Schlüssel die verschlossene Türe eines Blumenladens und nimmt eine gelbe Lilie daraus fort, nicht ohne ein Geldstück und ihre Karte auf dem Tisch zu hinterlassen. Doch auch diese Wolke zieht glücklich vorüber, und das Osterspiel klingt so harmonisch aus, als sollte die Weihnachtsbotschaft: ,Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen' verkündet werden. - Schade nur, daß dieser verwaschene Strindberg und die durchaus überflüssigen Betätigungsversuche einer ebenso überflüssigen Gesellschaft den Menschen kein Wohlgefallen sind."

Berliner Theater. NZZ, 30. März 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 87.
Henri de Rothschild, Die Rampe (Neues Schauspielhaus, 26.03.10). - ",Auch Rothschild könnte eine Walhalla bauen, - ein Pantheon aller Fürsten, die bei ihm Anleihen gemacht.' [Heinrich Heine, Gedanken und Einfälle, IV] Auf den Enkel angewandt, einen Wohltäter größten Stils, den Pariser Arzt Henri de Rothschild, der seine Liebe zum Theater durch ein Drama Die Rampe (aufgeführt im Neuen Schauspielhaus) nachweisen zu müssen glaubte, würde dieser Satz Heinrich Heines lauten: Henri de Rothschild könnte ein Pantheon aller Bühnenschriftsteller bauen, bei denen er Anleihen gemacht. - Denn sein dramatischer Erstling ist von vielen Vätern gezeugt. Das Sammelsurium eines eifrigen Theaterbesuchers. Ein Mischmasch alter Stücke, die das einst so beliebte, von Hermann Bahr unlängst in der Gelben Nachtigall [1907] verspottete Thema der Kulissenwelt behandeln. Und das Originellste an dieser, Gott weiß wievielten Bearbeitung ist das freimütige Geständnis, daß das Licht der Rampe noch immer ,Menschenopfer unerhört' [Goethe, ,Die Braut von Korinth'] fordert, von dem jungen Mädchen angefangen, das seine sichere bürgerliche Existenz aufgibt und von dem Theatermoloch verschlungen wird, bis zu dem Millionär, der eines Tages sein Talent als Dramatiker zu entdecken wähnt. (Zum Glück bleiben ihm seine Talente.) - Es handelt sich um Künstlerrivalität, um die Eifersucht eines schauspielernden Paares. (Auf dem Gebiete der bildenden Kunst hat in Deutschland zuletzt Max Dreyer diesen Gegenstand in dem Schauspiel Der Sieger [1901] - nicht erobert.) Eine Dame der vornehmsten Pariser Gesellschaft verläßt ihre Kreise und hängt sich an einen eitlen Komödianten, der ihre Histrionenbegabung weckt. Die Liebe ist die Wünschelrute dieses Svengali ohne Hypnose. Aber bald wächst die Schülerin ihrem Lehrer über den Kopf und verdunkelt seinen eigenen Ruhm. Der Theaterdirektor, der zugleich sein Hauptdarsteller ist, gewahrt voll Neid und Mißgunst, daß sein Geschöpf dem Publikum besser gefällt und höhere Gagen angeboten bekommt als er selbst. Da macht ihr der Lump das Leben zur Hölle; da geht der Schuft hin und schafft sich eine andere Geliebte an. Die arme Madeleine kann nicht von ihm lassen. Einmal noch will sie ihren Abgott sehen. Sie merkt, daß sie unwiderruflich bei ihm ausgespielt hat, und spielt ihm die Schlußszene eines neuen Werkes vor, in dem die Heldin durch Gift zu enden hat. Das Spiel wird furchtbare Wirklichkeit. Vor den Augen des Treulosen leert die Unglückliche den Akonitbecher und bricht entseelt zusammen. - Eine Effektszene so recht nach dem Geschmack der [Sarah] Bernhardt. Ein Virtuosenkunststückchen in einem Stück, das sonst mit Kunst wenig zu tun hat. Der weibliche Bajazzo oder Mrs. Kean. M. de Rothschild scheint den romantischen Zauber der Rampe doch etwas zu überschätzen; die Menge hat dieses Milieu so oft genossen, daß es für sie längst verblaßt ist; und die Akteure nehmen diese Dinge wohl auch nicht gar so ernst, wie er offenbar vermutet. Für die Kenner war nur das Treiben in einer Künstlerinnengarderobe am Abend der Hauptprobe einigermaßen unterhaltend. Aber dem Publikum wäre die sonst reichlich öde Kulissenreißerei noch fremder geblieben, wenn nicht . - Wenn nicht Agnes Sorma, Stern der höchsten Höhe [Goethe über Shakespeare], ihr himmlisches Licht darüber ausgegossen hätte. Diese begnadete Frau ist in Deutschland eine singuläre Erscheinung. Sie hat nicht ihresgleichen bei uns. Kaum steht sie auf der Bühne, so sind wir in ihrem Bann: Trilby die Hypnotisierende. Ein Leuchten geht von ihr aus, das noch den erbärmlichsten Schmarrn vergoldet. Der erste Blick von ihr genügt, das, was sie spielt, vergessen zu lassen. Wir dürfen wieder in dem Wohllaut ihrer einzigen Stimme schwelgen, dürfen ihr seliges und ihr todwundes Lächeln schauen. Ihre schamhafte Innerlichkeit ist das Geheimnis ihrer Kunst. Noch immer verfügt sie über die holde Anmut eines erblühenden Mädchens. Ist die Duse für uns in allen ihren seelischen Ausstrahlungen die Märtyrerin, so bleibt die Sorma, ob himmelhoch jauchzend oder zum Tode betrübt, stets ,sweet seventeen'. Sie wird es noch mit siebzig sein; und es gibt neben ihr wohl nur eine Künstlerin: die Engländerin Ellen Terry, die auch heute noch, trotzdem sie schon ihr fünfzigjähriges Schauspielerjubiläum gefeiert hat, den ewigen Zauber der Weiblichkeit in ihren besten Augenblicken spüren läßt. - Mit Heine hab ich begonnen; mit Heine will ich schließen [Die Nordsee, Erster Zyklus, VI: ,Erklärung']: ,Und mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern, / Reiß' ich die höchste Tanne / Und tauche sie ein / In des Ätnas glühenden Schlund, und mit solcher / Feuergetränkten Riesenfeder / Schreib' ich an die dunkle Himmelsdecke: / "Agnes, ich liebe dich!"'"

Berliner Theater. NZZ, 4. April 1910, Zweites Abendblatt, Nr. 92.
Eduard Stucken, Gawân (Kammerspiele, 30.03.10). - "Im Kammerspielhaus, dem heuer kein Glücksstern lächelte, ist das Unerwartete Ereignis geworden und in ziemlich vorgeschrittener Stunde ein überraschend großer Erfolg eingekehrt: Eduard Stuckens Mysterium Gawân hat in diesen ruhigen Räumen die Hände eifrigst in Bewegung gesetzt. Ob auch die Herzen? Wer die Psychologie des Berliner Publikums und die Physiognomie dieses Publikums im besondern kennt, darf es füglich bezweifeln. Noch immer leben wir in der Stadt Nicolais, und es liegt schwerlich im Wesen der modernen Nicolaiten, sich für Mittelalter, Madonnenverehrung und Mystizismus zu erwärmen. Heroismus und Askese, Keuschheit und Marienkult: mit den Idealen unsrer Zeit dürfte dieses Idealrittertum, dem die Präraphaeliten zu einer Auferstehung verhalfen, nicht allzu viel gemein haben. Die wunderbare Wirkung ging kaum von dem Legendenstoff aus, obschon die Geschehnisse des Märchens den naiven Zuschauer rein äußerlich zu fesseln vermögen; auch nicht von dem mystischen Saum, der vielleicht nur ein Hohlsaum ist; gewiß nicht von der dramatischen Schwungkraft des Verfassers, die alle Hindernisse über den Haufen rennt - sondern von einer sehr gepflegten, durchgebildeten Dichtersprache, die, von den Schauspielern liebevoll behandelt, zu verdienten Ehren kam. - Stucken hat seinen Stoff mit möglichster Treue dem mittelenglischen Epos Sir Gawain und der grüne Ritter entlehnt. Der Zeit nach gehört es dem letzten Drittel des vierzehnten Jahrhunderts an, dem Inhalte nach dem großen Zyklus der Artus-Sagen, der in England hauptsächlich durch Alfred Tennysons Königsidyllen, in Deutschland durch Richard Wagners Musikdramen Popularität gewonnen hat. Gawân ist vom Stamme jener Ritter, die ihrer Seele Heil gefährden, wenn sie küssen. Sie alle straucheln, aber sie fallen nicht. Sie werden verführt. Einzig Lanzelot macht eine rühmliche Ausnahme; er war mir von jeher der liebste. - Was geschieht? Am Weihnachtsabend, als Artus sich mit seinen Getreuen zur Tafel niedersetzen will, tritt ein unheimlicher Gast herein, ein grüner Ritter, der die Helden ,lobebaeren' mit höhnenden Worten herausfordert. Wer ihm den Kopf abhaut, ohne ihn töten zu können, muß sich nach Jahresfrist in der grünen Kapelle einfinden, wo seiner das gleiche Schicksal erwartet. Gawân führt den Streich, aber der Fremde sprengt, sein abgeschlagenes Haupt unterm Arm wie Moritz Stiefel bei Wedekind [in Frühlings Erwachen], von dannen. Der Ritter muß sein Wort halten. Kurz vor Ablauf der ausbedungenen Frist gelangt er, auf der Suche nach der geheimnisvollen grünen Kapelle, in eisiger Winternacht zum Schloß eines Ritters Bernlak de Hautdesert, der ihn gastfreundlich aufnimmt. Am andern Morgen reitet der Schloßherr (o König Marke!) zur Jagd, bittet aber den Besuch nicht, ihn zu begleiten, sondern läßt ihn bei seiner schönen jungen Frau zurück. Nur mit der einen Bedingung, daß sie am Abend teilen, was sie während des Tages empfangen. Gawân wird von dem minniglichen Weib in schwere Versuchung geführt. Den Kuß, den er von ihr erhielt, gibt er dem heimkehrenden Gatten zurück; aber er verschweigt ihm, daß sie ihm auch einen Wundergürtel geschenkt, der seinen Besitzer unverwundbar macht. Ganz rein geht er also nicht aus der Prüfung hervor. (Im allgemeinen gilt wohl ein Gürtel als nicht so verfänglich wie ein Kuß; es ist daher nicht recht ersichtlich, warum er das Gravierendere beichtet und das Harmlosere verschweigt.) Pünktlich bricht Gawân zur Kapelle auf und findet dort den grünen Ritter, niemand anders als den Schloßherrn. Als dieser eben zum tödlichen Streich ausholen will, schreitet die Madonna, niemand anders als die Schloßherrin, aus ihrer Nische herab und belohnt ihren Liebling, der ihr seine Schuld eingestanden, nach Gebühr, indem sie ihn der Gnade des heiligen Gral teilhaftig werden läßt. - ,Du hast das Leben besiegt und den Tod überwunden; / Dein seliger Geist schmiegt sich an Christi Wunden. / Wer durch Sünde und Todesgrauen hindurchgegangen, / Ist wert, den Gral zu schauen und den Kelch zu empfangen.' - Das mittelalterliche Epos, dessen Vorgängen der moderne Dramatiker in engstem Anschluß gefolgt ist, scheint mir dem Geist unsrer Zeit näher zu stehn als Stückens ,Mysterium'. Dort wird Gawain, weil er die Prüfung nicht zur vollsten Zufriedenheit bestanden, die Haut leicht geritzt. Und diese kleine Wunde ist sozusagen ein Tropfen skeptischen Geistes, den der am verstiegenen Ritterideal Kritik übende Dichter einträufelt. Stucken läßt statt dieses zersetzenden Schlusses, wie Maeterlinck in Schwester Beatrix [1901], die Mutter Gottes selbst eingreifen und wahrt so mit einer opernhaften Coda den Charakter des ,Mysteriums'. Oder dessen, was fälschlich ,Mysterium' geschrieben wird, als ob das Wort von ,mystisch' abgeleitet wäre, während es in Wirklichkeit von ministerium kommt. (Nicht minder anfechtbar ist es, daß König Artus zweimal von ,mystisch' spricht, womit er sich eines Anachronismus schuldig macht.) - Gerade die Mystik des Werkes weckt die stärksten Bedenken. Der Tod, welcher die Gestalt des grünen Ritters angenommen hat, läßt sich nicht besiegen; aber kann sein Todesstreich durch himmlische Fürsprache von einem Menschlein abgewendet werden? Wenn er dann dem Ritter eine Prüfung auferlegt und ihn durch sein Weib in Versuchung führen läßt, so ist doch für den Tod plötzlich der Teufel substituiert. Wer ist dieses Weib? Maria selbst, welche die Unschuld zu Fall bringen will. Das stört mich am empfindlichsten. Ich weiß, ihr ist gelegentlich in mittelalterlichen Legenden die Rolle der bösen Zauberin zuerteilt; aber mein Gefühl lehnt sich dagegen auf, und ich bin davon durchdrungen, daß es das reinere Gefühl ist. - Bleibt die Sprache, der man rückhaltlos Bewunderung zollen muß. Ein überaus schwieriges Versmaß, das dem Endreim noch den Binnenreim hinzufügt, ist mit staunenswerter Sicherheit bewältigt. Darum so schwierig, weil der Doppelreim leicht in Klingling verfallen könnte. Stucken überzeugt uns nach den ersten zehn Minuten, daß ihm die Form keine Fessel ist. Ganz selten nur spürt man ein Verlegenheitswort, ein Füllsel des Verses; sonst fließt die Sprache in schöner melodischer Linie glatt und fast nirgends platt dahin. Ja, man möchte ihr etwas mehr Härte und sogar Härten wünschen. - Ein Dichter unbedingt. Wer so das Wort meistert, ist ein Verskünstler. Und es war ein Verdienst der Kammerspiele, ihn zum Worte aufzurufen und seinen Intentionen durch eine wählerisch abgestimmte Vorstellung nichts schuldig geblieben zu sein. Aber wertvoller als der Dichter der Worte ist der Dichter, der in den Gefühlen steckt; wie jemand ein Dichter sein kann, ohne einen einzigen Vers, ohne auch nur in Prosa geschrieben zu haben. Dichter einfach durch die Art, wie er Menschen und Dinge sieht. Ich höre Eduard Stuckens Versreihen mit artistischem Vergnügen, aber sie lassen mich ,kühl bis ans Herz hinan' [Goethe, ,Der Fischer']. Und auch die seelischen Vorgänge finden nicht den Zugang zu meiner Seele. Die berühmten drei Sätze des Berliner Polizeipräsidenten [Traugott von Jagow] mit der lakonischen Aufforderung: ,Ich warne Neugierige' haben mich stärker ergriffen, weil ich den menschlichen Anlaß, der dahinter steckt, stärker fühle. ["Bekanntmachung" des Polizeipräsidenten vom 13.02.10: "Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Beim Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige."] Mein Verstand bewundert diesen Melchior Lechter [Maler und Buchillustrator (1865-1937), berühmt durch seine Gestaltung der Werke Stefan Georges] der Feder; aber mein Herz - schlagt mich tot! - ist völlig unberührt geblieben."

Berliner Theater. NZZ, 12. April 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 100.
George Bernard Shaw, Heiraten (Lessing-Theater, 09.04.10). - "Nachdem Otto Brahm, Leiter des Lessing-Theaters, Förderer von Bühnenschriftstellern, die sich durchgesetzt haben, mit eiserner Konsequenz, mit jener Vorsicht, die das bessere Teil seiner Tapferkeit ist, jahrelang an dem gesamten dramatischen Schaffen Bernard Shaws von Candida bis Barbara vorübergegangen war, glaubte auch er, nicht länger rückständig bleiben zu dürfen und den Tanz um das irische Chamäleon mitmachen zu müssen. Spät kam er, doch (ein Trost für seine Treuen!) er kam. Und führte in seinem Hause die dreiaktige Groteske Heiraten auf. Nun wird uns der Dr. Brahm zeigen, wie man in Deutschland den Shaw spielen soll - dachte man; Zeit genug hat er sich ja gegönnt. Er bot sogar seine saftigste und sublimste Menschendarstellerin Else Lehmann für eine Rolle auf, die sie durch ihr bloßes geistiges Format erdrückte. Umsonst. Das Publikum des Lessing-Theaters (dem andrer Bühnen in nichts überlegen, wie sein verständnisloses Lachen an falschen Stellen bewies) lehnte das, was man in Berlin mit dem onomatopoetischen Ausdruck ,Quatsch' bezeichnet, unerbittlich ab. - ,Groteske' stand auf dem deutschen Zettel - nach modernem dramaturgischem Sprachgebrauch also von vornherein eine Bitte um mildernde Umstände; etwa das, was im Geschäftsleben der Kautschukbegriff ,Ausverkauf' sagt, womit alle möglichen Formen des Bankrotts gedeckt werden. Das schöne Schildchen soll gefällig umschreiben, daß die Figuren grob karikiert werden müssen, um auf fremdem Boden ein Daseinsrecht zu gewinnen. Aber es gibt weiter zu verstehen, daß die Absichten des Autors nicht ernst genommen werden sollen, daß er sich nur einen Jux machen wollte, und dies ist gewiß eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, die nur durch das veränderte Milieu zu rechtfertigende Ausdeutung eines Gedichts. Shaw selbst, der sich viel ernster nimmt, als seine deutschen Verleger ahnen, hat sein endloses Gerede ungleich richtiger eine Diskussion in einer Sitzung genannt und damit die Akteinteilung, die man zur Erholung der Menge anbringen mußte, grundsätzlich verworfen. - Als ich vor zwei Jahren Getting married (schon der Titel verursachte kultivierten Engländern Bauchschmerzen) im Londoner Haymarket-Theater sah, dauerte die Vorstellung fast vier Stunden. Eine Geduldprobe ohnegleichen. Aber bis zum Schluß hielten wenige aus. Alles rannte, rettete, flüchtete, wie vor einer Feuersbrunst; und nicht nur auf der Bühne verfiel eine Kohlenhändlersgattin in einen Trancezustand, sondern im Parkett senkte sich ohne Unterschied des Geschlechts ein wohltätiger Schlummer auf Angehörige höherer Berufsklassen. Im Lessing-Theater, wo das Streichen mit Kunst gehandhabt wird, war die Sitzung auf zwei und eine halbe Stunde abgekürzt. Auch sonst zeigte das Stück sozusagen eine andre Physiognomie. In der - wesentlich besseren - Londoner Aufführung war der Bischof von Chelsea die Hauptfigur; hier ließ man ihn in der Maske des Rabbi von Bacharach [Protagonist von Heines gleichnamiger Erzählung] erscheinen, und ich muß gestehn, es war das einzigemal, daß ich herzlich lachte, obwohl sich selbst die Gemeinde des Lessing-Theaters einen freisinnigen, feingebildeten, toleranten Bischof schwerlich als Doppelgänger David Sichels vorstellen dürfte. [David Sichel ist der Rabbiner in Émile Erckmanns u. Alexandre Chatrians humoristischem Roman L'ami Fritz (1864; Bearbeitung als Lustspiel 1876; deutscher Titel Freund Fritz).] - Worum handelt es sich in diesem Theaterstück, das weder eine Handlung hat noch ein Theaterstück ist? Sondern eben eine Diskussion, eine Debatte, ein Dialog. Oder eigentlich nicht einmal das. Denn in einer Diskussion prallen verschiedene Meinungen aufeinander, wird das Für und Wider eines Gegenstandes lebhaft erörtert, während hier einfach die riesengroße Beredsamkeit des Verfassers unter ein Dutzend Personen aufgeteilt wird, die alle mehr oder minder Bernard Shaw reden und das zur Diskussion gestellte Thema der Ehe nicht um Haaresbreite verrücken. Hat der Apostel gesagt: Heiraten ist gut, aber ledig bleiben ist besser, so sagt der unheilige Bernard von Dublin: Heiraten ist schlimm, aber ledig bleiben ist schlimmer. Also worum handelt es sich? Die jüngste Tochter des Bischofs von Chelsea erklärt plötzlich, zur Überraschung ihrer Eltern und Verwandten, an ihrem Hochzeitsmorgen, auf Grund einer Broschüre über die Ehe, die sie soeben gelesen, sie sei andern Sinnes geworden, und auch der Bräutigam, gleichfalls durch seine Lektüre eines Besseren belehrt, sträubt sich, vor den Altar zu treten. Da die Hochzeitsgäste sehr aufgeklärte Menschen sind, schreitet man (nicht gerade im geeignetsten Moment) dazu, mit Hilfe der Kirche, der Armee und des Magistrates einen Normalehevertrag aufzusetzen; doch er gelangt kaum über den ersten Satz hinaus. In dieser äußersten Verlegenheit wird eine vielerfahrene Frau herbeigerufen, die einige Erlebnisse und Maximen aus ihrem reich bewegten Liebesleben vorträgt. Ganz überflüssigerweise: denn in der Zwischenzeit hat das junge Paar Raison angenommen und sich trauen lassen. So viel Geschwätz um einen Hochzeitskuchen! - Unnötig zu sagen, daß in ihm, da er von B. Shaw gebacken ist, auch etliche Rosinen stecken. Wenn ein Mann von Geist stundenlang seine Suade spazieren führt, fällt ihm auch zu dem abgedroschensten Thema dann und wann eine witzige oder eine ironische oder eine freche Bemerkung ein. Ist das ein Verdienst? Nein, es ist eine Notwendigkeit, genau so, wie ein Kind, wenn es lange genug geschlafen hat, zu schreien anfängt. Doch dem zähen Teig sind auch verschiedene Zutaten beigemischt, die mir schon vor zwei Jahren in London Magendrücken verursachten und die durch den Wechsel des Klimas noch unverdaulicher geworden sind. Man fühlt sich fast bewogen, durch Protestrufe in die Debatte einzugreifen: so groß ist stellenweise der Widerwille über allzu billige Anrempelungen des Engländers. In demselben Maße, wie das bei Bernard Shaw zugenommen hat, was der Amerikaner ,a swollen head' nennt, hat leider das bei ihm abgenommen, was der Deutsche ,guten Geschmack' nennt. Zwei Organe dehnen sich indes mit der Zeit zu riesenhaften Dimensionen bei ihm aus: Zunge und Lunge."
 
Berliner Theater. NZZ, 22. April 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 110.
Vortrag mit dem Titel "Das Theaterjahr" von Maximilian Harden (Mozartsaal, 08.04.10); Friedrich von Schiller, Die Braut von Messina (Deutsches Theater, 12.04.10); Hugo von Hofmannsthal, Die Hochzeit der Sobeide / George Bernard Shaw, Wie er ihren Mann betrog (Neues Schauspielhaus, 16.04.10). - ",Whan that Aprille with his shoures sote' [Chaucer, Prolog zu den Canterbury Tales] . Wenn der April mit Macht einsetzt, dann hat bald das letzte Stündlein der Bretterherrlichkeit geschlagen. Die meteorologisch perversen Direktoren sähen es zwar am liebsten, daß es in Kübeln gösse, aber der Himmel hat diesmal die Gebete der Gastwirte (und anderer Normalmenschen) gnädiglich erhört. Schon droht die Natur, die keuschere Konkurrentin der Kunst, dieser ihre Stammgäste abspenstig zu machen. Ehe die Bühnenwelt, soweit sie nicht bei der alleinseligmachenden Operette ihr Heil sucht, den großen Sommerschlaf antritt und zur Erinnerung, zum winterlichen Mythos wird, rafft man schnell etliche Eindrücke der letzten Wochen zusammen und hält sie fest, ehe sie für immer entgleiten. - I. Maximilian Harden. Sprach (à quatre épingles, mit weißem button-hole und weißen Glacéhandschuhen) über das Theaterjahr. Im Mozart-Saal; zwei und eine halbe Stunde lang. Ohne einen Tropfen Wasser zu nehmen, obwohl er seine Sätze reichlich mit attischem Salz bestreute. Rekordleistung. Dabei hatte man nach den ersten zwanzig Minuten, die durch eine Inhaltsangabe - und was für eine! dagegen sind wir alle zahm und züchtig - der Sudermannschen Strandkinder ausgefüllt wurden, ein bißchen die Empfindung: nun ist sein Thema eigentlich erschöpft oder doch das Neue, das er dazu vorzubringen hat. Der eifrige Leser der Zukunft [der von Harden herausgegebenen Wochenschrift] wußte Bescheid. Enttheatralisierung des Theaters; industrieller Betrieb zu neun Zehnteln; Unverständnis und Unlust der Kritiker; Mangel an Schauspielerpersönlichkeiten; Irrwahn des Naturalismus: wer hatte die Schlagworte noch nicht gehört? - Was Herr Harden sagt, ist vielfach anfechtbar; wie er es sagt, bewundernswert. - Was er sagt . Am liebsten hätte man jeden dritten Satz mit einem Zwischenruf begleitet. (Wie man in Gedanken nach jedem zweiten ein Fragezeichen anbrachte.) Vielleicht muß man beständig zum Widerspruch reizen, um stundenlang fesseln zu können. Dieses Rezept wird virtuos gehandhabt. Die Opposition wachzurufen, scheint das probateste Mittel, wach zu erhalten. - ,Allein der Vortrag macht des Redners Glück' [Faust I, 546]. Hardens Technik ist einfach stupend. Noch in der hintersten Reihe des Saales wird jede Silbe verständlich. Er spricht besser als irgendein Berliner Mime. Und er verspricht sich nie; gerät nie in die Sackgasse eines Anakoluths, trotzdem er wahrlich nicht mit Appositionen, Einschiebseln und dergleichen kargt. Das Ganze wirkt durchaus improvisiert, aber es wirkt. Scheinbar vom Augenblick eingegeben, aber in langer Arbeit durchdacht. - II. Die Braut von Messina im Deutschen Theater. Eine Tragödie mit Chören; wobei der Nachdruck diesmal nicht auf Tragödie, sondern auf den Chören lag. - Max Reinhardt der Regisseur als Kapellmeister. Er faßte die einzelnen Chorlieder (die das unantastbar Wertvolle des Werkes bleiben - ein glorreicher Besitz der wohllautgetränkten deutschen Sprache!) . er faßte die Chorlieder als Musiksätze auf. Es war ein beständiges Anschwellen und Verebben: ff, pp; cresc., decresc. Noch der unisono-Vortrag war durch ungeahnte Abstufungen differenziert. Selten oder nie hat man auf der Bühne eine solche Gliederung, eine solche musikalische Steigerung des Rezitativs erlebt wie diesen hinreißend schönen ersten Akt. - (Aber die Kritiker der alten Schule spielten den Haupttrumpf der Tradition aus und wollten ihren Schiller nicht individualisiert wissen. Ihr Widerspruch gegen den kühnen Neuerer, anfangs begreiflich, wenn auch lächerlich, wird nachgerade langweilig. Ihre Originalität reicht nur so weit, daß sie ihrem Geistesverwandten Paul Lindau Originalität zuschreiben. Um so wärmer trat Harden, mit echter Wut und echter Glut, für das ,Theatergenie' Max Reinhardt ein.) - Leider blieb, wie fast immer bei Reinhardt, die Steigerung des Gesamtkunstwerkes aus. Es ist kein Mangel des Regisseurs, eher ein persönliches Mißgeschick, sondern ein Mangel seiner Darsteller, denen die Größe der Kehle wie der Seele für die wachsenden Leidenschaften fehlt. - Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundener Pracht: Adele Sandrock als Fürstin-Mutter. Sie besitzt den Faltenwurf, den Gang, die Gebärde für die Tragödie - mit einem Wort: den Stil. Daneben ist Moissi auf dem besten Wege, ihn zu erringen. - Für das Dekorative war diesmal so gut wie nichts geschehen. (Das nennt man dann Überladung mit Ausstattungseffekten.) Eine Säulenhalle, bald quer, bald längs gestellt, bestritt die szenischen Kosten des Abends. Und die Granden von Messina in ihren kunterbunten Mänteln - das grelle Grün schmerzt noch! - schienen stracks einer üblen Maskengarderobe entsprungen. - III. Agnes Sorma verabschiedete sich im Neuen Schauspielhaus mit Hofmannsthal und Shaw. Jener war peinlich; dieser forciert lustig, clownhaft verzerrt. - Die Hochzeit der Sobeide muß wie ein stilles Gedicht mit traumhaft süßen Reizen vorüberziehen. Es will gestreichelt, gehätschelt, geliebkost sein, denn es birgt herrliche Worte der Weisheit. Statt dessen preßte man die dramatischen Möglichkeiten bis zum letzten Tropfen aus und schwelgte förmlich in der sadistischen Orgie des zweiten Aktes. Schaudervoll, höchst schaudervoll! In solcher Vergröberung wirkte das wehe Märchen wie . wie ein Tiffany-Glas bei der Gräfin Strachwitz. (Übrigens fiel eine gewisse Ähnlichkeit mit Hofmannsthals jüngstem Werke, Cristinas Heimreise, auf [vgl. MMs Besprechung vom 16.02.10]: hier wie dort ist bei den Bejahrten das Glück und der Friede, während die Windhunde die selige Unruhe und die seelische Zerrüttung verkörpern. Ganem wie Florindo sind vom Stamme jener, welche schwindeln, wenn sie lieben - was bei Ganem nicht weiter überrascht, denn sein Name klingt zu fatal an Ganef [jiddisch ,Ganove'] an.) - Wie er ihren Mann betrog von Bernard Shaw ist das burleske Seitenstück zu des Dichters Candida - er war damals noch ein Dichter - und sollte als Satyrspiel dem parodierten Drama unmittelbar folgen. Der Ehemann schnaubt, nicht weil der Liebhaber seine Frau verehrt, sondern weil er sie nicht genug verehrt. Das Schnauben nimmt hier die Form eines regulären Boxkampfes an. Wir sind zwar sehr sportfreudig momentan, schwärmen aber nicht gerade für den englischen Nationalsport. Merkwürdig, daß Shaw, der sonst den Sport verhöhnt, diesen besondern protegiert, welcher der roheste ist. - Die Sorma paßte sich diesmal ihrer Umgebung an, während wir lieber gewünscht hätten, die Umgebung paßte sich ihr an. Das mag es erklären, daß sie um winzige Teilstriche zu laut erschien; aber es ist gewiß schwer, mit der Sordine durchzudringen, wenn die andern Orchestermitglieder in allen Tonarten durcheinander geigen. O Agnes, glitzernder Zugvogel, kehre in ein festgefügtes Ensemble, kehre zu einem Regisseur zurück, der dir etwas sagen kann, von dem du dir etwas sagen läßt!"

Berliner Theater. NZZ, 28. April 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 116.
Friedrich Freksa, Sumurûn (Kammerspiele, 24.04.10). - "Neuestes - Allerneuestes in den Kammerspielen; Ältestes - Allerältestes. Sonst gab's zum Schluß der Spielzeit bei Reinhardt eine Posse; diesmal gelüstete es den Unermüdlichen nach einer Pantomime. Hei, war das ein Fressen für den farbenfrohen Regisseur! Das Auge sieht den Harem offen, es schwelgt das Herz in orientalischer Seligkeit. [Anspielung an Schillers ,Lied von der Glocke': ,Das Auge sieht den Himmel offen, / Es schwelgt das Herz in Seligkeit.'] Drama, Ausstattungsstück, Ballett; Mimik, Musik, Malerei, Tanz: alle Kunstgattungen und alle Künste liefen in der Hand des rastlosen Regie-Rattenfängers zusammen. Er lockte sie herbei, er wirbelte sie durcheinander, er verband sie zu einer Orgie seiner Phantasie, er konnte sich nach allen Richtungen austoben. Selbst den Blumensteg, den uns japanische Theaterbesucher jüngst warm empfahlen, ließ er sich nicht entgehen. Den Text schrieb ihm Friedrich Freksa [1882-1955], Ninon de l'Enclos-Dichter [1907], der seine aus orientalischen Märchenmotiven zusammengeschweißte Pantomime Sumurûn nannte; die Musik machte ihm Victor Hollaender, weiland Hauskapellmeister des Metropol-Theaters; die Dekoration malte ihm Ernst Stern; die Frauentänze arrangierte ihm Grete Wiesenthal aus Wien. Sie alle gehorchten dem ,größeren Herrn' [Faust]. Und das Publikum wäre ihm noch williger gefolgt, wenn es nicht die Empfindung gehabt hätte, daß man ihm des Guten ein wenig zu viel bot. - Hier setzt die Kritik ein. Drei und eine halbe Stunde währte die Augenlust. So lange darf eine Pantomime nicht dauern. Gewisse Kunstgattungen - wie oft muß man das sagen? - sind an eine gewisse Zeit gebunden. Sie dürfen ihr immanentes Maß nicht überschreiten. Ein Scherzo, das sich zur Länge einer Sinfonie auswächst, wäre zum Auswachsen. Ebensowenig darf eine Pantomime hypertrophisch anschwellen. Ihre Natur verbietet es. Denn es gibt doch eigentlich kaum mehr als ein halbes Dutzend Affekte, die sich ohne Worte, nur durch Gebärden ausdrücken lassen. Nun kann die stumme Geste unter Umständen weit beredter sein als das gesprochene Wort; aber da sie absolut eindeutig ist, fehlt es ihr an Abwechslung. Sie ist auf die Urtriebe der Menschenbrust angewiesen und vermag feinste seelische Differenzierungen nicht zu vermitteln. Die ungezählten Nuancen, die komplizierten Regungen sind ihr unerreichbar. - Dafür kam Freksa mit komplizierter Handlung. Mit allzu komplizierter. Er taumelte in einem Irrgarten der Liebe, als ob die Liebe nicht schon an sich ein Irrgarten wäre, so daß man Liebende nicht durch ein Labyrinth wandern zu lassen braucht. Dieses sind die Hauptstränge: Ein Buckliger hat eine Tänzerin. Der mächtige Scheich kauft sie; sein Sohn verliebt sich in sie. Der arme Bucklige kann ihren Verlust nicht verschmerzen und nimmt Gift. Die (vermeintliche) Leiche hat eine wahre Odyssee durchzumachen. Auf diesen teils grotesken, teils makabren Fahrten trifft sie in einer Kiste mit einem jungen Teppichhändler zusammen, dem es die Frau des Scheichs, die holde Sumurûn, angetan hat. Nach vielen Fährnissen gelangen beide in den Harem. Nun wird die Sache furchtbar blutrünstig. Vater und Sohn ringen um den Besitz der Tänzerin; dabei ersticht der Alte den Jungen. Dieser lebt eben noch lange genug, dem Vater zu verraten, daß er von seiner Frau verraten wird. Der Scheich stürzt sich wutschnaubend auf den Stoffhändler, dem in der höchsten Not der wieder zum Leben erwachte Bucklige ein Messer zum Todesstoß reicht. Nachdem so Scheich-Sohn und Scheich-Vater gefallen, steht der Verbindung der Liebenden nichts mehr im Wege - im Blumenwege. - Freksa hat es wohl selbst empfunden, daß diese Vorgänge nicht leicht zu entwirren sind. Deshalb ließ er zu Beginn den Märchenerzähler auftreten und die Fabel auseinander basteln. Aber trotz der Eselsbrücke wurde die Handlung nicht in allen Teilen klar, woraus man die Lehre ziehen mag, daß einer Pantomime die Verschlungenheit der Fäden wenig förderlich ist. Im Anfang überwucherten die komischen Episoden. Zwar kam die Handlung rasch genug in Fluß, aber sie blieb dann zu lange auf demselben Fleck stehn; erst in den drei letzten Bildern wurde sie zu jäher Klimax emporgeführt und, nach den weitschweifigen Präliminarien, wie mir scheint, Hals über Kopf beendet. Immerhin wollen wir nicht vergessen, daß hier ein neuer Versuch auf einem in Deutschland wenig gepflügten Felde vorliegt und daß der Pflüger ein Neuling war, der durch Extensität ersetzen wollte, was ihm an Intensität gebrach. - Desto ungenierter entfaltete sich die Routine des Komponisten. Ob Freund oder Freksa, ob Couplet oder Leidenschaft - wenn's nur gefällig klingt! Uns braucht es darum noch nicht zu gefallen. Wie individuell hätten wohl Künstler vom Range eines d'Albert oder Dohnanyi diese interessante Aufgabe gelöst! Herr Victor Hollaender, musikalischer Mitarbeiter an der Revue du demi-monde, gab orientalische Motive ohne ausgesprochenes Kolorit und Berlinische Motive von ausgesprochenem Metropoltheater-Kolorit. - Zum Glück war die Ausstattung so gar nicht Metropol-Theater. Die fatale Erinnerung an Hugo Baruchs [Seniorchef der Berliner Theaterkostümfabrik H. Baruch & Cie., gest. 25.06.05] grellen Zauber wurde nirgends geweckt. Selbst bei Reinhardt hat man selten entzückendere Bühnenbilder gesehen, und die Ausnutzung des kargen Raumes war bewundernswert. Schauspielerisch blieb nichts unausgeschöpft, wenn sich auch in der Pantomime noch höhere Möglichkeiten denken lassen. Herr Schildkraut (der Bucklige) zeigte, daß ein starker Mime das Wort ohne weiteres entbehren kann. Dagegen stand der Südländer Moissi (Sumurûns Erkorener) merkwürdigerweise nicht ganz auf gleicher Stufe; er gab sein Bestes im Ausdruck der Augen, während die Bewegungen der Hände mitunter fahrig erschienen. Doch herrlich wie immer, von wonniger Weichheit und Anmut waren die Schwestern Wiesenthal, zumal die grazile Grete; lieber als alle Favoritinnen und Odalisken, als der ganze Orient mit Harem und Bazar ist uns so ein süßes Wiener Madel."

Berliner Theater. NZZ, 4. Mai 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 122.
Fritz Peters, Konkurrenten ("Verein zur Förderung der Kunst" im Hebbel-Theater, 28.04.10). - "Wie wäre es, wenn wir einen Verein zur Abwehr des dramatischen Dilettantismus gründeten? Jahresbeitrag: nichts. Die Mitgliedschaft, die an kein Alter gebunden ist, wird lediglich durch die Verpflichtung erworben, künftige Vorstellungen des ,Vereins zur Förderung der Kunst' zu meiden. Im Ernst: wenn man nicht alle Vereine als Brutstätten des Kollektivirrtums perhorreszierte, würde man einen solchen Verein für ein dringendes Bedürfnis der Zeit halten. - Denn viel schlimmer als das unter der Ägide des genannten Vereins im Hebbel-Theater aufgeführte Kaufmannsstück Konkurrenten von dem angeblichen Bankbeamten Fritz Peters - viel schlimmer kann es wirklich nicht mehr kommen. Ein Barbiergehilfe wird nächstens ein Friseurstück, ein Zuckerbäcker ein Konfitürenstück, ein Heringsbändiger ein Rollmopsstück, ein Wertheim-Angestellter ein Warenhausstück schreiben, und der Verein ,zur Förderung der Kunst' hat die Pflicht, uns keines dieser Meisterstücke vorzuenthalten. So gehen wir einer neuen dramatischen Blüteperiode entgegen. - Auf diese Weise könnten wir dann unsere Spezialfachkenntnisse auf den verschiedenen Gebieten bereichern, falls es nicht die Herren Verfasser vorzögen, wie ihr Kollege Fritz Peters durch keine Sachkenntnis getrübt zu sein. Man braucht nie Fakturen geschrieben und sich mit Inventuren befaßt zu haben, um die unumstößliche Gewißheit zu haben, daß sich das kaufmännische Leben nicht in den Formen abspielt, die ihm Fritz Peters, Protégé des Vereins zur Förderung der Kunst, andichtet. - Fritz Peters?... Nach dem Vorspiel seines achtundzwanzig Jahre umspannenden dramatisierten Romans war kaum ein Zweifel, daß dieser Peters in Wirklichkeit Cohn hieß. Denn die Sympathien des Autors gehörten durchaus dem von seinen robustern germanischen Mitschülern mißhandelten Leo Ehrlich, der für die ausgestandenen Peinigungen durch die Liebe des Pensionstöchterleins entschädigt wird. Nach dem ersten Akt war kaum noch ein Zweifel, daß dieser Fritz in Wirklichkeit Frieda hieß. Denn nur ein weibliches Hirn kann sich vorstellen, die Erzählung eines Bärenaufbinders, er habe in Brasilien Bären geschossen, vermöge ein gesundes weibliches Wesen sofort in die Arme des Nimrod zu treiben. Nach dem zweiten Akt war kaum noch ein Zweifel, daß dieser Bankbeamte Frieda Cohn in Wirklichkeit eine Maklersgattin war. Denn in der Unterredung eines Großindustriellen mit dem zu immer größerm Wohlstand avancierenden Leo Ehrlich zeigte sie sich allzu erpicht auf Provision. Und der Schlußakt erschütterte die Vermutung nicht, daß der Bankbeamte Fritz Peters die in der Köpenickerstraße wohnhafte Maklersgattin Frieda Cohn ist. - Dieser Schlußakt wird durch eine wunderbar milde Melancholie gekrönt. Unser Held Leo Ehrlich, der von Jahr zu Jahr bessere Bilanzen gemacht, sich vom Geschäft zurückgezogen und eine feudale Villa gekauft hat, muß erkennen, daß er das wahre Glück nicht gefunden hat, weil ihm Weibeswonne und Wert versagt blieb. ,Und rafftest du allen Mammon der Welt / Und hättest der Liebe nicht - , / Du wärest dennoch vom Leben geprellt / Und bliebest ein armer Wicht': in diesen Vierzeiler könnte man die lobesame Lehre Frau Frieda Cohns zusammenfassen. Aber wenn man sieht, daß Leos Konkurrent, der Vollblutteutone, Pleite macht und Selbstmord begeht, wird man an das schöne Sprichwort erinnert: ,Ehrlich' währt am längsten. - . Nach diesem würdigen Abschluß eines recht unwürdigen Theaterwinters hat der Referent die Pflicht, sich etliche Monate procul negotiis zu erholen."

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1910 / 1911

Berliner Theater. NZZ, 9. September 1910, Drittes Abendblatt, Nr. 249.
Maxim Gorki, Die Letzten (Kammerspiele, 06.09.10). – „‚Um Maxim Gorki ist es beängstigend still geworden. Kaum daß eine der großen Revuen sich eingehender mit seinem neuesten Drama Die Letzten beschäftigt hätte. Man konstatierte gleichgültig das Undramatische in der Anlage, die Zerfahrenheit der Form und ging zur Tagesordnung über.’ – So schrieb, genau vor zwei Jahren, der russische Korrespondent des Literarischen Echos. Selbstverständlich ist das also gekennzeichnete und das also behandelte Drama in der Zwischenzeit ein Meisterwerk und eine Lebensfrage geworden. Wie wäre es sonst zu erklären, daß die Kammerspiele diese Letzten die Ersten sein ließen? Was die Landsleute des Dichters mit Recht totschweigen, weil es künstlerisch unerheblich, menschlich unergiebig ist, muß uns natürlich das wärmste Interesse einflößen. Der Ruf der deutschen Bühne als Sammelbecken für alle ausländischen Rinnsale stünde ja auf dem Spiele, wenn wir einmal ein seichtes Wässerchen fremden Ursprungs daheim versanden ließen. Das darf nicht sein. Außerdem ist Maxim Gorki, der Herbergsvater des Nachtasyls, ein Name, und wir führen ja bekanntlich Namen und nicht Dramen auf… – Trotzdem wird sich der gesunde Zuschauer in aller Demut die Frage vorlegen: was geht uns diese phantasielose russische Zustandsschilderung an? Hekuba wächst uns neben ihr ans Herz. Dies alles ist so absolut gleichgültig, belanglos, nichtig. […] – Dieses waren die Letzten. Mußten sie wirklich die Ersten sein? Mußten sich die Kammerspiele solcher Jammerspiele annehmen?“

Berliner Theater. NZZ, 14. September 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 254.
Wladimir Iwanowitsch Nemirowitsch-Dantschenko, Der Wert des Lebens (Modernes Theater, 10.09.10). – „Wenn wir nicht wüßten, daß W.J. Nemirowitsch-Dantschenko Mitdirektor des Moskauer künstlerischen Theaters wäre, und wenn der Name nicht sein Russentum verriete, könnten wir auf die Vermutung kommen, sein Schauspiel Der Wert des Lebens sei von einem Franzosen gemacht. Von einem Henri Bernstein-Schüler. Es ist doch wohl kein Zufall, daß, ganz wie der zweite Akt in Bernsteins Dieb, hier der dritte Akt von einer großen Auseinandersetzung des Ehepaares gefüllt und, ganz so wie dort, der schuldigen Gattin ein Geständnis entrissen wird. – Ein Ehebruchsdrama also in französischer Technik. Das erste uns bekannt gewordene russische Stück ohne ausgeprägt nationale Züge: ohne Terrorismus und Revolution, ohne die Dumpfheit und die bleierne Schwermut, die auf Menschen und Dingen lastet, ohne Altruismus und soziales Mitleid. (Daß sich die vierzehnjährige Tochter des Hauses nicht gewaschen hat und daß ein Heiligenbild im Zimmer hängt: das erinnert uns am stärksten an das heilige Rußland.) An die Stelle der sonst typisch russischen Züge tritt hier zum Schluß ein etwas übers Knie gebrochener und recht billiger Optimismus: die Sonne scheint; die Vögel zwitschern; freut euch des Lebens. – […] Vielleicht hätte das theatralisch nicht ungeschickte Drama aber doch anders gewirkt, wenn es statt in Magdeburg von einer Berliner Bühne aufgeführt worden wäre. Herr Direktor Ernst Gettke, der jetzt das Hebbel-Theater unseligen Angedenkens unter dem Namen ‚Modernes Theater’ leitet, wird strenge Musterung unter seinen Darstellern halten müssen, wenn er künstlerisch ernst gewertet sein will. Vorläufig können wir ihm und ihnen keine größere Wohltat erweisen als abzuwarten.“

Berliner Theater. NZZ, 17. September 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 257.
William Somerset Maugham, Wann kommst du wieder? (Neues Schauspielhaus, 13.09.10). – „Ha, welche Lust, ein Arzt zu sein! Wenigstens in London. Für jede Konsultation in seiner Sprechstunde erhält er 2 Pfund, d. s. beinahe 41 Mark. […] Aber auch sonst hat es der englische Arzt gut. Wenn er zu seiner Freundin gehen will, schützt er einen Krankenbesuch vor. Wenn er recht lange bei seiner Freundin bleiben will, sagt er seiner Frau, er habe eine Operation vor. Wenn er mit seiner Freundin nach Paris bummeln will, hat er eine Patientin auf einer Erholungsreise zu begleiten. Und wenn er die lästige Freundin los sein will, läßt er die Patientin plötzlich sterben. Man sieht, die englischen Ärzte wissen zu bunburieren, d.h. nichtexistierende Personen zur Bemäntelung ihrer geheimen Sünden zu erfinden. Wie aber, wenn ihre kleine Frau diese Schliche und Ausflüchte durchschaut? – Das bildet den Inhalt eines sänftiglichen Lustspiels Wann kommst du wieder? von William Somerset Maugham. Dann wird die kleine Frau zur Ärztin an dem Arzt. Sie heilt ihren Mann von seiner Liebschaft mit ihrer besten Freundin, indem sie ihn mit geheuchelter Gleichgültigkeit ruhig gewähren läßt. […] Moral von der Geschichte: quäle nie deinen Mann mit Fragen: wo bist du gewesen? was hast du getan? wann kommst du wieder? – Eine ganz niedliche Harmlosigkeit, diese Heilung der Unmoral durch Moral. Sie verbreitete im Neuen Schauspielhaus eine behagliche Stimmung, gemischt aus mäßiger Heiterkeit und etwas Langeweile. Amüsant für gut gezogene, gut genährte, gut gekleidete erwachsene Kinder. Die für Marie Tempest, die pariserische englische Komödienspielerin, geschriebene Hauptrolle wurde hier gar nicht pariserisch und gar nicht englisch, sondern bravbürgerlich sächsisch dargestellt von Frl. Ida Wüst. Aber dünn ist dieses Lustspielchen, dünn wie Pale Ale, und hierzulande wird bekanntlich viel mehr Siechen, Tucher, Kulmbacher getrunken. Drei Hauptpersonen nach bewährter Schablone, ein halbes Dutzend ebenso typisch gezeichneter Nebenfiguren – noch das Sommertheater in Krotoschin kann derlei aufführen, ohne einem Mitglied zwei Rollen aufzubürden.“

Berliner Theater fürs Volk. NZZ, 23. September 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 263.
Eröffnung eines eigenen Theaters mit eigenem Ensemble durch das Neue Volks-Theater (Neue freie Volksbühne); Otto Erich Hartleben, Erziehung zur Ehe (Neues Volks-Theater, 03.09.10). [Vgl. hierzu auch das Feuilleton ‚Ein Theater-Volkshaus’ von Hermann Kienzl (NZZ, 16.09.10, Nr. 256).] – „Seit Anfang dieses Monats hat die Neue freie Volksbühne ihre eigene Heimstätte oder doch, da diese nur ein Provisorium bedeutet, ihr eigenes Ensemble, von dem jetzt allabendlich gespielt wird. Sie konnte das für Wolzogens Überbrettl in der Köpenickerstraße geschaffene und nach dessen Untergang gelegentlich zu Gastspielen verwendete, meistens aber leer stehende Haus pachten und ist damit, nach langem Nomadenleben, seßhaft geworden. Wenn man bedenkt, daß dieser seit Dezennien bestehende Verein, der im Laufe des letzten Jahrzehnts von 900 auf 48.000 Mitglieder angewachsen ist, seine Aufgabe darin erblickt, fortzeugend Gutes zu gebären, so darf man ruhig sagen: das Neue Volks-Theater, wie sich der Verein jetzt nennt, ist ein kulturelles Ereignis allerersten Ranges für die Bevölkerung Berlins, für jene Bevölkerung wenigstens, die nicht zu den oberen Zehntausend, dafür aber nach Hunderttausenden zählt. – Einige Zahlen und Angaben aus der Geschichte des Vereins, der am 19. Oktober dieses Jahres seinen zwanzigsten Geburtstag feiert, dürften auch für den auswärtigen Leser von Interesse sein. Anfangs war die Freie Volksbühne keineswegs auf Rosen gebettet. Sie hatte pekuniäre Schwierigkeiten zu überwinden, erlebte Spaltungen innerhalb ihres Vorstandes, und natürlich fehlte es ihr auch nicht an Scherereien mit einer hochwohllöblichen Polizei, die ihr jetzt wieder, in der Gestalt der Zensur, den Maulkorb vorhängen möchte. Der große Aufschwung des Vereins datiert erst aus dem Winter 1902. Bis dahin hatten nur vereinzelte Vorstellungen mit jeweils für die Stücke zusammengesuchtem Personal stattgefunden; nun ergab sich die Notwendigkeit, eine Bühne für sämtliche Nachmittagsvorstellungen zu pachten (es war das Neue Theater, das eben in Max Reinhardt einen neuen Herrn gewonnen hatte). Damit kam man jedoch, bei der sich stetig mehrenden Mitgliederzahl, nicht lange aus, und so mußten im Laufe der Jahre fast alle Berliner Bühnen – mit Ausnahme der königlichen Theater – herangezogen werden. Trotzdem der Verein jetzt ein eigenes Haus besitzt und acht Vorstellungen wöchentlich bietet (zwei am Sonntag), muß er noch außerdem in neun Berliner Theatern Sonntag nachmittags Vorstellungen geben lassen. – Folgende Tabelle (Zahlen führen bisweilen eine beredtere Sprache als Worte) mag die rapide Zunahme des Vereins veranschaulichen: 1904/05 6.000 Mitglieder; 1905/06 10.200; 1906/07 13.500; 1907/08 19.000; 1908/09 26.500; 1909/10 38.000; und für das laufende Jahr rechnet man auf 48.000 Mitglieder. Dementsprechend mußte die Zahl der künstlerischen Veranstaltungen steigen. Während man noch mit neununddreißig im Jahre 1901 auskam, sind in diesem Vereinsjahr rund achthundert Darbietungen vorgesehen. Man beschränkt sich in kluger Einsicht und mit löblichem Eifer nicht auf Bühnenwerke, sondern gibt Konzerte, belehrende Vorträge, Dichter- und Künstlerabende. Auf diese Weise wird neben reiner Unterhaltung die allgemeine Bildung gefördert. – Bruno Wille ist als der eigentliche Vater des Unternehmens anzusprechen, das man als bleibendste und wertvollste Schöpfung des Friedrichshagener Kreises – [einer 1888/89 entstandenen losen Vereinigung von Schriftstellern] – bezeichnen kann. Wille hat den ersten Aufruf zur Begründung des Vereins verfaßt, Wille war sein erster Vorsitzender. Noch heute ist er als ständiger Ehren-Vorsitzender eng mit ihm verbunden. Den Vorsitz führt seit 1903 Dr. Josef Ettlinger, über dessen Verdienste man sich vor literarisch versierten Lesern nicht zu äußern braucht. Es ist erstaunlich, woher dieser vielbeschäftigte Mann – er gibt drei Zeitschriften heraus; und wie gibt er sie heraus! – auch noch die Zeit zum Theaterdirektor nimmt. Denn es wird nicht mehr lange dauern, und die Neue freie Volksbühne hat ihr eigenes Theater, während sie sich jetzt noch mit dem für seinen ursprünglichen Kabarettzweck gefällig, aber für das ernste Drama zu spielerisch und kokett ausgestatteten Endellschen Saal vor den Toren der Stadt behelfen muß. – Auch literarischer Taten darf sich der Verein rühmen. Er ist für manchen Ringenden tapfer eingetreten und hat ältere Werke von Bedeutung ans Licht gezogen, etwa Dantons Tod von Georg Büchner [05.01.1902] und Die Kindsmörderin von Goethes Jugendfreund Heinrich Leopold Wagner [04.09.1904]. Hier sind von den Modernen Halbe, Hartleben, Hauptmann (Gerhart und Karl), Wolzogen, Klara Viebig u. a. mit einzelnen Dramen zuerst zu Worte gekommen. Ehe Brahm mit den Webern seinen stärksten Erfolg im Deutschen Theater hatte [25.09.1894], wußten sie das empfänglichere Publikum des Vereins zu erschüttern [23.02.1893]. Und es ist interessant, zu erfahren, daß der zweite Teil von Björnsons Über unsere Kraft, dem Paul Lindau seinen größten Erfolg im Berliner Theater verdankte [24.03.1900], gleichfalls hier seine Feuerprobe bestand [30.05.1897]. Mir persönlich ist jener Sonntag nachmittag unvergeßlich, an dem ich unsere verehrte Klara Viebig – man gab ihr kraftvolles Schauspiel Barbara Holzer – zum ersten Male sah [13.12.1896]. Dreizehn Jahre sind es her, und noch immer sehe ich, wie man die schämige Dichterin wider ihren Willen auf die Bühne zerrte ... – Das war eine der wenigen Vorstellungen, denen ich in der Neuen freien Volksbühne beigewohnt. Nun sie sich in das Neue Volks-Theater umgewandelt hat, schien es Pflicht, ihr bald einen Besuch abzustatten. Man spielte Hartlebens Erziehung zur Ehe [1893]. Anfang 8½ Uhr, also zu einer Zeit, wo jeder Geschäftsangestellte, wenn er sich ein wenig beeilt, pünktlich zur Stelle sein kann. Der Preis des Billetts beträgt neunzig Pfennig oder eigentlich, da jetzt ein Zuschlag von zehn Pfennig für den Baufonds erhoben wird, eine Mark; doch wird dieser Zuschlag den Mitgliedern gutgeschrieben und von zehn Mark an verzinst. Für Programm und Garderobe werden selbstverständlich keine besonderen Gebühren verlangt, so daß ein solcher Theaterabend auch den mit Glücksgütern nicht Gesegneten erschwinglich ist. – Otto Erichs Satire in philistros. Kein gutes Stück. Nie ein gutes Stück gewesen und jetzt reichlich vergilbt. Der zweite Akt, in dem eine Buchhalterin pathetische Töne anschlägt, kaum noch erträglich. Die Tendenz gar zu wohlfeil. Einzig der Dialog, wie immer bei dem graziösen Spötter, frisch. Man könnte doch, auch wenn man den Kritiker beiseite läßt, allerlei gegen die Wahl dieser Komödie einwenden. Um mich herum saßen ganz junge Menschen, neben mir ein blutjunges Mädchen. Daß vieles faul ist im Staate der Bourgeoisie wußte meine Nachbarin vielleicht schon; aber ich weiß nicht, ob sie gerade im Theater über ‚Verhältnisse’ wohlhabender Bürgersöhne aufgeklärt zu werden brauchte. Jedenfalls kann ich mir, vom Standpunkte dieses jungen Mädchens aus, erquicklichere Themen denken. Am Frankfurter Opernhaus prangt die Goethesche Inschrift: ‚Dem Wahren, Schönen, Guten’. Ich bin mehr dafür, dem Volke Schönes als Wahres zu bieten. Seine ästhetische Erziehung scheint mir im Theater wichtiger als seine soziale. Was wahr ist, erfahren Leute, die tagtäglich mit dem Leben in Berührung kommen, früh genug; was schön ist, können sie nie früh genug erfahren. Außerdem ist diese Hartlebensche Satire nur bedingt wahr, und selbst wenn sie absolut wahr wäre, ist sie auf keinen Fall gut. – Die Aufführung war durchaus respektabel, gutes Schiller-Theater-Niveau. Aus dem unter der Regie A. E. Lichos umsichtig abgetönten Ensemble ragte Herr Emil Rameau, dem Zürcher Publikum kein Fremder, durch die feinkomische Ausgestaltung einer sächsischen Dialektrolle hervor. – Wenn zum Schluß noch ein Wunsch geäußert werden darf, so wäre es der, daß die literarischen Einführungen, die Bruno Wille zum Programm beisteuert, etwas sorgsamer stilisiert sein möchten. Man sollte nicht schreiben, daß ein Hauch in stickige Räume hineinstürmt; sollte nicht sagen, man habe einen Haß für etwas; sollte nicht von häßlichem Schlamm reden u. dergl. Auch stilistisch, dünkt mich, ist für das Volk das Beste gerade gut genug.“

Berliner Theater. NZZ, 24. September 1910, Viertes Morgenblatt, Nr. 264.
Carl Rößler u. Alexander Roda Roda, Der Feldherrnhügel (Lustspielhaus, 20.09.10). – „Im Lustspielhaus, wo die Kunstkritik seit Jahren kaum noch etwas zu suchen hatte, und die soziale Kritik vielleicht manchen dunkeln Punkt fand, herrschte gestern abend heller Jubel über die Schnurre Der Feldherrnhügel von Carl Rößler und Roda Roda. Das Publikum schien sich königlich (oder zum mindesten erzherzoglich) zu amüsieren. Verbotene Früchte schmecken erfahrungsgemäß seinem wenig wählerischen Gaumen. Die noch weniger wählerischen Autoren können der Zensur, die stets das Gute will, gar nicht dankbar genug sein, daß sie ihnen durch ein anfängliches Verbot einen ganz ungerechtfertigten Liebesdienst erwies. Stand etwa der Ruf einer uns verbündeten Großmacht und ihrer tüchtigen, wenn auch bisweilen flüchtigen Heerführer auf dem Spiele? Hätten sich österreichische Erzherzöge an zuständiger Stelle darüber beschweren können, daß ihnen hier eine unerlaubte Blödigkeit und Pflichtvergessenheit angehängt werde? Oder was sonst veranlaßte die preußischen Behörden zum Einschreiten? Nun, in Wien, wo man doch sozusagen ein vitaleres Interesse an der Sache haben könnte, wird diese Schnurre meines Wissens seit Monaten gespielt, und die österreichische Monarchie ist darum nicht aus dem Leim gegangen. Aber unsere Polizei, die (s. oben!) stets das Gute will, ist wieder einmal auf den Leim gegangen, weil sie in ihrem täppischen Zartgefühl päpstlicher sein wollte als der Papst. – Einerlei, es war ein unbestrittener Erfolg, und der eine der komischen Dioskuren, Herr Roda Roda, hatte noch einen zwiefachen Spezialerfolg: als Gesichtsmimiker mit einem ulkigen Augurenzwinkern der verschmitzt lächelnden Äuglein und als Modematador mit einer knallroten Weste, die in den Premierenannalen fortleben wird wie die gelbe Weste des Herrn v. Kiderlen-Wächter in der Politik. Auch die Aufführung des Lustspielhauses, für die Herr Direktor Martin Zickel verantwortlich zeichnete – jawohl, es ist derselbe Dr. Zickel, der Maeterlinck zuerst in Berlin darstellen ließ – verdient uneingeschränktes Lob. In keinem Augenblick stockte das Tempo, und das Lokalkolorit war überaus glücklich gewahrt, was bei drei Dutzend Dialekt sprechenden Personen immerhin etwas besagen will. Selbst das königliche Schauspielhaus, das Hrn. Zickels abgelegte Schlager übernimmt, auf diesen aber blutenden Herzens verzichten mußte, hätte die Sache nicht besser machen können.“

Berliner Theater. NZZ, 27. September 1910, Drittes Abendblatt, Nr. 267.
Emile Verhaeren, Das Kloster (Kammerspiele, 23.09.10). – „,Mir war’s, als trüge herüber die Luft fremdländischer Blumen bestrickenden Duft’: wie eine lästige Melodie umsurrten mich diese Verse aus Wildenbruchs ‚Hexenlied’, da eine andere Ballade, Emile Verhaerens Tragödie Das Kloster, auf der Bühne des Kammerspielhauses an uns vorüberzog. Die Ballade von der Macht des Gewissens, die für uns Deutsche in Schillers ‚Kranichen des Ibykus’ ihren Ausdruck gefunden hat. Statt der Landstraße und des antiken Theaters umfing uns hier Klosterdumpfheit, an die Stelle der heitern Götter Griechenlands traten hier Madonnenkult und mystische Glaubensinbrunst. Der Duft wehte nicht von fremdländischen Blumen herüber, sondern von katholischem Weihrauch, und der Duft war nicht eigentlich bestrickend, nicht so stark jedenfalls, daß er den Verstand einlullte und seine Kontrolle lahmlegte. – […] Une grande confession steht also im Mittelpunkte der Handlung. Oder eigentlich sind es zwei Beichten; erst die der sin of commission vor den Ordensbrüdern, dann die der sin of omission vor dem Volk. Natürlich müßte die zweite Beichte, wenn sie innerlich gerechtfertigt erscheinen soll, eine Steigerung bedeuten. Sie ist aber, statt einer Klimax, geradezu eine Antiklimax. Denn nur Balthasar [der Protagonist] und die Mönche begreifen die Gradation der Verbrechen nicht sogleich, während die Hörer von Anbeginn an wissend sind. Das ist die technische Achillesferse des psychologisch an vielen Stellen verwundbaren Dramas. – […] Auch den wenigen Episoden, die das Hauptgerüst umranken, fehlt die letzte poetische Schlagkraft. Da ist das erotisch schillernde Verhältnis Balthasars zu einem ‚kindkeuschen’ Bruder. Nun, der große Schiller schreckte im Entwurf der Malteser nicht davor zurück; und ein Moderner, George Moore, hat in seinem Klosterroman Schwester Teresa dieses Motiv mit unvergleichlicher Zartheit behandelt. Verhaeren weiß nichts Rechtes damit anzufangen. Dagegen hat er, sicher nicht uninteressiert, dem Kampfe zwischen den bürgerlichen und aristokratischen Mönchen breiten Raum gegönnt, ohne daß uns diese belgische Sonderangelegenheit sonderlich interessant erschiene. – Von dem Lyriker Emile Verhaeren, der keine belgische Sonderangelegenheit, vielmehr, wie Kenner versichern, von europäischer Bedeutung ist, dringt kein starker Eigenton in diese Männertragödie. Eine leidenschaftlich erregte Sprache, die gewiß im einzelnen viele Schönheiten birgt, umbrandet die Felsen der Handlung. Aber ich finde: trotzdem gereimte Verse mit Prosa abwechseln, wäre weniger rhetorischer Schmuck, dem Stefan Zweig, der Übersetzer, liebevolle Pflege angedeihen läßt, ein Gewinn. Unser modernes, realistisch geschultes Ohr sträubt sich fast dagegen, die Erzählung eines Mordes in sorgsam gereimten Zeilen statt in abgehackten Worten mit Pausen und Aposiopesen anzuhören. Darum erschüttert uns ein Nikita (in der Macht der Finsternis) so viel mehr als ein Medardus (im ‚Hexenlied’). – Immerhin, es gehörte sich, daß die Kammerspiele, ihrer Daseinsbestimmung eingedenk, für das Werk des Vlämen eintraten. Herr Kayßler konnte der dominierenden Rolle des Raskolnikow in der Kutte die Herbheit und die asketische Zurückhaltung seines Wesens leihen. Daneben hätte es nur noch eines kraftvollen Greises und eines schwärmerischen Jünglings bedurft, welche nicht vorhanden waren. Ein Stück mit drei Rollen wird von einer ersten Berliner Bühne unzulänglich dargestellt! So spielt man augenblicklich in dieser Kunststadt Komödie. O Max Reinhardt, kehre schleunigst aus München zurück, und vieles soll dir vergeben sein.“

Berliner Theater. NZZ, 2. Oktober 1910, Zweites Blatt, Nr. 272.
Herman Heijermans, Die neue Sonne (Kgl. Schauspielhaus, 28.09.10). – „Nach drei Akten bleierner, hoffnungsloser Langeweile brachte es Herman Heijermans fertig, uns mit dem vierten Akt seines Schauspiels Die neue Sonne aus sanftem Halbschlummer kräftig wach zu schütteln, wenn er auch nicht mehr zu erschüttern vermochte. Drei Akte lang rührt er sich kaum von der Stelle; im vierten rührt er uns beinahe. – […] Wenn es gelänge, die ersten drei Akte der Neuen Sonne auf die Hälfte ihres Umfangs zu reduzieren, so daß die Katastrophe des (keineswegs wertlosen) Schlußaktes unermüdete Hörer fände, so wäre das Drama wahrscheinlich zu retten, die Wirkung sicher zu verdoppeln. Heijermans sollte seinem Drama selbst zu Hilfe kommen; denn die Unterstützung, die ihm von den Mitgliedern der königlichen Bühne zuteil wurde, war nur in den Nebenrollen zum Teil ausgezeichnet, zum Teil ausreichend, während man die Hauptrolle der heroisch bürgerlichen Tochter einer Elevin anvertraut hatte, der noch die Eierschalen der Theaterschule anhafteten. – Nach diesem Werke darf man Herman Heijermans nicht mehr als den Dichter einer Szene bezeichnen: der unvergeßlichen Szene des Schifferdramas Hoffnung auf Segen, in welcher der junge Barend fast mit der Kraft des Prinzen von Homburg seine Todesängste hinausschreit [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 04.11.01, Nr. 306]; sie findet jetzt ihr Gegenstück in der Beichte der jungen Annemarie. Schade, daß sie in einem Schlaftrunk steckt.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Oktober 1910, Zweites Blatt, Nr. 279.
Björnstjerne Björnson, Wenn der junge Wein blüht (Lessing-Theater, 01.10.10). [Rezension in Form eines Briefes der Abiturientin „Margot“ an ihre „liebe Ursel“ in Zürich.] – „Es war das erstemal, daß ich eine Vorstellung im Lessing-Theater besuchen durfte, als Belohnung dafür, daß ich das Abiturientenexamen bestanden und damit das Zeugnis der ‚Reife’ erhalten habe. […] Wenn ich mich recht erinnere, hast Du das Lustspiel schon vor etlichen Monaten in Zürich gesehen und schriebst mir damals, nicht gerade begeistert, aber freudig angeregt. Hier schienen sich die Leute einfach köstlich zu amüsieren. Es wurde viel und es wurde herzlich gelacht. Auch an Stellen, wo gar nichts zu lachen war. Vielleicht sollte ich sagen: wo ich noch zu einfältig oder schon zu blasiert bin, die Berechtigung des Lachens einzusehn. Einmal wurde sogar bei offener Szene Beifall geklatscht, als Frau Arvik, von der herrlichen Else Lehmann dargestellt, ganz entrüstet sagte: ‚Die Ehe ist ein Dreck’, was ich ziemlich abgeschmackt fand. Ich meine das Beifallsgejohle der verständnisinnigen Menge. […] – Es war also ein voller Erfolg. Aber wie wurde auch gespielt! Am besten hat mir Hilde Herterich gefallen, die früher bei Euch war. Sie sah zum Entzücken aus; gar nicht nordisch blond, was auf die Dauer langweilig wirkt, sondern südländisch pikant, von einem dunkeln Liebreiz, dem sicher kein Mann widerstehen kann. Und sie sah so verführerisch jugendlich aus, viel jünger als alle die andern. Auch Lina Lossen, die eben aus München gekommen ist, gefällt mir sehr, trotzdem die strohblonde Perücke sie nicht besonders kleidete. Sie hat manchmal einen Zug um die Mundwinkel, der an die Sorma erinnert, und in ihrem Organ scheinen Glocken zu zittern. Gib mal acht: die wird ihren Weg machen. Von den Herren war der echt blonde Hans Marr in der törichten Rolle des Revolver schießenden Liebhabers am meisten nach meinem Geschmack, weil er ein so prachtvolles Gebiß hat. – Wenn du mich nun fragst, liebe Ursel, wie ich über das Stück denke, so höre ich selbstverständlich seine Melodie. Wiegender Tanzrhythmus. Polka, pizzicato zu spielen. Ich spüre seinen Duft: new mown hay (kennst Du das Parfum von Atkinson? Es ist himmlisch). Ich finde es auch reizend, daß ein alter Herr von fünfundsiebzig Jahren ein solches Loblied auf die jungen Mädchen anstimmt, aber, offen gestanden, es wäre mir lieber, ein junger Herr von fünfundzwanzig hätte es gesungen. […] – Mein Gefühl sträubt sich auch gegen die Geschichte mit dem zweiundfünfzigjährigen Probst, der sich mit seiner siebzehnjährigen Nichte verlobt. Daß junge Mädchen, der Versorgung wegen, sich zu den älteren Jahrgängen hingezogen fühlen, wie es hier beinah als Regel aufgestellt wird, das ist ja Mumpitz. Mir sagt mein Gefühl oder mein Instinkt – nenn’s, wie Du willst –: man muß in heißer Lieb’ entbrennen, sonst geht einem das Beste verloren. Altersversorgung ist ein Teil der sozialen Gesetzgebung, ist durchaus angebracht für Dienstmädchen, hat aber im geräumigen Hause der Liebe kein Kämmerlein. Da oben in Norwegen ist’s nicht anders. Glaub es mir, das Gefühl trügt nicht. – Doch auch das nähme ich noch ruhig hin. Am meisten gegen den Strich geht mir die fast frivole Art, mit der vor jungen, unverheirateten Mädchen über die Geheimnisse des Schlafzimmers gesprochen wird. Das ist unfein, und das gibt es in Norwegen bestimmt nicht. In Norwegen am allerwenigsten. Wenn Papa Arvik seiner Frau zu verstehen geben will, warum seine älteste Tochter von ihrem Mann gegangen ist, so schickt er doch vorher die jungen, unverheirateten Mädchen fort. Aber in ihrem Beisein zweideutige Redensarten und wenig delikate Anspielungen zu machen – ich kann mir nicht helfen, das geht mir wider die Natur. Und Du weißt, daß das Wort Prüderie in meinem Lexikon nicht steht. Ich hoffe, es ist nur mein gesundes Empfinden und meine gute Erziehung. – Der Schluß setzt aber allem die Krone auf. Im Triumph wird das Bett der Mutter wieder in das Schlafgemach des Eheherrn getragen, und die unverheirateten Töchter marschieren taktloserweise mit im Zug. Dagegen empört sich mein Zartgefühl. Wo gibt es denn so was? In französischen Schwänken? Ich kenne sie nicht. Aber in einem feinkomischen nordischen Lustspiel? Verzeih mir die Sünde wider den toten Björnson, der ein wundervoller Mensch gewesen sein soll: ein wundervoller Dichter kann er nicht gewesen sein.“

Berliner Theater. NZZ, 13. Oktober 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 283.
Frank Wedekind, Die Zensur und Der Liebestrank (Kleines Theater, 06.10.10). – „Frank Wedekind als Dichter der Theodizee Die Zensur und des Schwankes Der Liebestrank; Frank Wedekind als Regisseur; Frank Wedekind als Schauspieler; Frank Wedekind, der, nachdem er im stillen Kämmerlein gestöhnt und gehöhnt, Gott geflucht und Gott gesucht, seine dem Papier anvertraute Beichte vor versammelter Gafferschar inszeniert und exhibitioniert; Frau Frank Wedekind als Genossin seiner – Einsamkeit und seiner schauspielerischen Bemühungen, als malträtierte Geliebte des Literaten, als entblößte Zirkusdame im Ballettröckchen auf der Lauftrommel: diese nicht alltägliche Fülle der Sensationen gab es im Kleinen Theater. Das Publikum, Wahlverwandten zum großen Teil, schien von der blutig ernsten Konfession [Die Zensur] gepackt und lachte nach Gebühr über die Operettenkomik der russischen Farce [Der Liebestrank]. Ich fand – Verzeihung für meine Privatgefühle – das Schauspiel, das schon mehr eine Schaustellung war, so geschmackswidrig, daß ich fast körperliches Unbehagen dabei empfand. – […] Er nimmt das Zensurverbot seines Dramas Die Büchse der Pandora zum Anlaß, eine Beichte über den Künstler Wedekind abzulegen. […] So weit ist alles erträglich. Eine Privatangelegenheit (Verbot eines Theaterstückes) wird über den rein persönlichen Ausgangspunkt hinaus zu einer bedeutungsvollen Frage (die Schönheit der Erscheinungswelt soll mit der Heiligkeit des Geistigen versöhnt werden) in einer dialektisch vorzüglichen Szene gesteigert. Aber wenn Herr Wedekind die Scheu überwindet, seine Gewissenskämpfe und Eitelkeitskrämpfe einem hochwohllöblichen Publico gegen bares Geld von den Brettern herab vorzumimen; wenn ihn die künstlerische Scham nicht abhält, das eigne Liebesleben im Verein mit seiner Gattin zur Schau zu stellen: so läßt sich, vom Standpunkt des guten Geschmacks aus, dafür kaum ein entschuldigendes Wort finden. Es ist doch wohl nicht ganz dasselbe, wenn der Dichter William Shakespeare den Geist von Hamlets Vater verkörpert und der Dichter Frank Wedekind Geist von seinem Geiste und Blut von seinem Blute verkörpert… – […] Nach dem Menschlichen, Allzumenschlichen des Religionsgespräches hinterließ die Posse Der Liebestrank angenehmere Eindrücke, zum Teil weil das Dilettantenehepaar auf seine Mitwirkung verzichtete und von vollwertigen Schauspielern ganz ausgezeichnet vertreten wurde, zum Teil weil hier eine wirklich komische Idee in ihrer spezifisch komischen Art zum Ausdruck gelangt. […] Der Stallmeister Wedekind wirbelt die Zirkusfiguren durcheinander, was ungleich lustiger ist, als wenn der Literat seine Geliebte peitscht.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Oktober 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 288.
Heinrich Lilienfein, Der Stier von Olivera (Neues Theater, 14.10.10). – „Aus einer Bulldogge läßt sich kein Windspiel machen, sagt ein spanisches Sprichwort. Noch viel weniger, fügen wir hinzu, aus einem Windspiel eine Bulldogge. Diese Metamorphose glaubte Herr Heinrich Lilienfein vornehmen zu können. Ein feingegliedertes Windspiel war er freilich nicht, aber immerhin ein manierlicher Pudel. Und nun gebärdet er sich recht rabiat in seinem Schauspiel Der Stier von Olivera und hat sich zu einer Bulldogge gewandelt. Zu einem Theatraliker vom reinsten Wasser, zu einem Tableau-Tamerlan ohne Furcht, doch keineswegs ohne Tadel. – Theatraliker ist ein viel zu mildes Wort für dieses wilde szenische Draufgängertum. Die Rampe röchelt, die Kulissen wackeln. Es ist die tiefste Stufe der Theatralik, zuletzt von Sudermann in den Strandkindern betreten [s. MMs Theaterkritiken in der NZZ vom 23.12.09, Nr. 355, und 06.01.10, Nr. 5]. Ein Schritt weiter, und wir sind im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten oder der grenzenlosen Unmöglichkeiten des Melodrams. […] – Es ließe sich sehr gut denken, daß dieser Stier von Olivera einst im Kientopp fröhliche Urständ feierte. Mit ein paar erläuternden Bemerkungen wäre die Geschichte zu machen. Dann hätte Heinrich Lilienfein das Verdienst, als erster deutscher Dichter für diese große Bildungsanstalt des deutschen Volkes ein abendfüllendes Drama geschaffen zu haben. […] – Bald gibt sich die Sprache einen rhetorischen Aufschwung, dann wirkt sie platt; bald läßt sie sich ungezwungen gehen, dann reden die Personen Papier. Es wäre wirklich das Empfehlenswerteste, man verzichtete auf die Worte und veranschaulichte die Handlung durch Lichtbilder. – Dann bliebe immer noch eine dankbare Rolle übrig, die Herr Ferdinand Bonn nach dem Geschmack seines Kinematographentheaterherzens finden könnte. Er hat die ganze Skala der Leidenschaften durchzumachen; erst miles gloriosus, zuletzt rasender Othello. Aber er vermag bei aller Bravour den Affekt nicht mehr festzuhalten. Er erinnert an einen straff gespannten Draht, der in kürzern Abständen schlaff herunterhängt. Die Stimmung rutscht ihm aus, und er sinkt ins Banale. Das hinderte seine Anhänger nicht, seine Temperamentsausbrüche zu bejubeln. Aber aus allem Beifallsklatschen, das reichlich im Neuen Theater erscholl, läßt sich so wenig ein dauerhafter Erfolg machen, wie aus einer Bulldogge ein Windspiel.“

Berliner Theater. NZZ, 20. Oktober 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 290.
Henri Bataille, Die törichte Jungfrau [La vierge folle] (Berliner Theater, 15.10.10). – „La Vierge folle von Henry Bataille war in Paris ein Schlager erster Ordnung; im Berliner Theater vermochte Die törichte Jungfrau, vom Ibsen-Übersetzer Julius Elias über die Grenze geleitet, höchstens die Galerie zu geräuschvollen Kundgebungen zu veranlassen. Die Erwartungen, die man an das Erscheinen dieser Jungfrau knüpfte, werden sich schwerlich erfüllen: sie war schlechter als ihr Ruf; und der Kritiker kann mit unverhohlener Freude melden, daß unser Publikum einmal besser war als sein Ruf. – Man darf gewiß nicht glauben, der mit allen Hunden gehetzte Henry Bataille wolle Leben vortäuschen. Er denkt keinen Augenblick daran. Er will ganz einfach ‚Theater’, unverfälschtes Theater geben. Will in jedem Augenblick spannen, packen. Läßt er die Fäden nur eine Sekunde locker, so ist er geliefert. Feste, immer feste heißt seine Parole. Nun herrscht bei den Franzosen in diesem Rayon der dramatischen Literatur starke Nachfrage und gute Tradition. Aber seitdem Henry Bernstein mit seinen Reißern den Markt befährt, sind die Konkurrenten, wenn sie sich im Existenzkampf behaupten wollen, immer skrupelloser in ihren Mitteln geworden. Bataille folgt, gar nicht errötend, Bernsteins Spuren. – […] Für solche Boulevardsensationen sind wir nicht zu haben. Derartige Reißer, mögen sie noch so blendend gemacht sein, lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab. Diese Sorte von unverfrorenstem Theater prallt an uns ab. Zwar haben alle deutschen Bühnen schon vor der Berliner Premiere das Stück angenommen; es ist aber zu hoffen, daß sie es bald fallen lassen.“

Berliner Theater. NZZ, 25. Oktober 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 295.
Leo Birinski, Der Moloch (Modernes Theater, 22.10.10). – „Von allen Russen, die das Thema der Revolution behandelt haben, hat Leo Birinski am meisten dramatischen Nerv, und sein Trauerspiel Der Moloch ist das handfesteste, lauteste Theaterstück, das bisher den Weg aus dem Lande stillen Duldens zu uns gefunden hat. Es erzählt, wie der Begründer einer terroristischen Gruppe junger Leute von seinen Freunden unter schweren Verlusten aus dem Gefängnis befreit wird, weil sie ihn dazu ausersehen haben, ein Attentat auf den Gouverneur zu verüben, wie er aber durch die seelischen Qualen der Einzelhaft von seinem Altruismus, seinen welterlösenden Gedanken abgekommen ist, des Molochs Menschheit spottet und schließlich des Lebens so überdrüssig und so sterbensbereit ist, daß er sich zu dem Attentat, das ja auch für ihn den sichern Tod bedeutet, hergeben will, wenn ihn nicht vorher die Kugel eines Kosaken niederstreckte. – Zuletzt kam das Theaterstück, und es wäre ihm gewiß unschwer gelungen, sich durchzusetzen, wenn unsere Teilnahme für den Gegenstand nicht schon verbraucht wäre. Wir sind jetzt abgestumpft. Laßt, Russen, genug sein das schmerzvolle Spiel! Der stille Jammer, mit dem die Vorgänger Birinskis zu unserm Herzen sprachen, bewegte uns mehr als die geräuschvollen Vorgänge, die hier auf der Bühne gezeigt werden. Birinski hat offenbar die Revolution, wie alle seine intellektuellen Mitstreiter, am eigenen Leibe erfahren; er ist davon ergriffen worden, und das Ereignis hat ihn in tiefster Seele ergriffen. Aber es scheint, als ob er nicht in gleichem Maße wie die Gorki, Andrejew und alle die übrigen die Gabe besäße zu sagen, was er leide; denn wenn er auch in einzelnen Szenen dramatisch von uns Besitz ergreift: menschlich zu ergreifen vermag er uns nicht. […] – Am dichterischsten geschaut ist die Gestalt des alten Vaters, der sich zuerst entsetzt von seinen Kindern abwendet, als er hört, daß sie an den terroristischen Umtrieben beteiligt sind, und es dann nicht fassen kann, daß sich sein Sohn von der gemeinsamen Sache lossagen will. Von dieser rührenden Figur war in der Aufführung des Modernen Theaters, das auch sonst einen terroristischen Rotstift wüten ließ oder vielleicht wüten lassen mußte, nur wenig übrig geblieben. Es gab mehr ein Schauer- als ein Trauerspiel zu sehen, und die Unzulänglichkeit der Darstellung raubte dem für eine Erstlingsarbeit immerhin viel versprechenden Werke manches von seinem geistigen Gehalt.“

Berliner Theater. NZZ, 3. November 1910, Erstes Morgenblatt, Nr. 304.
Ludwig Fulda, Herr und Diener (Deutsches Theater, 29.10.10). – „Gegenüber seinen letzten Leistungen im Bezirk des Lustspiels bedeutet Ludwig Fuldas neues dreiaktiges Drama Herr und Diener einen Aufstieg zu den Gipfeln. Es ist sehr viel für Fulda, aber es ist nicht sehr viel für die Kunst. Seit dem Herostrat [Uraufführung Kgl. Schauspielhaus, 26.10.98] hat er keine tragischen Anwandlungen mehr gehabt. Ganz so wie dort bietet er den Anblick eines Kanarienvögelchens, das sich mit einem Adler verwechselt. Es spannt die Flügel aus, so weit, so weit; es möchte gern hinauf in die ewigen Regionen von Schnee und Eis … aber es gelangt nur über das Dach des Nachbarhauses und freut sich am Ende, daß es eingefangen wird und in seinem Bauer wieder von Stäbchen zu Stäbchen hüpfen kann. – Wenn Großes in der Kunst gewollt zu haben mit Größe identisch wäre, dann wäre zu berichten, daß Ludwig Fulda diesmal in die Nähe Grillparzers und Hebbels vordringen wollte. Solange aber Kunst noch von Können kommt, werden nur die persönlichen Freunde des Autors, unter Preisgabe ihrer kritischen Gesinnung, den guten Willen für die Tat nehmen. Das Publikum ehrte das Streben und schien doch den Zwiespalt zwischen Wollen und Können schmerzlich zu empfinden. Während es nach dem ersten Akt noch recht kalt blieb, bereitete es dem Werke später einen nur durch vereinzeltes Zischen bestrittenen Achtungserfolg, so daß sich der Verfasser wiederholt inmitten der Schauspieler zeigen durfte. – Herrenwillkür und Vasallentreue stehn sich in dem Drama gegenüber. Es ist ein beständiges Ringen zwischen Überheblichkeit und Unterwürfigkeit. Der Herr befiehlt; der Knecht gehorcht. Aber der Überwundene kann aus diesem Kampfe als geistiger Überwinder hervorgehen, und das erträgt nicht einmal ein Despot. Der Absolutismus eines persischen Königs verschmäht es, die Dienste seines höchsten Würdenträgers anzunehmen, weil er darin eine Schmälerung seiner eigenen Verdienste sieht. Einmal handelt es sich darum: welches Maß von Ergebenheit muß ein Untertan den Launen seines Gebieters entgegenbringen? (Ein gewisser Grillparzer hat sich dazu im Treuen Diener seines Herrn geäußert.) Und dann (hier setzt Fulda ein): welches Maß von Dienertreue kann ein vom Gottesgnadentum umnebelter Herrscher ertragen? Daß dieser Konflikt in Persien ausgetragen wird, scheint kaum förderlich; denn ein Autokrat im Reiche des Xerxes macht schließlich selbst mit einem Wesir kurzen Prozeß und legt ihm, statt lange auf Hebbels Spuren mit ihm zu debattieren, einfach den Kopf vor die Füße. Die sehr bewegten äußern Geschehnisse sollen einer Novelle des Bandello entlehnt sein, der bekanntlich auch für den großen Shakespeare mehr als einmal die Quelle bildete. Fuldas Hand in der Ausschmückung der Fabel dürfte sich namentlich im szenischen Parallelismus bekunden. Der Wesir schenkt dem König seine Gattin, um ihn zu demütigen; Parallelszene: der König schenkt dem Wesir das Leben, um ihn zu demütigen. (Vermutlich besteht doch ein kleiner Unterschied zwischen beiden Situationen.) Fulda schlingt ferner die Fäden über Kreuz: die Königin liebt, unerwidert, den Kanzler; der König liebt, unerwidert, die Kanzlerin. Hier griff unser Dichter beherzt nach der Tristan-Sage und glaubte, uns die Brautwerbung des Treuesten der Treuen noch einmal erzählen zu müssen, wie ihm auch sonst die Weltliteratur willig ihre Kammern öffnete. – Die Aufführung bedeutete kein Ruhmesblatt für das Deutsche Theater. Wenn man sich schon für die Annahme dieses Werkes entschieden hatte, so war man auch verpflichtet, mit ganzer Seele daran zu glauben, einerlei, wie man sonst über den Dichter Fulda dachte. Die beteiligten Künstler aber – es sind nur vier Rollen darzustellen – ließen im Anfang mit verstimmender Deutlichkeit fühlen, daß sie liebeleer waren, liebeleer wie die Regie, die der Herr des Hauses großmütig oder kleinmütig einem Diener überlassen hatte [Felix Hollaender]. Der Erfolg nach dem zweiten Akt schien den Schauspielern ganz unerwartet zu kommen. Während sie bis dahin nicht warm geworden waren und infolgedessen auch nicht zu erwärmen vermochten, glaubten sie nun, tüchtig einheizen zu müssen, und entwickelten einen Eifer, dem man wohl die Anstrengung, aber nicht die innere Überzeugung anmerkte. – Dazu kam, daß weder der Herr noch der Diener glücklich besetzt war. Herr Harry Walden [als Kosru], ein jugendlicher Komiker von ausgeprägt Berlinischer Wesensart, kann zwar einer Posse durch seine norddeutsche Liebenswürdigkeit zum Siege verhelfen, dürfte aber überhaupt keine tragische Rolle spielen. Es ist ein Irrtum von Reinhardt, ihn so falsch zu beschäftigen, und der Darsteller sollte selbst die Einsicht besitzen, seinen schwachen Schultern nicht Tragödienlasten aufbürden zu lassen. Wenn er Wahnsinn mimt und dazu ein Lächeln aufsetzt, das allenfalls Backfische aus dem Häuschen bringt, so wirkt er peinlich, und wenn er sich mit der Stimme übernimmt, stellt er unnötig die Mängel seiner Sprechtechnik bloß. Herr Bassermann anderseits (als Bancban, der hier Artaban heißt) hatte keine Gelegenheit, seinen eindringenden, an Ibsens Problemen geschulten Verstand zu betätigen; statt dessen war er verurteilt, Gemüt vorzutäuschen. Ohne einen Schuß vom guten Onkel ist Artaban nicht zu denken, und schlichte Einfalt wie stille Ergebenheit sind diesem intellektuellen Künstler versagt. – Es ist nicht recht ersichtlich, was das Deutsche Theater, das sonst die Ringenden und ‚Neutöner’ zu sich kommen läßt, bewogen haben mag, diesem tragischen Fulda die helfende Hand zu reichen. Seinem ganzen Habitus nach gehört das neue Werk ins Kgl. Schauspielhaus; da ist der fruchtbare Boden für solche Verherrlichungen der monarchischen Idee. Wenn auch der persische Herrscher nach dem Weibe seines Nächsten begehrt; wenn er auch in Wahnsinn verfällt, als ihm die Königin verrät, daß ihr Haß gegen den allmächtigen Minister verschmähter Liebe entspringt; wenn er auch schließlich selbst Hand an sich legt: über allen Irrungen der menschlichen Natur schwebt, gleichsam als Orgelpunkt, die Unverletzlichkeit der Königskrone. So etwas dürfte sich die königliche Bühne nicht entgehen lassen. ‚Drum soll der Sänger mit dem König gehen’ [Schiller, Die Jungfrau von Orleans, I. ii] … […]“

Berliner Theaterausstellung. NZZ, 10. November 1910, Erstes Morgenblatt, Nr. 311.
Erste deutsche Theaterausstellung der Gesellschaft für Theatergeschichte (Ausstellungshallen am Zoologischen Garten, 22.10.10). – „I. […] Für diesen wenig geeigneten Raum entschied sich, vermutlich weil kein besserer zur Verfügung stand, die Gesellschaft für Theatergeschichte, die damit ihr Debut in der Öffentlichkeit ablegte. Sie besteht in der Hauptsache aus Literarhistorikern, aus Männern, die eine platonische Liebe zum Theater hegen, und hat ihre Tätigkeit bis jetzt darauf beschränkt, ihre Mitglieder alljährlich mit dem Neudruck eines seltenen dramatischen Werkes oder einer vergriffenen Theaterschrift zu beschenken. Gewiß wird ihr auch der eine oder andere Bühnenleiter angehören, aber das gelehrte Element überwiegt in ihr. – II. Beruf und Neigung der Veranstalter erklärt den Charakter der Ausstellung. Wie mir scheint, haben die Herren Museum und Ausstellung, das, was sie interessiert, und das, was das große Publikum interessiert, ein wenig verwechselt. […] Sie erinnerten sich ihrer Zugehörigkeit zur Gesellschaft für Theatergeschichte und bevorzugten, weil ihre eigenen Neigungen in die Vergangenheit reichen, offenkundig das Historische. Sie betonten also die Bildung stärker als die Anschauung. Bei allem Respekt vor dem, was einstens war, muß aber doch gesagt werden, daß die meisten Menschen mehr übrig haben für das, was heute ist. Es scheint, als habe man die Zahl der Zeitgenossen, die für die Entwicklung des Theaters schwärmen, bedenklich überschätzt. […] – III. Aber die Gegenwart schneidet schlecht ab in dieser Berliner Theaterausstellung. Umsonst wird man sich nach Brahm, Reinhardt und Gregor, dem ‚Reinhardt der Oper’, umsehen, obwohl diese Männer die meisten und die fruchtbarsten szenischen Anregungen geboten haben, so daß sich der Gedanke nicht unterdrücken läßt: das ist ja Hamlet ohne den Dänenprinzen. Umsonst wird man Entwürfe ihrer Künstler suchen. Von Gordon Craig, der einst für Brahm die unvergeßlichen Skizzen zu Hofmannsthals Gerettetem Venedig schuf, von Karl Walser, Ernst Stern, Orlik, Roller ist kein Blatt vorhanden. Das Deutsche, das Lessing-Theater und die Komische Oper fehlen vollständig. – Es fehlen nicht minder die namhaftesten Theaterdirektoren der Provinz, deren Ehrgeiz sich auf moderne Ausstattungen richtet. Wo ist Alfred v. Berger? Wo ist Hagemann? Diese Ausstellung wird im Gedächtnis fortleben durch das, was sie uns vorenthalten hat. – Wie es dann zu gehn pflegt, wird unter den Blinden der Einäugige König. Das Neue Schauspielhaus schießt von allen Berliner Bühnen den Vogel ab, und sein geschmackvoller Dekorationsmaler Svend Gade heimst für seine Entwürfe zum Gyges und zur Forumszene des Julius Cäsar reiche Ehren ein. – Unter dem szenischen Material, das die Provinz eingesandt hat, fallen die großzügigen Faust-Dekorationen Max Martersteigs aus Köln auf. Daneben können sich die gleichen Dekorationen des Zürcher Stadttheaters immerhin mit Anstand behaupten. (Man muß sie allerdings mit der Lupe suchen, denn sie blühen, oben auf der Galerie placiert, wie das Veilchen im Verborgenen.) Auch mittlere Städte, sieht man daraus mit Genugtuung, greifen Anregungen freudig auf und tragen, so weit es in ihren Kräften steht, dem modernen Geist Rechnung. Was doppelt wohltuend wirkt, wenn man den gräßlichen Kitsch gewisser Hofbühnen mustert. – Von dem weitläufigen Mechanismus des modernen Theaters bekommt man ein sehr unzulängliches Bild. Man hätte die neuesten technischen Errungenschaften zeigen, hätte eine heutige Bühne, vielleicht eine Drehbühne, mit allen ihren Schikanen vorführen müssen – nichts davon. Und wenn die Gegenwart schon stiefmütterlich behandelt ist, so scheidet die Zukunft ganz aus. – IV. Dafür hat man der Vergangenheit um so größere Liebe zugewandt. […] Verblichene Theaterzettel, Requisiten von anno dazumal, Erstlingsausgaben, alte Stiche, Regiebücher, Handschriften, Autogramme werden mit pietätvollem Eifer präsentiert. Der Degen des Mephisto aus der Uraufführung des Faust; die in Weimar zu Goethes Zeit gebrauchten Bühnenlampen; der Dirigentenstuhl Richard Wagners; der berühmte Ring Devrients, der immer auf den Würdigsten übergeht und sich jetzt im Besitze Friedrich Haases befindet; Radierungen, Büsten, Photographien von großen und mittelmäßigen Schauspielern – gewiß lauter sehr schöne Dinge, Kostbarkeiten, die das Herz des historisch interessierten Menschen höher schlagen lassen, jedoch für den steuerzahlenden Staatsbürger nur einen Kuriositätsreiz haben. Persönlich muß ich das Geständnis ablegen, daß ich vor solchem Kleinkram nicht ehrfürchtig in die Knie sinken kann. – Weniges in dieser Abteilung hat menschlich auf mich Eindruck gemacht. Da sind die Kostüme der englischen Komödianten (oder vielmehr die beaux restes dieser Kostüme), von der Altertums-Gesellschaft Prussia in Königsberg geliehen. Ihre Existenz war mir unbekannt, und der Gedanke, daß in diesen, übrigens durchaus geschmackvollen, Kleidern zuerst Shakespeare in Deutschland gespielt wurde, bewegt mich stärker als der Ring des Polykrates, wollte sagen: Friedrich Haases. Da hängt eine Bekanntmachung Richard Wagners, seine ‚letzte Bitte an meine lieben Genossen’, unmittelbar vor der ersten Aufführung des Rings in Bayreuth verfaßt und in der Garderobe der Mitwirkenden angeheftet. Besonders zu Herzen geht der letzte Satz: ‚Behaltet mich lieb’. War der Meister seiner Sache nicht so ganz sicher? Glaubte er nicht felsenfest an den Erfolg seines Werkes? – Nicht ohne Wehmut betrachtet man endlich die Manuskripte der drei von Josef Kainz hinterlassenen Dramen Saul, Themistokles, Helena in einer beinahe bureaukratisch gleichmäßigen Handschrift. – Wie im Leben wohnen in dieser Theaterausstellung, die sonst kaum einen Abglanz des Lebens gibt, das Erhabene und das Lächerliche Tür an Tür. Ein kleines Hoftheater hat eine Porträtgalerie seiner Lokalgrößen geschickt, vor der man kopfschüttelnd oder händeringend stehn bleibt. Einmal sollte Hofschauspielern fünften Ranges überhaupt nicht so viel Raum gegönnt sein. (Wo sind die Großen unserer Tage? Wo ist Oskar Sauer? Wo ist Else Lehmann? Ach ja, die gehören dem Lessing-Theater an!) Und dann: etwas Traurigeres von Porträtmalerei kann man sich schwer vorstellen. In keinem Kulturlande der Welt dürften je elendere Porträts gemalt worden sein, die kolorierten Photographien täuschend ähnlich sehn. […]“

Berliner Theater. NZZ, 13. November 1910, Viertes Blatt, Nr. 314.
Sophokles [in der Bearbeitung von Hugo von Hofmannsthal], König Ödipus (Zirkus Schumann, 07.11.10). – „Max Reinhardts Münchner Experiment [am 25.09.10], den König Ödipus des Sophokles aus der Enge des modernen Theaters herauszuheben und in einen antiker Form sich nähernden Raum zu verlegen, ist hier im Zirkus Schumann wiederholt worden. Mit dem gleichen Erfolg wie dort. Mehr als fünftausend Menschen hatten sich eingefunden, ließen sich zwei Stunden lang von Vorgängen, die sie innerlich nicht berühren können, weil sie den Zusammenhang mit dem Mythos verloren haben, zu andächtigem Schweigen stimmen und brachen zum Schluß in einen gewaltigen Sturm des Beifalls aus. – Antiker Form sich nähernd … Das gilt von dem Schauplatz, doch nicht von dem Geschauten. Der Zirkus mit seinem amphitheatralischen Aufbau und seinen Größenverhältnissen hat mehr vom griechischen Theatron bewahrt als unsere moderne Bühne und eignet sich besser zur Massenentfaltung. Auf der Bühne können nur Menschenansammlungen gezeigt werden: die kompakte Masse, die Menge in der Geschlossenheit, aber nicht in der Bewegung, in der Zerstreuung, in der Auflösung. Die weite Zirkusmanege ermöglicht es, das Fluten, das Hin- und Herwogen, die Hast und Unrast eines Volkshaufens vorzuführen und damit Eindrücke zu schaffen, die dem Theater versagt sind. – Gleich der Auftakt der Sophokleischen Tragödie benahm den tausendköpfigen Zuschauern den Atem. Langgezogene Trompetentöne aus dem Innern des dorischen Tempels, der den Königspalast vorstellt, verkünden den Beginn des Spiels. Dumpfe Glockenklänge hallen von draußen beängstigend herein. Ein fernes Brausen vermischt sich damit. Bedrohlich schwillt es an. Einzelne Stimmen – halb klagend, halb anklagend – lösen sich daraus hervor, wie aus einem Knäuel Menschenglieder auftauchen; Rufe werden laut, ein Wehgeschrei wälzt sich mit der elementaren Macht eines Gewitters heran. Und plötzlich, von düsterer Fackelglut beschienen, stürmen, jagen, rasen unzählige halbnackte Gestalten herein, recken sich tausend entblößte Arme empor. Wie eine Lawine hat sich der Jammer des von der Pest verdorrten thebanischen Volkes in die Arena ergossen, Bittflehende drängen die Stufen des Palastes hinan, und der eine Name ‚Ödipus’ gellt markerschütternd zum Himmel. – Unnötig zu sagen, daß schon dieser Auftakt – an sich ein unvergeßlicher Anblick, eine der glücklichsten Eingebungen des Regisseurs Reinhardt – durchaus ungriechisch ist. Denn das attische Theatron, das zur Zeit des Sophokles noch eine Kultstätte war und selbst bei Euripides noch im Mythos befangen blieb, liebte wohl feierliche Auf- und Umzüge, kannte aber solche erregte, impressionistisch erfaßte Massenauftritte nicht. Doch ebenso unnötig zu sagen, daß nur ein klassischer Philologe deswegen Reinhardt grollen kann. Dieser homo rerum novarum cupidus sah einfach im Zirkus die Möglichkeit einer Steigerung der gewöhnlichen Bühneneffekte und dachte natürlich keinen Augenblick daran, das auf ganz anderen Grundlagen beruhende, für uns unwiederbringlich verlorene griechische Theater zu neuem Leben zu erwecken. Sonst hätte er eine der vorhandenen Sophokles-Übersetzungen spielen müssen: den bewährten [Johann Jacob Christian] Donner oder den vielfach anfechtbaren, ins Banale ausrutschenden Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf. – Aber nicht die Paraphrasierung Hugo v. Hofmannsthals, die von der grandiosesten antiken Tragödie wenig übrig läßt. Die auf Chorlieder ganz verzichtet, sich willkürliche Umstellungen gestattet, den Sophokles in einen andern Rhythmus und in eine andere Tonart überträgt etwa so, wie wenn einer Bach mit Chopinschen Melodien durchsetzte. Soll der Unterschied mit einem Worte bezeichnet werden, so könnte man sagen: Hofmannsthal hat den Sophokles elektrisiert. In doppelter Bedeutung. Einmal: indem er den Ödipus seiner eigenen Elektra anähnelte. Er hat ein Nachtstück in fahler Beleuchtung daraus gemacht und läßt erst ganz zum Schluß (Haupttrumpf!) die Sonne aufgehen. Er hat die Katastrophe in der Art seiner Einleitungsszene aus der Elektra umgedichtet: da stürzen angstgepeitschte, schreckgelähmte Mägde herein. Damit nicht genug, glaubte er, tote Stellen bei Sophokles galvanisieren zu müssen, raffte weitschweifigere Verspartien zusammen, kondensierte Botenberichte, verteilte lange Reden auf verschiedene Sprecher und spritzte dem alten Griechen den roten Saft seiner nervösen wienerischen Sprache zwischen die Rippen. Die Austriazismen sollen ihm nicht angekreidet werden; aber die Trivialitäten sind kaum erträglich. So sagt Kreon einmal: ‚Und wenn dies alles Unsinn ist’; oder Ödipus stöhnt in seinem Schmerze, er sei ‚ganz und gar verflucht’, nachdem er zweimal versichert hat, er sei verflucht. (Das soll eine Steigerung sein, ist aber in Wahrheit eine klägliche Abschwächung.) Noch schlimmer empfindet man Hofmannsthals Zutaten. So läßt er an einer Stelle die Greise mahnen: ‚Verachte nicht gelebte Jahre’. Das klingt so süßlich sentimental, so nach Jause in der Josephstadt. Oder wenn Ödipus prahlt: ‚Ich bin der Sohn des Glücks, und Vettern sind mir die Monde, die mich groß und klein gemacht’, so fühlt man sich unangenehm an den Abenteurer [und die Sängerin] erinnert. Man braucht wirklich kein klassischer Philologe zu sein, um dieser Bearbeitung aus Herzensgrunde zu grollen. – … Es widerstrebt mir, die exzeptionelle Aufführung, deren Bann sich niemand entziehen konnte, wie eine gewöhnliche Theatervorstellung zu bekritteln. Vermochte sie auch nicht seelische Erschütterungen hervorzubringen, was auf die stoffliche Entfremdung zurückzuführen ist, so sollen doch vor der erhebenden Gesamtleistung einzelne Bedenken verstummen. Naturgemäß gingen bei dem Riesenmaß der Entfernungen, das die Mimik fast ausschaltete und die Rhetorik vordrängte, die stärksten Wirkungen nicht von den Solostimmen aus, sondern von dem orchestralen Zusammenklang aller Kräfte. Schauspielerisch ragte Frau Durieux als Jokaste durch die meisterhafte Behandlung des Wortes hervor. Herr Wegener wird einmal dem Ödipus nichts schuldig bleiben als die Erscheinung; jetzt läßt er keine Minute vergessen, daß er weder ein Grieche noch ein König ist – in jedem Zug ein skythischer Emporkömmling. Überraschend sicher und schlicht gestaltete Herr v. Winterstein die etwas vage Rolle des Kreon. Aber über allem schauspielerischen Können glänzte die phantasiestarke Regiekunst Max Reinhardts – an diesem Abend ein Stern der höchsten Höhe.“

Berliner Theater. NZZ, 19. November 1910, Erstes Morgenblatt, Nr. 320.
Richard Skowronnek, Der neue Kompagnon (Berliner Theater, 12.11.10). – „Ott-Heinrich Winkler gehört zur unglücklichen Spezies der deutschen Lustspieldichter. Er ist kontraktlich verpflichtet, für das Benedix-Theater alljährlich ein Werk zu schreiben, trotzdem ihm nichts mehr einfällt. Aber er besitzt zwei liebliche Töchter: die ältere hat sich, hinter dem Rücken des Vaters, mit einem verrohten Kritiker, die jüngere mit einem feschen Offizier verlobt. Immer näher rückt der Ablieferungstermin (für das Lustspiel, nicht für die Töchter) heran; immer erfolgloser zermartert der Schaffende sein an chronischem Ideenschwund leidendes Hirn. Da bietet sich ihm, als die Not aufs höchste steigt, der Oberleutnant als Mitarbeiter an, um auf diesem Wege sein Schwiegersohn zu werden. – Nach dem ersten Akt des Schwankes Der neue Kompagnon von Richard Skowronnek durfte man – eine tüchtige Dosis Menschenliebe vorausgesetzt – immerhin noch annehmen, der Verfasser habe seine ausgedörrten Kollegen ein wenig verulken wollen; nach dem dritten Akt konnte kein Zweifel mehr sein: der Pfeil war auf den Schützen zurückgeprallt. Spottet seiner selbst und weiß nicht wie. Ott-Heinrich Winklers Geburtswehen sind Richard Skowronneks Geburtswehen. Statt einen undurchdringlichen Vorhang vor seine Werkstatt zu ziehen, beging er die Unklugheit, seinen gar nicht wißbegierigen Zeitgenossen einen Blick hinter die Kulissen seiner Arbeitsstube zu gestatten und die Stelle zu zeigen, wo er sterblich ist. – Was sie da sahen, war einfach niederschmetternd. Sie sahen einen Schwank, der nach dem fixen ersten Akt fertig; der nach dem zweiten Akt fix und fertig; der nach dem dritten Akt geliefert war. Sie sahen die verstaubten Schwankfiguren, die schon zur Zeit ihrer Eltern an Altersschwäche krankten. Da waren versammelt: ein Ekel von Lustspielvater; die täppische, läppische Lustspielmutter; ein Racker von Backfisch; der unvermeidliche, unwiderstehliche Leutnant; ein türkischer Offizier, der in Dresden sein sächsisches Deutsch gelernt hat; eine tobende Schwiegermutter aus Kötzschenbroda; eine gefühlvolle, fürs Theater schwärmende Köchin; ein verliebtes Stubenmädchen; ein mausender Bursche, ein gemütlicher Dienstmann. Da waren alle die abgestempelten Fächerspieler von einstmals hübsch beisammen: der Komiker, die Salondame, die Sentimentale, die Naive, die komische Alte, der jugendliche Held, der schüchterne Liebhaber. Da lag ein Band der Fliegenden Blätter zur gefälligen Benutzung aufgeschlagen. Und aus seligen Höhen nickten die Geister der L’Arronge, Moser, Kneisel und wie sie sonst noch heißen mögen. – Der Zeitgenosse aber denkt Väter und Ahnen und schüttelt das Haupt. [Anspielung an das ‚Lied der Parzen’ in Goethes Iphigenie, IV. v]. Selbst das Familienstammpublikum des Berliner Theaters, das von Stufe zu Stufe sinkt, wird diesen Kompagnon von Skowronneks Gnaden nicht als einen neuen gelten lassen.“

Berliner Theater. NZZ, 24. November 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 325.
Moritz Heimann, Joachim von Brandt (Kleines Theater, 17.11.10). – „Moritz Heimann, ‚Lektor aller Deutschen’ im Verlag S. Fischer, hat den ostelbischen Junker Joachim von Brandt zum Helden einer Komödie gemacht [veröffentlicht 1908], die, seit Jahren von Literaten und Dramaturgen wärmstens empfohlen, bei guten Menschen einen guten Erfolg davontrug. Man möchte wünschen, daß schlechtere Mitbürger, die der fünfzigsten Wiederholung des Werkes beiwohnen, ihm ebenso zujubeln. – Was ist das für ein absonderlicher Heiliger, der Heimann ans Herz gewachsen? Irgendwo, im Osten des Reiches, (‚vor grauen Jahren lebt’ ein Mann im Osten’) saß einmal auf seiner Klitsche ein rüdiger Racker von Rittmeister a. D., ein forscher Kerl, der allerhand übermütige Streiche verübte, seinen schäumenden Lebensdrang nicht zähmen konnte, die Philister keck vor den Kopf stieß, mit der Behörde auf Kriegsfuß stand oder noch lieber sich mit ihr neckte, bis er eines Tages, als er es ganz wild trieb, in einem stämmigen Baumeister seinen Meister fand: der packte ihn, ohne viel Federlesens, am Kragen und warf ihn die Treppe hinunter, daß ihm alle Knochen im Leibe knackten; doch der gewesene Offizier forderte seinen Gegner nicht auf Pistolen, sondern schüttelte ihm kräftig die Hand. – Das könnte ungefähr der tatsächliche Kern der Komödie sein. Dazu kommt, von Frankreich her, der Fort Chabrol-Vorfall unvergeßlich komischen Angedenkens. [Anspielung an die ‚Belagerung von Fort Chabrol’ im Aug. / Sept. 1899 im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre]. Als die Behörde mit dem Schikaneur Ernst machen will, verschanzt er sich auf seinem Gut und droht, scharf zu schießen, falls sich einer im Umkreis blicken lasse. Die Ereignisse spitzen sich so zu, daß die reichshauptstädtischen Zeitungen mit Behagen von dem Kleinkrieg Notiz nehmen, und der Rittmeister hat die Lacher auf seiner Seite. Da naht ein Regierungsrat aus Berlin und findet in seiner diplomatischen Seele – er ist ein zweiter Talleyrand, für den die Sprache dazu da ist, seine Gedanken zu verbergen – er findet einen feinkomischen Ausweg: der Rasende, der mit dem Kopf wider die Tür rennt, läßt sich einfach dadurch unschädlich machen, daß man besagte Tür öffnet. Nun hat der Widerspenstige kein Objekt mehr für seinen Dickschädel. Just in dem Augenblick, da er eigentlich als Blamierter dasteht, tut ihm die Vorsehung den Gefallen, ihn zum Vater avancieren zu lassen, und damit erhält er nicht nur eine neue Würde, sein Leben einen neuen Inhalt, sondern auch die ganze Welt für ihn ein andres Gesicht. – In diesen tollen Junker verliebte sich unser Dichter so sehr, daß er ihn geistig ganz nach seinem Ebenbilde modelte. Er gab ihm seine Intelligenz mit oder schon mehr: seinen Intellektualismus, gab ihm seine humorige Auffassung irdischer Verhältnisse und wollte ihn zu einer deutschen, noch mehr: zu einer germanischen Vollnatur vertiefen. Dem letzten Sprößlinge des märkischen Roßkamms Michael Kohlhaas mit dem unendlich verfeinerten Rechtsbewußtsein lieh er Hamlets Mimosenseele und fügte einen tüchtigen Schuß Don Quixote hinzu. Auch darin mutet der Held noch germanisch an, daß man sowohl aus seinen verstiegenen Freundschaftsgefühlen zu einem jungen Hauslehrer wie aus seinen ungeklärten Liebesgefühlen zu einer ungeliebten Frau, die unsichtbar bleibt, und einer angebeteten Schwägerin, die sichtbar Sudermännische Züge trägt, so klug er ist, nicht recht klug wird. – Weniger germanisch wirkt er allerdings durch das Danaergeschenk der Heimannschen Suade. Dieser Herr von Brandt – Gott soll mich bewahren! – redet er gescheit, so geistvoll, so tiefgründig und namentlich so viel zu allen Menschen in seiner Umgebung ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, als ob er nicht Mist anführe und Kohl baute (auch darin ein Kohlhäschen!), sondern: als ob er im S. Fischer’schen Verlagsbureau säße und Mitarbeiter an der Neuen Rundschau wäre. Er redet zwar keine Brillanten, wie die germanischen Vollnaturen bei Oskar Blumenthal, exzelliert auch nicht oder selten nur in Sentenzen, Maximen und Paradoxen, gibt aber beständig, unablässig, unhaltbar, unheilbar das von sich, was der Bayer ‚Sprüch’ nennt. Das sind ungedeckte Redensarten, die sehr viel Kopf und sehr wenig Hand und Fuß haben; in der Luft schwebende Weisheiten, die den Vorzug besitzen, richtig zu sein – mit einer Einschränkung bloß: daß auch ihr Gegenteil richtig ist. ‚Sprüch’. – Dabei begegnet es ihm bisweilen, daß er zu einer einfachen, wenig umständlichen Sache dreimal so viel Worte braucht, wie dazu nötig sind. Wenn Brandt etwa sagen will, daß die Jahre pfeilgeschwind fliegen und daß das Alter den Menschen rücklings überfällt, drückt er es so aus: ‚Ich taxiere Sie auf sechsundzwanzig, da haben Sie noch vier Jahre bis zum dreißigsten. Aber es kommt wie der Dieb über Nacht, und dann stehen Sie da und schlagen sich entsetzt vor die Stirn und fragen sich, wie es möglich ist, daß rings um Sie Leute über dreißig alt werden und es aushalten, mitzutrappeln und mitzublöken, dieselbe Wolle, dieselbe Schur, dieselbe Weide und denselben Stall.’ (Es geht noch weiter, mir aber geht der Atem aus; Vetter Hamlet würde rufen: ‚Worte, Worte, Worte’.) – Mit diesem morbus oratoricus, der ihm eine liebe Gewohnheit des Daseins geworden ist, infiziert er nach einiger Zeit seine Umgebung, so daß ihr, die zuerst ganz plan und planvoll spricht, hernach der Schnabel Heimannisch gewachsen ist. Der wackere Apotheker sagt etwa: ‚Wir sind keine Turngeräte, Rittmeister: wir sind nicht dazu da, daß Sie Ihre Bauchwelle machen.’ Und der biedere Baumeister kann kein Gläschen Schnaps mehr trinken, ohne in einer literarischen Reminiszenz zu schwelgen. (Woran auch sonst kein Mangel herrscht; heißt doch noch der Pudel des Regierungsrats: Aubry.) Wer Moritz Heimann, den spiritus Lektor aller Deutschen, kennt, weiß natürlich, daß er eminent kluge Dinge sagt; aber seine höchst gesiebte Gescheitheit ist nicht Lebensweisheit, sondern Literaturprodukt durchaus. So ist diese Komödie mit einem dünnen Haar ans Leben, mit armstarken Tauen an die Literatur geknüpft. Man hat nicht vier Akte auf der Bühne gesehen, sondern drei Stunden Moritz Heimann gelauscht. Zur Abwechslung war sein Auditorium diesmal aus der Bülowstraße unter die Linden verlegt. – Ins Kleine Theater, das sich mit Respekt des Werkes annahm, und eine sehr respektable Aufführung bot. Nur mit dem Vertreter der Titelrolle haperte es ein wenig: Herr Abel hat weder das Format noch den Habitus noch den Dialekt für den Helden aus [Rudolf] Rittners Geblüt. Aber er brachte seine Worte gut an den Mann und seinen Mann restlos an die Worte.“

Berliner Theater. NZZ, 26. November 1910, Zweites Morgenblatt, Nr. 327.
Alfred Capus, Der verwundete Vogel (Kammerspiele, 18.11.10). – „Was mag Julius Elias, den Ibsen-Vorkämpfer, wohl bewogen haben, die Komödie Der verwundete Vogel [L’Oiseau blessé] von Alfred Capus ins Deutsche zu übertragen? (Zwei Seelen wohnen, ach! in seiner Brust. Die eine drängt zur nordischen Literatur; die andere hängt am französischen Theater.) Was mag Max Reinhardt wohl bewogen haben, diese Pariser Mittelware anzunehmen, dem, höheren Zwecken geweihten, Kammerspielhaus zuzuweisen und ein so wenig lohnendes Stück selbst zu inszenieren? – Wenig lohnend für den Regisseur, aber nicht für die Schauspieler, die hier drei überaus dankbare Rollen finden. Nur muß man sich die Reihenfolge wohl umgekehrt vorstellen. In Paris waren die Schauspieler zuerst da: für ganz bestimmte Künstler von ganz bestimmter Wesensart hat Capus gedichtet oder, wie es im Jargon heißt: ihnen die Rollen auf den Leib geschrieben. Bestellte Arbeit offenbar, und dafür aller Ehren wert. Von jener sichern Technik, die den Franzosen ein Kulturbesitz, uns noch immer eine Sehnsucht ist. Mit jenem nicht eben tiefen, doch gefälligen Dialog, der uns stets aufs neue wieder besticht, weil er im eignen Lande so selten vorkommt. – Aber ohne jede Besonderheit der Charaktere. Dagewesene Menschen in einem andern Rahmen. Der alternde Gelehrte zwischen zwei Frauen: zwischen seiner verständnisvollen Gattin – Typus der femme supérieure – und einem leichtlebigen Mädchen mit Vergangenheit. Gewöhnlich unterliegt in Frankreich die Ehefrau und das Verhältnis siegt. Das entspricht mehr dem Geschmack der Gallier, die nicht auf eheliche Treue bauen und sich am Triumph der außerehelichen Liebe erbauen. Hier ist es zur Abwechslung einmal anders gewandt, ohne daß dieser Ausgang zwingend oder eine Besonderheit wäre. – Die Besonderheit liegt vielmehr im Anfang. Darin: daß der mit der heiklen Aufgabe betraute verheiratete Mann, im Namen des Verführers der unehelichen Mutter eine Geldsumme zu bieten, sich auf den ersten Blick in das gefallene Mädchen verliebt. Er ist angenehm überrascht, ein scharmantes Weltkind zu finden, das den Verräter nicht betrauert, sondern bedauert, sich in sein Los mit heiterer Fassung ergeben hat und den Wunsch äußert, zur Bühne zu gehn. – Dieser erste Akt (weitaus der beste) hat eine ganz phrasenlose Menschlichkeit. Dinge, über die sonst meistens mit Pathos oder Heuchelei geredet wird, werden in ruhig sachlichem Ton, dabei keineswegs auf frivole Art diskutiert. Es ist schließlich kein welterschütterndes Unglück, sondern nur Privatpech, wenn ein Mädchen ohne Standesamt zu einem Knäblein kommt (der andre Fall: daß Mädchen ohne Knäblein zum Standesamt kommen, bleibt ja doch der häufigere). Die kleine Yvonne nimmt ihr Schicksal gar nicht tragisch; nur ihre altmodische Mutter kann sich noch nicht ganz von Vorurteilen frei machen. Das alles wird ohne Aufwand großer Worte anheimelnd erörtert. Capus hat immer gute erste Akte geschrieben und später, wenn auch nicht versagt, nicht mehr viel zu sagen. – Dann knüpfen sich zarte Bande zwischen dem Protektor und seinem Schützling. Er führt sie in die große Welt ein, ebnet ihr den Weg zur Bühne. Seine Frau kommt hinter diese Beziehungen. Sehr sachgemäße Aussprache zwischen den Ehegatten. Wieder ohne Pathetik, ohne Trara, aber doch auch ohne das letzte, was aus solchen bewegten Auftritten herauszupressen wäre. Er verspricht, ein Ende zu machen. Verliebt sich in der Trennungsstunde aufs neue. Und nimmt schließlich einen Botschafterposten an, der ihn aus Paris entfernt, während sie sich zu einer Gastspielreise um die Welt entschließt. Sie brechen miteinander, aber die Herzen brechen nicht. Der eheliche Frieden dürfte für immer gesichert sein, und das Mädel wird sich vermutlich rasch genug mit einem andern trösten. Menschliche Dinge menschlich behandelt. – Das Stück heißt Der verwundete Vogel nach einer Fabel Lafontaines, welche die Kleine ihrem Beschützer als Talentprobe aufsagt. Ein bißchen Politik, ein bißchen Satire, ein bißchen Theaterklatsch als Würze – voilà tout.“

Berliner Theater. NZZ, 30. November 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 331.
Heinrich Mann, Die Bösen [Einakter-Zyklus: Der Tyrann, Die Unschuldige, Variété] (Sezessions-Bühne „Pan“ im Kleinen Theater, 21.11.10). – „Wozu? Wozu gründet Herr Paul Cassirer, der Napoleon des Bilderhandels, der Romulus der Sezession, der Paulus der Impressionisten, eine Theatergesellschaft ‚Pan’? Um den Nachmittagsschlaf der Kritiker zu stören? Um dem notorischen Mangel an ständigen Bühnen und dilettantischen Theaterveranstaltungen in Berlin abzuhelfen? Um unentdeckten dramatischen und schauspielerischen Begabungen den dornenvollen Weg in die Öffentlichkeit zu erleichtern? Um die von Reinhardt nicht genügend beschäftigte Frau Tilla Durieux in neuen Glanzrollen herauszustellen? Wozu? – Also es war nichts. Der Romanschriftsteller Heinrich Mann, der annoch auf einen ziemlich engen Kreis von Spezialliebhabern beschränkt ist, sollte seine Fähigkeiten als Dramatiker leuchten lassen. In einem Einakterzyklus, der den gemeinsamen, wenig prägnanten Titel Die Bösen trägt. Der Dichter hätte immerhin in drei Werkchen eine eigene Physiognomie zeigen können; er zog es aber vor, sie geflissentlich zu verbergen, so daß die Bösen auf den Gedanken kommen könnten, er habe, als Bühnenschriftsteller wenigstens, überhaupt keine. Daraufhin wurde die Theatergesellschaft ‚Pan’ gegründet. – Der erste Streich, Der Tyrann, ist ein blutrünstiges Duett zwischen einem siebzehnjährigen Herzog und seiner Geliebten. Er hat ihren Bruder getötet, was ihm die Schwester vielleicht nur begehrenswerter erscheinen läßt. Sie kam, um ihn zu erdolchen, und sinkt vor seiner Größe anbetend in den Staub. Zwischendurch erläutert er sich mit Emphase. Er ist ein ausgewachsenes Scheusal trotz seiner Jugend. Ein einsamer Übermenschenzwerg im Purpur. Ein embryonales Holoferneschen (wirklich sehr hollow), das einmal an aufgedunsener Rhetorik eingehen wird. Er wirft schon jetzt mit geschwollenen Phrasen um sich, die eine auf Thronen nicht alltägliche Belesenheit verraten. Zum Schluß gibt er, wie Herodes, den Befehl: ‚Man töte dieses Weib’. Nachdem er sie eine halbe Stunde lang mit einer auf Stelzen schreitenden Selbstanalyse traktiert hat. (Der Kritiker, den ein miserabler Platz oder ein gütiges Geschick nur jeden dritten Satz hören ließ, trauerte um den verlornen Nachmittagsschlaf.) – Nummer zwei, Die Unschuldige, war nur wenig besser. Eine Freigesprochene bekennt sich vor ihrem Verteidiger, der an ihre Unschuld geglaubt hat und sie dafür heiraten durfte, als die Mörderin ihres ersten Mannes. Man weiß nicht recht: hat sie es wirklich getan, oder will sie nur seine Liebe auf die Probe stellen? Natürlich wendet sich nach diesem Geständnis Nummer zwei mit Grausen, und kein Vorwurf kann ihn treffen, obwohl es den Anschein hat, als sollte seine Bourgeoisnatur enthüllt werden. (Der Kritiker, den … siehe oben, begann um einen verlorenen Nachmittag zu trauern.) – Aber dann – dann kam das Satyrspiel Variété, und es war wieder nichts Rechtes. Eine Tingeltangeleuse mimt mit ihrem ebenso talentlosen musikalischen Begleiter einen Selbstmordversuch, um durch die Sensation der Zeitungsnotiz dem Direktor des Spezialitätentheaters eine höhere Gage abzuluchsen. Frech, aber ohne Schlagkraft; forciert lustig, aber nicht kurzweilig. Im Literatenmilieu hat Schnitzler Ähnliches mit ganz andrer Grazie, im Tenoristenmilieu Wedekind mit ganz andrer Dämonie gegeben. – Frau Durieux durfte dreimal glänzen. Zuerst imponierte sie, wie die Bertens, durch die Wucht des Wortes; zuletzt amüsierte sie, wie die Eysoldt, durch die Keckheit der Linie. Herr Otto, auf den ich gelegentlich hingewiesen habe, müßte endlich sprechen lernen, damit er seine guten mimischen Absichten ausführen könnte. Vorläufig erinnert nur seine Erscheinung an Kainz. – War es nötig, eine Theatergesellschaft ins Leben zu rufen, um zwei tot geborne Einakter und einen von ‚matter Vitalität’ hervorzuziehen? Erst findet Stücke, die sich lohnen; dann spielt nachmittags Komödie, wenn es durchaus sein muß. Aber so: wozu?“

Berliner Theater. NZZ, 2. Dezember 1910, Drittes Abendblatt, Nr. 333.
William Shakespeare, Hamlet (Zirkus Schumann, 24.11.10 [Neuinszenierung mit Albert Bassermann als Hamlet]). – „‚Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden, und Hamlet wird nicht auf den ersten Hieb bezwungen.’ So schrieb ich hier vor Jahresfrist etwa [am 22.10.09], als wir Max Reinhardts nach Münchner Muster gestaltete Hamlet-Inszenierung im Deutschen Theater sahen. Es war keine Fassung erster Hand, sondern eine von vorhandenen Entwürfen abhängige, die dem größeren Raum des Deutschen Theaters anzupassen suchte, was die Not in der Mausefalle des Münchner Künstlertheaters ersonnen hatte. Spärlichkeit aus Sparsamkeit war damals die Losung. Aber Reinhardt, dessen Phantasie dem Ölkrüglein der Witwe in der Bibel gleicht, ist nicht der Mann, der selbstgenügsam bei dem einmal Errungenen stehen bleibt, sondern er ist stets darauf bedacht, die Bühnenmöglichkeiten zu steigern. Inzwischen hat er sich mit dem Gedanken des Zirkus vertraut gemacht, und aus dieser Bekanntschaft ist ihm jetzt die überaus fruchtbare Idee einer völligen szenischen Neubearbeitung des größten dramatischen Gedichtes entsprungen. – Die äußere Veranlassung dazu bot ihm die (durch Alexander Moissis Krankheit notwendig gewordene) Umbesetzung des Dänenprinzen, der an Albert Bassermann gefallen ist. Von ihm mag zuerst die Rede sein. Moissi war natürlich kein Däne und kein Prinz, sondern ein schmächtiger Cortigiano, ein todeswunder Jüngling, dessen schwache Schultern unter der Bürde der ihm als heiligste Pflicht auferlegten Rache zusammenzubrechen drohten, ein im Traumreich herrschender, von Trauer und Traurigkeit ganz erfüllter Ephebe, dessen verstörter Seele der Übergang zum gestörten Verstand leicht ward. Bassermann steht gleich zu Beginn als ein reifer, auch an Jahren reiferer, in der Wirklichkeit wurzelnder Kronprinz da, der, seinem Alter wie seiner intellektuellen Bedeutung nach, ein Anrecht auf den Thron hätte. Sein trainierter, stahlharter Körper kann ‚die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks’ [Hamlet, III. i] ertragen. Er hat Kraft: Tatkraft und Widerstandskraft. Für ihn ist die schwere Aufgabe, den mörderischen Oheim zu beseitigen, keine Sisyphusarbeit. Er wird nicht lange fackeln, denkt man. Denn er ist ein Held, durchaus wach, lebensprühend. Nichts von Verträumtheit umschwebt ihn, kein Dämmerschein ist um ihn gebreitet. Ihm gelingt daher auch der Übergang von geheucheltem Wahnsinn zur wirklichen Umnachtung der Sinne nicht recht. In ihm pulsiert eine zu rege vita activa, als daß er sich an der Kette des Zauderns und Zagens wohl fühlen könnte. Er ist lebhaft in seinen Bewegungen, selbst da noch, wo Hamlet wie von unsichtbaren Bleigewichten festgehalten und gehemmt sein sollte. Er erfüllt sogar seine spintisierenden Monologe mit zuckendem Leben, das gleichsam vor unsern Augen entsteht. Aber dadurch werden diese Selbstgespräche ganz von Geist durchdrungen, und sie sind geistig ganz bezwungen. Hamlet der Denker ergreift uns in Bassermanns Darstellung vom ersten Moment an. Moissi sprach zu unserm Herzen, weckte unser Mitleid; Bassermann spricht zu unserm Hirn, regt unsern Verstand an. Zu Moissi würde man sagen: poor boy; zu Bassermann: unfortunate man. Seinen Gipfel erreicht dieser Künstler in der Schauspielszene, wo Hamlet einen geistigen Triumph über den König feiert. Aller Hohn und Spott, aller Skeptizismus fließt wie selbstverständlich aus seinem Wesen, doch die weicheren Töne, die morbide Melancholie und der Zweifel an sich selbst, stehn ihm nicht von Haus aus zu Gebote. In Kainz vereinigten sich beide Seiten der Natur zu glücklichster Harmonie; Moissi besaß die Melodie für Hamlets Weh; Bassermann hat die Dissonanzen und die geistige Überlegenheit. – … Wir kamen, um einen neuen Hamlet zu sehn; wir gingen, um eine neue Inszenierung des Hamlet bereichert. Auch Reinhardt ist, wie sein Protagonist, noch nicht fertig mit seiner Leistung, aber gerade in der Improvisation spürt man bisweilen die Kühnheit der Idee am stärksten. Mitten in den Vorbereitungen zum zweiten Teile des Faust stehend, wollte er die geplanten Neuerungen an dem Hamlet erproben. Eine Woche genügte ihm, das Experiment auszuführen. Er benutzte das Orchester und die drei ersten Parkettreihen zur Vorderbühne, der zu beiden Seiten Abgänge in die Tiefe gegeben sind. Damit ist zweierlei gewonnen. Zunächst eine Belebung der Szene, sofern die Schauspieler außer von links und von rechts jetzt auch von unten auftreten können. Wenn das motiviert ist, wie beim Erscheinen der Wandertruppe, läßt sich schwerlich etwas dagegen einwenden; aber es darf nicht zur Marotte ausarten. Denn die Gefahr liegt nahe, daß, sobald der Rahmen einmal gesprengt ist, eine gewisse Unruhe in das Bühnenbild kommt. Auf dieser Vorderbühne spielt sich jetzt, ganz zwanglos, die Ermordung des Gonzago ab; hier stellt, schon etwas gezwungener, Hamlet seine tiefsinnigen Betrachtungen an. Ferner werden die Schauspieler, dadurch, daß die Vorderbühne bis dicht an die Zuschauer heranreicht, in engeren Konnex mit dem Publikum gebracht. Daraus erwächst für sie die heilsame Notwendigkeit, besonders streng auf die Deutlichkeit der Rede zu achten. Hätte diese Vorderbühne, die aus dem englischen Theater zur Zeit Shakespeares stammt und mit der auch in unsern Tagen wiederholt operiert worden ist, nur das eine Gute, daß sie eine Erziehung zum Sprechen wäre: sie könnte bei der in Berlin epidemisch auftretenden Sprachverwilderung ungeahnten Segen stiften. – Zum ersten Male wurde auch der ‚starre’ Himmel vorgeführt, und er bewährte sich gut. Nie zuvor wehten solche Schauer von der Bühne herab wie in den Szenen des Geistes. Die weiteste Perspektive tat sich auf. Ein schier endloser Raum schien sich hinter der Terrasse des Helsingöer Schlosses zu dehnen; die Hinterbühne wuchs in der Phantasie zu riesenhaften Dimensionen, und die Erscheinung des Geistes hatte wirklich etwas Gespenstisches, das den Auftakt des Dramas zu eindringlichster Geltung brachte. – Im übrigen arbeitet Reinhardt fast nur mit Vorhängen, wie sie schon von Beerbohm Tree in seiner Hamlet-Vorstellung (o rühret nicht daran!) verwendet wurden [zuerst 1892; wieder aufgegriffen 1909], und diese wallenden Gardinen, je nach der Situation in der Farbe abgestimmt, sind eindrucksvoller als eine noch so schön bemalte Leinwand. Wie gesagt, es war ein erster Versuch, und es klappte manches noch nicht nach Wunsch. Aber schon jetzt läßt sich mit Bestimmtheit behaupten, daß diese Verlängerung und diese Vertiefung der Bühne vielen Shakespeare-Stücken, zumal denen, die großen Apparat erfordern, wie die Historien, von höchstem Nutzen sein kann. – Beim Faust werden wir uns wieder sprechen [s. MMs Kritik in der NZZ vom 21.03.11, Erstes Morgenblatt].“

Berliner Theater. NZZ, 6. Dezember 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 337.
Arthur Schnitzler, Anatol (Lessing-Theater, 03.12.10). – „Es ist das vierte Mal seit Eröffnung der Spielzeit, daß sich Otto Brahm, Leiter des Lessing-Theaters, in ihrem vierten Monat zu Wort meldet. Welche Heldentaten hat er bis dahin vollbracht? Er begann diesmal mit einem ältern Hauptmann: den Einsamen Menschen; ließ des greisen Björnson forciert lebfrisches Lustspiel vom jungen Wein folgen [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 09.10.10, Zweites Blatt]; hielt es für seine Freundespflicht, einem schon in Wien sang- und klanglos bestatteten Drama von Georg Hirschfeld (Das zweite Leben) zu einem Berliner Begräbnis erster Klasse zu verhelfen; und ist jetzt bei dem längst bekannten, längst geschätzten Dialog-Zyklus Anatol von Arthur Schnitzler angelangt. In einem Vierteljahr also zwei Premieren – wohlgemerkt von Werken, für die Berlin nicht Anfangs-, sondern Endstation war – und zwei Neueinstudierungen. Ein bißchen wenig, will mir scheinen. Man müßte an Arterienverkalkung leiden, wollte man solchen Quietismus als künstlerische Initiative, als Wagemut und Unternehmungslust bezeichnen. – Aber selbstverständlich entscheidet nicht die Zahl, sondern der Wert des Geleisteten. (Am Stadttheater in Cottbus wird vielleicht im Laufe einer Woche so viel bewältigt wie am Lessing-Theater im Laufe eines Vierteljahres.) Während das Wiener Burgtheater alle Kraft und alle Kräfte für den jungen Medardus einsetzte, wärmte Brahm den alten Anatol auf. Eine musterhafte Vorstellung hätte die reaktionäre Wahl erklären und verklären können. Zu spielen ist daran nicht viel. Die Schauspieler müssen die Figuren sein. Es gibt deren nur drei: den Liebhaber Anatol, den Freund Max und Eva – die Geliebte in unendlicher Metamorphose, das Weibchen, das bald Cora, bald Bianca, aber immer Eva heißt. Anatol war in der Darstellung des Lessing-Theaters mindestens um zehn, Max mindestens um dreißig Jahre zu alt. Wir sahen zwei mit allen Hunden gehetzte Wiener Lebemänner, von denen der eine nel mezzo del cammin di nostra vita [‚in unsres Lebenswege Mitte’ (Göttliche Komödie, I. i)], der andre schon auf der Schattenseite stand. Ich muß gestehn, daß für mich viel von dem Duft der Dialoge, von ihrem spezifischen Parfüm verloren ging. Es war Crabapple, und es sollte New mown hay sein. ‚Also spielen wir Theater, spielen unsre eignen Stücke, frühgereift und zart und traurig …’, heißt es in dem programmatischen Prolog zu diesem weichen Wiener Liebesbrevier. Frühgereift. Darauf kommt es an. Verfallende Jugend muß auf der Bühne stehn, aber nicht konserviertes Alter. Jung-Wien mit altersmüder Geste. Schon die Wickelkinder in Wien neigen zur Reflexion; die Jünglinge verfügen über die Weisheit von Geronten. Halbes Empfinden gibt ihren erotischen Abenteuern das Gepräge, weil ihres Wesens andere Hälfte ans Denken gekettet ist. Frühreife darf nicht durch Johannistrieb ersetzt sein. Immerhin, die fünf Geliebten machten wett, was der Liebhaber und sein Freund schuldig blieben. – Doch ist wirklich der Anatol, das graziöse Präludium zu Schnitzlers Schaffen, von solcher Bedeutung, daß man jetzt, nach fünfzehn Jahren, gleich ein Quintett dieser Plaudereien hervorzieht, während man sich früher mit den bühnenwirksamen Stücken begnügte? Wahre Bedeutung gewinnen sie erst durch die Liebelei. Denn (si parva licet componere magnis [‚Wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf’ (Vergil, Georgica, IV. 176)] Arthur Schnitzlers Anatol-Dialoge verhalten sich zur Liebelei wie Richard Wagners Träume [aus den Wesendonck-Liedern] zum Tristan. Das liebe süße Mädel hat erst in Christine Weiring [in Liebelei] seine vollwertige, unvergängliche Gestaltung erhalten; von ihr aus fällt ein poetisches Licht auf Anatols leichtblütigere Freundinnen zurück. Anatol selbst freilich ist für alle Zeiten gezeichnet: der leichtsinnige Melancholiker, der ironische Genießer – ein vorwiegend österreichischer Typus, in aller Fadheit liebenswürdig. Max, der Freund, ist daneben nur ein Stichwortbringer, der herkömmliche confident, die Grammophonplatte, die mitfühlende Brust, der Anatol seine Erlebnisse anvertraut. (Übrigens stört mich mitunter diese Wiener Sucht, alles auszuplaudern, von der Heimlichkeit der Liebe gar nichts für sich zu behalten. Diese Wiener Lebejünglinge kennen offenbar nicht den Reiz einer vita privata und fühlen sich nur wohl, wenn sie einen Leporello an ihrer Seite haben, der genau über ihre Abenteuer Buch führt und in ihre Seelenregungen eingeweiht ist. Wahrhaft lieben aber heißt: keinen Mitwisser haben.) – ‚Und worin löst sich bei dir das Rätsel der Frau? In der Stimmung.’ Auch das Rätsel der Wirkung eines Kunstwerkes löst sich in der Stimmung. ‚Was ist Wahrheit? In Sachen der Religion: die überlebte Meinung. In Dingen der Wissenschaft: die letzte Entdeckung. In der Kunst: unsre letzte Stimmung’ [Oscar Wilde, ‚Der Kritiker als Künstler’ (Teil II)]. Unsere letzte Stimmung war der ersten Schöpfung Arthur Schnitzlers nicht mehr so hold wie früher; aber es ist doch ein besondrer Genuß, diesem wählerisch pointierten, wiewohl gelegentlich etwas zu aphoristisch oder feuilletonistisch gespitzten Dialog zu lauschen, und wenn uns der Inhalt dieses zahmeren Reigens nicht mehr wie einst ergreift: die Form bleibt eine joy for ever [Keats].“

Berliner Theater. NZZ, 12. Dezember 1910, Viertes Morgenblatt, Nr. 343.
Alfred Capus, Ein Engel (Kammerspiele, 08.12.10). – „Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft! [Hamlet, I. ii] Unmittelbar nach einem matten Capus (Der verwundete Vogel) [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 26.11.10, Zweites Morgenblatt] kam ein platter Capus (Ein Engel [Un ange]) in den Kammerspielen an die Reihe. Zwei französische Konversationskomödien, noch dazu von demselben Autor stammend, in weniger als drei Wochen. Hier wird es Pflicht, national zu sein. Hier pocht man auf seinen Patriotismus. Hier legt man sich ins Zeug für die heimischen Dramatiker, welche auch leben wollen. Dies sei unsere Capuszinade. Was hat es für einen Sinn und Zweck, diesen Schriftsteller hierzulande mit solcher Liebe zu pflegen? Sollen unsere Schauspieler an seinem prickelnden Dialog zur Kultur des Sprechens erzogen werden? Verlorene Liebesmüh, zumal wenn man ihnen das Kauderwelsch einer handwerksmäßigen Übertragung vorsetzt. Soll unser Publikum zur sänftiglichen Weltanschauung dieses gallischen Spätlings mit dem resignierten Lächeln bekehrt werden? Es wehre sich dagegen. Soll systematischer Anschauungsunterricht in Pariser Toiletten à la Poiret erteilt werden? Dies dürfte eher die Aufgabe der Konfektion als der Kunst sein. Kurz: die Kammerspiele sollten sich wieder auf ihre höhere Daseinsbestimmung besinnen und es unter ihrer Würde finden, mit dem Trianon-Theater zu konkurrieren. – Der ‚Engel’ ist eine anständige Frau mit literarischer Vergangenheit und der Spielleidenschaft. Solange sie mit einem Mann verheiratet ist, wahrt sie ihm nominell die Treue. Sie gibt ihr Wort, um es im Augenblick darauf zu brechen. Sie lügt auch nicht, sondern hat nur eine besondere Geschicklichkeit, die Wahrheit zu verbergen. Ein triebhaftes Geschöpf, das jenseits aller Moral steht. Von ihrem ersten Mann, einem biedern Notar, läßt sie sich scheiden, weil er ihre Neigung zum Baccarat mißbilligt und sich ihretwegen nicht ruinieren will. Der Nachfolger, ein Laffe von Landbaron, läßt nicht lange auf sich warten. Knapp vor der Trauung mit diesem, der sich ihrethalben ruiniert hat, kehrt sie zu ihrem verflossenen Mann zurück. Einzige wirklich witzige Situation des Stückes: der geschiedene Gatte erscheint als Pfändungskommissär im Hause des verschuldeten Liebhabers; statt auf die Möbel, legt er auf das Weibchen Beschlag. Aber sie geht nicht von dem Baron, weil sie ihn ausgesaugt hat, sondern weil sie ihn nicht wahrhaft lieben kann. Dies Geständnis erfolgt just in dem Moment, als der Ruinierte das Telegramm vom Ableben seines steinreichen Onkels erhält, der ihn zum Universalerben eingesetzt hat. Doch das zweite Zusammenleben mit dem ersten Mann ist nicht von langer Dauer. Der Spielteufel ergreift wieder Besitz von Antoinette; ein junger Engländer droht, von ihr Besitz zu ergreifen. Da gelingt es den vereinten Bemühungen von Mann und Liebhaber, den Engel einem väterlichen Freunde aufzuhalsen, der seit Jahrzehnten für sie erglühte. Als sie fünfzehn Jahr alt war, war er fünfundvierzig; als sie zwanzig alt war, wurde er vierzig. Dies ist der einzige wirklich gute Witz des Stückes. – Die zahme Komödie gehört zur Gattung der linden Verdauungsbeförderer und sanften Schlummervorbereiter. Sie will nach einem opulenten Diner genossen sein, wenn Hirn und Herz jede Anstrengung ablehnen. Man fühlt sich förmlich unter ein Pariser Publikum versetzt. Wir besseren Barbaren sind noch nicht so weit, daß wir mit der höchsten Kultur zugleich die höchste Anspruchslosigkeit erworben hätten, und es wird (hoffentlich) noch recht lange währen, bis wir so mürbe werden. Einem solchen lauwarmen Capus ist vom deutschen Standpunkt aus weiter nichts vorzuwerfen, als daß er absichtlich nur mit halber Kraft arbeitet, daß er eine Scheu vor dem Fortissimo hat. Aus Geschäftsinteresse. Es ist ein freiwilliger Verzicht – nicht aus Geistesarmut, sondern aus geistiger Mattigkeit. Etwas mehr Dampf, etwas weniger Dämpfer wäre zu wünschen. Und doch muß man dem feinen Anschlag seine Reverenz erweisen. Diese abgeklärten Gallier könnten als Inschrift über die Tür ihres Hauses die Goetheschen Verse setzen: ‚Ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust?’ [aus ‚Wandrers Nachtlied’]. Aber wir wollen nachdrücklich hinzufügen, daß wir ihrer in letzter Zeit allzu reichlich genossenen Müdigkeit ein wenig müde sind.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Dezember 1910, Viertes Blatt, Nr. 349.
William Shakespeare, Othello (Deutsches Theater, 10.12.10). – „Zum zweiten Male hat Max Reinhardt im Deutschen Theater seine Vorderbühne für den Othello mobil gemacht. Aber während beim Hamlet die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Neuerung unverkennbar waren [s. MMs Besprechung vom 02.12.10, Drittes Abendblatt], durfte man diesmal von ihrer Anwendung sagen: ‚Je n’en vois pas la nécessité’. Sie war überflüssig. Othello, der eine Privattragödie ist, meistens im geschlossenen Raume spielt und sich auf wenige Hauptakteure beschränkt, ohne daß Massenaufzüge geboten oder vorgeschrieben wären, – Othello hat keine Vorderbühne nötig, weil die Wirkungen, die hier durch sie erzielt werden, nicht zur Vertiefung des Dramas beitragen. Sie wurde freilich äußerst sparsam gebraucht, beschleunigte merkwürdigerweise aber nicht die Abwicklung der Handlung, worin letzten Endes ihr Daseinszweck besteht. In der nächtlichen Senatssitzung, die ein wundervolles Bild enthüllte, hielt es Reinhardt für angebracht, die streitenden Parteien – Brabantio mit Anhang und Othello mit Anhang – nicht aus der Kulisse, sondern aus dem Kellerloch, Verzeihung: aus dem Orchester auftreten zu lassen. Mir scheint das ziemlich belanglos, jedenfalls nicht so wichtig, daß man deswegen mit dem rührigen Regisseur rechtet. Man geht ja schließlich nicht ins Theater, um eine neue Vorderbühne anzustaunen, sondern um einen neuen Othello zu bewundern. – Othello war Albert Bassermann. Daß ihm, dem Nervenmenschen, die eruptive Rolle nicht im schauspielerischen Sinne ‚liegt’, weiß der Kenner seines Naturells. Othello ist, wenn er einmal losgelassen, ein Vulkan und Bassermann ein Meister der Selbstzucht. Othello muß in seiner Leidenschaft rasen, ein kochender Ofen, dessen Nähe schon Verderben bringt; Bassermann ist am stärksten, wenn er die Leidenschaft als Kulturgeschöpf bezähmen darf, und nur das Zucken der Muskeln verrät, wie es in seinem Innern kocht. Um so erstaunlicher war es, mit welcher Virtuosität er sich die Töne des ungebrochenen Affekts abrang. Erstaunlich nicht minder die physische Ausdauer, die ihn das Passionato des zweiten Teils ohne sichtbare oder hörbare Ermüdung bewältigen ließ. Doch den Eindruck von Größe vermochte er selbst in seinen besten Augenblicken (für mich wenigstens) nicht hervorzubringen. Seinen Pfälzer Dialekt hat er diesmal tapfer bekämpft, dafür aber, um noch den blödesten Zuschauer die fremdländische Herkunft des Mohren nicht vergessen zu lassen, seiner Rede, besonders im Anfang, ungarische Laute eingefügt, als ob Othello ein wilder Sohn der Pußta wäre. Mit Verlaub: ich halte das – nicht das Ungarische, sondern dieses Charakterisierungsmittel – für Unsinn oder zum mindesten für einen Stilfehler. Es handelt sich hier nicht um ein naturalistisches Drama, in dem die einzelnen Personen, je nach ihrer Abstammung und dem Grade ihrer Bildung, in der Sprechweise abgestuft sind. Die Konsequenz der Bassermannschen Methode muß den Hörer zu der Überzeugung führen, daß der Mohr, als in Diensten der Republik Venedig stehend, eigentlich Italienisch zu sprechen hätte; aber ein englischer Dichter hat dieses Werk geschrieben, das wir in deutscher Sprache zu hören bekommen. Das ist ja fast so wie beim Turmbau zu Babel. Ich meine, es heißt Shakespeare und das Stildrama herabziehen, wenn man einer großen Aktion durch so kleine Mittel nachzuhelfen sucht. (Zum Glück wurde die Nuance, die besser ungeboren geblieben wäre, im Verlauf des Abends aufgegeben.) Die verfehlte Einzelheit soll uns nicht den Genuß an einer rühmlichen künstlerischen Leistung schmälern. – Jago war Herr Wegener. Ich habe dieses Scheusal in Menschengestalt nie überzeugend darstellen gesehen, oder ich sollte vielleicht sagen: mich hat die Schurkenhaftigkeit, die inkarnierte Bosheit Jagos nie völlig überzeugt. Auch im Buche nicht. Der Grund, den Jago für seine Teufelei anführt: es gehe das Gerede, der Mohr habe in seinem Bett sein Amt verwaltet, scheint mir keine glückliche Eingebung Shakespeares. Wenn Jago, wie es in der Novelle des Cinthio steht, Desdemona selbst geliebt hätte (die edle Senatorentochter hätte ihm allerdings nicht ihre Hand, sondern eher einen Fußtritt gegeben), so wäre seine Gemeinheit immerhin begründeter. Jetzt glaubt er offenbar selbst nicht an das dumme Gerücht. ‚Möglich, daß es falsch; doch ich, auf bloßen Argwohn in dem Fall, will tun, als wär’s gewiß’ – schwach, sehr schwach motiviert, lieber Shakespeare. Und dann vor allem: Othello, der Adelsmensch, wird schon durch die bloße Fama dieser Besuche bei Frau Jago degradiert. Das nebenher. Ich habe dieses Scheusal in Menschengestalt nie überzeugender darstellen gesehen als durch Herrn Wegener. Ihm stand die strahlend reine Desdemona von Else Heims gegenüber, die nur zu sein brauchte, was sie aussah. Leider waren die beiden wichtigen Rollen des Cassio und der Emilia ganz unzulänglich besetzt. Die Lücken des Reinhardtschen Ensembles machen sich bedrohlich fühlbar, wenn nicht einmal mehr – Verhängnis ist es, nicht eignes Verschulden – für fünf tragende Rollen erste Kräfte zur Verfügung stehen. – Meine schlimmsten Bedenken richten sich, wie schon manchmal, gegen die Dauer der Vorstellung, die zur Götterdämmerung-Länge von fünf Stunden anschwoll. Wie oft soll noch auseinandergesetzt werden, daß man im Theater Kunstgenuß, aber nicht körperliche Ermüdung sucht! Seltsam, daß ein so moderner Mensch wie Reinhardt für diese durchaus nicht nebensächliche Frage kein Organ zu haben scheint. Er befleißigt sich, die Klassiker möglichst vollständig zu geben, was im Prinzip unsern Dank verdient; doch darunter darf die Gesundheit des Publikums nicht leiden, das nach einem so ausgedehnten Aufenthalt in einem unerträglich schlecht ventilierten Raume matt wie Dezemberfliegen davonschleicht. Diesmal kommt freilich die größere Hälfte der Schuld auf das Privatkonto des Herrn Bassermann, der sich immer mehr in seine üble Gewohnheit einnistet, den Blankvers zu zerhacken, die Worte wie Lakritzstangen zu ziehen und auch da in übermäßigen Pausen zu schwelgen, wo sie gar nicht am Platze sind. Ich sprach einmal mit einem ergrauten Logenschließer, der jede Vorstellung nach dem einen Kriterium beurteilt, wann er den Heimweg antreten kann. Die Stimme von außen ließ sich also vernehmen: ‚Wenn Kainz spielt, ist es allemal eine halbe Stunde früher, wenn Bassermann spielt, eine halbe Stunde später aus, als auf dem Zettel steht.’ Auch ein Standpunkt … Was nützt es dem armen Kainz, daß er bei den Logenschließern und Garderobenfrauen beliebt war! Aber hat der Lebende Recht?“

Berliner Theater. NZZ, 28. Dezember 1910, Drittes Morgenblatt, Nr. 358.
Kory Towska [Pseud. von Kory Elisabeth Rosenbaum (1868-1930)], Die Hosen des Herrn von Bredow (Neues Schauspielhaus, 23.12.10). – „Frau Brigitte ist an allem schuld. Hätte sie nicht den verflixten Einfall gehabt, die Lederbuxen ihres Eheherrn zu waschen, so wäre dieser nicht in den Verdacht gekommen, einen Krämer beraubt zu haben; so hätte Willibald Alexis nicht seinen vielgepriesenen märkischen Roman Die Hosen des Herrn v. Bredow schreiben [1846/48], Kory Towska danach nicht ein gleichnamiges Drama bearbeiten können; so hätte uns das Neue Schauspielhaus dieses nicht am Abend vor Weihnachten beschert. Es gibt sicher wenig Gegenstände, die die heutige Welt so interessieren wie die Hosen Gottfrieds von Bredow. – Jünglinge von dreizehn bis sechzehn Jahren werden sich an dem vaterländischen Roman erbauen; wer ihn damals zu lesen versäumt hat, braucht nicht über eine Lücke in seiner Bildung zu klagen. Die Literaturgeschichte belehrt ihn, daß Wilhelm Häring [der bürgerliche Namen von Willibald Alexis] ein Nachfolger Walter Scotts war und ein Vorläufer Theodor Fontanes ward. Doch was gilt uns heute der größere Walter Scott? Der Zeitgenosse, der ohne ihn aufgewachsen, wäre nicht um ein Jota ärmer. ‚Es ist aus mit den Rittern’, sagt einer bei Kory Towska; mich dünkt, es ist aus mit den Ritterromanen und Ritterdramen. Trotzdem wird ein künftiger Doktorand vielleicht eine Dissertation über das Verhältnis des Schauspiels von Kory Towska zu dem Roman von Willibald Alexis verfassen. Die Wissenschaft liebt es, solche Themen zum Nutzen der Menschheit behandeln zu lassen; die Menschheit ist ganz wild darauf. – Spotte nicht, armes Herz! Schon klingt es in den Lüften: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Deute lieber die Zeichen der Zeit! Der gescheite Moritz Heimann dichtet einen Joachim von Brandt [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 24.11.10, Zweites Morgenblatt]; die witzige Frau Rosenbaum begeistert sich für Gottfried von Bredow. Nun, sie folgen offenbar einem unabweisbaren Drang ihrer Natur. Treibst du sie mit dem Knüppel auch aus, sie wird stets zum Adel der Vergangenheit und Gegenwart zurückkehren. – Auf der Bühne entrollen sich Bilderbogen aus der brandenburgischen Geschichte, übrigens ganz geschickt zusammengeklebt. Aber soll der Kritiker Interesse für eine Sache heucheln, die in keinem Augenblick auch nur seine Epidermis ritzt? Er wüßte nichts, was ihm gleichgültiger sein könnte. Hat längst Wehr und Waffen eingepackt. Denkt an tausend andere Dinge. An das musterhafte Benehmen der beiden englischen Spione vor dem Reichsgericht in Leipzig [Anspielung an den Prozeß gegen Lieut. Trench und Capt. Brandon, der am 21.12.10 mit der Verurteilung der beiden Angeklagten zu je 4 Jahren Festungshaft endete]; an den [am 22.12.10 über dem Ärmelkanal] verschollenen Flieger [Cecil] Grace; an den gottvollen Pastor Breithaupt, der seine Teufel von Zöglingen so lange prügelte, bis sie die Englein im Himmel hörten [Anspielung an den Prozeß gegen den Leiter der Fürsorgeanstalt Mieltschin (Provinz Posen) und seine Verurteilung zu 8 Monaten Gefängnis durch das Landgericht Berlin im Dezember 1910]; an – an – … Ist es klug, die eigne Unaufmerksamkeit einzugestehn? Setzt sich der Kritiker durch ein so freies Bekenntnis nicht den Angriffen seiner Widersacher aus? Seid versichert: es entgeht ihm nichts; auch im Halbschlummer ist er wach. Sobald es lohnt, hinzuhören, wird er sich aufraffen, in seinem Sitz emporschnellen und dankbar auf jede Anregung eingehn. Seid versichert! – Da kommt der Gerichtsakt. Bredow ist angeklagt, den Krämer geschunden zu haben, und hat, um die lästigen Fragen des Untersuchungsrichters zu vermeiden, nach anfänglichem Sträuben bald zu allem Ja und Amen gesagt (das gab es also schon damals, Anno 1505; der Kritiker entläßt mit Herrschergebärde die spazierenden Gedanken). Nach kurzem Verhör entdeckt der Markgraf den wahren Schuldigen, eben jenen Untersuchungsrichter, der sich der besondern Gunst seines Fürsten erfreute. Also schon damals hatte ein Hohenzollernahn wenig Glück mit seinem Günstling [vermutlich eine Anspielung an die Eulenburg-Affäre von 1907/08]. Die Geschichte scheint doch nur eine ewige Wiederkehr des Gleichen zu sein. Ganz wach, bis in die Fingerspitzen lebendig ist der Kritiker geworden. Er überlegt: warum packte der Gerichtsakt? Verdienst der Bearbeiterin? Nein, Verdienst der Situation. Es gibt schlechterdings keine unwirksame Gerichtsszene. Man darf die riesenhafte dramatische Begabung des Lebens nicht mit der pygmäenhaften dramatischen Begabung des Bühnenhandwerkers verwechseln. – Danach ereignete sich nichts mehr, worüber heutigen Mitbürgern berichtet zu werden brauchte. Als der Kritiker heimwärts wanderte, standen die letzten Christbäume am Wege mit recht verstörter Miene, weil sie noch keinen Käufer gefunden hatten und fürchteten, ihre festliche Daseinsbestimmung zu verfehlen. Er dachte so für sich hin: diese Geschichtsklitterung hätte unbedingt ins Königliche Schauspielhaus, aber nicht ins Neue gehört. Wenn dort der erlauchte Hohenzollernahn sich in all seiner Weisheit, mit allen seinen vorwärts weisenden Bestrebungen enthüllt hätte, dann wäre des Jubels kein Ende gewesen und Frau Rosenbaum am Ende Hofdichterin geworden. Aber die königliche Bühne scheint nicht, wie der Tannenbaum, davor zu zittern, sie könne ihren Daseinszweck verfehlen; sonst dürfte sie sich eine solche Hosenhistorie niemals wegschnappen lassen, sondern müßte für patriotische Produkte mit Feuer und Schminke eintreten. Sollen die Privattheater auch noch dieses nobile officium auf sich nehmen?“

Berliner Theater. NZZ, 7. Januar 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 7.
Eduard Stucken, Lanzelot (Kammerspiele, 03.01.11). – „,Ich höre Eduard Stuckens Versreihen mit artistischem Vergnügen, aber sie lassen mich kühl bis ans Herz hinan. Und auch die seelischen Vorgänge finden nicht den Zugang zu meiner Seele … Mein Verstand bewundert diesen Melchior Lechter der Feder; aber mein Herz – schlagt mich tot! – ist völlig unberührt geblieben.’ So war hier zu lesen, als Reinhardt im verflossenen Vorfrühling das Mysterium Gawân aufführte [s. NZZ vom 04.04.10, Nr. 92]. Kaum anders kann das Urteil lauten, da wir jetzt, wiederum in den Kammerspielen, das Drama Lanzelot sahen. – Bewunderung – gewiß. Bewunderung vor einem Manne, der, unbeirrt durch herrschende Richtungen, von keiner Modeströmung getragen, sich in den mittelalterlichen Sagenzyklus versenkt und ihm Drama nach Drama abgewinnt. Der, an die eigene Kraft glaubend, dem Stern in seiner Brust vertrauend, jahrelang unverdrossen weiter arbeitet, von keiner öffentlichen Anerkennung gespornt, von keiner öffentlichen Aufführung in seinem Schaffen gefördert, auf keine Stimme hörend, bis ihm die versunkene Wunderwelt des glaubensstarken Rittertums neu erstand. So ‚sang er, wie er mußt’, und wie er mußt’, so konnt’ er’s’. [Die Meistersinger von Nürnberg, III. ii] – Bewunderung auch vor der metrischen Leistung. Der Vers ist durchweg (von ganz geringen Entgleisungen abgesehen) mit wählerischem Geschmack behandelt. Zwar sind ihm Höhen und Tiefen verwehrt; dafür schwebt er in einer fein abgestimmten Mittellage. Zwar fehlen ihm Glanz und Glut; aber er erklingt mit dem vollen Wohllaut eines edlen Instruments. Technische Schwierigkeiten gibt es für den Künstler nicht oder nicht mehr. Er häuft sie unnötig durch Einfügung des Binnenreims und meistert, wie ein kadenzlüsterner Virtuose, das also erschwerte Spiel. Nur ein Poet (man denke an die Herkunft des Wortes) kann Verse schreiben wie diese: ‚Froh plaudern in Felsenklüften die glucksenden Quellen; / Ein Lerchensang klirrt in den Lüften wie silberne Schellen; / Die Hummeln summen im Ried, dumpf surren die Käfer; / Und der Rohrflöte sehnsüchtig Lied bläst ein junger Schäfer. / Wie schön der Sommertag! Wie schön zu leben! / Wer wie ich auf dem Sterbebett lag, sieht den Weltteppich weben.’ – Und doch vermag ich nur eine temperierte, eine rein verstandesmäßige Bewunderung aufzubringen. Das Gefühl geht leer aus. Wie kommt das? Wer den Glauben an die für uns begrabene mittelalterliche Mystik beleben will, muß selbst an sie glauben. Ich glaube, Eduard Stucken hat nur den artistischen Glauben an sie, nicht den frommen Kinderglauben, nicht den katholischen Glauben. Der Gral ist ihm ein wundersames Requisit, nicht wunderreiche Religion. Stuckens Inspiration quillt nicht aus übervollem Gemüt, sondern es ist eine bewußte Hinneigung zum katholischen Kult, wie Wagner – halsverdrehend, höhnte Nietzsche – sie im Parsifal vornahm, welcher nicht die natürliche Krönung seines Lebenswerkes bedeutet, sondern eine Abschwenkung. – Stucken hat wohl die Gewalt über das Wort, aber nicht über die Seelen. Es ist, als trete man vor ein mit köstlicher Kunst gemaltes Kirchenfenster modernen Ursprungs in einer romanischen Kirche. Die Kirche ergreift uns durch den transzendenten Geist, der in ihr zum Ausdruck gelangt; das moderne Fenster stört im besten Falle nicht. Wir berufen uns voll Stolz auf unsere Zugehörigkeit zum 20. Jahrhundert, das wichtigere Aufgaben zu erfüllen hat, dem die Konstruktion einer Eisenbahnhalle näher liegt als das Kirchenfenster in all seiner Pracht. – Auch die dichterische Diktion schließt nicht jeden Zweifel aus. Die Sorge um den Wohlklang, die Doppelkette des Reims hindert Stucken häufig an ganz freier Bewegung. Mag ihm die Technik des Verses heute (scheinbar) gar keine Schwierigkeiten mehr bereiten: er muß doch in jedem Augenblick auf Überwindung des Widerstands bedacht sein. Koloraturgesang, der noch in der Vollendung seelisch darbt. Fertigkeit der Kehle mit geringer seelischer Resonanz. – Hängt es damit nicht zusammen, daß Lanzelot fast dieselbe Physiognomie hat wie Gawân? (Man wird Eduard Stuckens inhaltlich verbundene Werke nicht einzeln im Gedächtnis sondern, vielmehr vor ihrer Gesamtheit an die Sonderstellung dieses einen Dichters denken.) Ich sagte schon einmal, daß mir die Ritter der Tafelrunde als Dramenhelden eine Gesellschaft mit allzu beschränkter Haftung für ihre Taten seien. Aber der liebste war mir von jeher Lanzelot, weil er am meisten geliebt worden ist, weil er der sündigste war. Zehn Jahre lang verrät er seinen Freund, den König Artus; zehn lange Jahre treibt er mit der Königin Ginover Ehebruch. Und bekennt unerschrocken: ‚Ein Glück so unermeßlich gewährt nur das Schlechte’. Daneben hat er noch ein holdes Liebchen: Elaine. Wie Frau Venus und Elisabeth um Tannhäuser ringen, streiten um Lanzelots Besitz Frau Ginover und Elaine. Die eine ‚furchtbar prächtig wie blut’ger Nordlichtschein’; die andere ‚süß und milde, als blickte Vollmond drein’. Darin ist Lanzelot ein würdiges Mitglied der Tafelrunde, daß er beide Male nicht Verführer, sondern Verführter ist. Wie wäre es auch bei diesen Helden ohne Furcht und Tadel, diesen Rittern der prowesse und der Demut anders denkbar? Die Königin schleicht sich, nur notdürftig bekleidet, zu ihm in die Kammer; ein gleiches tut die reine Magd. Kein weltlicher Richter würde ihn schuldig sprechen. Er begeht allerdings den unglaublichen (auch unglaubhaften) Irrtum, die beiden Geliebten zu verwechseln. – Was Elaine zu ihrem Opfer treibt, ist ein guter Wahn. Einmal soll Sündenschuld durch reines Magdtum erlöst werden – ein Motiv, das bei unserm deutschen Dichter Hartmann von Aue seine weihevollste Ausgestaltung gefunden hat. Ferner soll die Prophezeiung Merlins in Erfüllung gehen, daß der sieche Anfortas, Elaines Vater, und der beleidigte Gral genesen könnten, wenn sich eine keusche Jungfrau dem ‚ruhmreichsten Pair’ in Liebe geselle. Das Wunder wird durch eine Intrige bewirkt, bei der noch obendrein ein frommer Mönch die Hand im Spiele hat. Moderner Geschmack, der zwar nicht mehr den kirchlichen Glauben, dafür aber eine gesteigerte Feinfühligkeit hat, mag sich mit Recht gegen eine solche Zumutung auflehnen, ganz so wie er in Stuckens Gawân daran Anstoß nimmt, daß die Mutter Gottes dem Ritter als Versucherin naht. Elaine, in ihrer Mischung von Liebessehnsucht und Opferdrang, ist bei weitem die vollwertigste Figur der Dichtung, rührend wie Genoveva. Aber diese wird zum Schluß – ein Gebot der poetischen Gerechtigkeit – für alle ausgestandenen Qualen belohnt: die Märtyrerin der Volkssage wird zum Menschenweib verklärt. Was hat die arme Märtyrerin des höfischen Epos, dem Stucken getreu folgt, davon, daß ihr Knäblein, Galahad, dereinst den beschimpften Gral entsühnen und daß sich über ihrem Leichnam ein Münster, ein ragender Tempel der Liebe erheben wird? Nicht auf Heiligenzüchtung, sondern auf menschliche Vertiefung der Legende kommt es an, wenn wir ihr willig Gefolgschaft leisten sollen. – Die Künstler der Kammerspiele traten mit Hingebung für den Künstler ein, ohne seinem Lanzelot jedoch einen so starken Erfolg wie seinem Gawân erstreiten zu können. An der Regie Herrn v. Wintersteins, der sich [all]mählich zum Stucken-Spezialisten entwickelt, lag es nicht; auch nicht an der Darstellung, aus der Kayßlers hart gehämmerter Held und das keusche Kind Frau Eysoldts hervorragten. Woran es in letztem Betrachte lag, das wird dem urteilsfähigen, vorurteilslosen Leser vielleicht aus diesen Zeilen entgegenschimmern.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Januar 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 11.
Rudolf Bernauer u. Rudolf Schanzer, Bummelstudenten [nach E. Pohl u. Wilkens, Auf eigenen Füßen], (Berliner Theater, 31.12.10). – „Am Silvester-Abend führte das Berliner Theater die alte Berliner Posse Auf eigenen Füßen ein bißchen modernisiert, ein bißchen retouchiert, ein bißchen ausstaffiert unter dem Titel Bummelstudenten auf. Ein höchst belangloses Lokalereignis. Nicht wert, daß man den Einwohnern des benachbarten Potsdam davon Kunde gibt. Nicht wert, deswegen die Feder einzutauchen. Und doch gibt es nach zwei Seiten hin zu denken, mehr noch: wird gerade bedenklich. – Die Posse trug nämlich einen ‚ungeheuren’ Erfolg davon. Einmütig berichteten die Zeitungen von einer jubelnden Aufnahme. Sie wurde sogar zu symptomatischer Bedeutung aufgebauscht. Gewiß, die Tatsache ist nicht zu leugnen, daß fast sämtliche alten Berliner Possen, die in den letzten Jahren ausgegraben wurden, einen verblüffenden Erfolg einheimsten, der in keinem Verhältnis zu ihrer literarischen Nichtigkeit steht, (nein, das klingt noch zu anspruchsvoll; also sagen wir lieber:) der in keinem Verhältnis zum Amüsement stand. Hopfenraths Erben [von Gustav Michaelis, 1894], Einer von unsere Leut’ [von David Kalisch, 1903] und wie sie alle heißen – unterschiedslos haben sie das Publikum angezogen. Wenn die modernen Stücke versagten und die Direktoren verzweifelnd die Hände rangen, half die alte Berliner Posse aus. Und sie half. So waren auch die Bummelstudenten Retter in der Not. – Bejahrte Mitbürger, laudatores temporis acti, wollten in dem Anklang, den die gute alte Berliner Posse bei den Zeitgenossen fand, einen Protest gegen die stumpfsinnige Wiener Operette sehen. Mit Unrecht, scheint mir. Der Weizen der Wiener Operette blüht üppiger als je. Sie ist eine ständige Einrichtung, während die Berliner Posse nur als Ausnahmeerscheinung gelten kann. Noch grassieren die Fallsucht (die Leo Fall-Sucht) und das Lehár-Fieber. Ja, wenn die Wiener Operette mit ihren blöden Texten und ihrer präsumtiven Musik nach Verdienst gemieden würde, dann dürfte man in der Hinneigung zu der harmlosern und meist auch logischern Berliner Posse eine erfreuliche Rückkehr zu gesunderer Volkskunst erblicken. Aber die Leute denken nicht im Traume daran, den Eindringling von der Donau zu schneiden; vorläufig wenigstens noch nicht. Denn kommen wird einst der Tag … – Der ungewöhnliche Erfolg der antiquierten Berliner Posse ist wohl einfach dem ständig wachsenden Erholungsbedürfnis der Großstadtmenge zuzuschreiben. Aber sie strömt doch wie besessen zur Tragödie des Königs Oedipus, die schwerlich ihr Erholungsbedürfnis zu stillen vermag? Nur aus Sensation, meine Lieben. Laßt diesen Sophokles, statt im Zirkus, im Deutschen Theater agieren: es wäre bald um ihn geschehen. (Diesen ganz singulären Fall zum Ausgang einer künstlerischen Volksbewegung, zur Grundlage für ein den höchsten Zwecken geweihtes und von den höchsten Spitzen protegiertes ‚Theater der Fünftausend’ nehmen zu wollen: ich fürchte, ich fürchte − −) Ein wenig Sensation ist auch im Spiele, wenn die alte Posse plötzlich wieder von der Volksgunst getragen wird. Das Publikum muß etwa die Gefühle eines Automobilbesitzers haben, der aus Jux eine Kremserpartie macht oder von seiner stolzen Höhe herab für die Postkutsche schwärmt. Noch ein Gleichnis: wer ein feudales Haus mit allem Komfort der Neuzeit bewohnt, zieht zur Abwechslung ganz gerne für einige Wochen in eine altfränkische Sommervilla. ‚Mal was andres!’ So ungefähr steht die verwöhnte Großstadtmenge diesen altfränkischen Possen gegenüber. Sensation; Abwechslung. – Doch ich wollte nicht über die Gründe des Vergnügens sprechen, sondern über die absurden Formen, die es annimmt. Am Silvester-Abend, wie aus einer gewissen Ulk-Stimmung leicht erklärlich, klatschte das Publikum zu einer Marschmelodie im Takte mit. So groß ist die Macht der Massensuggestion, daß jetzt allabendlich der gleiche rhythmische Rappel die nüchternen, nicht mehr vom Punschduft umnebelten ‚Spreeathener’ ergreift. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn ich es nicht, sechs Abende später, mit eigenen Ohren gehört hätte. In Paris würde man an die dionysische Lust der wie Zunder entzündbaren Bevölkerung glauben; aber am grünen Strand der Spree taumelt man nur, wenn man betrunken, nicht wenn man trunken ist. Wollten sich die Herrschaften doch einmal in Ruhe überlegen, was sie in diesen Zustand der Verzückung treibt! Eine billige, recht mäßige Verspottung der Wiener Operette, die auf der gleichen Stufe steht wie das Verspottete. Vor Jahren gab es (im Neuen Schauspielhaus) eine Salome-Parodie, von Bogumil Zepler komponiert [uraufgeführt am 11.05.07 als Einlage im 4. Akt von Hopfenraths Erben]; die war wirklich witzig und musikalisch reizvoll. Aber die Aneinanderreihung populärer Operettenweisen, die jetzt bejubelt wird, ist Schund. Das Berliner Publikum, das sich sonst – mit Recht – etwas auf seine Intelligenz zugute tut, scheint kein Gefühl dafür zu haben, wie läppisch diese Begleitgeräusche sind. Der Fremde, der ein Berliner Theater besucht, und sei es auch nur das Berliner Theater, möchte nicht die Vorstellung mit nach Hause nehmen, er sei unter die Einwohner von Treuenbrietzen oder eine Kinderschar geraten. Von animierter Laune hingerissen, kann man einmal, wenn ein besonderer Anlaß wie Silvester vorliegt, seiner Begeisterung auf besondere Art Ausdruck geben; es jeden Abend auf dieselbe Art zu tun, ohne daß ein zureichender Grund vorhanden wäre, zeigt einen erschrecklichen Mangel an Phantasie, der nicht einmal durch das Phänomen der Massensuggestion zu entschuldigen ist.“

Kleine Chronik. NZZ, 14. Januar 1911, Abendblatt, Nr. 14.
Gerhart Hauptmann, Die Ratten (Lessing-Theater, 13.01.11). – „Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten, die etwas kolportageromanhafte Geschichte einer Kindesunterschiebung, hatte im Lessing-Theater einen bestrittenen Erfolg.“ – Hinsichtlich einer ausführlichen Würdigung des Schauspiels siehe MMs folgende Theaterkritik.

Berliner Theater. Die Ratten. Berliner Tragikomödie in fünf Akten von Gerhart Hauptmann. (Uraufführung im Lessing-Theater am 13. Januar). NZZ, 18. Januar 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 18.
„Als eine Berliner Zeitung, vor vierzehn Tagen etwa, eine flüchtige Inhaltsskizze des Hauptmannschen Werkes veröffentlichte, hatte man den Eindruck: das ist dramatisierte [Clara] Viebig. Der Titel ließ an den Schreckensruf der Frau Tiralla zu Beginn von Absolvo te [1907] denken [„Die Ratten, hu, die Ratten!“], und der Konflikt zwischen natürlichen und erworbenen Mutterrechten klingt in dem Roman Einer Mutter Sohn [1907] an. Es durfte einen Augenblick überraschen, daß der Dichter, der sich letzthin der Sage und Legende zugewandt hatte, wieder zum Naturalismus seiner Jugend zurückkehrte. Und wie Clara Viebig in ihrem jüngsten Buche (Die vor den Toren [1910]) zum erstenmal Berliner Boden beackerte, zog Gerhart Hauptmann, der bisher vor den Toren Berlins Halt gemacht, nun in die Reichshauptstadt selbst ein. – In eine Mietskaserne, ehemals als Kavalleriekaserne verwandt. Mit vielen Parteien, die Tür an Tür hausen. Mit ehrlichen Proletariern und lichtscheuem Gesindel. Mit feuchten Wänden und morschen Treppen. Mit ärmlichen Wohnungen, aus Küche und Kammer bestehend, in welche die karge Wirklichkeit hineinlugt, und einem geräumigen Dachgeschoß, in dem ein verblichenes Stück einer phantastischen Welt aufgestapelt ist. Warum, heißt es in dem Stück, sollte ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße [in Berlin Mitte] nicht ebensogut ein Objekt der Tragödie sein können wie Lady Macbeth oder König Lear? Gewiß doch, warum nicht? Warum die Hintertreppe meiden? Liegen hier nicht tiefste Konflikte verborgen oder offen am Licht? Ist hier nicht höchste Wonne und höchstes Weh der Kreatur ebenso, ja vielleicht noch mehr zu Hause als in den Vorderräumen mit ihren abgestumpfteren Bewohnern? Hat nicht – um einen Großen zu nennen – Balzac von dort seine kühnen Stoffe genommen? Hauptmann wollte, durch die Einheit des Schauplatzes verführt, das ‚unterirdische’ und das ‚oberirdische’ Reich einander gegenüberstellen. – Zu diesem Zweck hat er eine Doppelhandlung ersonnen. Eine tragische, tiefste Menschlichkeit und tiefstes menschliches Verderben offenbarende Haupthandlung ist an eine komische Nebenhandlung gekettet. Die beiden Stränge sollten untrennbar in eine Tragikomödie münden, die wir in der chemischen Unlösbarkeit ihrer Elemente längst als getreusten Abglanz des Lebens betrachten gelernt haben. Aber was Gerhart Hauptmann bietet, ist, obwohl er diese Bezeichnung gewählt hat, so wenig eine Tragikomödie, wie ein Reiter auf einem Pferd ein Centaur. Die beiden Teile wachsen nicht zusammen, sondern klaffen aus einander. Eine Tragödie, die Tragödie einer Kindesunterschiebung, von den üppigen Ranken einer faden, vielfach läppischen Komödie künstlich übersponnen. Alles, was diesen Teil des Werkes betrifft, ließe sich glatt beseitigen, ohne daß der tragische Stamm Schaden erlitte. Die sogenannte Tragikomödie ist nicht reich wie das vielgestaltige, die heitern und die schwarzen Lose mischende Leben, sondern beruht auf einem Rechenfehler der dichterischen Phantasie, mag sie auch ängstlich bemüht gewesen sein, zwischen beiden Welten Brücken zu schlagen, Laufbretter zu legen, Episodenglieder einzuschieben. Es ist ihr nicht gelungen, eine organische Verbindung herzustellen. – Also verläuft die tragische Handlung: Jette John, eine ehrbare Maurerpoliersfrau, hat drei Jahre vor Beginn des Stückes ein Knäblein zur Welt gebracht, das acht Tage nach der Geburt an Brechdurchfall einging. Seit dieser Zeit ist neuer Kindersegen die Sehnsucht und der höchste Wunsch der resoluten Frau. Es scheint, als sollte er in Erfüllung gehen; schon hat sie ihrem braven Manne, der jetzt meist in Hamburg arbeitet, freudig mitgeteilt, daß sie sich wiederum Mutter fühle. Aber sie hat sich getäuscht, und nun will sie nicht mehr zurück. Kann sie das Kind nicht schaffen, so kann sie es doch beschaffen. Sie kauft einem polnischen Dienstmädchen, einer leichtfertigen Frauensperson, die ihren unehelichen Balg nur zu gerne los sein möchte, für bare 123 Mark den strammen Jungen ab. Zieht ihn auf und betreut ihn mit solcher Liebe, daß sie ihn als ein Stück von sich empfindet. Spät ist das Glück bei den Johns eingekehrt: der biedere Mann wird nicht mehr nach Hamburg fahren, sondern fühlt sich durch den Familienzuwachs ans Haus gefesselt. Doch der fromme Betrug hat kurze Beine. Der Knabe ist zweimal gemeldet: einmal von seinem vermeintlichen Vater, dann von der richtigen Mutter, die aus Angst vor Scherereien mit der Behörde, trotz dem ausdrücklichen Verbot der Frau John, die Geburt ihres Sprößlings angezeigt und noch obendrein dem Beamten mitgeteilt hat, daß sich ihr Kind bei Johns in Pflege befinde. Zu allem Überfluß erwachen nachträglich auch noch die Muttergefühle in ihr: sie bringt das Kaufgeld zurück, will ihr Kind sehen, will es, da ihr die Vizemutter das barsch verwehrt, sogar haben. Und nun begeht Frau John nach dem frommen einen verwegenen Betrug. Um den Vormundschaftspfleger hinters Licht zu führen, stellt sie, während sie mit ihrem Knaben die Wohnung verläßt, einen andern hin, ein armseliges Wurm aus der gleichen Mietskaserne. Dieses (falsche) Kind stirbt unter den Händen des Dienstmädchens, das mit der echten Mutter, einer verkommenen Aristokratin, um den Besitz streitet. Aber die Polin ahnt den Schwindel; und um sich ihre ferneren Besuche und weitere Ungelegenheiten zu ersparen, beredet Frau John ihren Bruder, einen ‚schweren Jungen’, das Mädchen kalt zu stellen. Das heißt für ihn: sie kalt zu machen. Schon prangen die roten Mordzettel an den Litfaßsäulen; schon hat die Polizei das Haus umstellt – Frau John weiß sich keine Rettung mehr als den Tod. Und eine Mutter legt der Kinderlosen, Kinderlieben im Schlußwort den Ehrentitel ‚Mutter’ bei … – Hätte sich Gerhart Hauptmann auf diese (ein wenig kolportagehafte) Haupthandlung beschränkt, hätte er es sich genügen lassen, ihr alle Menschlichkeit zu entbinden und gedrängtes Leben im engen Ausschnitt zu geben: ihm wäre ein Werk von stärkeren dramatischen Akzenten gelungen als seit langer, langer Zeit. Hier, wo die Wurzeln seiner Kraft sind, hat jede Figur eine fest umrissene Physiognomie; hier fehlt es nicht an genialen Einzelzügen. Geradezu rührend, frei von aller Sentimentalität, mit echter Empfindung durchtränkt ist Jette Johns Verhältnis zu ihrem Bruder, dem Zuhälter Bruno Mechelke. Hauptmann hat eine seiner glücklichsten Eingebungen gehabt, als er den Rowdy, der mit einem Fliederstrauß vom blutigen Werke zurückkommt, seiner Schwester ein Hufeisen geben läßt. ‚Det ha ick jefunden! Det bringt Glick! Ick brauche ihm nich.’ Kaum minder großartig ist Jettes tiefbewegte Rückschau: wie der tapfere John bald nach dem Kriege um ihre Hand anhielt, wie sie sich ‚nach und nach, apee apee von oben bis unten in alle Uniformknöppe abjespiejelt’ – bis zu dem traumverlorenen, jähen Schlußsatz: ‚Paulicken, Paulicken, det allens is hundert Jahre her!’ Wenn ich hier (widerstrebend, wo so rückhaltlos zu bewundern ist) eine kleine Bemerkung machen darf, so wäre es die: daß sich bei diesen primitiven Menschen das Gewissen wohl etwas zu früh meldet. Kaum erfährt Jette von der Bluttat, so redet sie wirres Zeug, phantasiert, springt erschreckt aus dem Schlaf empor. Doch das Verbrechen lähmt nicht nur, es steigert auch die geistigen Kräfte, vor allem die Selbstbeherrschung. Wäre es sonst zu erklären, daß Mordtaten so lange verborgen bleiben? Die Polizei hätte leichtes Spiel, wenn das Gewissen a tempo in Aktion träte. Auch bei dem abgebrühten Bruno klopft es sofort an: läuten die Kirchenglocken am Sonntag morgen, so meint er schon das Armesünderglöckchen zu hören. – …Doch sollen wir vertuschen, weil wir die Herrlichkeiten der Dichtung so freudig anerkennen? Soll die Bewunderung unsern Blick trüben und unser Urteil fälschen? Nimmermehr. Es muß gesagt werden, daß vieles in dieser ‚Tragikomödie’ unausgetragen, manches unerträglich ist. Unerträglich die nach blauem Heft duftende Episode der ‚Gräfin’. Daß sie an einer entscheidenden Stelle des Dramas ihre Autobiographie umständlich vorträgt, zeigt seine seltsame Ökonomie; wie sie ihre Lebensgeschichte vorträgt, zeigt seinen üblen papiernen Stil. ‚Mein Elend ist nicht erfunden. Trotzdem es erfunden klingt, wenn ich sage, wie ich eines Nachts im tiefsten Abgrunde meiner Schande einen Vetter, einen Jugendgespielen, der jetzt Garderittmeister ist, auf der Straße traf. Er lebt oberirdisch, ich unterirdisch, seit mich mein adelsstolzer Vater verstieß, nachdem ich als junges Ding einen Fall getan hatte usw.’ In solchen schwülstigen Satzgefügen ergeht sich gelegentlich auch ein verkrachter Theologe, der zur Kategorie des Unausgetragenen gehört. Wie die Träger der Nebenhandlung, die Familie des Theaterdirektors Hassenreuter. Was sollen all diese Leute: die asthmatische Frau Direktor, das unendlich blasse, in den Pfarramtskandidaten verschossene Töchterlein, dessen zelotischer Vater? Was haben diese gar nicht komischen, nur farblosen Personen der Komödie im Drama der Mütter zu suchen? Nichts. Überflüssigkeit ist kein Zeichen von Reichtum in einer Welt, die von der Zweckmäßigkeit lebt. – Endlich noch ein Wort über die Zufallssymbolik, die im Titel zum Ausdruck kommt. An drei Stellen ist von den Nagetieren die Rede; keine eröffnet Perspektiven, hinter keiner steigen übersinnliche Mächte oder Werte von tieferer Bedeutung auf. ‚Allens is hier morsch!’ sagt der grundfeste Maurer. ‚Allens faulet Holz! Allens unterminiert, von Unjeziefer, von Ratten und Mäuse zerfressen!’ Darum Die Ratten? Das scheint doch gar zu oberflächlich. – Während die letzten dramatischen Arbeiten Gerhart Hauptmanns dem freundlichen Betrachter den einen Trost spenden konnten, daß sie als vorletzte Fassungen anzusehen seien, als Siebenmonatskinder, die allzu früh aus der dichterischen Brutanstalt entlassen, als Werke, die mehr fix als fertig waren, muß er sich vor dieser Berliner Tragikomödie eingestehen: das ist die endgültige Redaktion des Textes. Um so schmerzlicher wird es empfunden werden, daß auf die unerschütterlichen Grundmauern so viel Halbes und Schiefes aufgesetzt wurde. Ein Bau, der nicht gerade in die Höhe strebt, sondern, mit Putz und Schnörkeln beladen, in die Breite ausläuft. – Das Lessing-Theater ließ dem Beiwerk fast ungeschmälertes Recht widerfahren und setzte das Werk dadurch vielleicht ins Unrecht. Wirklich einschlagend wirkte nur die im knappsten dramatischen Stil gehaltene Auseinandersetzungsszene zwischen den beiden Müttern am Ende des zweiten Akts. Hier stand der grandiosen Else Lehmann Frl. Hilde Herterich nicht unebenbürtig gegenüber. Wenn der Dichter zum Schluß wohl ein halbes Dutzend Mal vor dem Vorhang erscheinen konnte, die Hälfte des Beifalls seinen Interpreten zuschiebend, so war es doch mehr ein subjektiver als ein objektiver Erfolg, mehr die Huldigung einer Gemeinde als der Dank für ein gelungenes Werk.“

Berliner Oper. NZZ, 18. Januar 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 18.
Engelbert Humperdinck, Königskinder (Kgl. Opernhaus, 15.01.11). – „Es wäre schade, ewig schade gewesen, wenn Engelbert Humperdinck, der sich mit Recht allgemeiner Verehrung erfreut, der Komponist einer einzigen Oper geblieben wäre. Wie Mascagni oder Charpentier oder eigentlich auch Bizet. Der Weltruhm seiner köstlichen ersten Zwillinge Hänsel und Gretel überstrahlte alle Nachkömmlinge und beeinträchtigte ihre Daseinsdauer: sie starben in frühester Jugend. Jetzt endlich ist ihnen ein lebenskräftiges Paar gefolgt, die Königskinder. Nach New York, das sich den Luxus leisten zu dürfen glaubte, eine deutsche Märchenoper aus der Taufe zu heben, ohne irgendwie ein inneres Verhältnis zu ihr zu besitzen [28.12.10], kam gleich die Berliner Oper an die Reihe. Hier empfing der amerikanische Erfolg erst seine Sanktion. Was so deutsch und echt, soll von deutschen Herzen empfunden, von deutschen Händen gefeiert werden. Es war ein ehrlicher, zuerst noch ein wenig zaghafter, dann nach dem bewegten zweiten Akt mit seinem bunten Volkstreiben und seinem bewegenden Abschluß anschwellender, endlich von Herzen kommender Erfolg, der die Ergriffenheit der Zuhörer bezeugte. Und eine überraschend gute Aufführung unter Leo Blechs liebevoller Leitung hatte es nicht anders verdient. Die Königliche Oper ist leider etwas ins Hintertreffen gelangt und nicht nur von auswärtigen Bühnen überflügelt worden. Man hat sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, seine Erwartungen nicht allzu hoch zu spannen; denn das Alte, das man zu hören bekam, war nicht mehr vollendet und das Neue selten gut. Aber den Königskindern leuchtete ein besonders glücklicher Stern. Die Gänsemagd der entzückenden [Lola] Artôt de Padilla war in Erscheinung, Spiel und Ton die inkarnierte Poesie. Hier stand das holdeste Kind mit der süßesten Stimme auf der Szene. Jede Note, die sie singt, weiß sie zu beseelen. Jede Bewegung von ihr ist innig, aus der Situation geboren, durch die Situation geboten. Ein wahres Labsal, einer solchen Künstlerin in der Unnatur der Oper zu begegnen. Ihr zur Seite der ritterliche Königssohn des Herrn Kirchhoff mit seinem wohlgebildeten, allmählich immer leichter ansprechenden Tenor. Auch er im Spiel von gewinnender Freiheit, wirklich ein Prinz aus Märchenland. Und das selig trübselige Paar behütet von dem Spielmann, der in Herrn Hoffmanns Verkörperung die Güte Kurwenals mit der Märchenschlichtheit des getreuen Eckart verband. Ganz allerliebst die kleine Erlenstädt in der wichtigen Episode des Besenbindertöchterleins, das allein von allen die Königskinder erkennt und ihnen weinend nachschleicht. – Humperdinck war ihnen auch nachgeschlichen. Er und die Königskinder mußten, bei dem Mangel an modernen Märchenschöpfungen, eines Tages zusammenkommen. Er hatte dem Drama vor Jahren [1897] seine Begleitmusik mit auf den Weg gegeben; sie ließen ihn nicht, bis er ganz von ihnen Besitz genommen hatte. Mit geringfügigen Kürzungen konnte er die Dichtung als Text eines Musikdramas verwerten. Zwar sind die Dichterin Ernst Rosmer [Pseud. von Elsa Bernstein] und der Komponist kaum wesensverwandte Naturen, und ein naiveres Libretto, wie es ihm in Hänsel und Gretel zur Verfügung stand, hätte den Musiker noch mehr zu befruchten vermocht. Er wurzelt nun einmal durchaus im Volkstümlichen; nach dieser Seite hin liegt sein Bestes. Aber es ist doch eine schöne Dichtung, und ihr tiefer Sinn versöhnt mit mancher gesuchten Wendung, manchem erklügelten Vers. Mögen die Königskinder immerhin mit Schimpf und Schande aus den Toren der engen Kleinstadt vertrieben werden, mögen die dummen Philister sie verspotten: die da reinen Herzens sind, die Kinder und der Künstler, glauben an sie, halten zu ihnen. Elend kommen sie in der Kälte um, aber ihre Liebe raubt dem Tod seinen Stachel. Mit tränenden Augen stehen die Kleinen an der Bahre des im Schnee erfrorenen Liebespaares, und der treue Spielmann geigt ihnen auf ihrem letzten Wege sein wehmütiges Lied nach. Schon als Drama hat uns die Dichtung erwärmt; jetzt hat sie durch Humperdincks Weisen ihre höhere Weihe empfangen. – Mag ihm der Text, in dem die Reflexion vorherrscht, an etlichen Stellen die Schwungkraft und das Anpassungsvermögen gehemmt haben: im ganzen war es doch ein glücklicher Griff. Alles Liedmäßige ist mit wahrer Begeisterung aufgesogen. Der Komponist fühlt sich am wohlsten und ist am stärksten, wenn er in sangbaren Nummern schwelgen kann. Diese lieben Leutchen haben den Drang, sich in Liedern auszuleben; und wo sie einmal lange ausbleiben, hilft die Musik nach und legt einen Kinderreigen oder etwas Ähnliches ein. Daneben gestaltet Humperdinck aber das Vorspiel zum dritten Akt ‚Verdorben – gestorben’ mit einer herben Innigkeit und schmerzdurchwühlter Größe des symphonischen Ausdrucks, wie ihn die sonnigere Umwelt der Besenbinderkinder nicht hergab. Sie kennen nur die Elternliebe und die Furcht vor der Hexe, während im Herzen der Königskinder eine andre Liebe sprießt und die Furcht vor dem Tode zittert. Daher das glühendere Licht, daher die schwärzeren Schatten. Natürlich redet Humperdinck die Sprache Richard Wagners ganz unverhohlen, mit einer Offenheit, die ihm gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt. Er redet, um ein literarisches Gleichnis zu gebrauchen, die Sprache Wagners so selbstverständlich, wie die deutschen Übersetzer Shakespeares die Sprache Goethes redeten. Aber Wagners Opernpathos, das dem heroischen Stil taugte, erhält einen sehr wohligen volkstümlichen Anstrich. Die Instrumentation ist Wagners Erbe; die Melodie, welche darüber gesetzt ist, bleibt Humperdincks Eigentum. Nicht anders verfährt der moderne Dramatiker, dem die Technik Ibsens in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wagner trägt den Germanen die Heldensage vor; der gute Onkel Engelbert läßt die Kindlein zu sich kommen und erzählt ihnen mit allen Feinheiten seiner warmen, weichen Sprache ein rührendes Märchen. Was verschlägt es, daß sie einiges nicht verstehen? Er erzählt es so schlicht wie ein andrer deutscher Meister, den die Kinder nicht weniger lieben: Hans Thoma. Humperdinck steht ihm im Wesen und in der Art des Werkes nahe, obwohl er ihm im Handwerklichen überlegen ist. Der Quickborn seiner kindlich reinen Natur tränkt ihn ununterbrochen. Er ist deutsch und echt.“

Berliner Theater. NZZ, 20. Januar 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 20.
Leonid Andrejew, Studentenliebe (Kleines Theater, 12.01.11). – „Nimm das lustige Studententreiben aus dem ersten Akt der Bohème, vermenge es mit dem Loblied auf Paris aus dem zweiten Akt der Louise von Charpentier, übertrage das Ganze auf russischen Boden, und du erhältst die reizvolle Stimmung des lyrischen Auftakts zur Studentenliebe von Leonid Andrejew. Sperlingsberge bei Moskau. In der Tiefe die altehrwürdige Kremlstadt. Sonnabend-Spätnachmittag. Feierliches Glockengeläute. Ausgelassene Studenten haben sich hier oben mit ihren Kolleginnen gelagert, naturtrunken. Sie verzehren ihre kargen Mundvorräte; sie lassen die Flasche kreisen; sie hänseln sich und versöhnen sich; sie sprechen einen Augenblick von Nietzsche, dem Riesen; sie wollen singen, denn es singt in ihnen; einer, der besonders stolz auf seine Stimme ist, brummt immer falsch dazwischen. Unter ihnen ein Liebespaar in höchster Seligkeit: der Student Kolja und sein ‚entzückendes’ Mädel Olga. Keine verstiegenen Lyrismen; keine geschwollenen Phrasen; nur eine schlichte, innige Naturschwärmerei: ein ‚Ach, wie wunderschön!’ offenbart die Echtheit des Gefühls, erschöpft sie. Und doch ein von Dichterhand geformtes Präludium voll süßer Ahnungen, voll banger Furcht, mit trist-heitren Klängen, mit schwermütigen Nationalweisen. – Aber, wie fast regelmäßig bei den Russen, geht der Dichter mit dem Nichtdramatiker Hand in Hand. Ein Stimmungsakkord als Expositionsakt. Wenn der silberne Mond heraufsteigt und die Paare den Heimweg antreten, sind wir genau so weit wie zu Beginn. Kolja liebt Olga; Olga liebt Kolja. Mehr wissen wir nicht. Der zweite Akt schreitet voran, und noch immer stehn wir am Ausgangspunkt. Da plötzlich, als ob es sich um einen neuen Hut handelte, ganz so gelassen, wie jemand um eine Zigarette bittet, fragt Olga ohne eine Spur von Erregung den Liebsten: ‚Weißt du auch, daß ich von einem Weinhändler ausgehalten werde?’ Novellentechnik, denkbar untauglich im Drama (das von zwingender Zweckmäßigkeit lebt, auf Vorbereitung und Zuspitzung angewiesen ist). Verspätete Nachwehen eines mißverstandenen Naturalismus. Nur ja alles vermeiden, was zurechtgemacht scheinen könnte. Wie kindisch! Als ob diese novellistische Absichtslosigkeit weniger zurechtgemacht wäre. – In dem Moment, wo Olga ihre Vergangenheit enthüllt, setzt die russische Schlappschwänzigkeit ein, die äußerste Energielosigkeit, die grandiose Unfähigkeit, etwas zu tun, fast schon: etwas zu wollen. Ein peinliches Hin- und Herpendeln hebt an. Kolja könnte das Brahmssche Lied singen: ‚Nicht mehr zu dir zu gehn beschloß ich’; natürlich kehrt er x-mal zurück. Olga gelobt fortwährend, zu arbeiten, ihr schimpfliches Gewerbe aufzugeben; aber von einer habgierigen, kupplerischen Mutter, einer märchenhaften Megäre, immer wieder auf die Bahn des Lasters gedrängt, wechselt sie ihre Liebhaber vermutlich öfter als das Hemd. Zum Schluß sieht es aus, als ob die Studentenliebe tragisch enden sollte. Bei einem wütenden Zechgelage geraten die vom Kognak erhitzten Männer aneinander (bei Andrejew wird so viel Kognak getrunken, wie in Halbes Jugend Kaffee); Kolja zieht den Degen des Offiziers aus der Scheide, dieser die Pistole aus der Tasche. Doch sie wird ihm entwunden und Olga übergeben. Nun könnte sie sich oder ihren Kolja oder das Scheusal von Mutter oder auch den lästigen Zahler niederknallen – nichts von alledem geschieht. Die Sache geht aus wie das Hornberger Schießen. Wenn sich der Dramatiker auch nicht aufraffen kann, ein Ende zu machen: wir nehmen die tröstliche Gewißheit mit, daß der gnädigere Kognak früher oder später seine Wirkung vom Rückgrat auf das Hirn ausdehnen wird. Im übrigen haben wir längst jede Teilnahme verloren. – Selbst für das verlorene Kind, die Gefallene, die in allem Schmutz rein bleibt. Sie verkauft ihren Leib (oder wird verkauft), ohne an ihrer Seele Schaden zu nehmen. Sie gibt sich allen hin und liebt den Einen. In aller Verworfenheit bewahrt sie den Sperlingsbergen ein treues Angedenken. Die Gestalt hat sympathische Umrisse, doch kein reiches Einzelleben. Wenn man literarisches Gemeingut aufgreift, muß man ihm Sonderzüge aufzuprägen vermögen. – Eine winzige Einzelheit, die immerhin Mut bezeugt, scheint noch erwähnenswert. Der angegraute, lüsterne Militärarzt, der der Dirne einen Besuch abstattet, erkundigt sich bei ihr, ob sie nicht − − (hier flüstert er ihr etwas ins Ohr, das der Leser ebenso leicht erraten wird wie der Zuschauer). Merkwürdiges Phänomen: von hundert Männern in solcher Situation dürften achtzig die gleiche Frage stellen, obwohl sie wissen, daß sie niemals eine bejahende Antwort erhalten werden … – Das Schauspiel, das mitunter physisches Unbehagen erzeugt, kam im Kleinen Theater eben noch mit heilen Gliedern davon. Herr Direktor Barnowsky, der eine sehr geschmackvolle Ausstattung daran verschwendete, muß das siebenfache Erz des Snobismus um die Brust tragen, wenn er sich die Aufführung dieser von starken Flüssigkeiten triefenden russischen Überflüssigkeit als Verdienst anrechnen sollte.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Januar 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 24.
Paul Gavault, Das kleine Chocoladenmädchen (Neues Schauspielhaus, 21.01.11). [Rezension in Form eines Briefes der jungen „Margot“ aus Berlin an ihre „liebe Ursel“ in Zürich: vgl. die Theaterkritik vom 09.10.10, Nr. 279.] – „Meine liebe Ursel, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Man hat mir gestattet, zur Premiere eines französischen Stücks ins Neue Schauspielhaus zu gehen. Zum Kleinen Chocoladenmädchen von Paul Gavault. Das kam so: Mademoiselles Mutter hatte aus Paris geschrieben, wir möchten ja nicht La petite chocolatière versäumen; es sei absolut harmlos; kein Pensionsgänschen, geschweige denn eine weisheitsvolle Studentin, könne Schaden an ihrer Seele nehmen. Meine Mama, die gute Frau, hatte allerdings zuerst gewichtige Bedenken. Sie meinte, auf die Völkerpsychologie gestützt: was in Paris sehr zahm anmute, könne in Berlin anstößig wirken; aber wir redeten ihr das erfolgreich aus, wobei uns Papa tatkräftig unterstützte. – Es geschehen wirklich noch Zeichen und Wunder. Kommt da aus Paris ein unterhaltsames Lustspiel, ein Lustspiel, Ursel, keine Komödie und keine Farce, so sanft und tugendreich, so sittsam und dabei so graziös – ich glaube, Roderich Benedix, der gestern seinen hundertsten Geburtstag feierte [geb. 21.01.1811, gest. 26.09.1873], ist neben diesem Paul Gavault frei und lüstern. Nun ja, ein Maler hat eine ‚Freundin’; aber sie ist so treu und langweilig wie eine der klugen Jungfrauen, und darum geht die Welt, selbst die Welt, in der man sich langweilt, nicht aus den knarrenden Angeln. Mit zwei oder drei diskreten Strichen könnte ein Oberlehrer eine Ausgabe des Lustspiels zum Gebrauch für höhere Schulen veranstalten, und die jungen Damen von heute würden sicher die schneidige Benjamine Lapistolle, Tochter des traumhaft reichen Schokoladefabrikanten, dem verarmten, bereits zu Tode gekauten Mademoiselle de la Seiglière vorziehen. – Der Inhalt ist denkbar einfach. Benjamine (gräßlicher Name übrigens), ein verwöhntes, launisches, ungezogenes Geschöpf, aber ein Racker, eine Range der Champs Elysées, hat eine Panne und überfällt zu nachtschlafender Zeit das bescheidene Landhaus eines kleinen Versicherungsbeamten. Der Hausherr, ein guter Junge mit nicht eben besten Manieren, ist wütend über die späte Störung; um so wütender, als er am andern Morgen den Besuch seines zukünftigen Schwiegervaters und seiner Braut erwartet. Aber er ist ritterlich genug, dem ebenso frechen wie feschen Eindringling sein Schlafzimmer zu überlassen, während er selbst die Nacht in einem Lehnstuhl verbringt. Benjamine ist mit einem adligen Fatzken verlobt, den sie nicht liebt. Paul ist mit einer faden Person, der Tochter seines Bureauchefs, verlobt und bildet sich ein, er liebe sie. Dadurch werden Benjamines Bemühungen, ihn loszueisen, beträchtlich erschwert. Sie beleidigt, nur dadurch, daß sie sagt, was sie denkt, den alten Spießer so gründlich, daß er die Verlobung seines Kindes mit dem braven Paul sofort löst. Und sie selbst macht sich frei, indem sie den blöden Mitgiftjäger, der sie abholen kommt, mit einem beherzten Ruck abschüttelt. (Wobei das eine unglaubhaft erscheint, daß ein Wesen, das so genau weiß, was es will, einem solchen Laffen je sein Jawort geben konnte.) – Nun stünde der Verbindung zwischen der Millionärstochter und dem kleinen Paul nichts im Wege, wenn er sich nicht in den Wahn hineinredete, daß er sie hasse, weil sie seine Kreise gestört und sein Lebensglück zerstört habe. Wie sie den Widerspenstigen zähmt, das bildet den Inhalt der weniger gut geratenen, etwas gezwungenen zweiten Hälfte. – Ein überaus amüsanter Tischherr sagte neulich zu mir mit der Offenheit, die den Literaten – es war ein ganz berühmter – zur zweiten Natur geworden ist: ‚Nichts, dünkt mich, ist so einfach zu erklären: / Wir lieben nur die Frauen, die sich wehren.’ Ich möchte jetzt nach den Erfahrungen, die ich durch Benjamine gewonnen habe, mit der Offenheit, die von jeher meine zweite Natur war, zu dem berühmten Literaten sprechen: ‚Ich kann es schriftlich dir bescheinigen: / Wir lieben nur die Männer, die uns peinigen.’ – Schade, daß dies so umständlich dargestellt wird. Es gibt da immerhin noch eine reizende Szene: Benjamine, die in ihren Mitteln ziemlich wahllos ist, um zu dem ersehnten Ziel zu gelangen, sucht ihren geliebten Paul in seinem Bureau auf, ißt mit ihm aus einer Schüssel Hammelragout, trinkt mit ihm aus einem Glase Rotwein, und sie könnten sich nach diesem gemeinsamen Mahl mit Fug und Recht in den Armen liegen, wenn es sich der Autor nicht in den Kopf gesetzt hätte, seine Heldin noch als Nonne auftreten zu lassen – eine unnötige Verkleidung und ein überflüssiger Akt, für den ihm so gut wie nichts und leider nichts Gutes mehr eingefallen ist. – Wäre das Drum and Dran so kurzweilig wie der Kern, man dürfte sich mit ungetrübter Freude dieser anspruchslosen Gabe erinnern. Mit geht es wider den Strich, daß der Maler des öftern recht täppisch in den Gang der Geschehnisse eingreift und durch plumpe Tricks dem sanften Fluß der Handlung nachhilft, die sich auch ohne dies ganz von selbst aus der Gegensätzlichkeit der Charaktere entwickeln würde. Aber der vergnügliche Abend erlitt dadurch nicht wesentliche Einbuße. Ja, ja, die Franzosen, sie können, was sie wollen, und jeder Geschmack findet hier seine Rechnung. – Wenn Ihr das Chocoladenmädchen nächstens in Zürich zu sehen bekommen solltet, kann ich Euch nur eine ebenso gute Aufführung wünschen, wenigstens in den beiden Hauptrollen, die bei dem sprudelnden Frl. Wüst und dem angenehm phlegmatischen Herrn Salfner trefflich aufgehoben waren, während die Nebenrollen bei Euch hoffentlich besser gespielt werden. – Ich grüße Dich, wie stets in Herzlichkeit, Deine Margot.“

Berliner Opern. NZZ, 25. Januar 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 25.
Franz Neumann, Liebelei [nach dem Text von Arthur Schnitzler] (Komische Oper, 20.01.11). – „Fünfzehn Jahre sind es her, seit Arthur Schnitzlers Liebelei uns zuerst im Deutschen Theater [am 04.02.1896] entzückte und beglückte. Kaum einer in Berlin hatte vorher den Namen des Wieners gehört, und nach Liebelei stand es fest: das war der Gruß eines Dichters. Eines der ganz wenigen, die sich nicht in einem Jugendwerk verausgabt haben. Die Sorma spielte damals die Christine, Rittner den Fritz – die Schlesierin Sorma und der Schlesier Rittner die beiden Hauptgestalten eines Dramas, in dem das Wienertum so vernehmlich singt und schwingt wie im blauen Donau-Walzer. Was sie an Echtheit der Sprachmelodie schuldig blieben, ersetzten sie durch die Innigkeit ihrer menschlichen Melodie. Die Sorma, holdseligstes Wunderwesen aus Breslau, lächelte wie ein Cherub, schlug die Rätselaugen auf … das war Musik. – Und nun kommt, nach fünfzehn Jahren, der Kapellmeister Franz Neumann aus Frankfurt a. M. und setzt die Liebelei in Musik (oder richtiger: unter Musik, wie man einen Zirkus unter Wasser setzt). Den Schnitzlerschen Text mit den durch die Zeitdauer bedingten Kürzungen, kein zum besondern Zweck umgewandeltes Libretto. So wie Strauß die Salome und die Elektra mit den unentbehrlichen Strichen wörtlich übernahm. Den Schnitzlerschen Text mit seiner latenten Musik, mit seinen Heimlichkeiten, seinen verschwiegenen Traulichkeiten, seinen Andeutungen, seinen Aposiopesen, seinen ausgesprochenen Unausgesprochenheiten, mit seiner Schämigkeit und seinem Duft von Ewigkeit. Er setzt die dunkelgraue Bluse, den Pfropfenzieher, das Duell, die Augenblicke mit ihrem Duft von Ewigkeit in Musik, und indem er so vertont, betont er recht nachdrücklich die Irdischkeit der Dinge. In der Dichtung ward die Prosa durch ihren schlichten Ton und die zarten Untertöne, die mitschwingen, zur Poesie, zur Musik. Jetzt, da die Musik erbarmungslos darüber herfällt, wird die Poesie wieder in die Prosa zurückgeworfen. Sie verklärt nicht, sie veredelt nicht, wie es dem Wesen der Musik zukommt, sie hebt das gesprochene Wort nicht in eine höhere Sphäre, sondern sie unterstreicht, sie verdeutlicht, sie vergröbert, sie sagt ungeniert, was zwischen den Zeilen steht, sie verletzt durch die Realität des Ausdrucks. – Der erste Akt – dieses leichtbeschwingte, wiegende Wienertum mit seiner heitern Grazie und seiner dolce tristezza (bei Schnitzler) – wäre in der Neumannschen Vertonung fast imstande gewesen, uns die Dichtung für alle Zeit zu verleiden. Der Eindruck war stellenweise grotesk. Kaum noch eine Spur vom Schnitzlerschen Klima, kein Hauch mehr von seinem anmutigen Geist. Statt dessen gleich dicke Untermalung. Schon werfen die Ereignisse ihre schwarzen Schatten voraus, schon steigt die Tragik im Orchester unheilverkündend herauf. Das bißchen Lustigkeit, das der Komponist hier aufbringt, hat kein spezifisch wienerisches Kolorit; es ist aufgeklebt, nicht erlebt. Und dann diese fürchterlichen Trivialitäten des gesungenen Textes. Eine Mokkacrèmetorte in Des-Dur (es kann auch eine andere Tonart sein) ist etwas Absurdes. ‚Ich bedaure sehr, Sie gestört zu haben’ mit Bratschenbegleitung (es kann auch ein anderes Instrument sein) wirkt unfreiwillig komisch. Einer hat es vermocht, solche Alltäglichkeiten des Textes überhören zu lassen: Puccini in der Bohème und allenfalls noch Charpentier im ersten Akt der Louise, aber nur da. Der Italiener, dem Neumann übrigens später manches verdankt, hat die blödesten Worte von der süßesten Melodik aufsaugen lassen. Wie Seifenblasen quirlen bei ihm musikalische Gebilde auf und sind zerronnen, noch ehe sie feste Form annahmen. Die Bewunderung vor Puccini, dessen Bohème uns gelegentlich überzuckerte Süßlichkeit, Erdbeeren mit Schlagsahne, dünkte, wächst ins Riesenhafte, wenn man den Deutschen Neumann daneben hält. – Zum Glück bleibt es nicht so schlimm. Sobald sich die Tragik in der Dichtung zusammenballt, findet die Musik einen entsprechenden Ausdruck dafür und endlich ihren Stil. Im Liebesduell des zweiten Aktes, das den Erfolg entschied, zeigt der neue Mann, daß er viel, sehr viel gelernt hat und zu instrumentieren versteht. Warum sollte ein Kapellmeister schließlich nicht das Handwerk beherrschen? Immerhin, es ist keine bloße Kapellmeistergeschicklichkeit; hier spürt man künstlerische Wallungen. Der Schwerpunkt von Neumanns Können liegt allerdings nicht in der Erfindung, sondern in der Farbenmischung. Und die Figur des alten Vaters ist sogar mit Empfindung ausgestattet. Der dritte Akt behauptet sich auf der nun erreichten Höhe. Christinens Schmerz bei der Nachricht vom Tode ihres Liebsten für eine andere Frau ist ein musikalischer Monolog, der sich hören lassen darf. Wie das Weh von freudigen Erinnerungen umgaukelt wird, wie in all die Trauer das pikante Motiv der losen Mizzi hineingesetzt ist, das verrät einen nicht unbeträchtlichen Sinn für Kontrastwirkungen, für dramatische Abstufung. Bis zum Schluß werden die Fäden fest zusammengehalten. – Für eine Unterlassung muß man dem Komponisten dankbar sein. Er, der jede textliche Anregung allzu bereitwillig aufgriff, der die Dragoner, den Frühling, das Weineinschenken musikalisch illustrierte, widerstand der Versuchung, als von Schuberts Büste auf dem Ofen die Rede ist, ein Schubertsches Thema heraufzubeschwören. Dem Gesamtwerk gegenüber wird man aber einen extrem literarischen Standpunkt einnehmen und Schnitzlers Dichtung, die nicht aus unserm Herzen zu reißen ist, vor einer talentvollen, doch unangebrachten Veroperung schützen müssen. – Veropert waren natürlich auch die Gestalten; veropert selbst die Regie des vielgepriesenen Herrn Gregor, der ein Wiener Junggesellenzimmer in klischeehaftem Berliner Tapeziergeschmack auf die Bühne stellte. Die Christine der Labia, die eine Destinn-Stimme hätte, wenn sie schlackenfrei zu singen wüßte, hatte gar nichts vom süßen Mädel, sondern war eine Neapolitanerin aus dem Volke, die durch ihre bravouröse Darstellung im Schlußakt erschütterte. – O Neumann, Neumann, gib mir meinen Schnitzler wieder!“

Berliner Theater. NZZ, 7. Februar 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 38.
David Pinski, Der Schatz (Deutsches Theater, 02.02.11). – „Wo bleibt der genius loci? Max Reinhardt, der Oedipus-Restaurator und der Restaurator auf Reisen, für dessen Ruhm Europa bald nicht mehr groß genug sein wird, scheut sich nicht, an derselben Stätte, wo sonst die Tragödien Shakespeares und Schillers in Szene gehen, eine jiddische Jargonkomödie Der Schatz von David Pinski aufzuführen. Das Deutsche Theater folgt ohne Erröten den Spuren der Gebrüder [Anton und Donat] Herrnfeld. Und die klassische Muse verhüllt ihr Haupt … – Gewiß ist der Traum eines Weltrepertoires, den der Theaterdirektor Goethe hatte, längst Wirklichkeit geworden. Nationalitätsschranken kennen wir in der Kunst nicht mehr; die Abstände von Jahrhunderten schrumpfen zusammen, als wären sie ein Tag, der gestern gewesen. Hätten die Azteken einen bedeutenden dramatischen Schriftsteller, er wäre uns willkommen; hätte zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung irgendwer für das Schaugerüst eine spannende Handlung aufgezeichnet, wir griffen mit beiden Händen danach. Universalität ist das stolzeste Ziel, nach dem die zeitgenössische Bühne streben kann, sofern es eine Universalität des Guten ist. Heute Sophokles, morgen Schnitzler: ja; heute Aristophanes, morgen Julius Freund [Verfasser vieler erfolgreicher Revuen des Metropol-Theaters (1862-1914)]: nein. Universalität des Guten. – Aber dennoch – alles schickt sich nicht für Einen. Der Lokalkomiker, der nach dem Lorbeer des Tragöden langt, wird höchstens von seiner eigenen Person ernst genommen. Der umgekehrte Weg: von den Gipfeln der Tragödie in die Niederungen der Komik hinabzusteigen, ist öfter und öfter mit Erfolg beschritten worden. Gleichwohl hat das Unterfangen sein Gefährliches, weil niemand über seinen eigenen Schatten zu springen vermag. In Städten, die sich mit einem Bühnenhaus begnügen müssen, reicht der Umfang des Theaterspielplans naturgemäß vom König Lear bis zur Dame vom Maxim [von Georges Feydeau (1899)]. Ohne Wahl verteilt die Gaben, doch mit Billigkeit der Striese. [Satirische Verdrehung von Schillers Vers „Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück“ (‚Das Siegesfest’): Emanuel Striese ist der Schmierentheaterdirektor in Franz und Paul von Schönthans Komödie Der Raub der Sabinerinnen (1884).] In einer Stadt aber, die so viele Theater hat, daß jedes, wenn es im Existenzkampf bestehen will, eine Spezialität pflegen muß und allmählich, fast ohne sein Zutun, eine Sonderphysiognomie annimmt, da wird, ganz von selbst, dem Bühnenleiter ein Kreis gezogen, in den er gebannt ist und den er nicht ohne zwingenden Grund verlassen sollte. Die Großstadt ist nun einmal die Wiege des Spezialistentums; wer in ihr einer spielerischen Vielseitigkeit huldigt, bringt sich leicht in den Verdacht des Dilettantismus. – Kurz und gut: wo man den Hamlet erwartet, ist man nicht auf den Gott der Rache gefaßt [von Schalom Asch; inszeniert am 19.03.07]; wo man den zweiten Teil des Faust vorbereitet [Premiere am 15.03.11; vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 21.03.11, Nr. 80], ist man nicht vorbereitet, den Schatz von David Pinski anzutreffen, welcher ein geringerer Vetter des Schalom Asch ist. – Wäre er ein großer Künstler, er hätte nach zehn Minuten unsern Widerstand gegen ein unliebsames Genre besiegt. Die Komödie setzt nicht übel ein. Der verblödete Sohn eines blutarmen Totengräbers findet, als er seinen Hund verscharrt, auf dem Friedhof einen Haufen Goldstücke und gibt ihn seiner Schwester, die davon träumt, eines Tages einen Millionär zu heiraten. Das pfiffige Mädchen kann nun einen Tag Millionärin sein: sie macht übertriebene Aufwendungen für Staat und Schmuck, spricht im Dorf herum, daß ihrer Familie ein Schatz zugefallen, und erweckt so die grenzenlose Habgier der ganzen Gemeinde. Wäre Hr. Pinski, ein in Amerika lebender jiddischer Dialektschriftsteller, ein großer Künstler, so hätte er das, was ihm vorschwebte, gestalten können. Er wollte seinen kleinen Ausschnitt zu einem Weltbild erweitern und vertiefen, wollte am Beispiel dieser russischen Juden zeigen, wie die Geldgier aus Menschen Hyänen macht; aber er hat nur die Kühnheit des Könners und leider nicht das Können des Kühnen. Die Szene, in welcher der Kretin die Einwohner des Dorfes auf den Gottesacker führt und verspricht, ihnen den Fundort des Schatzes zu verraten, wenn sie ihm seine Grimassen nachmachen – diese in der Idee Shakespearesche Szene mag für die Besucher der verqualmten Scheune in Whitechapel oder der Spelunken in New Yorks Bowery etwas erschütternd Komisches haben: auf uns differenziertere Geschöpfe, die vom Dichter größere Differenziertheit zu verlangen gewohnt sind, wirkte es abstoßend. (Hier griff der beleidigte genius loci in der Notwehr zum Hausschlüssel und schrillte wie ein Feuersignal in den Beifall.) – Erträglich würde für uns das Stück nur, abgesehen von seiner Länge und Eintönigkeit, durch die absolute Echtheit des Kolorits, die ihm immerhin einen Kuriositätsreiz leihen könnte. Aber dann müßte ein Dichter darüber kommen, der die Sprache in ihrer unverfälschten Jargoneigenheit und Volkstümlichkeit herstellte. Die Übersetzung, die wir zu hören bekamen, war ein unangenehmes Gemisch von Hochdeutsch und Jiddisch, das nur vereinzelt echt anmutete. Wenn der Dichter bei dieser Gelegenheit auch den Figuren etwas nachhelfen wollte, könnte es der Komödie nur von Vorteil sein. Einzig die Unsentimentalität, mit der Pinski seinen Stoff und seine Gestalten anpackt, nimmt für ihn ein. Er ist ein scharfer Beobachter kleiner Züge und gibt sie mit aller Schärfe, ohne Schmalz, wieder. Wo er schwarz sieht, setzt er einen schwarzen Klecks ohne jede Beimischung von rosa hin. Das ist mehr die grausame Realität der neuern Russen, als die weichherzige Art des jüdischen Wesens. – Die Darsteller des Deutschen Theaters hätten retten können, wenn sie ihr Deutschtum energischer verleugnet hätten; merkwürdigerweise fehlte es ihnen diesmal, wo Herr Schildkraut nicht mehr die Tonart angab, an dem Mut zu mauscheln.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Februar 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 42.
Hermann Essig, Die Glückskuh (geschlossene Vorstellung der literarischen Gesellschaft Pan im Modernen Theater, 06.02.11); Karl Vollmoeller, Wieland (Deutsches Theater, 07.02.11). – „Über den zweiten Streich der Gesellschaft Pan [– der erste war die Aufführung von Heinrich Manns Die Bösen (Der Tyrann / Die Unschuldige / Varieté) am 21.11.10 im Kleinen Theater (vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 30.11.10, Nr. 331) –], die Aufführung des Lustspiels Die Glückskuh von Hermann Essig, geht man am besten möglichst schnell zur Tagesordnung über. Ein gewöhnliches Publikum mit unverdorbenen oder unverfälschten Instinkten, über das der Moloch Snobismus keine Gewalt hat, hätte diese Vorspiegelung naiver Tatsachen wohl kaum bis zu Ende angehört. Die dem Wink ihres Managers gehorsamen, fast vollzählig versammelten Maler der Sezession schienen sich zu amüsieren – hoffentlich über die Sache; denn sie sind nicht ganz so harmlos oder auch nur so kokett harmlos wie Herr Hermann Essig. Selbstverständlich kann eine solche angestrichene Naivität nicht natürlich gewachsen, sie muß künstliches Produkt, System, Methode sein; und so spukt seit Jahr und Tag das ‚Problem’ Essig in den Fachzeitschriften. Aber dieses Problem (es ist ‚Essig’) liegt nicht so sehr in der Eigenart des Schaffenden wie in der eigenartigen Erscheinung, daß er, weil künstlich, zu künstlerischer Begabung hinaufgeschraubt wird. Zum Glück verpflichtet die Mitgliedschaft des Vereins Pan nicht, die von ihrem Begründer [Paul Cassirer] entdeckten literarischen Größen anzuerkennen und ihren Dichterruhm zu unterschreiben. Ich sagte neulich schon: was zu dumm ist, ernst genommen zu werden, wird heutzutage als Parodie ausgegeben [vgl. Theaterkritik in der NZZ vom 11.01.11]. Wie verhält es sich aber mit dem, was zu dumm ist, als Parodie zu gelten? Sollen wir das am Ende ernst nehmen? Nein, niemand kann die von keiner technischen Fähigkeit angekränkelte Hilflosigkeit dieses Bauernstücks (man sehe sich etwa den dritten Aktschluß an) ernst nehmen; niemand wird die von papiernen Phrasen heillos angenagte Sprache dieser ländlichen Diebeskomödie komisch finden. ‚Etwas ganz anderes will ich tun, etwas weit Genialeres’, sagt ein dörfliches ‚Mauseluder’; oder sie meint, der Kaufschein für die gemauste Kuh sei ‚eine luxuriöse Dreingabe’. Wenn wirklich, wie es gewisse moderne Ästheten wahr haben wollen, alle dichterische Kunst letzten Endes auf eine Wortkunst hinausläuft, dann ist die Sprache der Essigschen Komödie ein untrügliches Kriterium, daß ihr Verfasser nicht zu den Dichtern zählt. ● Am liebsten möchte man ebenso schnell über die letzte, schmerzliche Verfehlung des Deutschen Theaters hinweggehen; aber hier, wo es sich nicht um eine geschlossene Gesellschaft, sondern um ein öffentliches Institut handelt, dessen Prestige auf dem Spiele steht, wird die Abwehr Pflicht. Das Publikum des Deutschen Theaters hat allerdings schon an Karl Vollmoellers Märchen Wieland berechtigte Lynchjustiz geübt. Seit vielen Jahren ward ein ähnlich geräuschvoller Theaterskandal selbst in der geräuschvollen Theaterstadt Berlin nicht mehr erlebt. Seine einzige Entschuldigung könnte sein, daß der geschmacklose Radau vor der Szene kaum schlimmer war als die Abgeschmacktheiten, die uns auf der Szene zugemutet wurden. – Vollmoeller, der Dichter der Gräfin von Armagnac [1903], schrieb sein ‚Märchen’ (die krasse Unwahrscheinlichkeit der Handlung soll mit diesem Mäntelchen gedeckt werden) vermutlich auf höheren Befehl. Seit Jahren ist es Max Reinhardts Wunsch, ein englisches Gesellschaftsstück aufzuführen. Waren ihm die autochthonen zu gemäßigt, so konnte er ein maßloses daheim nach Maß bestellen. Er wollte einmal zeigen, wie sich gut angezogene Menschen auf der Bühne bewegen; ihn lockte es, die Innenräume eines englischen Hauses mit ihrem behaglichen Komfort und die Leidenschaftslosigkeit ihrer Bewohner wiederzugeben. (Nebenbei: wir sind mehr für die Innenräume der Bewohner und die Leidenschaftslosigkeit des Hauses.) Aber die Rechnung stimmt nicht. Abgesehen von der Bartlosigkeit haben heutige deutsche Mimen – speziell die des Deutschen Theaters – wenig, was sie zur Darstellung angelsächsischer Menschen prädestiniert. Ihre Gesichter, ihre cutaways, ihre Haltung, ihre Manieren sind made in Germany, was vielleicht eine Ehre ist; aber wenn sie jeden zweiten englischen Eigennamen falsch aussprechen, so ist das keine Ehre und trägt durchaus nicht zur Erhöhung der Illusion bei. – Karl Vollmoeller war der Mann, diesen Traum des Regisseurs zu erfüllen. Er hat sicher einer Vorstellung im Drury Lane mit offenen Augen zugeschaut und sagte sich: warum soll ein deutscher Schriftsteller nicht einmal, sei es auch nur des Gaudiums wegen, eine ebenso sensationelle Handlung auf die Bretter bringen? Müßte sie unter den Händen eines Dichters nicht weit stärker an den Nerven der Zeitgenossen reißen? Aber jedes Melodrama im Drury Lane ist besser gebaut, konsequenter und stubenreiner als der Reißer des deutschen Dichters Vollmoeller. – Den Dichter konnte er zwar nicht ganz verleugnen. Seinen Leib verkaufte er ohne Bedenken dem Sensationsdramatiker, seine Seele spielte ihm aber invita Minerva einen Streich. Mit der knalligen Handlung allein war es nicht genug; hinter den Ereignissen sollten Symbole heraufwachsen. Die gehäuften Vorgänge sollten poetisch verankert werden. Irgendein Conan Doyle hätte sich mit einem Flugmelodrama beschieden (oder wäre gar nicht auf diesen Stoff verfallen, da England so gut wie nichts für die Aviatik getan hat). Vollmoeller erinnerte mit seinem Titelhelden, einem Klavierlehrer von technischem, flugtechnischem Genie, an die grausame Gestalt des Schmiedes in der altgermanischen Sage. Erinnerte an Richard Wagners Opernfragment gleichen Namens. Was lag näher, als die beiden Dinge zu verkoppeln? Er machte also den ingeniösen Ingenieur zum Komponisten einer Oper Wieland, ließ ihn, wie Wagner, sächsischen Dialekt sprechen und wies ihm das Rachewerk des germanischen Schmiedes zu, der die beiden Königsknaben tötete und die Königstochter schändete, weil ihm der böse Vater, um ihn zum Bleiben zu zwingen, die Kniekehlen hatte durchschneiden lassen. – Auch Vollmoellers Wieland, dem Sachsen unter den Angelsachsen, sind, wie er sich mit Vorliebe ausdrückt, die Kniekehlen durchschnitten worden. Er hatte nämlich, weil er sich an den Platintiegeln seines Brotherrn vergriffen, im Gefängnis gesessen, und wer einmal dort gewesen sei, behauptet er, der könne nie wieder gehen. (Hier hatte der Schauspieler Bassermann, der sonst des Guten zu viel tat, einen grandiosen Moment.) Trotzdem durfte der Deutsche in das Haus des gleich ihm für das Flugproblem interessierten englischen Baronet zurückkehren. Furchtbare Rachegedanken brütet sein schwarzes Gemüt. Den Sohn läßt er, als er einen Aufstieg wagt, in gemeiner Niedertracht umkommen; die Tochter soll ihm, wenn sich ihre Zeit erfüllet hat, als Beute zufallen. Aber dieser starke Hasser ist ein Schwächling und ein Feigling obendrein. Seine anfänglich bezweifelte, dann viel bewunderte Tat der ersten Überfliegung des Kanals dankt er nicht seiner zielbewußten Kühnheit, sondern einem schnöden Zufall, da im gegebenen Augenblick das Kabel riß. (Ein feiner, ironischer Zug des Aviatikers Vollmoeller, der weiß, eine wie wichtige Rolle der Zufall bei allen Errungenschaften dieser Art spielt.) Und als Wieland, dessen Tat im Handumdrehen industriell ausgebeutet wird, seinen Flug über das Ärmelmeer vor versammeltem Volke wiederholen soll, zieht er der Blamage den selbstgewählten Tod vor. Ein Engländer wird den Ruhm ernten. Heil, Britannia! Wären wir patriotisch, wir würden dem Dichter ob dieser Verkleinerung deutscher Tatkraft ernstlich gram sein. – Hätte sich Vollmoeller mit dem Luftschifferdrama zufrieden gegeben, so dürfte man ihm bestätigen, daß er die englische Gattung des Melodramas nicht ungeschickt auf deutschen Boden, wenn auch unpassend in englisches Milieu, übertragen hat. Die literarische Verbrämung hätten wir ihm gerne geschenkt; sie mutet hier fast wie ein Stilfehler an. Ein Rest von literarischem Gewissen. Leider fehlt auch nicht der französische Einschlag in der skrupellosen Ausmalung erotischer Szenen. Diesen kaltblütigen Engländern wird eine wahrhaft gallische Leidenschaftlichkeit sexueller Betätigung angedichtet, die sich sogar auf eine ausgedörrte britische Gouvernante erstreckt, und Wieland selbst ist nicht nur ein passionierter Vogelmensch. – Hier riß dem Publikum des Deutschen Theaters, das zuerst willig der Sensation gefolgt war, das Kabel der Geduld. Max Reinhardt sollte doch einmal, falls er noch eine Mußestunde erübrigen kann, mit dem genius loci Zwiesprache halten. Alles schickt sich nicht für Einen, hab’ ich ihm neulich nicht ohne Bangen zugerufen [in der NZZ vom 07.02.11, Nr. 38]. Wenn der Eine, sich über alle Schranken hinwegsetzend, mit dieser wahllosen Universalität fortfährt, dann dürfte der Wieland in nicht allzu ferner Zeit die Götterdämmerung einleiten. Quod di omen avertant.“ [Das Stück verschwand nach der zweiten Aufführung vom Spielplan.]

Berliner Theater. NZZ, 14. Februar 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 45.
Alfred Schmieden, Mein erlauchter Ahnherr! (Neues Theater, 08.02.11). – „Alfred Schmieden, Verfasser einer Abhandlung über Wilhelm Tell, Direktor des hiesigen Neuen Theaters, ist unter die Dichter gegangen und hat sich im eigenen Hause mit dem Lustspiel Mein erlauchter Ahnherr! einen hübschen Erfolg geholt. Er wäre in Meiningen gewiß dreimal, in Dessau viermal, in Darmstadt fünfmal so groß gewesen. Denn die Einwohner dieser Residenzstädte hätten in Schmiedens herzoglichem Helden, der nicht nur Regiegelüste, sondern auch poetischen Ehrgeiz hat, mit Vergnügen ihren Landesvater gewittert. Man mag sich vorstellen, einen wie pikanten Reiz das für die Darmstädter hätte. Für uns fiel dieses – wie nenn ich es gleich? – … lokalpatriotische Moment weg. Erstens sind wir Großstädter – mehr: Weltstädter; zweitens sind wir weder Hoftrabanten noch Hoflieferanten, und der Anblick eines prinzlichen Mopses, der in Begleitung eines Lakaien um die Mittagsstunde seinen Verdauungsspaziergang absolviert, verursacht uns nicht Herzklopfen; drittens sind zwar die Regieneigungen unseres Herrschers recht stark entwickelt, seine bühnenschriftstellerischen Ambitionen sollen sich aber, einem süddeutschen Blatte zufolge, auf die Abfassung eines Operettentextes beschränken (inzwischen ward dem süddeutschen Blatte die Abfassung zuteil); und viertens ist Dr. Schmieden – war es Rücksicht, war es Vorsicht? – allen solchen Anspielungen geschmackvoll ausgewichen. – Er erzählt ohne satirische Ausfälle, ohne ironische Einfälle, wie der vom furor theatralicus gepackte junge Herzog von Annoburg eine Historie geschrieben hat, in deren Mittelpunkt einer seiner erlauchten Ahnen steht. Wie sie am Hoftheater unter einem Pseudonym zur Aufführung gelangt, in Abwesenheit des Autors durchfällt und diesen von seiner Kulissenleidenschaft kuriert. Sehr zur Freude seiner hohen Gemahlin, die sich durch die Beschäftigung ihres Gatten mit der Bühne vernachlässigt glaubte. – Das wird sehr gemächlich, sehr behaglich, im Residenzstadttempo, doch ohne Entgleisungen vorgetragen. Die Atmosphäre des Werkchens läßt sich durch die Arie: ‚Ach, so fromm, ach, so traut’ [Friedrich v. Flotow, Martha] kennzeichnen. Man fühlt sich in die gute alte Zeit zurückversetzt, als [Gustav von] Moser den Ton angab und Blumenthal ihn angeblich verdarb. Man empfindet die Benutzung des Telephons fast als Anachronismus. Harmlosigkeit auf der ganzen Linie. Aber in diesem Zeichen hat Alfred Schmieden gesiegt, und in den deutschen Residenzen werden sich nächstens die treuen Untertanen schmunzelnd darüber unterhalten, wer dem Dichter als Modell vorgeschwebt habe.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Februar 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 52.
Carl Sternheim, Die Hose (Kammerspiele, 15.02.11). – „Wenn die Polizei, wie es den Anschein hatte, Carl Sternheims bürgerliches Lustspiel Die Hose (in elfter Stunde Der Riese umgetauft) dem Publikum der Kammerspiele vorenthalten hätte, es wäre kein Verlust für die Kunst gewesen. In kluger Einsicht unterließ sie das Verbot, das eine ganz unverdiente Reklame bedeutet hätte. Nun wird die kurzlebige, keineswegs immer kurzweilige Schnurre, ohne die öffentliche Sittlichkeit zu gefährden, bald in den Orkus fahren. Es geht auch so. – Stofflich berührt sich Herrn Sternheims bürgerliches Lustspiel (diese Etikettierung soll natürlich den braven Bürger frozzeln) mit Otto Hinnerks [Pseud. von Otto Hinrichsen] Närrischer Welt [1909] in auffallender Weise. Hier wie dort handelt es sich um die Zimmervermieterin und ihre Chambregarnisten. Bei Hinnerk betrügt sie den Ehemann unablässig; bei Sternheim gelangt sie nicht zum Ziel: der Wunsch ist wohl bei ihr vorhanden, aber sie scheitert am Unvermögen der Zimmerherren, von denen der eine durch Neurasthenie, der andere durch Untüchtigkeit gehemmt wird. Schließlich zieht der Literat aus, weil er sich an anderer Stelle betätigen zu können glaubt, und tritt sein Zimmer einem absolut gefahrlosen Tapergreis ab. Sollte es Zufall sein, daß diese Schlußpointe der Närrischen Welt hier in gleicher Fassung wiederkehrt? Eine närrische Welt, in der die Duplizität solcher Ideen vorkommt … – Sternheims Phantasie ist bereits in der Mitte des ersten Aktes erschöpft. Frau Luise Maske, eine schusselige Beamtengattin, hat auf einem Spaziergang ihre Hose verloren, und der Anblick dieses intimen Kleidungsstückes versetzt zwei Herren in solche Wallungen, daß sie der Trägerin dauernd nahe zu sein beschließen. Sie mieten sich also bei ihr ein. Hier ist Sternheims Phantasie und seine Gestaltungskraft zu Ende; dafür bietet er der Phantasie des Hörers weiten Spielraum, denn sie wird reichlich mit Zweideutigkeiten gespeist. Erst zum Schluß des vierten Aktes rückt die Handlung vom Fleck. Die beiden verliebten Aftermieter, der für literarische Modelle schwärmende Schriftsteller Frank Scarron und der für Wagner schwärmende Friseurgehilfe Benjamin Mandelstam, haben sich als untauglich erwiesen. Aber nachdem Herr Maske genug an ihnen verdient hat, erklärt er seiner bitter enttäuschten Frau, sie könnten sich nun den Luxus eines Kindes leisten. Und der Witz der Komödie liegt darin, daß die Frau, die beständig am Rande des Ehebruchs schwebte, heil davonkommt, während der Mann, der den feierlichen Vorsatz faßt, Vater zu werden – seine Mittel erlauben es ihm jetzt – eben mit der Nachbarin außereheliche Freuden gekostet hat und sie einmal wöchentlich zu wiederholen gedenkt. – Das Lustspiel fängt (eine Nationaleigentümlichkeit deutscher Stücke) sehr frisch, wirklich lustig, mit einem durchaus lebendigen Realismus an. Nicht nur die Eingangssituation der gerutschten Unterhöschen ist ergötzlich, auch die Art, wie der Philister seine Schlampe von Frau ob ihrer Nachlässigkeit abkanzelt, wie er die Folgen dieses ungeheuren Verbrechens übertreibt, und wie er sich erst beruhigt, als er erfährt, daß ihn zum Mittag Hammelbraten mit Bohnen erwartet. Er sagt sogar einmal mit süddeutscher Derbheit, wenn seine Frau nicht still sei, werde er ihr den Hintern verhauen. Wäre nur dieser Stil festgehalten! Aber mit dem Erscheinen der beiden Liebhaber hebt der Groteskstil an, der sich mit dem vorangegangenen nicht recht verträgt, und wenn er allmählich in die Karikatur einbiegt, so geht das Lustspiel sachte aus dem Leim. Nebenbei wird es auch fade, wenn sich der Literat bemüht, den banausischen Beamten zu seiner Weltanschauung zu bekehren, und ihm einen Vortrag über den Menschen als die Krone der Schöpfung hält. – Dieser Schriftsteller ist vom Autor mit Nicht-Können gestraft. Merkwürdiger Fall. Man fühlt sich fast versucht, von Zeichen der Zeit zu sprechen. Vor einer Woche wurde diese Schwäche in Vollmoellers bereits verschollenem Aviatiker-Melodram Wieland gleich an zwei männlichen Vertretern vorgeführt: an einem Engländer, der die Anwendung eines Aphrodisiacums mit dem Tode bezahlen muß, und an dem deutschen Flieger, dessen Nerven ihm im entscheidenden Augenblick den Dienst weigern und der aus Scham über sein Versagen [seinem Leben] freiwillig ein Ende macht. Jetzt läßt Herr Sternheim den dritten im Bunde auftreten. Deutsche Männer, wahret eure heiligsten Güter! Schließt euch zusammen und protestiert! Was soll das werden, wenn wir auf der Bühne, die ein Spiegel der Zeit ist, nur noch solche Jammergestalten zu sehen bekommen? Oder sollen sie am Ende nur die Ohnmacht etlicher dramatischer Schriftsteller symbolisieren? Dann rüstet wieder ab, deutsche Männer! Noch könnt ihr ruhig schlafen. – Leider macht sich auch in den Kammerspielen der Mangel an künstlerischer Potenz empfindlich bemerkbar. Es ist bedauerlich, daß ein Werk, das nur sechs Rollen enthält, hier nicht mehr vollendet gespielt wird, vielleicht sogar: gespielt werden kann. Eine Rolle vortrefflich, eine gut, eine eben noch genügend und drei unzureichend dargestellt: das ist eine Bilanz, mit der wir uns nicht zufrieden geben und die den Leiter des Hauses mit banger Sorge für die Zukunft erfüllen sollte.“ [Die sechs Darsteller waren Jakob Tiedtke, Else Heims, Margarete Kupfer, Josef Wörz, Paul Biensfeldt und Rudolf Blümner.]

Berliner Theater. NZZ, 22. Februar 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 53.
Franz (Ferenč) Molnár, Der Leibgardist (Kleines Theater, 17.02.11). – „Zum drittenmal hat nun der Ungar Franz Molnár unsern Weg gekreuzt. Sein Erstling, der dämonische Teufel, hatte in der paradoxen Hexenküche allerlei Brocken zusammengelesen und nahm sich wie ein im Budapester Volksbad verunreinigter Oscar Wilde aus [im Lessing-Theater am 25.03.08]. Sein op. 2, der grotesk-kriminalistische Herr Verteidiger [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 19.02.10, Nr. 49], hatte Mark Twains Humor mit Paprika verrührt. Sein dritter Streich, das Spiel Der Leibgardist, überträgt Fuldas Zwillingsschwester [EA Lessing-Theater, 13.02.01] ins Männliche und gießt die espritvolle Sauce des Wieners Raoul Auernheimer [Komödienschreiber (1876-1948)] darüber. Noch immer ist Herrn Molnárs Anlehnungsbedürfnis vorhanden; aber er hat seinen wenig wählerischen Witz jetzt zu einem tüchtigen Friseur geschickt, hat ihn gründlich waschen, säubern, bürsten lassen, so daß er im Salon Bewunderer findet. Trotzdem empfiehlt es sich, nicht zu nahe an ihn heranzukommen; denn das Öl, das ihm der Friseur eingerieben hat, gehört einer geringeren Klasse kosmetischer Mittel an: ein Fabrikat mit der Handelsmarke Noli me tangere. – Ein Verkleidungsscherz mit Ehe-Psychologie ist der Leibgardist. Versuchung der ehelichen Treue durch Maskerade. Gewiß ein uralter Stoff. Bei Fulda nimmt die Frau, um die erkaltende Liebe ihres Mannes zurückzugewinnen, die Gestalt ihrer jüngern Zwillingsschwester an, als welche sie seine Treue auf die Probe stellt. Der allzu unglaubwürdigen Voraussetzung, daß ein Mann seine Frau nicht erkennen soll, konnte auch durch reichliches Versgeplätscher kein Schimmer von Lebenswahrheit gegeben werden. Molnár mußte es also ganz besonders klug anstellen, wenn er ein Fünkchen von Glaubwürdigkeit anfachen wollte. Zu diesem Zwecke ließ er die Verkleidung von einem Schauspieler vornehmen, der es darin ja zur Virtuosität gebracht hat. Aber dann hätte es wenigstens der richtige sein müssen: kein Heldenspieler, der in jeder Perücke nach zehn Sekunden erkannt ist, sondern ein Chargenspieler, der seine Individualität verleugnen kann. Nicht Hamlet hätte es sein dürfen, sondern der Totengräber. Aber selbst wenn es dieser gewesen wäre – ob sich die Frau Totengräber länger als zehn Sekunden nasführen ließe? – Also der Schauspieler – die Figuren tragen keine Namen, was sie in die Verlegenheit bringt, als Typen aufgefaßt zu werden, und zur Verschwommenheit des Profils beiträgt – der Schauspieler merkt mit untrüglicher Witterung, daß sein kurzes Eheglück mit der Schauspielerin vor einer Krise steht, weil die Arge, die mit einem abwechslungsreichen Vorleben gesegnet ist, eine unbezähmbare Sehnsucht nach dem Neuen hat. Diesmal reizt sie ein ‚Marsjünger’ – blond, stramm, hirnlos. Der Ehemann beschließt, ein dreitägiges Gastspiel in der Provinz vorzutäuschen und während dieser Zeit in der von seiner Frau erträumten Idealgestalt eine Attacke gegen ihre eheliche Treue vorzunehmen. Ohne allzu große Anstrengungen würde es ihm gelingen, sich mit sich selbst zu betrügen; denn während das Liebespaar von den amorosen Klängen der Bohème umgaukelt wird, wirft sich die Frau dem korrekten Leibgardisten an den Hals. Aber wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Als der vorzeitig Zurückgekehrte schreckliche Abrechnung zu halten gewillt ist und in der Uniform des Gardeoffiziers vor seine Frau tritt, spielt die Schauspielerin den zweiten Akt der Komödie, indem sie ihrem Mann mit Erfolg vorredet, sie habe ihn trotz der Verkleidung schon nach zwei Minuten erkannt; es habe sie gereizt, auf das humorvolle Spiel einzugehen, und sie müsse sich das Zeugnis ausstellen, daß sie ihre Rolle weit besser als er durchgeführt habe. Wie hier die Eifersucht des Ehemanns im Moment von der Eifersucht des Künstlers übertönt wird, das ist einer der hübschesten Einfälle des langgezogenen dénouement. Natürlich weiß die überlegene Komödiantin den verliebten Mann leicht zu beschwatzen und seinen Groll zu beschwichtigen. – Unleugbar hat der geschäftskundige Ungar in der Spekulation auf den Geschmack des Publikums beträchtliche Fortschritte gemacht. Zwar legt er sein Vermögen noch immer mit Vorliebe in fremden Anleihen an, aber sein Witz ist auf dem besten Wege, sich von der unerquicklichen Budapester Nationalnote zu befreien und das Gebaren des gallischen Esprit anzunehmen. Der geistige Vater dieses Witzes ist allerdings mehr der commis voyageur als der Poet; gerade das wird ihn vielleicht befähigen, eines Tages das Rennen zu machen. Er kann heute schon als heißer Favorit gelten. Anspruchslose Gemüter verdrießt es nicht weiter, daß recht handfeste Späße in dieses seiner Voraussetzung nach phantastische Spiel eingelassen sind, welches zwischen Komödie und Posse pendelt. Es stört sie nicht, daß der gute Geschmack sich von einigen Zumutungen beleidigt abwenden könnte. – Im Kleinen Theater kargten Anspruchslosigkeit und Wohlwollen nicht mit Beifall, besonders nach dem zweiten Akt, der den aparten Schauplatz einer Hofopernloge auf die Szene bringt und noch obendrein den Gratisgenuß von Puccinis Bohème beschert. Auch die Schauspieler dürften dem Werk freundlich gesinnt sein, weil es ihnen sehr dankbare Rollen abwirft. Herr Abel als Schauspieler hatte Farbe und Blut; als Offizier wurde er in dem Bestreben, die beiden Rollen möglichst weit auseinanderzuhalten, ziemlich physiognomielos und war noch um einige Teilstriche matter als der etwas anämische Soldat. Für die Schauspielerin hatte man Frau Claire Wallentin aus Wien zugezogen. Nur der erstaunliche Mangel, der hier an Künstlerinnen herrscht, die eine Dame von Welt glaubhaft zu machen wissen, kann diese Wahl einigermaßen rechtfertigen. Wie immer zeigte Frl. Ilka Grüning in der zur ‚Mama’ avancierten Köchin, daß sie seit dem freiwilligen Abgang der unvergessenen Hedwig Wangel die saftigste weibliche Chargenspielerin von virtuoser Verwandlungsfähigkeit ist.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Februar 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 59.
Hermann Bahr, Die Kinder (Lessing-Theater, 25.02.11). – „Zweiundzwanzig deutsche Bühnen spendierten dem erfolgreichen Konzertgeber Hermann Bahr am Abend vor Weihnachten ein Danaergeschenk, indem sie die Uraufführung seiner Komödie Die Kinder herausstellten. Nach zweiundzwanzig Tagen dürften an wenigen dieser zweiundzwanzig Bühnen die Bahrschen Kinder noch ein Lebenszeichen von sich gegeben haben. So bewährte sich die statistische Erfahrung, daß die Sterblichkeit der Kinder im ersten Monat am stärksten ist, und es bewahrheitete sich ebenfalls das Wort aus Volksmund, daß gescheite Kinder nicht alt werden. – In Berlin wird es ihnen schwerlich besser ergehn. Ihr Schicksal ist im Lessing-Theater besiegelt worden. Nach dem ersten Akt wurden sie lärmend beklatscht, nach dem zweiten – selten war man Zeuge eines so rapiden Temperatursturzes – kaum noch ernst genommen und zum Schluß mit knapper Not vor Mißhandlung bewahrt. Die Sitzung vor dem Areopag führte also zu keiner Revision des in der Provinz gefällten Urteils, und es wird zu begründen sein, warum das Publikum, das anfänglich an Bahrs Witz seine helle Freude hatte, sich später etwas verschnupft zeigte. – Menschliches menschlich nehmen – das könnte, wie über dem gesamten dichterischen Schaffen Hermann Bahrs, so auch über seiner jüngsten Komödie stehn. Ein schöner Spruch, der heute fast Gemeingut geworden ist, den namentlich französische Dramatiker (Capus, Donnay und andere) im Wappen führen. Was will er besagen? Nur kein falsches Pathos, nur ja nicht in die traditionelle Überschwenglichkeit des Theaters verfallen, das die menschlichen Affekte steigert, das die Darstellung menschlicher Leidenschaften aufbauscht, das ihnen den Kothurn anschnallt und sie mit großen Worten ausstaffiert. Menschliches menschlich nehmen – darin liegt ein Protest gegen veraltete Vorurteile, die uns allen im Blute stecken, gegen geschwollene Rhetorik, die sich wie Meltau auf den Ausdruck der Gefühle legt. ‚Ja, so sind wir, ein Rest von Vorurteil bleibt einem doch immer, und wir schämen uns noch, wenn wir Menschliches menschlich nehmen.’ Auf der Basis dieser Maxime ist eine ganz neue, untheatralische, der herkömmlichen Diktion ausweichende Art entstanden, dramatische Konflikte zu schürzen und zu lösen. Wie es dem realpolitischen Zug unserer Zeit entspricht, alle Sentimentalität zu vermeiden, fürchten sich die heutigen Dichter vor dem ehrwürdigen Gespenst des pathetischen Gefühlsausdrucks. Sie haben deshalb eine Warnungstafel aufgestellt mit der Inschrift: Menschliches menschlich nehmen. Aber die Gefahr liegt nahe, Menschlichem hundeschnäuzig zu begegnen. Das ist hier, will mir scheinen, Hermann Bahrs Fall. Seine Menschlichkeit besteht darin, daß er mit seinen Geschöpfen überhaupt nicht mehr fühlt. Sie sind völlig von ihm losgelöst, als habe sie nie eine Nabelschnur verbunden. Geschöpfe, die fix und fertig aus ihres Schöpfers Hirn hervortreten und den Schlag seines Herzens nie verspürt haben. Er kommt mir vor wie ein Lokomotivführer, der bei einer durch ihn verschuldeten Eisenbahnkatastrophe nur darauf bedacht ist, daß die Verwundeten ihre Schmerzen nicht äußern, daß sie einen Beinbruch oder eine Schulterquetschung scherzend ertragen. Weil ihm selbst nichts geschehen ist, kann er es nicht fassen, daß die armen Opfer schreien müssen. Oder, unbildlich gesprochen: weil Bahr, teils infolge seines Temperaments, teils infolge seiner Erziehung, die größte Distanz zu seinem Stoffe hat, läßt er auch seine Menschen diese Distanz haben. Sie stehn nicht mehr in der Situation, die sie durchmachen, sondern schon über ihr; sind bereits unbeteiligte Zuschauer. Das Publikum allerdings, das heutzutage gefühlsseliger als viele Dichter ist, kann seinen Unwillen über diesen zur Schau getragenen Gleichmut schwer verbergen und würde den herzlosen Lokomotivführer am liebsten lynchen. – Denn die Menschlichkeit dieser Komödie ist leider des öfteren mit Taktlosigkeit identisch. Die Figuren benehmen sich mit einer Schnuppigkeit, als ginge sie alles nicht im geringsten an. Schließlich werden aber Dinge behandelt, die kein aus Fleisch und Blut bestehendes Wesen mit einem bloßen Achselzucken oder mit einer überlegen komischen Gebärde abzutun vermag. Es handelt sich darum, ob zwei junge Menschen, die sich lieb haben, heiraten können. Für sie ist das eine so wichtige Angelegenheit, daß sie jeden Aufschub ihrer Vereinigung energisch ablehnen. In die Enge getrieben, rückt der Professor mit dem Geständnis heraus, daß der vermeintliche Grafensohn, der um seine Tochter anhält, von ihm stammt. Sie können also nicht zusammenkommen, da sie Geschwister sind. Doch das Publikum, denkt der zu jeder Konzession wie zu jeder Menschlichkeit bereite Dichter, wäre untröstlich, wenn die Geschichte tragisch endete. Wie ist es anzufangen, daß Hans und Grete dennoch ein Paar werden? Nichts einfacher als das: der alte Herr Graf wird eilends herbeigeholt und rückt nun seinerseits mit dem Geständnis heraus, daß das vermeintliche Professorstöchterlein, das sich in sozialistischer Anwandlung dagegen sträubte, eine lächerliche Gräfin zu werden, von ihm stammt. Der Ehebruch übers Kreuz ermöglicht die Verbindung der Kinder. ‚Es hebt sich gegenseitig auf’: mit diesem kaustischen Witz sollen alle Schwierigkeiten aus der Welt geschafft werden. – Es ist bezeichnend für den Ton, für die ‚Menschlichkeit’ der Komödie, daß sich Bahr keinen Augenblick die Mühe gibt, Beweise für die vertauschte Vaterschaft beizubringen. Der doppelte Ehebruch wird von allen aktiv wie passiv Beteiligten auf Treu und Glauben hingenommen. Der junge Graf fragt den Professor nicht nach Beweisen seiner Vaterschaft; der alte ebensowenig; der Professor fragt nicht den Grafen; die Professorstochter ebenso wenig. Hier herrscht noch der Rechtsgrundsatz aus dem Code Napoleon: ‚La recherche de la paternité est interdite’. Ein Mann ein Wort. Offenkundig wollte Bahr zu verstehn geben, daß er der körperlichen Vaterschaft gar keine Bedeutung beimißt, daß die geistige hundertmal wichtiger ist. Nicht wer mich erzeugt, wer mich erzogen hat, ist mein Vater, denken die Kinder. Diese Dinge mögen letzten Endes recht gleichgültig sein: sie sind es keinesfalls in dem Augenblick, wo man sie erfährt. Indem Bahr die Sache so darstellte, daß den beiden Kindern ihre Abstammung und den beiden Vätern ihre eheliche Gemeinschaft so gleichgültig ist wie ihm, dem erdentrückten Hermann Bahr, der alles Menschliche menschlich nimmt, grenzt der Ernst der Situation bedenklich ans Frivole. Und selbst das Publikum des Lessing-Theaters war für diese glatt aufgehende Rechnung nicht zu gewinnen.“

Berliner Theater. NZZ, 14. März 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 73.
Die Theatersituation in Berlin, besonders im Vergleich mit den Verhältnissen in England. – „Als ich mich neulich mit dem scharfsichtigen Korrespondenten der Times über Berliner Theaterverhältnisse unterhielt, bemerkte er nicht ohne Sarkasmus, die Engländer (die noch immer auf Paris als Theaterstadt schwören) fingen jetzt allmählich an, Berlin als solche zu entdecken; aber sie müßten sich beeilen, wenn sie noch Shakespeare und Ibsen sehen wollten, sonst bekämen sie nur noch Fall und Lehár zu hören. Er hat leider nicht unrecht. Es ist kein Zweifel: Berlin, das den Theatermarkt völlig beherrscht, hat seinen künstlerischen Höhepunkt überschritten, und wir befinden uns schon auf absteigender Linie, so schwer es uns auch wird, dies unumwunden einzuräumen. Seinen Gipfel hatte Berlin damals, als ein Parkettsitz im Deutschen Theater fünf Mark kostete und das Ensemble Otto Brahms mit Kainz und der Sorma als Stützen des klassischen, mit Rittner und Else Lehmann als herrlichen Leuchten des modernen Repertoires unvergeßliche, in der Einheitlichkeit ihres Stils vollendete Vorstellungen bot. Lang, lang ist’s her. Heute läßt sich derselbe Otto Brahm, obwohl ihm einzig Else Lehmann verblieb, bei einer Hauptmann-Premiere im Lessing-Theater für einen Parkettplatz 13 Mark 50 bezahlen, und wir müssen uns mit Vorstellungen zufrieden geben, die den Vergleich mit jenen früheren nicht im entferntesten aushalten können. – ‚Wissen Sie auch, woher es kommt,’ entgegnete ich dem Times-Korrespondenten, ‚daß Berlin als Theaterstadt so zurückgeht? Wir nähern uns englischen Usancen. Die besondern Lebensbedingungen der Großstadt bringen es mit sich, daß Berlin dem Beispiele Londons folgt. Es handelt sich hier nicht um eine Nachahmung – London wäre in diesem Punkte ein schlechtes Vorbild –, sondern um eine natürliche Entwicklung, die wir vielleicht bedauern, sicher aber nicht aufhalten können.’ – Ich benutze eine Pause in dem Andrang der Premieren, mich über diese Wandlungen im Berliner Theaterbetrieb zu äußern. Veranglisierung dürfte man sie nennen, wenn hier eine bewußte Anlehnung, eine Kopie, kein selbständiges, autochthones Wachstum vorläge; aber London als Theaterstadt steht bei den Deutschen in zu schlechtem Rufe, als daß sie irgend etwas von dort her beziehen möchten. – In London existiert kein Repertoiretheater; in Berlin wird es bald verschwunden sein. Eigentlich haben fast nur noch die beiden königlichen Bühnen auf diesen Namen Anspruch. Alle andern können, soweit sie es nicht bereits sind, über Nacht Zugstücktheater werden. Denn die Jagd nach dem Zugstück wird allgemein mitgemacht, was durch die Doppelnatur der Bühne – halb Kunst, halb Geschäft – vielleicht entschuldigt wird. (Die beiden Schiller-Theater, die ihren eignen Modus des Serienspiels haben, scheiden aus dieser Betrachtung aus.) In der Art, wie jetzt alle künstlerischen Anstrengungen auf das alleinseligmachende Zugstück gerichtet sind, wie ein Erfolg ausgeschlachtet, bis zum letzten Blutstropfen ausgepreßt wird, liegt gegenüber früheren Gepflogenheiten eine bedenkliche Zunahme des Geschäftsgeistes. Sobald nämlich jetzt ein Theater das große Los eines Schlagers erhascht, gibt es augenblicklich sein wechselndes Repertoire auf und schnurrt Abend für Abend dieselbe Melodie ab. Bis zur Bewußtlosigkeit. Sehr zum Nachteil seiner Schauspieler, die aus denkenden Künstlern nach wenigen Wochen Automaten werden. Oder glaubt die Direktion des Berliner Theaters, einem gestaltenden Künstler wie Herrn Clewing, der nächstens an das Königliche Schauspielhaus übersiedelt, könne es Freude machen und Befriedigung gewähren, allabendlich einen Bummelstudenten zu mimen [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 11.01.11, Nr. 11]? Und wie der treffliche, zu höheren Aufgaben berufene Herr [Joseph] Giampietro es aushält, ein ganzes Jahr lang im Metropol-Theater mäßige Couplets zu singen und dieselben Witze herzuleiern [in der Revue Hurrah, wir leben noch! (Premiere am 17.09.10)], ohne nach etlichen Monaten für eine Nervenheilanstalt reif zu sein (er bezieht für diese aufreibende Tätigkeit allerdings eine Gage, die das Gehalt eines Ministers weit übersteigt), ist ein psychologisches Rätsel oder ein Wunder. Das Deutsche und das Lessing-Theater wehren sich wohl noch am zähesten gegen den Moloch Zugstück; aber auch hier werden die besten Vorsätze durch die größten Umsätze gründlich erschüttert, während an den übrigen Bühnen das Zugstück im Nu sämtliche künstlerischen Pläne über den Haufen wirft. Daß unter diesen Umständen die Literatur, wenn sie sich im Existenzkampf behaupten will, immer mehr der Sensation ausgeliefert wird, versteht sich am Rande. – Wie es in England Brauch ist, die Provinz von London aus zu verproviantieren, hat man jetzt auch bei uns begonnen, einen Erfolg der Metropole in die Provinz zu tragen. Max Reinhardts Oedipus (nicht der des Sophokles) macht den Anfang [zur Erstaufführung vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 13.11.10, Nr. 314]. Hier handelt es sich weder um den Erfolg einer Dichtung, noch um den der Darstellung, sondern: die Idee, ein antikes Werk in dem Rahmen wiederzugeben, der dem antiken Schauplatz am nächsten kommt, und die Menge zu ernster Kunst im Zirkus zu versammeln, tritt die Rundreise an. Bei allem Respekt vor Reinhardts Regieleistung – ist diese Idee so groß, daß sie ihren Triumphzug über ganz Deutschland [durch weit über 60 Gastspiele] ausdehnen muß? Wünschen wir wenigstens, daß es bei der einen Ausnahme bleibe! Denn Deutschlands Theaterkultur wurzelt im Partikularismus, und die Abhängigkeit von Berlin macht sich schon seit Jahren viel zu stark bemerkbar. Ein Provinzerfolg – das wird jeder dramatische Autor bestätigen – zählt kaum noch; Berlin gibt den Ausschlag. Leider beschränkt sich die Abhängigkeit nicht auf die neuen Stücke. Der Spielplan der meisten Provinzbühnen wird in Berlin entworfen. Wenn das Lessing-Theater mit dem literarisch nicht sehr glücklichen Gedanken, die Einakterreihe des Schnitzlerschen Anatol geschlossen zur Aufführung zu bringen, einen überraschenden Erfolg hat [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 06.12.10, Nr. 337], äffen es die Direktoren der Provinz sofort nach. Warum hatte keiner von ihnen vorher den Einfall? Das Werk liegt doch seit siebzehn Jahren gedruckt vor. Haben sie überhaupt noch Einfälle? Lesen sie noch ein Stück? Sind ihre Blicke nicht ängstlich auf Berlin gerichtet, und tanzen sie nicht nach der Pfeife des Berliner Premierenpublikums? Wenn das theatralische Sonderleben der Provinz noch mehr verkümmern sollte, werden wir bald so weit sein wie in England, wo jeder hauptstädtische Direktor eine Truppe mit einem Londoner Erfolg auf Reisen schickt und das Vereinigte Königreich abgrast. – Auch die Schauspieler lernen von ihren englischen Kollegen. In London herrscht bei ihnen seit einigen Jahren der Zug zum Variété. Alle machen die Mode mit, weil sie glänzend bezahlt werden. Selbst ein so feiner Künstler wie Granville Barker tritt zurzeit im Palace als Anatol auf, zwischen Fußball spielenden Elefanten und Klavier spielenden Hunden. Der ubiquitäre Reinhardt läßt im Londoner Coliseum zwischen Jongleuren und Diseusen Sumurûn mimen [am 30.01.11]. Noch immer gilt das Wort Vespasians vom geruchlosen Gelde. Hinter diese Weisheit sind jetzt auch die deutschen Schauspieler gekommen. Als erster ging Herr Schildkraut zum Spezialitätentheater. Nun folgen schon die Sterne dritter Ordnung seinem Beispiel. Und der Witz des Simplicissimus, der unlängst einen jonglierenden Hamlet darstellte [in der Ausgabe vom 30.01.11 (S. 759) unter der Überschrift ‚Der Zug zum Variété’], wird bald Wahrheit werden. – In England ist die Freizügigkeit der Schauspieler die Regel; sie sind nicht ständig an einem Theater, sondern nur for the run of the play (solange sich ein Stück hält) engagiert. Das System hat unzweifelhaft den Vorzug, daß für jede Rolle der beste Vertreter, wenn er gerade vakant ist, gewonnen werden kann. Von dieser Erwägung ausgehend, beurlaubt man jetzt Herrn [Hans] Waßmann, den Komiker des Deutschen Theaters, damit er im Neuen Operettentheater einen gekrönten Dümmling meckere [in Leo Falls Die schöne Risette: Premiere am 23.12.10; 50. Aufführung am 13.02.11]; und das Lessing-Theater holt sich Herrn [Karl] Bachmann, den Operettentenor [vom Neuen Operetten-Theater], damit er in Schönherrs Glaubensdrama aushelfe [Glaube und Heimat, vgl. MMs Besprechung vom 21.03.11, Nr. 80]. Herr Harry Walden pendelte, ehe er zum Actor Manager des Lustspielhauses avancierte (übrigens auch eine englische Einrichtung), zwischen dem Deutschen Theater und dem Neuen Schauspielhaus hin und her, so wie die ausgezeichnete Episodistin Ilka Grüning fortan, eine zweite Proserpina, ihre Tätigkeit zwischen dem Kleinen und dem Lessing-Theater teilen wird. Ob dieses System der Ensemblekunst, die einst unser Stolz war, besonders förderlich sein wird, das ist eine andere Frage. – Wir wollen diesen Erscheinungen gewiß nicht mehr Bedeutung beimessen, als ihnen zukommt; aber wir wollen uns ebenso wenig verhehlen, daß hier vielleicht die Anfänge einer Entwicklung vorliegen, die das Berliner Theaterwesen nach englischem Muster umzugestalten befähigt sind.“

Berliner Theater. NZZ, 21. März 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 80.
Karl Schönherr, Glaube und Heimat (Lessing-Theater, 14.03.11); Johann Wolfgang v. Goethe, Faust. Zweiter Teil (Deutsches Theater, 15.03.11). – „Unschwer ließ sich voraussehen, daß Berlin, und speziell das Lessing-Theater, für Karl Schönherrs Tragödie aus der Gegenreformation Glaube und Heimat kaum der geeignete Boden sei. Das hiesige Premierenpublikum ist von dem Konflikt, von der ganzen Sphäre des Tiroler Bauerndramas durch eine Welt geschieden. Weder der Glaube noch die Heimat sind ihm Gefühlsmächte. Man hatte die Empfindung: diese Leute wissen zum großen Teil überhaupt nicht, um was es sich hier handelt. Sie wußten nur, daß sie ein preisgekröntes Werk vor sich hatten, das einen beispiellosen Triumphzug durch alle deutschsprechenden Lande hinter sich hatte. Dadurch war ihre Neugier, dadurch wurde nicht ihre innere Teilnahme erregt. So klang nach dem ersten und auch nach dem zweiten Akt das Klatschen verhältnismäßig dünn; es wurde tropfenweise gespendet und kam nicht recht von Herzen. Doch die Theatralik des dritten Aktes tat vollauf ihre Schuldigkeit: kein Auge blieb tränenleer. Die mächtig gesteigerte Handlung mit ihren wortkargen, fast epigrammatischen Explosionen riß die Hörer, denen es an weichem Gemüt gewiß nicht fehlt, zu einer begeisterten Huldigung für den Dichter hin. Eine Beifallslawine wälzte sich brausend zur Bühne hin, so daß Schönherr wohl ein Dutzendmal danken mußte. Ob sich die Tragödie hier lange halten wird, scheint dennoch zweifelhaft. – Sie ist – darüber kann kein Zweifel sein – bestes, handkräftigstes, lückenloses Theater, wie Sudermann es nie glänzender gemacht, wie Anzengruber es nie so ritzenlos gefügt hat. Wenn nur … wenn nur auf dem Untergrund des Theaterstücks ein Stück Dichtung vernehmlicher hervorträte! Aber da melden sich Bedenken. Diese Schönherrschen Menschen sind bedauernswert, aber sie können uns nicht vom Zwang ihrer Natur überzeugen; sie tun uns leid, aber – wir kennen sie nicht. Ihr Jammer geht mehr an die Nieren als ans Herz. Bauern stehn vor uns, schlichteste Kreaturen von einer Tolstoischen Unkompliziertheit. Tiefe Religiosität und lautere Liebe zur Heimat füllen sie aus. Nichts wäre törichter, als differenzierte Gefühle von ihnen erwarten zu wollen. Doch sie brauchten, bei aller Tumbheit, ihre Seele nicht so geflissentlich vor uns zu verbergen. Zum Schluß sind wir ihnen genau so nahe und genau so fern wie am Anfang. Der Dichter weist ihnen ein vollgerütteltes Maß von Leiden zu, und wir empfinden Mitleid, nicht mit dem, was sie leiden, sondern weil sie leiden. Denn in jedem Augenblick sagen wir uns: ihr guten Menschen, wofür leidet ihr eigentlich? Sind die wirklich selig, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden? Ist euer Glaube so viel wert, daß ihr ihm namenlose Opfer bringt? Müßt ihr durchaus Märtyrer sein, könntet ihr nicht vielleicht Helden werden? Der Dichter zeichnet euch euer Schicksal vor; ihr seid gezeichnet. So ist es über euch verhängt; ihr könnt nicht anders. Aber er hätte es ebensogut anders wenden können. Warum nehmt ihr euer Schicksal nicht selbst in die Hand? Opfertiere seid ihr, die zur Schlachtbank des Glaubens geschleift werden; aber warum laßt ihr euch schleppen? Warum wehrt ihr euch nicht? Warum tut ihr nicht wie die alte Rofnermutter im Sonnwendtag desselben Dichters, welche schweigend ihren Altar abräumt und die ewige Lampe löscht zum Zeichen, daß sie ihren Glauben verloren hat [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 04.02.03, Nr. 35]? Warum handelt ihr nicht so? Ihr könntet auch ohne Glauben selig werden. Ihr habt genug innere Tüchtigkeit. Ihr könntet auch ohne Heimat wieder des Lebens froh werden. Ihr seid äußerlich anspruchslos und innerlich reich genug. Überall, wo es euch gut geht, werdet ihr eine neue Heimat finden. Statt dessen ist euch die Welt mit den Brettern des Protestantismus und den Bohlen des Katholizismus vernagelt. Muß es denn, wenn es nicht der eine Glaube sein darf, durchaus der andere sein? Wäre nicht auch eine Gegenüberstellung von Glauben und Glaubensabtrünnigkeit denkbar? (Ich weiß: das Werk spielt zur Zeit der Gegenreformation, als die Menschen noch nicht ohne kirchlichen Himmel leben und sterben zu können vermeinten; aber schließlich hat es ein Heutiger geschrieben, es ist bestimmt, auf heutige Menschen zu wirken, und jeder Anachronismus fördert die Menschheit mehr als das zähe Festhalten an rückständigen Ideen.) Statt dessen beharrt ihr, tirolische Bauern, denen doch auch die Schlauheit in die Wiege gelegt werden soll, in eurer biblischen Passivität. Ein Volk von Helden seid ihr; als ein Volk von Märtyrern steht ihr da. Und kein Gott gab euch zu sagen, was ihr leidet. Ihr leidet, doch ihr könnt uns nicht von der unabänderlichen Notwendigkeit eures Leidens überzeugen, weil der Dichter es unterließ, eure Seelen aufzudecken, weil er euch nur mit vollendetem Bühnenmechanismus ausstattete. – Und die Darsteller des Lessing-Theaters, die ganz auf psychologische Detailkunst eingestellt sind, taten nichts aus Eigenem hinzu, die Seele der Gestalten an die Oberfläche zu bringen. Am meisten noch Herr Reicher als Alt-Rott, der immerhin seine wahre Gesinnung hinter einer Maske versteckt. Herr Monard als Christof Rott ging als ein wohlfrisierter Andreas Hofer einher, und Herr Marr als der Reiter des Kaisers war ebenso wild, wie der andere mild. Offenbar geben die Rollen nur eine gewisse Geradlinigkeit her. Die übrigen Darsteller mühten sich redlich, wenigstens echten Dialekt zu sprechen, ohne daß der Mühe überall volles Gelingen beschieden war. Vermutlich hat man Glaube und Heimat nicht nur in der Schweiz besser verkörpert gesehen, so wie manche kleinere Stadt für dieses Drama empfänglicher sein dürfte als das große Berlin. ●●● Faust II. im Deutschen Theater. Von 4 Uhr nachmittags bis Mitternacht. Der Achtstunden-Faust. Regie: Max Reinhardt. Mephistos Wort: ‚Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht?’ [V. 6809 f.] trifft auf Reinhardt nicht zu. Er fragt den Teufel danach, was die Regisseure vor ihm gedacht und gemacht haben; von sich aus denkt er den großen Gedanken jeder poetischen Schöpfung durch, und wie sie vor seinem geistigen Auge steht, läßt er sie auf der Bühne körperlich erstehn. Nur seinem Daimonion folgend. Unerschütterlich im Glauben an sich selbst. Bewundernswert in seinem vor keiner Schwierigkeit zurückschreckenden Wagemut und in seiner totalen Unbekümmertheit. Groß in glücklichen Eingebungen; groß auch noch in seinen Irrtümern. – Ein solcher großer Irrtum ist die Dauer der Vorstellung. Das Problem der Inszenierung des Faust II. beginnt bei – den Strichen. So viele Theaterdirektoren, Dramaturgen, Philologen sich schon mit der Bühnenfassung des Gedichts beschäftigt haben, sie haben es nicht vermocht, einen allgemein akzeptierten Text für das Theater herzustellen. Ein jeder macht es auf seine eigene Art; ein jeder hält seine Version natürlich für die beste; aber die Lösung des Problems ist noch immer nicht gelungen. Adolf L’Arronge, der den Faust II. im Deutschen Theater zuletzt auf die Bretter brachte [am 03.09.1889 unter dem Titel Fausts Tod], war in der Ausmerzung von Überflüssigkeiten der radikalste. Er begnügte sich mit dem dramatischen Extrakt, warf ganze Akte als Ballast über Bord, scherte sich nicht um Zusammenhänge, um die geistige Verknüpfung der Teile, ertrug sogar den Vorwurf der Unbildung, einzig darauf bedacht, die dramatischen Partien der Dichtung zu akzentuieren. Der Standpunkt eines gewiegten Bühnenpraktikers, vor dem sich die päpstlicher als der Papst gesinnten Goethe-Philologen bekreuzigten. Reinhardt, der, vielleicht der Not gehorchend, mehr Gewicht auf das Dekorative als auf das Schauspielerische legt, ist es um den farbigen Abglanz zu tun. Er tritt diesmal als Hoplit der Bildung vor uns, erwirbt sich bei den Goethe-Philologen einen Stein im Brett, indem er nichts opfert, was sich irgendwie zu sinnlicher Wirkung auf dem Schaugerüst bringen läßt. ‚Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat’ – diese Worte Goethes zu Eckermann [29. (25.) 01.1827] waren nicht nur Reinhardts leitender Gedanke, sondern auch als Motto dem Zettel vorgedruckt. Faust-Spezialisten finden demgemäß die neueste Bearbeitung ausgezeichnet, weil sie, bildungsbeflissen, die Struktur des Gedichts schont, und möchten sie fast als endgültige Redaktion des Textes ansprechen. Doch wer so ketzerisch ist, im Theater geistigen Genuß und nicht körperliche Strapaze zu suchen, fragt danach wenig. – Ich habe hier des öftern meine Theorie vorgetragen, daß der moderne Mensch in den schlecht ventilierten Räumen unserer Theater höchstens dreieinhalb Stunden zu genießen fähig ist. Ich wäre gerne bereit, zugunsten der größten Dichtung, die wir in deutscher Sprache besitzen, eine Ausnahme gelten zu lassen, wenn ich die Notwendigkeit einsähe. Von einer solchen will der Regisseur Eugen Kilian in seiner Schrift über Goethes Faust auf der Bühne [1907] nichts wissen: ‚Der zweite Teil ist, in der richtigen Weise zusammengefaßt, mit Leichtigkeit in dreieinhalb Stunden auf der Bühne zu bewältigen. Was mehr gegeben wird, ist vom Übel; eine Teilung aber völlig zwecklos und unkünstlerisch.’ [S. 15] Gegen die Leichtigkeit kann man Bedenken haben; von der Möglichkeit muß jeder durchdrungen sein, der Reinhardts Achtstundenrekord mit erlebt hat. Szenen wie die Mummenschanz (als Bühnenbild herrlich), die Irrfahrten des Homunculus, ja selbst die klassische Walpurgisnacht (ein Fressen für den Regisseur) erwiesen sich als durchaus entbehrlich, weil sie den Fortgang der dramatischen Handlung hemmen. Wenn wirklich, wie die Spezialisten uns einzureden versuchen, ein fugenloser dramatischer Bau enthüllt wurde, dann wäre das Prinzip berechtigt, möglichst wenig zu streichen. Aber seht die Aufführung des Deutschen Theaters und fragt – die paar Gelehrten, die ein langes Leben an den Faust gewendet, scheiden aus – fragt einen gebildeten Menschen mit gesunden Sinnen (vielleicht den sehr gebildeten Herrn Reichskanzler [Bethmann Hollweg], der vom Anfang bis zum Ende der Vorstellung ausharrte), wie die einzelnen Teile der Dichtung verschweißt sind: wenn er seine Weisheit nicht vorher aus Kommentaren oder aus eindringlichem Studium des Buches bezogen hat, durch die lebendigen Eindrücke der Bühne wird er sie nicht gewinnen. Denn bliebe auch sein Auffassungsvermögen die ganze Zeit über frisch, sein Ohr würde ihn zu oft im Stich lassen. Was hat es für einen Zweck, die Flasche des Homunculus – einen peripatetischen Beleuchtungskörper – auf der Szene zu zeigen, wenn man von einem piepsenden Stimmchen, mag es immerhin Gertrud Eysoldt angehören, nur einige abgerissene Worte versteht? – Die partielle Unverständlichkeit der Dichtung wurde also durch eine vielfache Unverständlichkeit des gesprochenen Worts erhöht. Die meisten Darsteller schienen es für ihre Pflicht zu halten, mit dem Dichter im ‚Hineingeheimnissen’ zu wetteifern. Dazu kam ein häufiges, von Reinhardt mit Vorliebe und Virtuosität gepflegtes Unisono-Sprechen, das sich als rhetorischer Farbenfleck ganz gut ausnimmt, meist aber undeutlich bleibt und die erstrebte Wirkung sehr selten hervorbringt. – Bekanntlich hört im Theater nicht allein das Ohr, sondern auch das Auge. Leider verzichtete man gar zu oft auf die Unterstützung dieses wichtigen Bundesgenossen. Wohl die Hälfte der Bühnenbilder spielte sich im Düstern, einige im Dunkeln ab, so die ganze Walpurgisnacht. Abgesehen davon, daß dies für das Auge auf die Dauer recht anstrengend ist, bedeutet es für das Ohr eine doppelte Belastung. Es machte gelegentlich beinahe den Eindruck, als sollte die Mystik der Dichtung durch eine mystische Beleuchtung ergänzt werden. Vermutlich hatte das der Dekorationsmaler, Professor Alfred Roller aus Wien, so gewünscht. Überall spürte man sein Bestreben, die Phantasie des Zuschauers zur Mitarbeit heranzuziehen – an sich gewiß löblich, nur darf es nicht übertrieben werden. Selbst das unvergeßlich schöne Schlußbild war in ein bedeutungsvolles Halbdunkel getaucht; aber wenn ich den katholischen Himmel mit allen seinen Herrlichkeiten schauen darf, will ich eine wahre Lichtflut darüber ausgegossen sehen. Man wende nicht ein, daß sich unsere Phantasie gegen die greifbar deutliche Versinnlichung dieser überirdischen Sphäre sträube; Goethe hat sie doch auch bis ins kleinste ausgemalt, warum soll man ihr also nachträglich die Wohltat des Schleiers angedeihen lassen? Wenn ich in den katholischen Himmel komme, sollen mich Lichtfanfaren begrüßen; hier aber war man versucht, ‚mehr Licht!’ zu rufen. (Übrigens: wo blieb Faust? Seine Wiedervereinigung mit Gretchen wurde profanen Blicken verborgen gehalten.) – Überraschend Gelungenes und Anfechtbares lösten sich in den Dekorationen ab, die durchgängig mit dem Stilprinzip der Andeutung operierten. Gleich die erste ‚anmutige Gegend’, in der Faust zu den Klängen der Schumannschen Musik erwacht, hatte sich in eine kahle Hochgebirgslandschaft verwandelt. Faustens Palast mit dem Ausblick auf das Meer (‚weiter Ziergarten’ steht bei Goethe vorgeschrieben) wurde von einer dumpfen Mauer abgeschlossen, die die Nähe eines Gefängnisses vermuten ließ; doch der Turm des Lynkeus ragte mit wunderbarer Silhouette in weitester Ferne auf. Ganz verfehlt schien mir die Szenerie, in der sich Euphorions jähes Ende abspielt: statt eines schattigen Hains, der arkadische Heiterkeit atmen müßte, erblickte man nur wuchtendes Gezweig, und die zackigen Klippen, die der verwegene Jüngling erklettert (immer noch, nach alter Bühnenschablone, einer Dame anvertraut), hatten in der Gestalt einer symmetrischen, bequemen Treppe alle Schrecken verloren. Ganz verfehlt auch der idyllische Schauplatz, auf dem Philemon und Baucis angesiedelt sind; die dunkeln Linden versperrten jede Aussicht, und den Hintergrund bildete ein wie eine Badehose blau und orange gestreiftes, rätselhaftes Etwas. Dagegen vollzog sich Faustens Grablegung in einem glücklichst gewählten neutralen Raum, der für alle späteren Verwandlungen bis zur Glorie der Coda ausreichte. Außerordentlich eindrucksvoll nicht minder der bei offener Bühne vor sich gehende Übergang von der Antike zur mittelalterlichen Gotik: wie eine Schar geängsteter Tauben kauerte der Chor der Trojanerinnen eng zusammen, als sich die Nebel herabsenkten, aus denen sich der innere Burghof herausschälte; nur die ‚reichen phantastischen Gebäude des Mittelalters’ hatte man unterschlagen. In vollendeter Schöne bot sich die ungemein schwierige Erscheinung des Paris und der Helena. Wie gesagt, überraschend Gelungenes stand in den Dekorationen dicht neben Anfechtbarem und Verfehltem. – … Warum spricht man so lange über die Ausstattung? Weil sie trotz allem, was sich gegen sie sagen läßt, unstreitig den Glanz der Aufführung bildete, während die schauspielerischen Leistungen nicht über eine mittlere Höhe hinanstiegen. Albert Bassermanns Mephisto stand an erster Stelle, witzig geistreich, ätzend sarkastisch, und erhob sich in den Schlußauftritten zu wahrhaft teuflischer Dämonie. Else Heims als Helena, strahlend in der Erscheinung, hatte zwar nie das Land der Griechen mit der Seele gesucht, fand aber überzeugend den Sprechstil für die unendlich heikle Rolle, während Frau Eysoldts Euphorion mehr von sich selbst überzeugt schien. Leider hatte Friedrich Kayßler, von dessen alterndem Faust man das Beste erwarten durfte, keinen guten Tag; doch wird ihm die Zukunft sicher die Erfüllung seiner immer hoch gespannten Absichten bescheren. Moissi, der Kaiser, bestach durch Liebenswürdigkeit und Sprachmelodie. Sonst machte sich manches Unzulängliche breit. An den Allegorien ist ja nicht viel zu spielen, sie wollen einfach gesprochen sein, und gerade damit hapert es auf deutschen Bühnen. – Nun wird es sich darum handeln, die Übervorstellung im Laufe der Zeit auf einen normalen Umfang zurückzuführen und die wertvollen Keime zu weiterer Entfaltung zu bringen. Daß Reinhardt den Versuch unternommen, war er, wenn nicht seinem Theater, sich selbst schuldig; daß nicht sämtliche Schwierigkeiten auf den ersten Anhieb bewältigt worden sind, wird keiner besser wissen und weniger leugnen als er. Mögen ihm alle Blütenträume, die er für seinen Faust hegt, noch reifen!“

Berliner Theater. NZZ, 24. März 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 83.
Hans Olden, Wiederkehr (Neues Schauspielhaus, 18.03.11.). – „Hans Olden, dem Verfasser des Schauspiels Wiederkehr, das im Neuen Schauspielhaus nicht recht leben und nicht recht sterben konnte, sei ein guter Rat gegeben: er streiche seinen breitspurigen Vierakter erbarmungslos zu einem sketch zusammen (Spieldauer: höchstens zwanzig Minuten), übergebe ihn der Variétébühne und suche einen Virtuosen für das an allen Gliedern verstümmelte Werk zu interessieren. Es wäre die einzige Rettung. Vielleicht tut dann das Haupt seine Schuldigkeit – die Idee, einen Ertrunkenen in körperlicher Leibhaftigkeit auftreten zu lassen und das Publikum zwei Akte lang darüber zu täuschen, ob es einen Menschen oder ein Gespenst vor sich habe. Das ist das Neue bei Olden: er nennt einen Geist bei seinem erloschenen irdischen Namen (auf dem Zettel steht nicht: der Geist von Hellmann, wie es bei Shakespeare der Geist von Hamlets Vater heißt, sondern schlankweg: Hellmann). Dadurch läßt Olden raffiniert über die wahre Natur seines Phantoms im Zweifel und gewinnt einige raffinierte, wenn auch zweifelhafte Effekte. Wüßten die Hörer von vornherein, daß es sich nur um einen Spuk handelt, der Prestidigitateur könnte nicht weiterarbeiten; es wäre die Pointe vor dem Witz. – Ein Jüngling liebt ein Mädchen, das hat einen andern erwählt. Dieser andere, ihr Bräutigam, befindet sich auf der Heimreise von Amerika. Der Jüngling, ein dem Okkulten zuneigender Komponist moderner Richtung, rast vor Liebesschmerz, daß ihm die Angebetete bald für ewig verloren gehen soll, und wünscht in sinnloser Wut dem begünstigten Nebenbuhler den Tod. Kaum ist das Wort dem Mund entflohen, da melden Extrablätter den Untergang des Schiffes, das der Bräutigam benutzt hat. Darob gerät Rudolf, der an ein Opfer der Telepathie glaubt, also einen Kausalnexus zwischen seinen Wünschen und dem Schicksal des Rivalen konstruiert, vollends aus dem seelischen Gleichgewicht. Mit hellseherischer Bestimmtheit ahnt er, daß der Heimkehrende ein revenant sein werde (man erkennt jetzt die Doppeldeutigkeit des Titels). Und wirklich findet sich der Ertrunkene, während die Blitze zucken und der Donner kracht, – warum so theatralisch, Herr Olden? – in Rudolfs Zimmer ein, unterhält sich mit ihm auf eine gar nicht spiritistische Art über die letzten Geschehnisse, erzählt ihm seine wunderbare Rettung und folgt ihm zum Stelldichein mit der Geliebten in den finstern Wald. Hier werden die Gegner handgemein, und in wilder Eifersucht erwürgt Rudolf den seligen Hellmann, der sich längst zu den bleichen Scharen der Dunkelmänner versammelt hat. Dann geht er zum Polizeirevier und zeigt den Mord an. Natürlich wird der Leichnam nicht gefunden, und die Behörde stellt auf Grund der eingegangenen Telegramme fest, daß der Erdrosselte mit apodiktischer Gewißheit bei der Schiffskatastrophe umgekommen ist. Den vermeintlichen Mörder werden seine Angehörigen einer Nervenheilanstalt übergeben. Das kommt davon, wenn man nicht an Gott glaubt, sagt der verständnisvolle Onkel mit dem wallenden Vollbart. – Die Idee oder richtiger: der Trick des Stückes liegt, wie gesagt, darin, daß einem Toten reale Existenz untergeschoben wird. Sein wahres Wesen bleibt durch eine Täuschung des Theaterzettels im unklaren. Hier erscheint diese Idee, die sicher einmal in der Kriminalnovelle ausgebeutet worden ist, zum erstenmal auf der Bühne. Aber indem der Trick aus dem Bereich der Phantasie des Lesers körperlich vor die Augen des Zuschauers gestellt wird, verliert er an Glaubhaftigkeit, und das Gruseln, das die Novelle lehren könnte, löst sich auf der kraß verdeutlichenden Bühne in Lächeln auf. Nur durch eine radikale Amputation alles Beiwerks ließe sich vielleicht im Theater die angestrebte Wirkung erzielen. Das Drama müßte zu einem sketch zusammenschrumpfen und durch die brutale Gedrängtheit der Vorgänge dem Hörer die Besinnung rauben. So könnte diese Wiederkehr, in ihrer jetzigen Gestalt unhaltbar, dereinst im Spezialitätentheater wiederkehren.“

Berliner Theater. NZZ, 3. April 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 93.
Theodor Wolff, Die Königin (Kammerspiele, 29.03.11). – „Theodor Wolffs Schauspiel Die Königin, das in den Kammerspielen zu neuem Leben erwachen sollte, gehört dem Ende des vorigen Jahrhunderts an [veröffentlicht 1898], ohne daß ihm Altersspuren anzumerken wären. Auch für dieses Werk gilt der Satz: ‚Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie.’ [Schiller, ‚An die Freunde’] Wobei allerdings zu erwägen bleibt, ob das, was nie jung gewesen, überhaupt die Fähigkeit besitzt, zu altern. Homunculus kann eben keine grauen Haare bekommen. – ‚Das Stück spielt an einem Hofe.’ Weder die Zeit noch der Ort wird genauer bestimmt. Aber die Vorgänge legen es nahe, an das Frankreich vor der großen Revolution zu denken, und die Titelfigur beschwört den Schatten der unglücklichen Marie Antoinette herauf – Reminiszenzen, die Wolffs Phantasiespiel besser gemieden hätte. Es gärt gewaltig im Volke. Oben auf dem Throne prassen sie, während der Bauer darbt. Seine Not verhallt ungehört. Das königliche Wild frißt ihm die letzten dürftigen Halme ab, und er ist machtlos gegen den Übermut der lasterhaften Großen. Dafür rächt er sich durch trutzige Spottlieder, die das unsittliche Treiben der Höflinge geißeln. Am zügellosesten lebt die Königin selbst. Der Herr König befindet sich stets auf der Jagd, wodurch seiner Frau Gemahlin uneingeschränkte Gelegenheit zur Liebesjagd gegeben ist. Wählerisch scheint die royalistische Messaline nicht zu sein: denn sie erschauert unter den Blicken eines Gärtnerburschen, der die Vermessenheit besitzt, die Augen zu ihr aufzuschlagen, was ihm unverzüglich seine Stellung kostet. In dieses reiche Liebesleben, das die arme Königin unbefriedigt läßt, soll nun das große Ereignis treten: sie erwartet, nach neunjähriger Trennung, ihren Jugendfreund zurück und mit ihm die Rückkehr ihrer eigenen Jugend. Doch sie muß erfahren, daß, wie die Philosophen sich ausdrücken, die Antizipation des Genusses stärker ist als der Genuß selbst, und so hat sie bald den Punkt erreicht, daß sie mit dem neuen Liebhaber innerlich fertig ist. (Die Rollen, welche die Natur den Geschlechtern zuweist, sind hier vertauscht: nicht der Mann, der genossen, ist der Kettensprenger, der nach Freiheit Lechzende, sondern die Frau, die, – kaum sind ihre Begierden gestillt – schon wieder nach anderm Wilde pirscht.) Unter erschwerenden Umständen erfolgt hier die Abkehr: der Graf, der auch für den Jammer des Volkes ein Herz hat, schützt die herzlose, nicht nur in der Liebe herzlose Königin ritterlich vor dem andrängenden Pöbel und rennt dem frechsten Schreier seinen Degen durch den Leib. Dafür soll er enthauptet werden. Es stände in der Macht der Königin, ihn zu retten, wenn sie sich der Hilfe jenes entlassenen Gärtnerburschen bedienen wollte; sie verzichtet darauf, vielleicht weil sie die Konsequenzen fürchtet, vielleicht weil sie ahnt, daß das dem Zuschauer gar zu unwahrscheinlich vorkäme. Doch sie läßt ihn, eine Stunde vor der Hinrichtung, durch einen Offizier der Leibwache (wieso das möglich ist, erfahren wir nicht) in ihre königlichen Gemächer führen. Der Todgeweihte verlangt lächelnd, daß sie ihm noch einmal gewähre, was er gestern besaß. Als sie ihm diesen letzten Gang des Liebesmahles vor dem letzten Gang schnöde weigert, sucht er wenigstens in dem Gedanken Trost, daß sie ihm bald nachfolgen werde. Auch ihr Stündchen hat geschlagen; schon flammt das Menetekel an der Wand. Ein naiver Junge, dem diese Erwägung die Kraft leiht, ohne Zagen das Blutgerüst zu besteigen. Als ob das Sterben dadurch seine Schrecken verlöre, daß wir alle sterben müssen! Und im Augenblick des Todes denkt keiner: welch süßer Trost, daß meine Mitmenschen über kurz oder lang auch an die Reihe kommen; sondern er denkt: welche Qual, daß die andern noch am Leben bleiben dürfen! Immerhin, der unverzagte Graf wird mit seiner brutalen Prophezeiung recht behalten: schon verlassen die letzten Ratten das sinkende Schiff. Der Herzog, der konstant erfolglose Liebhaber, will sich aus der Umgebung der vom Schicksal gezeichneten Königin auf seine Güter in der Provinz zurückziehen. Lediglich die Aussicht auf sichere Erfüllung seiner Sehnsucht vermag ihn an dem Orte künftiger Greuel festzuhalten. ‚Wir bereuen nur die Sünden, die wir nicht begangen haben’ – mit diesem (beinahe Wildeschen) Paradoxon lädt die Königin zu neuem Liebesspiele ein. ‚Next, please’, wie die Barbiergehilfen in England rufen. – Zeitlos, ortlos – es wurde bereits festgestellt. Ein drittes Epitheton drängt sich unabweisbar heran: vag. Es trifft nicht nur auf das Kolorit und die Sprache zu, obwohl diese auf Prägnanz und Witz ausgeht, sondern auch auf die Gestalten. Sie sprechen zwar viel, aber sie sagen nicht viel. Wie verschwommen sind sämtliche Nebenfiguren geraten! Keine einzige, die über die Umrisse hinaus gelangt ist. Was für eine Papiermaske trägt der Herzog, offenbar ein Vetter des Berliner Oberbürgermeisters, weil er gleich diesem den Spruch: ‚Ich kann warten’ im Wappen führt [ein dem Berliner Oberbürgermeister Martin Kirschner (1899-1912) zugeschriebenes geflügeltes Wort]! Was für ein seltsamer Liebhaber ist der Graf, halb Schwärmer, halb Schulmeister; ein Liebhaber, der erklärt: ‚Wer liebt, denkt nicht daran.’ Die wahre Liebe, scheint mir, ist das nicht; denn wer liebt, denkt an nichts anderes, ist überhaupt zu keinem andern Gedanken fähig. Es bleibt der kompliziertere Charakter der Königin, der vor dreizehn Jahren, als das Stück entstand, noch den Reiz der Unverbrauchtheit hatte und auch heute noch Facetten hat; aber inzwischen haben wir eine ganze Galerie solcher Liebesüberweiber auf der modernen Schaubühne erlebt: Strindbergs Königin Christine, Wedekinds Lulu und wie sie alle heißen mögen, so daß Theodor Wolff jetzt schon ein wenig überholt ist. Wertvoller, dauernder im Gedächtnis haftend als sein etwas anämisches Drama ist der Leitartikel, den der Chefredakteur des Berliner Tageblattes neulich über die Frau des in Moabit getöteten Arbeiters Herrmann schrieb, der Leitartikel, den Theodor Wolff, im Hinblick auf ein viel glossiertes Abenteuer des Berliner Polizeipräsidenten [Traugott von Jagow], mit dem denkwürdigen Satze schloß: ‚Sie empfängt auch am Sonntag nachmittag um ½5 Uhr.’ [‚Jagow und die Frauen’, Berliner Tageblatt, 06.03.11, Nr. 119: ein Appell an den Polizeipräsidenten, die Witwe eines von Polizisten am 27.09.10 brutal niedergeknüppelten Arbeiters aufzusuchen, um ihr seine Teilnahme auszudrücken – schließlich sei es ihm doch auch ein Bedürfnis gewesen, der verheirateten Tilla Durieux Mitte Februar, am ‚Sonntag um halb fünf’, seine Aufwartung zu machen. – Der Annäherungsversuch des Polizeipräsidenten (und Zensors) wurde von Alfred Kerr am 01.03.11 im Pan publik gemacht und sorgte wochenlang für Schlagzeilen. Eine detaillierte Schilderung des Skandals findet sich in Tilla Durieux, Eine Tür steht offen: Erinnerungen (1954).] – Die Aufführung der Kammerspiele, zu der Professor Orlik ein wundervolles tiefblaues Schlafgemach beigesteuert hatte, konnte Frau Durieux in ihrer kapriziösen Dämonie und Herrn Moissi mit seinem Frühlingsschmettern ins Treffen schicken, ließ aber, als ob es nicht der Mühe lohnte, die Nebenrollen systematisch unter den Tisch fallen.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Mai 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 129.
Jeremiade über das zeitgenössische Theater; Ossip Dymow, Irrwege („Verein für Kunst“ im Modernen Theater, 06.05.11). – „Mit der Literatur (doch wohl nur der dramatischen? Die Red.) geht es langsam, aber allem Anschein nach sicher zu Ende. Ein Geschäft ist nicht mehr mit ihr zu machen, Staat nur ganz selten noch. Je mehr der merkantile Geist von unsern Bühnenhäusern Besitz ergreift, je mehr sich englische oder gar amerikanische Zustände hierzulande einbürgern, desto unbedenklicher wird die Literatur ins Austragstüberl geschickt. Da mag sie hinterm Ofen sitzen, bis sie schwarz wird. Sie hört [all]mählich auf, als nobile officium betrachtet zu werden, und muß sich mit der Rolle eines Luxusartikels begnügen. An Sonn- und Feiertagen, wenn die Herren Direktoren sich in einer Anwandlung von Großmut befinden, oder wenn die glänzenden Einnahmen, die mit dem täglichen Bedarf erzielt werden, ihnen gestatten, den Grandseigneur zu spielen, riskieren sie wohl noch ab und zu einen Spaziergang auf das Stoppelfeld, das längst keine goldnen Früchte mehr abwirft. – Ihr denkt: er scherzt oder er übertreibt, wie gewöhnlich. Nicht doch, es ist mein blutiger Ernst. Kommen wird der Tag … Wenn die Entwicklung der Dinge, die wir in diesem Jahre erlebt haben, konsequent fortschreitet – und alle Aspekten deuten darauf hin –, dann sind wir bald von Londoner Verhältnissen keine Tagesreise mehr entfernt. Ich sprachlich neulich an dieser Stelle von der Veranglisierung unsrer Bühne [s. NZZ vom 14.03.11, Nr. 73]. Sie ist kein Zukunftsbild, sondern, wie die Kenner bestätigen werden, zum Teil schon Ereignis geworden. Geht es so weiter unter dem Sternenbanner der Sensation, dann hat der Kunstkritiker bald nichts mehr im Theater zu suchen; der Reporter amerikanischen Stils wird seinen Platz einnehmen. Wir werden uns langsam nach einem andern Beruf umsehen müssen; denn die Operette und der ‚Kientopp’ (vielleicht gesellt sich ihnen als dritter im Bunde der Zirkus bei) werden das Theater über kurz oder lang an die Wand gedrückt haben. Kommen wird der Tag … – In dieser Not der schweren Zeit naht der vernachlässigten und verkümmernden Literatur ein Retter. Da die ständigen Bühnen sich mit Haut und Haaren dem Sensationsbedürfnis der unersättlichen Großstadtmenge verschrieben haben, kann sich der Dilettantismus auf dem verrufenen Tummelplatz der Literatur austoben. Und er tut es mit Wollust. Denn noch spukt in ehrgeizigen Hirnen der Gedanke, daß der Weg zum steilen Throne des Theaterdirektors über die Leichname der Literatur führe. Junge Leute treten in die Lücke, am liebsten mit einem akademischen Aushängeschild geziert. Die Jugend erbarmt sich der Dichter. Doch die Dichter hätten allen Grund, die Jünglinge zu fürchten et dona ferentes. Ihre meist mit unzureichenden schauspielerischen Kräften unternommenen Belebungsversuche sind nämlich rechte Danaergeschenke. Die von Ambitionen geschwellten Herrchen wollen den Dichter fördern – mit dem faktischen Ergebnis, daß sie sein Werk mördern. Was wir von solchen Vereinsvorstellungen im letzten Jahre schaudernd über uns ergehen lassen mußten, legte dem Kritiker, sofern er im höheren Dienste der Kunst steht, fast die Verpflichtung auf, diese Attentate tot zu schweigen. Sie waren uns ein Ärgernis. Besser gar nicht als elend aufgeführt werden. Dann hat der Dichter, der letzten Endes doch die Zeche bezahlen muß, wenigstens den Trost, daß seiner Schöpfung einst ein glorreicher Auferstehungstag harre, während ihn das sang- und klanglose Begräbnis nicht darüber im Zweifel lassen kann, daß es nun um sein Geisteskind geschehen ist. Wahrscheinlich für immer. Er ist um eine Aufführung reicher, aber um eine Illusion ärmer. ●●● Ein solches Begräbnis dritter Klasse ließ der ‚Verein für Kunst’ dem begabten Ossip Dymow angedeihen, von dem fünf Szenen Irrwege im Modernen Theater gespielt wurden. Sein op. 2. Reinhardt hatte in den Kammerspielen [am 30.03.08] auf den Erstling des Russen (Nju) hingewiesen und ihm durch die vielleicht beste Vorstellung, die er je geboten, Beachtung gesichert; er hütete sich aber weislich, ihm auf diese Irrwege zu folgen. Die Eindrücke, die wir damals von dem völlig in novellistischer Technik befangenen Bühnenschriftsteller empfingen, haben sich so getreu wiederholt, wie er selbst seinen Stoff und seine Manier sklavisch kopierte. Mir fiel die Anekdote von dem Maler ein, dem sein erstes Bild, rote Bauernhäuser mit grünen Dächern, einen gewissen Erfolg brachte und der sein Leben lang an dieses Sujet geschmiedet war; wehe ihm, wenn er sich erdreistet hätte, grüne Bauernhäuser mit roten Dächern zu malen! – Fünf Bilder entrollen sich, mit losen Fäden aneinander geheftet, durch laxe seelische Zusammenhänge verbunden. Jedes könnte für sich bestehen. 1. Bild: Der Enttäuschte. Weil der robuste Holzhändler von der einen abgewiesen wird, heiratet er aus Trotz die andere. – 2. Bild: Natürliche Verschiebungen. Dépit d’amour schadet nur. Die eine zieht den sich sachte langweilenden Ehemann in ihre Netze. – 3. Bild: Am Strande. Die andere hat einen Freund erhört und läßt sich von allen Männern umschmeicheln, ohne ihre große Liebe zu ihrem Manne zu verlieren. – 4. Bild: Das Kind. Der heimkehrende Gatte merkt, daß er betrogen ist; aber in seinem Herzen erwacht die Liebe zur Ehebrecherin, die aus Liebe gesündigt hat. – 5. Bild: Tod der Mutter. Das arme Wurm trollt sich schleunigst aus dieser Welt, und die unglückliche Mutter stirbt an gebrochenem Herzen, der Lieblingskrankheit sämtlicher Poeten. – Das Wenige, das Dymow gestalten kann, war weit überzeugender in Nju gegeben. Hier wie dort ein brutaler Mann an der Seite einer mimosenhaft zarten Frau. Hier wie dort sind die Frauen reine Triebgeschöpfe, ‚das Wunderbarste auf der Welt’, ohne Verantwortlichkeitsgefühl, durchaus von ihren Launen beherrscht, ganz von ihrer Liebe erfüllt. Nju verläßt ihren Mann und geht zum Dichter, weil sie ihn mehr liebt; darin liegt noch Verstand. Wenn hier eine Frau aus Liebe ihren Mann betrügt, so ist das bare Unvernunft. Man spürt im Dialog nicht selten einen gewissen Duft (‚Orchideen’, das Parfüm der Circe, sind auch für Dymow bezeichnend); aber der Duft bildet so wenig das Essentielle eines Dramas, wie der Geruch der Tinte das Wesen eines Liebesbriefes ausmacht. – Als Gewinn der Szenenreihe buche ich eine Bemerkung des Holzhändlers, der die Heiratsannoncen in der Zeitung studiert, wie er sagt, mit demselben Gefühl, mit denen die Verstorbenen die Todesanzeigen im Himmel lesen.“

Berliner Theater. NZZ, 15. Mai 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 134.
Georges Berr u. Marcel Guillemaud, Eine Million (Neues Schauspielhaus, 11.05.11). – „Ein historischer Abend, aller Voraussicht nach. Der Anfang vom Ende. Vermählung des Theaters mit dem Kinematographen. Die feindlichen Mächte liegen sich in den Armen und das zur Hochzeit geladene Publikum jubelt dem Bunde zu. – Man gibt im Neuen Schauspielhaus (unter Leitung von Arthur Retzbach) die Burleske Eine Million von Georges Berr und Marcel Guillemaud. Ein außergewöhnlich phantasiereiches Spiel, das von sicherster Beherrschung der Szene zeugt. Keine verblüffende Originalität in der Erfindung, aber eine überaus geschickte Mache. Ein modernes Märchen aus 1001 Nacht mit kriminalistischem Einschlag: etwas Verbrecherromantik, etwas Polizeibeamtenpersiflage. Die einfachste Fabel, von tausendunddrei Ranken übersponnen. Ein armer Teufel von Montmartre-Maler gewinnt in der Lotterie eine Million, wird aber vom Gipfel des Glücks jäh herabgestürzt, als er erfährt, daß das Jackett, in dessen Brusttasche er sein Los aufbewahrt hat, abhanden gekommen ist. Ein berüchtigter Einbrecher, dem die Polizei auf den Fersen war, hat das Jackett angezogen, um seine Verfolger zu täuschen, und ist verduftet. Die wilde Jagd nach diesem Kleidungsstück ‚von unschätzbarem Werte’ bildet den Inhalt des Stückes. Ihn erzählen, hieße die Burleske (und die Leser) erschöpfen. Die Hauptsache ist, daß die beiden Franzosen über eine schier unerschöpfliche Phantasie verfügen. So oft das Jackett in die Hände des rechtmäßigen Besitzers zu gelangen scheint, fällt den Verfassern etwas Neues ein, das die Personen wieder durcheinander wirbelt. In diesem Tohuwabohu gibt es ein Moment von tieferer Bedeutung: wir werden zu Zeugen, wie der Maler sein Glück in Händen hält, ohne es zu ahnen. So rennt der Mensch ewig blind an der Pforte zur Seligkeit vorbei … – Nicht mehr wäre über das Stück von der Odyssee einer Jacke zu sagen. Es darf als eines der hervorragendsten seiner Gattung gelten, wenn auch die Gattung nicht sonderlich hervorragend ist. Da verfiel ein findiger Kopf auf den Gedanken – er kam erst in Berlin zur Welt –, die Zwischenakte durch kinematographische Vorführungen zu beleben, die in engem Konnex mit der Handlung stehn. Das Bühnenbild setzt sich in die Zwischenakte fort. Die Geschehnisse wachsen über den Vorhang hinaus. Szene und Film lösen einander ab. Wenn also der verzweifelte Maler, der den Verlust seines kostbaren Jacketts beklagt, gegen Ende des ersten Akts erklärt, er werde den Träger jeder braunen Samtjacke anhalten, so sehn wir nach dem Fallen des Vorhangs, wie er seine Worte wahr macht: wie er einem Omnibus nachläuft, auf das Verdeck klettert, einen Unbekannten anspricht, mit ihm handgemein und ziemlich unsanft hinunterbefördert wird. Oder: er steht am Ufer der Seine, mustert jeden vorüberfahrenden Dampfer und eilt ihm nach, sobald er einen Verdächtigen erspäht. – Diese Biograph-Aufnahmen sind zum Verständnis der Handlung nicht notwendig; sind nur aparte Begleitbilder, die das Wort weiterspinnen. Auch ohne Prophetengabe läßt sich bestimmt voraussagen, daß es bei diesem einen Versuch nicht sein Bewenden haben wird. Man kann sich sogar eine neue Branche der Bühnenkonfektion denken, die mit diesem Einfall noch zielbewußteren Raubbau treiben wird. Die in dem Augenblick, wo die kargen Mittel und die beschränkten Dimensionen der Bühne versagen oder erst umständliche Prospekte und Veduten aufgeboten werden müßten, rasch entschlossen den Kinematographen in Tätigkeit treten läßt. Letzten Endes bedeutet es eine Eselsbrücke für die Phantasie des Zuschauers; aber er wird sie, wie alle Bequemlichkeiten, sich gerne gefallen lassen. – Wenn diese amüsante Verlebendigung, die dem Drama natürlich ohne weiteres den Garaus machen würde, auf das leichtere Genre beschränkt bleiben sollte, ist nichts dagegen einzuwenden. Aber Maximilian Harden schlägt schon allen Ernstes vor, die Theaterleute sollten für den zweiten Teil des Faust die Dienste des Kinematographen in Anspruch nehmen [in seiner Zeitschrift Die Zukunft, Bd. 75, 29.04.1911, S. 166]. Da wendet sich der Kunstkritiker mit Grausen; denn das wäre nicht mehr der Anfang vom Ende: das wäre das Ende selbst.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Mai 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 137.
Charles Rann Kennedy, Ein Winternachtsfest (Kroll-Oper, 14.05.11). – „Am 14. Mai 1911, zwischen halb acht Uhr und halb elf Uhr abends, wurden wir im Neuen Kgl. Operntheater zu Zeugen der Vorgänge, die sich am 14. Oktober 1020 zwischen sieben und zehn Uhr am Abend des Winternachtsfestes auf Thorkelheim am Eisfjord in Island abspielten. Auf den Tag, auf die Stunde, auf die Minute ausgerechnet, sind es 890 Jahre und 7 Monate her (ich öde die Leser mit Zahlen); was könnte uns modernen Menschen näher liegen? – Wir waren voll Begeisterung zu Kroll gegangen – zwar nicht für das fünfaktige nordische Trauerspiel aus dem elften Jahrhundert (ein fünfaktiges Stück; mehr: ein fünfaktiges nordisches Stück; noch dazu: ein fünfaktiges, nordisches, trauriges Stück; und überdies: ein fünfaktiges, nordisches, trauriges, in grauer Vorzeit spielendes Stück – bewundert der Leser auch nach Gebühr diese Klimax? – wessen Hirn vermöchte etwas der Jahreszeit Entsprechenderes auszudenken, etwas Willkommeneres, etwas Angemesseneres für einen phantastisch schönen Maiabend, wenn ein trunkener Vollmond über dem Tiergarten steht und auf jeder Bank ein seliges Liebespärchen … sitzt?); wir waren voll Begeisterung zu Kroll gegangen – auch nicht für den englischen Dramatiker Charles Rann Kennedy (Kennedy – richtig, so heißt die Amme der Maria Stuart; ein Witzbold meinte gleich, es werde ein Ammenmärchen sein), also nicht für Mr. Charles Rann Kennedy, dessen blutrünstige Tragödie Ein Winternachtsfest Herr Frank E. Washburn Freund (ich töte den Leser mit Namen) ins Deutsche übertragen und Herr Dr. Paul Lindau am ersten literarischen Abend der königlichen Bühne unbedingt ans Licht ziehen zu müssen glaubte (wann kommt dieser Satz je zu Ende?); aber wir waren sozusagen Feuer und Flamme für den Eisfjord, in der stillen Hoffnung, daß ein kühlendes Lüftchen aus den Gletscherregionen in die Hundstagshitze unsers südlicheren Breitegrades wehen werde. (Gottlob!) – Die Hörer, von der Glut des Tages in ihrer Aufnahmefähigkeit ein wenig beeinträchtigt, folgten dennoch einträchtig den grausigen Geschehnissen. Eine düstere Vorgeschichte von Liebeslust und -leid bereitete sie auf das Schlimmste vor. Umständlich erfuhren sie, wie ein alter Wikinger seinem Pflegesohne durch List ein wonniges Weib entrissen und seinem leiblichen Sohne zugeschanzt hatte. Am Anfang war der Lug; das kann nun und nimmer gut ablaufen. (Allerdings, es schlich beängstigend dahin, als sollte das traurige Tempo isländisches Lokalkolorit vortäuschen.) Und die Entwicklung illustriert den Schillerschen Vers: ‚Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß …’ Längst war das Hirn des Hörers durch die Hitze aus der Form geraten, und er ergänzte das berühmte Zitat: daß man vom Liebsten, was man hat, fortzeugend Böses muß gebären. – Zu weiterer Anstrengung war der von der platten Sprache erdrückte Hörer um keinen Preis der Welt zu bewegen. Die feindlichen Strandkinder wurden dann, wie Jean und Pierre bei Maupassant, auf der Brücke handgemein, und eine Leiche zog die andere nach sich. Totschlag; Herzschlag; aber sonst nirgends ein Schlager. ‚So viel Jammer, so viel Weh / so viel Morden war von je / im geliebten Monat Mai / allen Hörern einerlei.’ – Draußen, im Krollschen Garten, exekutierte mittlerweile eine Militärkapelle im Schweiße ihres Angesichts Wagnersche Potpourris. Über dem Tiergarten stand ein trunkener Vollmond, und auf jeder Bank saß ein minniges Mädchen, mehr isoldiert als isoliert. Aus den benachbarten Zelten tönte die Wachtparade der Zinnsoldaten herüber. Es war eine Lust, dem nordischen Trauerspiel entronnen zu sein und den milden, starken, vollen Duft des Flieders zu atmen. So schloß dieses Winternachtsfest wie ein Sommernachtstraum.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Mai 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 145.
Frank Wedekind, Die Büchse der Pandora (geschlossene Veranstaltung der Gesellschaft Pan im Modernen Theater, 20.05.11.). – „Sieben Jahre hat Frank Wedekinds Tragödie Die Büchse der Pandora gebraucht, von Nürnberg, auf dem Umweg über München, nach Berlin zu gelangen. Im Modernen Theater, das seinen Namen zum erstenmal berechtigt führte, konnte endlich die Gesellschaft Pan, die zum erstenmal ihre Existenz rechtfertigte, den dramatischen Leckerbissen aus der Hexenküche ihren Mitgliedern servieren. Unter besonders strengen, polizeilich angeordneten Vorsichtsmaßregeln, damit Unbefugte sich nicht zur satanischen Tafel drängten. Dem Schicksal, dem Lulu entgangen, mußten wir uns für diesen Abend unterwerfen: wir standen unter Kontrolle. – Im wesentlichen sahen wir die Münchner Aufführung, die von dem Berliner Areopag nur bedingt gutgeheißen wurde. Am meisten interessierte Frl. Johanna Terwin, das künftige Mitglied der Reinhardt-Bühnen, an denen sie das Erbe der Durieux antreten dürfte. Sie fing wie die Triesch an und hörte wie Frau Else Bassermann auf. Ihre Technik ist mehr analytischer als synthetischer Art. Sie erschöpft jeden einzelnen Moment, ohne uns (vorläufig) von einer starken Seele überzeugen zu können. Die wird man ihr gewiß in der Stadt der differenziertesten seelischen Kunst wecken. Trotzdem hat man schon jetzt das Gefühl, einer großen Könnerin gegenüberzustehen. Jede neue Erscheinung hat hier Vorurteile zu besiegen; warum sollte Frl. Terwin von dieser Regel eine Ausnahme machen? Alte Bekannte waren uns Herr Steinrück, unheimlich echt in der Rolle von Lulus väterlichem Beschützer, und Herr von Jacobi, dessen Anfängen bei Reinhardt keine verheißungsvolle Entwicklung gefolgt zu sein scheint. Als Jack der Aufschlitzer hatte Frank Wedekind, auf dem gefährlichsten Posten des Stückes, durchaus die dämonischen Umrisse der Gestalt. Neben den Münchner Gästen bestand die heimische Maria Mayer (in der sehr heiklen Rolle der Gräfin Geschwitz) nicht nur in Ehren, sondern sie war ihnen – ohne allen Lokalpatriotismus sei es festgestellt – in der Eindringlichkeit der Menschenzeichnung überlegen. – Menschenzeichnung … Vielleicht ist die unglückliche Gräfin der einzige Mensch in diesem Raritätenkabinett von Verbrechern, Wüstlingen, Erpressern, Hochstaplern. Die andern, Lulu noch teilweise ausgenommen, haben nur menschliche Umrisse, sind ganz auf eine Wesensseite gestellt, sind Torsi von Menschen oder Marionetten mit menschlichen Dimensionen. ‚Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind,’ läßt Wedekind seinen Schriftsteller Alwa Schön äußern; wie manches Bekenntnis, das er seinem Geschöpf in den Mund legt, ist sicher auch dieses die eigenste Überzeugung des Schöpfers. Die einfachsten animalischen Instinkte – ja, das ist es. Die fleischliche Begierde, die alle andern Regungen überwuchert, mehr: verschlungen hat. Priapeische Gelüste, riesenhaft gesteigert. In diesem (sexuellen) Weltbild hat der andere Despot des Universums, der Hunger, kaum noch Platz, taucht selbst die Geldgier nur vorübergehend auf. Die Liebe in ihrer niedrigsten, animalischen Form wächst zur Höhe eines ägyptischen Götterkolosses hinan, zu dessen Füßen die Menschlein herumkriechen. Alle ihr untertan; ihre willenlosen Sklaven; ihre gefügigen Drahtpuppen; pygmäenhafte Kreaturen wie auf Beardsleys Lysistrata-Blättern. – Ein Ausschnitt der Welt, von einem gigantischen Scheinwerfer beleuchtet. Hier herrscht der zweitstärkste Trieb; hier hausen Monomanen, Erotomanen. Entfesselte, entartete Geschlechtswesen, wild dahintaumelnd, blind ins Verderben rennend. Entmenschte Menschen. Die Größe der makabren Dichtung liegt in der unerbittlichen Konsequenz, mit der dieses besondere irdische Gewimmel enthüllt, in seiner schwärenübersäten Nacktheit aufgezeigt wird. Keiner zuvor hat das je gewagt, sogar nicht die poètes maudits, die sich in den gewagtesten Situationen immer noch ein wenig an Voltaires Satz erinnerten: ‚Mon cul est aussi [bien] dans la nature, et cependant je porte des culottes.’ [Oeuvres complètes, rev. Louis Moland (1883), I, 405: ‚Mein Hintern ist auch in der Natur, und trotzdem trage ich Hosen.’] Wedekind treibt menschliche Verworfenheit bis zu einem Punkte empor, daß ein Parkett von Zuchthäuslern in dieser Schule noch lernen, sei es auch nur das Fürchten lernen könnte. Die Art etwa, wie der Mädchenhändler Graf Casti-Piani mit der Dirne verhandelt, geschäftsmäßig kühl, ohne ein Zucken der Wimper, wie er seine Gewinnchancen mit der Abgebrühtheit des verwegensten Börsenmenschen erörtert: verrät er die Mörderin der Polizei, so ist ihm die ausgesetzte Belohnung von tausend Mark sicher; überliefert er sie dem Freudenhaus in Kairo, so steckt er zwölfhundert Mark dafür ein – diese Art hat etwas grausig Sachliches, etwas Grandioses, wenn man will, das man abscheulich finden mag, künstlerisch aber anerkennen muß. – Nicht minder liegt in der wortkargen, teils pantomimischen, brutalen, dumpfen Folge der Schlußszenen eine Kraft der Erfindung und eine Gewalt der Ausführung, für die man in der ganzen Weltliteratur vielleicht nur bei Shakespeare in der Blendungsszene des Gloster ein ebenbürtiges Seitenstück entdeckt. Wie Lulu, ehe sie auf die Straße geht, sich Mut antrinkt; wie der Eine, der sie in aller Gemeinheit noch liebt, ihre Schande mit ansehn muß, er, der von ihrer Schande lebt; wie sie jeden Mann für wenige Augenblicke des Genusses zeitlebens unglücklich macht; wie in dieses Pandämonium ein furchtbarer Humor hineingellt, als der jungfräuliche Schweizer Privatdozent seine Gutturallaute produziert; wie sie dann dem Letzten, der das Messer unter dem Mantel schon gezückt hält, um den Hals fällt und ihre Liebe gesteht – es ist atemberaubend in seiner Kühnheit, herzbeklemmend in seiner Schaurigkeit. Keiner zuvor hat Ähnliches gewagt, hat es so knapp gesagt. – Und doch verliert diese Anhäufung von Scheusäligkeiten ihre Schrecken. Einmal: eben durch die Anhäufung. (Ein Übermaß von Greueln reizt die Lachmuskeln, genau so wie ein Übermaß von Trauer.) Dann: durch das Marionettentum der Figuren, denen das Wechselspiel von Leiblichem und Seelischem, von Himmel und Hölle, von Gut und Böse abhanden gekommen ist. Wedekind gleicht darin, wie er den Zug der Laster darstellt, einem Giotto, der durch seine primitive Technik wie durch groteske Übertreibung den Todsünden alle Schrecken raubt; Wedekind gleicht darin, wie er die Folgen des Lasters ausmalt, einem Hogarth, nur ohne dessen Besserungssucht. – Wenn aber die Verteidiger des Dichters gegenüber den ängstlichen Wächtern der Sittlichkeit eine hintertreppenhaft handgreifliche Moral des Werkes betonen zu müssen glauben, so heißt das: Wedekind zu einem platten Sonntagnachmittagprediger zu [er]niedrigen, zu einem Heilsarmee-Apostel, zu einem Mitarbeiter der moralischen Wochenschriften des achtzehnten Jahrhunderts. Diesen Auslegern zufolge wollte er zeigen, wohin die Fleischeslust den Menschen führt, wie es auf der schiefen Ebene keinen Halt gibt, daß die Dirne ‚von Stufe zu Stufe’ sinkt und daß sie kein besseres Los verdient, als Jack the Ripper in die Hände zu fallen, der in Whitechapel einen Lustmord an ihr begeht. Was ist das für eine hanebüchene Erklärung! Eine seichte Abschreckungstheorie sucht man zu konstruieren. Erzählt einem von Hunger Verzehrten, eine ganze Familie sei an Pilzvergiftung erkrankt – ihr werdet damit seinen Hunger nicht stillen, und wenn ihr ihm eine Schüssel mit Pilzen vorsetzt, wird er sich gierig darauf stürzen. ‚Einstweilen, bis den Bau der Welt / Philosophie zusammenhält, / Erhält sie das das Getriebe / Durch Hunger und durch Liebe.’ [Schiller, ‚Die Weltweisen’]“

Berliner Theater. NZZ, 30. Mai 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 149.
Joseph Katona, Bankban (Deutsches Theater, 24.05.11). – „In Budapest: vielleicht; in Berlin: nein, entschieden nein. Wenn das Deutsche Theater, das seit Jahren in der ungarischen Hauptstadt die freundlichste Aufnahme findet, dort die Tragödie Bankban von Joseph Katona spielt, so ist das ein Akt internationaler Höflichkeit. Wenn dasselbe Deutsche Theater es dann aber für nötig hält, uns hier mit diesem nationalen Trauerspiel bekannt zu machen, so sind das fünf Akte gähnender Langeweile. – Was geht uns um alles in der Welt Joseph Katona an? Er war Advokat, schrieb 1815 sein berühmtes Drama, das er bei Lebzeiten nie auf der Bühne sah, und starb. Wenn das die in der ungarischen Literatur wegen ihrer Verve unübertroffene Tragödie ist, dann haben uns die Ungarn auf diesem Gebiete nichts zu geben, und ich sage nur das Eine: Ungar, weine. – Aus drei Gründen hätte eine Aufführung des Stückes unterbleiben sollen. – Erstens: es ist spottschlecht. Nein, das wäre zu viel Ehre, wollte man über dieses Drama der Phrase spotten. Es ist weder gut noch schlecht; es geht zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Es steht nicht ganz auf dem Niveau von Theodor Körner. Ein ausgeblasener Schiller, ohne dessen Goldkörner. Die Rhetorik stelzt daher; Gemeinplätze blähen sich auf. Das Nationaltemperament rast und will seine Opfer haben. Hei, wie die Leidenschaft grassiert! Und je mehr sich die Figuren erhitzen, um so kälter bleiben wir. Gewisse aufrührerische Reden zeigen immerhin, daß der Rechtsanwalt ein warmes Herz für die Unterdrückten besaß. – Zweitens: denselben Stoff hat ein gewisser Grillparzer in seiner Tragödie Ein treuer Diener seines Herrn behandelt. Grillparzer steht so hoch über Katona, wie Schiller über Körner. Warum sollen wir uns also mit dem Bankban des ungarischen Advokaten zufrieden geben, wenn wir den Bankban des österreichischen Dichters haben? – Drittens: der Ungar scheint ein rechter Deutschenfresser gewesen zu sein. Die drei bösen Charaktere des Werkes sind deutscher Abstammung. (Man merkt die Absicht.) Als Ausländerin hat die Königin natürlich kein Verständnis für die Not des Volkes. Sie feiert Feste, während ihre armen Untertanen darben; außerdem verrät sie kupplerische Neigungen. Ihr Herr Bruder, Prinz Otto von Meran, ist ein Wüstling vom unreinsten Wasser. Und der dritte im Bunde, ein deutscher Ritter namens Biberach, gefällt sich in der Rolle eines Miniatur-Jago. Dieses Trio hat alles Unglück des edlen Magyarenlandes auf dem Gewissen. So schlechte Kerle sind die Deutschen. Nun wißt ihr’s. Aber wozu brauchen wir uns das von einem patriotischen Eiferer bieten zu lassen? Würden die Ungarn ruhig ein deutsches Drama mit anhören, in dem ihre Landsleute so schlecht abschneiden? Schwerlich. – Grillparzer verdankt seine beiden Hauptmotive offenbar seiner Beschäftigung mit dem spanischen Drama. Er zeigt den Vasallen im Konflikt mit dem Rächer seiner Ehre. Der treue Untertan, dem die Hände gebunden sind, weil er zum Reichsverweser bestellt ist, verzichtet auf das Rachewerk. Der Mensch muß sich ducken, weil er Beamter ist und eine Pflicht hat. Uns geht dieses passive Heldentum, das die subalterne Natur verherrlicht, ein wenig gegen den Strich, obwohl mir der Vorwurf der Servilität unangebracht scheint. Grillparzers duckmäuserischer Natur lag eben diese Auffassung sehr nahe. Katona packt die Sache anders an. Bei ihm erstickt Bankban die Königin, zu deren Schutze er berufen ist. Aber hier zeigt sich wieder einmal an einem drastischen Beispiel, daß der Stoff nichts, die Behandlung alles ist. Denn trotzdem Katona dem Empfinden der Gegenwart mehr entspricht, spricht er nicht zu unserm Empfinden, weil er in kaum einer Szene etwas zu sagen hat. – Also wozu diese Tragödie? Wozu im wunderschönen Monat Mai? – Die anwesenden Ungarn verhüteten nach Kräften einen Durchfall; die anwesenden Deutschen waren bald durch das beständige Gähnen kampfunfähig geworden.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Juni 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 156.
Aeschylos, Die Orestie (Zirkus Busch, 31.05.11.). – „Homo homini lupus. Wenn einer, in diesen Zeitläuften des Kampfes aller gegen alle, eine Idee hat, stürzt sich alsbald ein andrer wie ein hungriger Wolf darauf und sucht sie ihm zu entreißen; ist ihm das nicht möglich, will er wenigstens seinen Anteil. Erfindungen lassen sich heutzutage durch ein Patent schützen, Ideen werden immer Freiwild bleiben. – Max Reinhardt war der Vater einer Idee: er glaubte, seine Vision des Sophokleischen König Oedipus in dem antiker Form sich nähernden Zirkus am stilechtesten verwirklichen zu können [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 13.11.10, Nr. 314]. Es war ein Experiment; es ward eine Sensation. Gleich fiel der Wolf über den fetten Bissen her. Der Wolf war in diesem Falle allerdings nur ein possierliches Äffchen; aber es gelang ihm doch, durch seine impertinenten Sprünge die Sache zu diskreditieren. – Nun kam irgendein studentischer Verein oder ein Anonymus und ließ die Orestie des Aischylos im Zirkus Busch ‚steigen’. Professor Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dessen Übersetzung zugrunde gelegt wurde, hielt den einleitenden Vortrag. Der gefeierte Conférencier war mehr Exzellenz als exzellent. Er teilte aus vollem Herzen mit, welche Begeisterung er dem Studium der Alten verdanke, aber wenig von dieser Begeisterung teilte sich mit; denn keine Korona von Philologen, sondern eine kunterbunte Menge saß zu Füßen des Gelehrten. Er mutete wie ein klassischer Baedeker an: nicht nur beschrieb er das Kunstwerk, er schrieb auch vor, mit welchen Gefühlen wir das Kunstwerk zu betrachten hätten. Und schoß damit, will mich bedünken, bedenklich übers Ziel. Denn wenn der alte Aischylos in höchst eigner Person als Conférencier vor seine Dichtung getreten wäre, er hätte fünftausend modernen Menschen niemals die Marschroute ihrer Empfindungen vorzeichnen können. Andacht will erzeugt sein; zur Andacht kann nicht in fünf Minuten erzogen werden. Wirke, Dichtung, durch dich selbst; dann kannst du die wirksamste Peroration lächelnd entbehren. Kannst sogar ein Zitat Goethes missen, der in einem Schreiben an Wilhelm v. Humboldt [01.09.1816] die Orestie das Kunstwerk der Kunstwerke genannt hat. [Der Korrektheit halber sei angemerkt, daß Goethes Diktum sich auf den ersten Teil der Trilogie, den Agamemnon, bezog, den Humboldt im Sommer 1816 in metrischer Übersetzung neu herausgegeben hatte.] (Hier schwang sich der Redner zu einem so feierlichen Pathos auf, als gälte es, die Hörer mit dem einzigen uns erhaltenen Privatbrief des lieben Gotts bekannt zu machen.) Doch um von den Äußerlichkeiten auf den Kern zu kommen: Wilamowitz vertrat die Ansicht, jeder der drei Teile der Trilogie könne für sich bestehen, sei ein in sich geschlossenes Ganzes, während er früher der Meinung gewesen, die einzelnen Glieder des Gedichts dürften nicht auseinander gerissen werden, erst in seiner Vollständigkeit erweise sich die Vollendung des Werkes. Sollte die neuere Theorie nicht für den besondern Zweck zurecht gestutzt gewesen sein? (Man spielte nämlich nur, entgegen der ursprünglichen Ankündigung, den Agamemnon, der Tragödie ersten Teil.) Jedenfalls ist sie vom dramaturgischen Standpunkt aus anfechtbar. Denn die letzten Absichten des Dichters enthüllen sich erst im weitern Verlauf der Handlung. Der Gattenmord im Agamemnon läßt uns kalt, wenn wir nicht den Muttermord im Totenopfer schauen und die Lossprechung des Rächers der Familienehre in den Eumeniden erleben. So hat es unbedingt der Dichter gewollt. Warum ließe er sonst den Namen des Orest mit solcher Emphase schon im Vorspiel erwähnen? Warum gäbe er sich solche Mühe, auf die Fortsetzung hinzuweisen? Warum hätte er sonst der kyklopischen Agamemnon-Tragödie ein verhältnismäßig so mattes Ende angeheftet? Damit wurden die Athener nur zur Kaffeepause entlassen; damit dürfen auch wir nicht nach Hause geschickt werden. – Das war immerhin der interessantere Teil des Abends. Dann folgte eine völlig eindruckslose Aufführung, die weit davon entfernt war, auch nur einen Funken der vorgeschriebenen Andacht bei den Versammelten zu entfachen. Sie empfanden lediglich die tropische Hitze, stöhnten in der verpesteten Luft und litten furchtbar unter einem wahren Höllenbrodem von Gerüchen. – Vor elf Jahren etwa [am 24.11.00] sahen wir im Theater des Westens dieselbe Orestie. Damals standen Kraußneck als Agamemnon, die Dumont als Klytämnestra, die Bertens als Kassandra und der junge Kayßler als Orest auf der Bühne, von der man jetzt nichts mehr wissen will. Die Wirkung war hundertmal so stark. Ganz Berlin war mit einem Schlag für die antike Tragödie gewonnen. Besonders die Bertens grub sich ins Gedächtnis ein. Wie sie stier und stumm auf dem Wagen stand; wie sie in trotzigem Schweigen verharrte; wie sich ihr die Zunge mit Naturgewalt löste; wie die Seherin den Schleier von der greuelvollen Zukunft riß; wie sie die Priesterbinde fortschleuderte; wie sie gefaßt, gleich einem Opfertier, dem unentrinnbaren Schicksal entgegenschritt: wer könnte das je vergessen? All’ das kam diesmal nicht zur Geltung, obwohl die ausgezeichnete Sprecherin Tilla Durieux in der Arena stand; aber sie war machtlos gegen die Größenverhältnisse des Zirkus und die Ahnungslosigkeit des Regisseurs, der in dem Bestreben, es anders als Reinhardt zu machen, um sich nicht in den Ruf eines bloßen Nachahmers zu bringen, auf eigene Ideen verzichtete. Nur der Beleuchtung hatte er ersichtlich liebevolle Aufmerksamkeit geschenkt mit dem Resultat, daß von dem Nachtstück zu Beginn überhaupt nichts zu sehen war und daß der Mord, der sich im grellen Tageslicht abspielen muß, wenn er doppelt schrecklich wirken soll, in kimmerisches Dunkel gehüllt war. – Ein unergiebiger Abend. Ein selbst für Aischylos verlorener Abend. Und doch vielleicht nicht ganz verloren. Wenn diese Aufführung nur das eine mit absoluter Sicherheit gezeigt hätte, daß der jetzt in Mode gekommene Zirkus mit größter Vorsicht zu gebrauchen ist: es wäre schon Gewinn. ‚Ein verruchter Besen, der nicht hören will!’ Er rückte die Personen heillos auseinander, vergrößerte mit teuflischer Lust sowohl die räumliche wie die seelische Entfernung zwischen den Akteuren, und kein Meisterwort überbrückte die Kluft. Man hat es Max Reinhardt, der im Herbst eine Aufführung der Orestie plant [siehe MMs Besprechung in der NZZ vom 18.10.11, Nr. 289], gar zu leicht gemacht; denn eine Steigerung des Schlechten ist nicht mehr möglich. So geht es in Berlin regelmäßig mit theatralischen Veranstaltungen unter akademischer Ägide.“

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1911 / 1912

Berliner Theater. NZZ, 14. September 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 255.
Eduard Stucken, Lanvâl (Kammerspiele, 09.09.11). – „Über Eduard Stucken ein drittesmal schreiben heißt: sich abschreiben. ‚Ich höre seine Versreihen mit artistischem Vergnügen, aber sie lassen mich kühl bis ans Herz hinan. Und auch die seelischen Vorgänge finden nicht den Zugang zu meiner Seele … Mein Verstand bewundert diesen Melchior Lechter [deutscher Maler (1865-1937)] der Feder; aber mein Herz – schlagt mich tot! – ist völlig unberührt geblieben.’ Du mußt es dreimal sagen. So war hier nach der Aufführung des Gawân zu lesen [NZZ vom 04.04.10, Nr. 92]; so lautete das Urteil über Lanzelot [NZZ vom 07.01.11, Nr. 7]; nicht anders ist das Drama Lanvâl zu bewerten, mit dem die Kammerspiele jetzt den Artus- und den Stucken-Zyklus beschlossen. – Man wird Eduard Stuckens inhaltlich verbundene Werke nicht einzeln im Gedächtnis sondern, vielmehr vor ihrer Gesamtheit an die Sonderstellung dieses einen Dichters denken.’ (Ich schreibe mich ab, weil ich nichts Neues über ihn zu schreiben, höchstens Gesagtes in andre Worte zu fassen vermöchte – was auf dasselbe hinausläuft.) Nach der ersten Begegnung stand sein Charakterbild fest. Wie in Erz gegossen; unverrückbar. Ein perpetuum immobile. Nichts blieb für spätere Zusammenkünfte aufbewahrt. Ein Künstler trat vor uns hin, doch er brauchte nie den Herzschlag unsrer Zeit gefühlt zu haben. Ein heute Lebender, der sich zurückschraubt. Der in eine versunkene Sagenwelt eintaucht und ihren Märchenzauber vor uns ausbreitet, ohne an ein anderes Organ zu appellieren als an unsern Geschmack. Ein Gobelinwirker ohne Gefühlswirkungen. Mehr ein Bildertürmer als ein Bildner. Ein Dichter, gewiß, sofern ihm die Sprache untertan; doch er weckt nie ‚der dunklen Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen’ [Schiller, ‚Der Graf von Habsburg’]. Einer, vor dem man den Hut zieht; doch keiner, dem man beide Hände zu schütteln den Drang spürt … So war Eduard Stucken von Anbeginn; so ist er; so wird er bleiben. Aber die wertvollsten Menschen und Künstler sind vielleicht die, denen man nicht gleich gerecht wird. Das ist einer, der offenbar immer bereit hat, was er zu bieten vermag. – Wir sahen von ihm (der Reihe nach) Gawân, Lanzelot, Lanvâl. Wo sind ihre unterschiedlichen Merkmale? Was trennt sie von einander? Schon jetzt verschwimmen ihre Sonderzüge. Ritter der Tafelrunde sind es, Artusgenossen, Zweige desselben Stammes, fast Blätter desselben Astes. Selbst durch ihr Schicksal kaum geschieden. Turnier und Minne füllen ihr Leben aus. Tapferkeit und Demut herrschen in holdem Verein, Stärke der Muskeln und Stärke des Glaubens. Nirgends fühlt sich diese Mischung so heimisch wie in England; auch heute noch. Eine Melodie summt durch das Hirn: ‚Ach, so fromm, ach, so traut’ [Martha]. Doch nein, sündige Liebe fordert Opfer. Die Ritter verschmähen die tiefe, stille Neigung einer reinen Maid und begehren nach der roten, glutvollen Leidenschaft eines wilden Weibes. Lanzelot nach der Königin Ginover, Lanvâl nach einem Fabelwesen, das seine Nächte beglückt, nach einer Schwanenjungfrau, einer Undine, welche eine Base des Lohengrin ist. Lanzelot, Lanvâl; Lanvâl, Lanzelot. Wo sind ihre Physiognomien? Man sieht von beiden nach kurzer Zeit nur noch das blonde Haar, und einzig die blonde Seele haftet in der Erinnerung. Allerdings, sie werden meineidig; aber ihr Verbrechen ist ein guter Wahn. Ritterehre: in hoc signo vinces – in diesem Zeichen wirst du untergehn. Mittelalterliche Monomanie, mystisch verankert. Was hat unsere Zeit mit einer solchen Idee, einem solchen Ideal zu schaffen? Was bedeutet ihr das Symbol des Grals? Ich weiß: Wagners Parsifal – aber jeder weiß, daß dieser Parsifal fast ausschließlich durch Kundry (die Versucherin, nicht die Büßerin) sein Interesse erhält. Erhält. – Die Monomanie und die Monotonie der Gralsritter wird bei Stucken durch die Sprache erhöht. Sie reimen; in der Mitte und hinten. Alle ohn’ Unterschied, ohn’ Unterlaß. Die Seele des Dichters strömt in die Sprache (statt in die Charakteristik, welches uns lieber wäre). Eine virtuose Caprice. So, wie wenn sich [Leopold] Godowsky [1870-1938] oder [Moritz] Rosenthal [1862-1946], nicht zufrieden mit den Schwierigkeiten, die ihnen eine Chopinsche Etude für die rechte Hand bietet, noch besondere für die linke hinzuerfinden. – Virtuosität, das ist: Hypertrophie des Technischen, geht auch hier mit Blutleere Hand in Hand. Das einzige Blut, das bei Stucken eine Rolle spielt, ist das des Grals. Der König und die Königin, die Ritter und die Edeldamen, die Jünglinge und die Mägdelein – sie sind samt und sonders mehr oder minder anämisch. Gewebte, aber nicht erlebte Figuren. Statt ihren Herzensnöten Teilnahme zu schenken, achten wir auf ihre Reimworte. Werden sie den Anschluß an die vorhergehende Zeile finden? Wie müssen sie sich drehn und winden? Das reizt uns zu ergründen. Nach einer halben Stunde wird man von dem formalen Veitstanz ergriffen, und das Hirn gerät in Reimzuckungen. Mich dünkt, ein gesunder oder wenigstens ein erwünschter Zustand ist das nicht. – Noch ein Wort über die klägliche Rolle, die dem König Artus bei Stucken zufällt. In Lanzelot sahen wir ihn zehn Jahre lang erfolgreich gehörnt; in Lanvâl sehen wir ihn den emsigen, aber erfolgreichen Heiratsvermittler machen. Ich begreife nicht recht, wie sich das mit dem Idealbild der Sage verträgt. Ist dieser Trottel oder dieser Träumer noch Artus der Große, den das Volk vergötterte? Und erniedrigen sich die edeln Ritter nicht, indem sie einem solchen Kartenkönig dienen? − − Von der Aufführung im Kammerspielhaus ist leider wenig Gutes zu berichten. Es scheint, als müßten wir uns in Abwesenheit des Herrn mit diesem fast zur Gewohnheit gewordenen Tiefstand abfinden. Die Bewohner Lübecks würden schwerlich ein so fadenscheiniges Häufchen von Komparsen ohne Widerspruch dulden. Oder sollte in Berlin, mit einer unberechtigten Kritik am Werke des Dichters, zum Ausdruck kommen, daß dieser König (siehe oben) keinen besseren Hof verdiente? Als Gewinn des Abends wäre Lia Rosen aus Wien zu verzeichnen, ein liebliches Schwanenkind, das Musik in der Stimme und ein Seelchen mitbrachte.“

Berliner Theater. NZZ, 25. September 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 266.
Herbert Eulenberg, Alles um Geld (Lessing-Theater, 20.09.11). – „Es scheint, als sei Herbert Eulenbergs Melodie nun endlich durchgedrungen. Vor drei Jahren noch wären seine fünf Akte Alles um Geld schwerlich ohne Havarie in den Hafen gelangt; jetzt konnten sie im Lessing-Theater, wo vor einem Lustrum Ritter Blaubart kläglich scheiterte [vgl. MMs Kritik in der NZZ vom 23.11.06, Nr. 325], wenigstens zu Ende gespielt werden, wenn auch die heulende Sirene des Hausschlüssels nicht fehlte. – Der Dichter hat sich sozusagen zum Erfolg durchgefallen. So lange und so unverdrossen ist er durchgefallen, daß er nun fast schon gefällt. Alles im Leben ist eine Frage der Zeit – auch Herbert Eulenbergs Anerkennung. Doch seine Legitimation zum Dramatiker schuldet er uns noch. Die Hauptsache für ihn ist allerdings: er hat seiner Stimme Gehör verschafft. Wenn einer im heutigen Deutschland, das den Titel des Eulenbergschen Dramas als Wappenspruch führt, erst so weit ist, kann er bald machen, was er will. Die Leute werden nach seiner Pfeife tanzen. Bringe ihnen die Überzeugung bei, daß du Stimme hast, dann kannst du ihnen nach Belieben wie Orpheus etwas vorsingen oder wie der Hahn auf dem Mist etwas vorkrähen bis an sein seliges Ende. Dazu gehört – nicht so sehr die Stimme wie eine dicke Haut. Der Künstler, der sich (bei Lebzeiten) durchsetzen will, muß ein Dickhäuter sein… Ob du zum Dramatiker berufen bist, danach fragt höchstens ein blöder Kritiker; die Theaterdirektoren haben es sich allmählich abgewöhnt, Dramen aufzuführen, wenn ihnen Namen zur Verfügung stehen. Auch sie Bannerträger und Opfer des männermordenden Grundsatzes ‚Alles um Geld’. – Der Dichter Eulenberg verleugnet sich in keiner Arbeit. Er ist eher zu sehr erpicht, ihn hervorzukehren, fortissimo dem Publikum in die Ohren zu schreien ‚ecce poeta’. Der Dramatiker Eulenberg macht dagegen kaum den Versuch, sich zu betätigen. Vielleicht hat er es nicht mehr nötig oder glaubt, es nicht mehr nötig zu haben. Sein poetisches Kapital ist so angeschwollen, daß ihn die Zinsen jetzt über dem Wasser der Bühne zu halten vermögen. Von Geschlossenheit, von Verdichtung, von Konzentration, von Kausalnexus, von all den schönen Dingen, welche Theoretiker in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl [Schiller, Don Carlos, II. v] für das Drama in Anspruch genommen haben und ohne die Praktiker in ihrem kindlichen Unverstand nicht auszukommen wähnen – von alledem, was das Lebenselement des Dramas ist, findet sich bei Herbert Eulenberg kaum eine Spur. Statt dessen herrscht in seinem anarchischen Bau, als einzige Göttin der Vernunft, die Willkür. Der Leitstern unseres Dichters ist das Irrlicht. Folge ihm nur getrost: einmal mußt du doch ans Ziel gelangen. Laß dich ruhig durch Hecken und Wälder locken, purzle immerhin in den Sumpf – wenn du Zeit hast und wasserdichte Stiefel, was verschlägt es? Im Dickicht blühn die seltsamsten Blumen; da schimmern die Sterne am hellsten; da begegnet man selten einem andern Wandrer; da läßt sich am ungestörtesten träumen. – Und Eulenberg träumt. Nach Herzenslust. Bis ihm die Wirklichkeit versinkt und seine Traumwelt zur Wirklichkeit wird. Er öffnet alle Schleusen seiner Phantasie. Hei, wie das Wasser hervorschießt! Und will sich nimmer erschöpfen und leeren [Schiller, ‚Der Taucher’]. Da ist kein Wehr, das ihm Einhalt tut. All das wäre ja nun recht schön und gut, wenn wir uns nicht zufällig im Bereich des Dramas bewegten, wo an allen Ecken Wegweiser der Zweckmäßigkeit aufgestellt sind. Aber warum soll eine Dichtung zugleich ein brauchbares Theaterstück sein? Jeder Esel kann heute für die Bühne schreiben; nur ein Gott vermag zu dichten. Eines bleibt freilich ungeklärt: warum wählt dieser Gott für seinen dichterischen Erguß just die Form des Dramas? Vermutlich ist es sein Privatgeheimnis. – Daß einem so schrankenlosen Träumer die Figur des Träumers besonders nahe liegt und besonders ‚liegt’, versteht sich von selbst. Sie ist Blut von seinem Blute. Sie entspringt wie Pallas Athene geharnischt und geschient seinem Hirne. Aber er verkennt die Gefahr, die aus so enger Verwandtschaft erwächst. Seine fiktive Welt erhebt sich wohl gelegentlich zur Realität; doch die reale Welt bleibt vielfach Fiktion, und dem Zusammenprall fehlt die Wucht. – … Ich sehe einen Dichter am Werke, der nur seiner innern Stimme folgt. Er singt, weil er so und nicht anders singen muß. Leider läßt sich nicht hinzusetzen: ‚und wie er mußt’, so konnt’ er’s’. Die höchste künstlerische Gabe scheint Eulenberg versagt: die der Beschränkung. Wir werden durch fünf lange Akte gezerrt, ohne das Geringste für den Helden mitzuempfinden. Vincenz, ‚eine Kreatur Gottes’, muß gar manches Leid erdulden. Die Gläubiger rennen ihm das Haus ein und tragen ihm fort, was nicht niet- und nagelfest ist. Sein verkrüppelter Junge stirbt ihm. Seine Tochter läßt sich von einem verheirateten Don Juan zur Mutter machen und erdrosselt sich mit einer goldenen Kette. Der Konkurs wird über ihn verhängt. Er wandert ins Gefängnis. Er endet im Wahnsinn. Und doch rührt alles nur mit zarter Hand an seine Seele. Er ist in seiner Traumwelt befangen. Nichts kann ihm geschehen. Ein Phantasiemensch, unerreichbar für die ‚Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks’ [Hamlet, III. i]. Ein Phantast, dem die Wirklichkeit nichts anzuhaben vermag. Ein armer Schlucker, der sich einen Krösus dünken darf. Alle Tücke der Menschen kann ihn nicht von seinem Traumthrone stürzen. Ein wahrer Bettler, der ein wahrer König ist. – Ich spüre die Shakespeareschen Umrisse einer Gestalt. Doch aller Überschwang der Phantasie vermag nicht über das Manko an Herzblut hinwegzutäuschen. Immerhin: eine Gestalt. Ein groß gedachter Kerl, sich selbst getreu. Um ihn herum Schemen aus einer Märchenwelt, Schatten der wirklichen Welt, für die er kein Verständnis besitzt, keines besitzen kann. −− Oskar Sauer spielte im Lessing-Theater die tragende Rolle. Kein Wort gegen diesen verehrungswürdigen Künstler. Er sah manchmal aus wie Rembrandt in mittlern Jahren, und man wurde das Gefühl nicht los: ein Raphael ohne Arme. Herr Stieler als ein weltentrückter Schreiber und Frl. Herterich als die tapfere Tochter gaben ihren Märchengebilden fast einen Schimmer von Leben. Und Frl. Ilka Grüning bewährte aufs neue ihre chargierende Meisterschaft.“

Berliner Theater. NZZ, 29. September 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 270.
Heinrich von Kleist, Penthesilea (Kgl. Schauspielhaus, 16.09.11; Deutsches Theater, 23.09.11). – „Zweimal, im Verlauf einer Woche, hat Heinrich von Kleists Penthesilea Berlins Bühnen beschritten; zuerst die des Königlichen Schauspielhauses (in der Bearbeitung Paul Lindaus), dann die des Deutschen Theaters (Regie Felix Hollaender). Ein Zeichen der Zeit, daß just dieses problematischste Drama des märkischen Dichters zur Vorfeier seines hundertsten Sterbetages hervorgezogen wird. – Es ist sein undramatischstes, um nicht zu sagen: ein antidramatisches Werk; es ist – allen germanischen Seminaren zum Trotz muß es ausgesprochen werden, denn die uns eingetrichterte Schulweisheit ist doch nur dazu da, früher oder später über Bord geworfen zu werden – es ist überhaupt kein Drama, sondern: zwei dramatische Szenen, von Botenberichten umrahmt, fast erdrückt, breiten sich aus. Penthesileas Liebesverlangen; Penthesileas Todesbangen. (Diese beiden allerdings von einer Größe, daß man an das Liebesduett und den Liebestod in Tristan und Isolde denkt.) Was vorhergeht und was dazwischen liegt, sind Teichoskopien, zu deutsch: Notbehelfe, Schilderungen von Begebenheiten, keine in dramatische Aktion umgesetzte Geschehnisse. Mehr ein kriegerisches Epos mit zwei dramatischen Höhenrücken als ein Drama mit epischen Einlagen. (Die Feststellung dieser Tatsache tangiert nicht im geringsten die künstlerischen Schönheiten des Gedichts.) Das Werk bleibt ein Wunder in unserer Literatur, zumal wenn man die dem klassizistischen Ideal zugekehrte Zeit seiner Entstehung in Betracht zieht. Ein Turner zwischen Gainsborough und Reynolds; oder, um ein Gleichnis aus der Musik anzuführen: Hugo Wolf neben Reichardt und Zelter. Daß ein Dichter, damals, als Iphigeniens Humanität tonangebend war, noch dazu: ein preußischer Leutnant, wenn auch ein entwurzelter, den Mut fand, die Nachtseiten eines mädchenhaften Dämons ans Licht zu zerren, in die Tiefen der weiblichen Sexualsphäre hinabzuleuchten, bis zum Problem des Sadismus vorzudringen – es ist ein heroisches Wagnis gewesen, das bei den braven Zeitgenossen einzig eine Gefühlsverwirrung hervorrief. – Wie steht der moderne, von keiner literarhistorischen Pietät eingeschnürte Betrachter zu diesem Thema des Kampfes der Mannweiber gegen die griechischen Helden? Noch unter dem Galgen wird er aus seiner Überzeugung kein Hehl machen, daß für ihn der Stoff heute nur als Operette zu behandeln wäre. Im Buche kommt man leicht über die Voraussetzung weg, weil die Phantasie das Unmögliche wahrscheinlich machen kann; auf der Bühne zerstört das Auge, dieser Todfeind der Phantasie, die Illusion, weil es nicht das Unwahrscheinliche möglich machen kann. Wo in der Welt gibt es heute eine Weiberschar, die den Krieg mit Männern aufnähme? (Sie führen alle Krieg, aber er spielt sich zwischen den vier Wänden des Schlafgemaches ab.) Nehmt die englischen Suffragettes, diese Bacchantinnen einer Idee, die ohne Bedenken einem Schutzmann etliche Backenzähne aus dem Munde schlagen – beseht sie aus der Nähe, und selbst hoch zu Roß verlieren sie ihre Schrecken. Vielleicht findet man, wenn das Schicksal es gut meint, eine einzige Darstellerin, die Kleists Forderungen erfüllt: eine Verbindung von Mänade und Mädchen, ‚halb Furie, halb Grazie’ [21. Auftritt]. Aber ein ganzes Amazonenheer, das den Eroberern Trojas ernstlich Schwierigkeiten zu bereiten vermöchte? Es bleibt eine Zumutung, und kein Regisseur der Welt wird uns das Fürchten lehren. Daher konnte es nicht wundernehmen, daß im Deutschen Theater, als die griechischen Gefangenen von zarter Frauenhand abgeführt wurden, ein ehrliches Lachen hörbar ward. Macht doch nicht so viel Federlesens mit diesen schmächtigen Jungfrauen, ihr hellenischen Maulhelden – gebt ihnen einen herzhaften Kuß, und die Sache ist erledigt. Wer anders fühlt, hat den Mund nicht auf dem rechten Fleck. Und weiter: nachdem sich Achill und Penthesilea gefunden, was ist das für eine Haarspalterei, die sie plötzlich trennt! Er will sie in seine Heimat, sie ihn in ihr unwirtliches Land mitnehmen. Aber deswegen entbrennt doch kein Kampf, weil man sich nicht über den Ort der Trauung einigen kann! ... – Nicht so sehr seine dramatische Besonderheit wird dem Werke im Wege stehn wie die Unmöglichkeit, diese Gestalten von besonderm Wuchs des Leibes und der Seele auf den Brettern in effigie zu zeigen. Das bessere Rohmaterial stand entschieden dem Schauspielhaus zur Verfügung. Doch zimperliche Hoftheaterrücksichten verboten offenbar, die Psyche des Gedichts bloßzulegen, den orgiastischen Taumel der Geschlechtsempfindung an der Wurzel zu fassen. Das Äußere war nach der Schablone zugeschnitten: das Schlachtengetümmel spielte sich in einer lieblichen Landschaft ab; aus den Rosenjungfrauen wurden anmutige Ballettmädchen; und für die mutigen Mavorstöchter galt, was Schiller der dichtenden Hand des Ibykus nachrühmt: ‚Sie hat der Leier zarte Saiten, doch nie des Bogens Kraft gespannt’. Immerhin, es gab einige Amazonen, die hoch über Menschliches hinausragten. Und es gab vor allem ausgezeichnete Sprecher. Dieses Drama, das zur Hälfte von Berichten lebt, verlangt Sprecher. Die Kunst, Menschen zu verkörpern, ist hier in den Nebenrollen fast mehr der Lunge als der Seele anvertraut. Nicht so in den beiden Hauptrollen. Penthesilea war im Schauspielhaus Frau Poppe, Achill Herr Stägemann. Beide blieben den äußeren Erfordernissen kaum etwas schuldig. Wenn sie das Seelische nicht bis auf den letzten Grund erschöpften, so muß man ihnen vielleicht zugute halten, daß sie zur Mäßigung verurteilt waren, daß hinter ihnen nicht der Wille eines Regisseurs stand, der sie zum Äußersten stachelte. – Im Deutschen Theater war Frau Eysoldt die prädestinierte Vertreterin der Penthesilea. Wäre Kleists Heldin allein mit dem Rhythmus der Rede zu bezwingen, dann hätte Frau Eysoldt sie restlos bewältigt. Aber sie hat in jedem Augenblick ihre Erscheinung gegen sich. So wenig wie sie über ihren eigenen Schatten zu springen vermag, kann sie uns vergessen lassen, daß ihr das Leibesmaß fehlt. Ich habe schon oft den Grundsatz verfochten und halte daran fest, daß uns ein Künstler nur dann völlig überzeugt, wenn die körperlichen Bedingungen seiner Rolle erfüllt sind; sonst hinterläßt das meisterlichste Spiel immer einen Vorwurf gegen die Natur. Etwas näher kam dem Ideal Moissi als Achill. Er hatte wohl den Glanz der Stimme und die frische Jugendkraft für den Peliden, aber das furchtbare Reckentum des Gewaltigen war merklich zusammengeschrumpft. Einer hat gelebt, der hätte uns den Achill für alle Zeiten vor die Sinne und die Seele stellen können: Matkowsky. – Und so wird Kleists herrliches Gedicht auf der Bühne stets ein Danaergeschenk bleiben, so lange nicht ein gnädiges Geschick einmal in einer Feiertagslaune zwei Künstler zeugt und zusammenbringt, die – noch geboren werden müssen.“

Berliner Theater. NZZ, 4. Oktober 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 275.
Robert de Flers u. Gaston Arman de Caillavet, Papa (Kleines Theater, 28.09.11). – „Papa von de Flers und Caillavet wird in der Erinnerung haften als das Lustspiel, in dem der Sohn dem Vater die Braut abtritt. Ein Zwanzigjähriger einem Fünfziger. Erschwerender Umstand: der Fünfziger hat kurz zuvor erklärt, er sei nun endgültig und absolut mit den Frauen fertig ... – Anfänglich war der Alte gegen diese Heirat des Jungen, weil sie ihm nicht standesgemäß erschien. Nach zwei Jahrzehnten hat er sich auf seinen unehelichen Sprößling besonnen (die Rolle des Vaters konnte, nach französischer Auffassung, erst beginnen, nachdem die Rolle des Lebemanns ausgespielt war). Nun holt er das Versäumte mit Eilzuggeschwindigkeit nach: er adoptiert seinen Sohn, befördert ihn zum Vicomte und will auch geistig einen vollendeten Aristokraten aus ihm machen, wozu er das Kapitel Weiber gründlich kennen lernen muß. Doch da stößt der Graf auf Widerstand: der Jüngling liebt eine kleine Rumänin und denkt sie zu heiraten. Der Vater schnaubt; dieses Mädchen, die Tochter eines Industrieritters, der mit knapper Not am Gefängnis vorbeigeschlüpft ist – nimmermehr. Noblesse oblige. Der Sohn reist verärgert ab; die Braut kommt verschüchtert an. (Übrigens so unmotiviert wie möglich.) Sie kommt, wird gesehen und siegt. Der alte Schwerenöter ist enchantiert. Er zieht zu seinem Sohn aufs Land, nur um in der Nähe der künftigen Schwiegertochter zu sein. Das junge Paar steht unmittelbar vor der Hochzeit. Aber die Empfindungen der leichtlebigen jungen Dame schwenken allmählich vom Sohn zum Vater ab, von dem Stoffel zu dem Diplomaten, von dem Kartoffelbauer zu dem Großstadtmenschen. Der Sohn, der diese Gefühlsverwirrung durchschaut, überdies sein Glück an der Seite einer Landpomeranze zu finden hofft, erteilt gnädig seinen Segen. – Ein Wiederfinden zwischen Vater und Sohn; ein sich Finden zwischen Vater und Schwiegertochter. Das erste Thema füllt zwei Akte, das zweite einen. Am Schluß des zweiten Aktes, wenn die Prinzipien des Alten durch die bloße Erscheinung des liebreizenden weiblichen Wesens über den Haufen gerannt werden, denkt man: nun ist die Geschichte aus; der Papa sagt Ja und Amen zu der Verbindung seines Kindes; die jungen Leute können sich mit väterlichem Segen trauen lassen. Da tauchen die gallischen Hexenmeister in das Buch der Psychologie der Liebe ein. Sie beginnen ein zweites Stück, das rein lustspielhaft an der Oberfläche bleibt. Wie Vater und Tochter aneinander Gefallen finden; wie er sie mit Aufmerksamkeiten überschüttet; wie er ihrer Eitelkeit schmeichelt; wie er ihre Eifersucht weckt: es hätte wohl gelohnt, den ergiebigen Stoff des Mannes von fünfzig Jahren etwas gründlicher zu behandeln. – Eine laxere Arbeit der Komödienfirma. Doch selbst ihre billigen Artikel haben noch einen gewissen weltmännischen Zuschnitt, der dem deutschen Lustspiel leider nicht erreichbar scheint. Technisch ist nicht alles so einwandfrei geraten wie sonst. So muß der Vater 840 Kilometer zurücklegen, um zu seinem Sohn zu gelangen, gleich darauf aber wieder umkehren, lediglich damit ein andrer Schauplatz gewonnen wird. Und dergleichen. Natürlich hat die Hauptfigur des alternden Adligen ein ausgesprochenes Pariser Klima. Herr Schönfeld versetzte uns statt dessen in die Luft Blumenthalscher Bonvivants. Dagegen reift in dem jungen Frl. Brandt eine entschiedene Begabung heran für das, was man früher das Salonfach nannte. Sie hat noch gar nichts von der Selbstgefälligkeit der Virtuosin, ist aber – eine seltene Mischung hierzulande – Mädchen und Dame zugleich.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Oktober 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 277.
Max Dauthendey, Die Spielereien einer Kaiserin (Theater in der Königgrätzer Str., 30.09.11). – „Münchner Berichten zufolge war ein Wunder geschehen: der Lyriker Max Dauthendey hatte sich als Dramatiker großen Stils entpuppt, seine sechs Akte Die Spielereien einer Kaiserin sollen die Menge und die Elite gleichermaßen entzückt haben [Erstaufführung am 15.05.11 am Schauspielhaus München]. Da kam Berlin, das böse, verlästerte und doch so heiß begehrte Berlin, das seine Widersacher nicht als höchste Instanz in künstlerischen Dingen hat gelten lassen wollen, dessen Unbestechlichkeit sie aber gelten lassen müssen, und das Wunder löste sich in Verwunderung auf über die Münchner Leichtgläubigkeit. (Hier wie dort trat dieselbe Darstellerin auf und für den Dichter ein [Tilla Durieux], so daß seine Chancen an der Spree nicht ungünstiger waren als an der Isar; eher günstiger, sofern sein Werk als Eröffnungsvorstellung des Theaters in der Königgrätzer Straße, des frühern Hebbel-Theaters, das die Direktoren Meinhard und Bernauer vom Berliner Theater jetzt übernommen haben, mit allem nötigen Kulissenzauber gegeben wurde.) – Schon die Überschriften, die Dauthendey seinen sechs Akten, richtiger: Bildern, in Kolportagemanier vorgesetzt hat – das Dragonerweib, das Frühstück, der Schmuckkasten, das Taschentuch, die Witwenhaube, am Kaiserinnenbett –, schon diese Überschriften hätten den Münchner Kritikern zeigen können, daß dieser Dramatiker als Neu-Ruppiner auf den Plan tritt. Statt logischer und psychologischer Entwicklung gibt er beliebig aneinander gereihte Episoden aus dem Leben der russischen Herrscherin Katharina, welche als Dragonerweib anfing und im Kaiserinnenbett endete. Der Faden, der diese Bilder zusammenhält, ist Katharinas Liebe zu Menschikow. Er hätte ebenso gut ein Vierteldutzend Bilder weniger und ein halbes Dutzend mehr tragen können. Nur die Willkür des Dichters, nicht der Zwang der dramatischen Geschehnisse bestimmte die Sechszahl. Und es gehörte die holde Bühnenfremdheit eines verträumten deutschen Lyrikers dazu, sechs Bilder ohne Einschnitt, ohne Steigerung, ohne Abwechslung vorüberziehen zu lassen. Jedesmal steht die liebebedürftige Katharina zwischen zwei Männern; doch in allen Launen des Schicksals und des weiblichen Herzens bewahrt sie dem einen Menschikow ihre große Liebe. Dauthendey hatte den sichtlichen Ehrgeiz, eine Paraderolle zu schreiben; aber die historische Figur, deren mannigfache Facetten doch etwas mehr als eine Kommandeuse der Liebe spiegeln, schrumpfte ihm zu einer Madame sans gêne ohne Drolerie ein (dafür mit Wutki [Wodka]), und seine mangelnde Vertrautheit mit dem Theater schuf trotz theatralischer Gebärde nur eine Paraderolle der Monotonie. Katharina paradiert nicht mit der Fülle ihrer seelischen Regungen, sondern ihrer Kleider. Sechs Bilder und acht verschiedene Toiletten – jeder Virtuosin muß das Herz im Leibe hüpfen; kann sie nicht schauspielern, so kann sie sich doch zur Schau stellen. – Was uns mehr in Erstaunen setzte als die Sardou-Mache ohne Sardous Meisterschaft, war die Belanglosigkeit der Sprache. Wie Röhrenwasser laufen die Verse, ein Jambenteich, auf dem keine stolzen Schwäne ziehen, höchstens einmal ein unscheinbares Entlein. Immerhin, zwei Zeilen machten aufhorchen: ‚Wie muß man schreien in diese taube Welt, daß man verstanden wird von einem einzigen!’ – Sie waren offenbar für die Darstellung maßgebend. Es wurde viel zu laut agiert. Auch von Tilla Durieux, die uns sonst durch das Piano ihrer künstlerischen Mäßigung erfreut hatte. An der neuen Stätte ihres Wirkens tobte sie ihre Stargelüste aus, fühlte sich beständig im Mittelpunkt und hielt sich, eine sprechende Primadonna, mit Vorliebe an der Rampe auf. Sie dachte wohl, eine Bombenrolle müsse vor allem das Ohr angreifen, das es ihr versagt war, zu ergreifen.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Oktober 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 282.
Wilhelm von Scholz, Vertauschte Seelen oder Die Komödie der Auferstehungen (Kammerspiele, 05.10.11). – „,Berlin hat für diesen Karnevalsulk sicherlich kein Verständnis’, urteilten lächelnd die Auguren im Reiche, als Wilhelm v. Scholz dort, unter spanischem Deckmantel, seine Groteske Vertauschte Seelen oder Die Komödie der Auferstehungen spielen ließ [Erstaufführung am 22.01.10 am Stadttheater Köln]. – Warum soll Berlin für diesen Karnevalsulk kein Verständnis haben? Weil er eben nicht genug Karnevalsulk ist. Aus keinem andern Grunde. Weil er sich forciert lustig gibt, ohne es im Herzen zu sein. Weil auf der Bühne Purzelbäume geschlagen werden, während der (unbefangene) Zuschauer tiefer in den allzu bequemen Sessel des Kammerspielhauses sinkt. Weil nur auf dem Brettergerüst Seelen und Körper durcheinander gewirbelt werden, während die Seele des (unbefangenen) Zuschauers nicht aus ihrem Sommer-Avalun in den Bann der Dichtung gezogen, sein Zwerchfell leider gar nicht erschüttert wird. Man müßte wiehern, und man lächelt kaum. Das ist die Signatur. Ein Karnevalsulk, der viel mehr Ulk als Karneval im dickflüssigen Blute hat. – Mit mehr Behagen als Überschuß an Phantasie wird ein Seelenwanderungsspaß ausgemünzt. Irgendwer kennt das Geheimnis und verrät die Zauberformel, in den Leib eines Abgeschiedenen zu fahren. Man braucht nur einen Spruch aufzusagen oder eine Hokuspokus-Geste zu machen: gleich fällt man selbst tot um, und der Leichnam steht auf und wandelt. Die Voraussetzung nehmen wir bedingungslos hin, da wir uns in einem orientalischen Märchenlande, dem asiatischen Königreich Mousel befinden. Aber diese Voraussetzung ist so schön, birgt so reiche poetische Möglichkeiten, daß wir mehr als einen körperlichen Auferstehungsscherz von ihr erwarten. Wie, wenn der Leichnam zu reden anfinge? Wenn er seine Erfahrungen in jenem ungekannten Lande ausplauderte? Die Haare könnten uns zu Berge stehen. Die bloße Möglichkeit läßt uns schaudern; nichts davon enthüllt sich, erfüllt sich. Sondern die Seele des Königs schlüpft in den Leib des Bettlers, die Seele des Bettlers in den Leib des Königs. Gleich nimmt der Bettler (nach der Transfiguration) eine hoheitsvolle Haltung an; gleich beginnt der König (nach der Metamorphose) sich zu kratzen. Und in der Gestalt des Bettlers betrügt sich der König mit sich selbst. Eine reizvolle Situation, ohne daß seelisch etwas von Wert, von Gewicht, von Gewinn herausspränge. – Innerhalb seiner, etwas äußerlichen, Grenzen wird der Grundgedanke von Scholzens Auferstehungskomödie mit Bravour behandelt; aber er strebt nicht über diese Grenzen hinaus. Man sieht einen Virtuosen auf einer Saite geigen und fragt sich: warum benützt er die drei andern nicht? Die Phantasie des Dichters macht sozusagen beim Leiblichen Halt. Und selbst da ließen sich leicht noch komischere Wirkungen ausdenken. Wie wäre es, wenn ein Mann in den Leib einer Frau, ein Kind in den eines Greises kröche? Könnten da nicht letzte Dinge zur Sprache kommen? Immerhin, die eine Szene, in der ein Sklave zum Zwecke der Entmannung von seinem geldgierigen Herrn dem Arzte ausgehändigt wird, geht beherzt bis an die Grenze des Darstellbaren, und die bloße Eventualität machte gewiß die Zensur schaudern. – Daß der tiefsinnig veranlagte Wilhelm v. Scholz seinen grotesken Totentanz oder die Schnurre der lebendigen Leichname nicht mit philosophischen Erörterungen beschwert und vor mystischen Auslegungen bewahrt hat, muß ihm als Verdienst angerechnet werden. Er hat nichts hineingeheimnißt; aber wir hätten vielleicht etwas mehr herauslesen dürfen als einen ‚Karnevalsulk’ (ohne Karneval). Zwei Stunden lang sieht man ein übermütiges Spiel der Phantasie, ohne es innerlich recht mitzumachen, und hat es leider am nächsten Morgen völlig vergessen. Ich glaube, es brauchte nicht so zu sein. – Die Aufführung der Kammerspiele (unter Leitung Herrn v. Wintersteins) tat vollauf ihre Schuldigkeit: sie war im Dekorativen mindestens ebenso stark wie im Schauspielerischen. Der Schatten von [Friedrich Freskas] Sumurûn [Premiere am 24.04.10 in den Kammerspielen] ging um.“

Berliner Theater. NZZ, 12. Oktober 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 283.
Korfiz Holm, Hundstage (Theater in der Königgrätzer Str., 07.10.11). – „Für alle Zeiten scheint das deutsche Lustspiel dem Spießer zu gehören. Auch Korfiz Holm, der dem Kreise der Simplicissimus-Leute nahe steht (allerdings, ein Roman von ihm wird eben in der Woche abgedruckt), lenkt sein Schifflein in den Hafen des Philisteriums. ‚Du wirst doch keinen Kitsch machen’, läßt er einem Maler zurufen; ‚wenn das so leicht wäre!’ erwidert der. Es ist leicht, wenn man das Zeug zum Kitschier hat. Genau so, wie in jedem Menschen der Philister schlummert, steckt in jedem Künstler der Kitschier. Ecrasez l’infâme. – Hundstage nennt Holm sein dreiaktiges Lustspiel. Damit meint er die kritische Zeit im Leben des Ehemannes, wenn er für jede andere Frau mehr übrig hat als für seine eigene. Der Temperatur nach verdienten diese Hundstage freilich Altweibersommer zu heißen. Spinnfäden hängen in der Luft; Kinder und Greise sonnen sich noch einmal, eh’ es in den Winter geht; der Jüngling blickt jeder Schürze nach; die grämlichste alte Jungfer kann nichts am Wetter auszusetzen haben. – Drei befreundete Ehepaare verbringen den Sommer gemeinschaftlich in einer Villa am Fuße der bayrischen Alpen. Die Männer sind Künstler: ein Maler, der auch schreibt, ein Schriftsteller, der auch malt, und ein Lyriker, der nichts als Verse macht. Sie liebeln frisch, fromm, fröhlich, frei mit den Frauen ihrer Freunde. Der Dichter küßt die Frau des Schriftstellers, der Schriftsteller macht der Frau des Malers den Hof. Ganz harmlos; so ungefährlich, daß ein Kötzschenbrodaer Pensionsgänschen nichts Unrechtes dabei finden könnte. Da tritt in diesen harmonischen Kreis eine geschiedene Frau. Eine Berlinerin unter die Süddeutschen. Ein Malweib. Sehr reich ist sie auch – ihr Vater heißt Westenberg, wird auf 14-16 Millionen geschätzt, hat ein Palais an der Wilhelmstraße, und das Palais hat einen Stern im Baedeker. (Den Münchnern mag man so unwahrscheinliche Dinge vorerzählen; in Berlin wirkten sie einigermaßen komisch.) Diese geschiedene Frau Eva bringt einen Hauch von Handlung in das stagnierende Wässerlein des Lustspiels. Der Schriftsteller will sich sogleich scheiden lassen, weil er es auf ihr Geld abgesehen hat; dann käme es ihm nicht darauf an, seiner Frau eine fürstliche Rente auszusetzen. Aber scharfäugig, gewitzigt, eine Menschenkennerin, wie die Berlinerin nun einmal ist, durchschaut sie seine gewinnsüchtigen Absichten, redet ihm vor, ihr Herr Papa, der im Begriffe stehe, seine Köchin zu heiraten, habe sie enterbt, und im Nu zieht sich der ernüchterte Bewerber zurück. (Der alte L’Arronge hätte dieses Motiv nicht ohne Gewissensbedenken benutzt.) Daraufhin attachiert sich Madame Eva Türck an ihren Lehrer, den Maler. Sie werden mitten im schönsten Flirt erwischt. Die gekränkte Gattin will das Feld räumen, ist auf der Stelle bereit, zu ihren Kindern heimzufahren. Sie will dem Glück der Liebenden nicht im Wege stehen. Die tapfere Seele! Ward so viel Edelmut je erlebt? Aber in demselben Augenblick, wo die Hindernisse beseitigt sind, wo das Paradies der Heirat winkt, verliert die Geschichte ihren Reiz für den Künstler. Aus ist’s. Reumütig kehrt er in die offenen Arme der Gattin zurück. Er schwenkt die Handtasche – sie ist leer. Die schlaue Beschützerin des häuslichen Herdes hat ihm nur etwas vorgemimt. (Der alte L’Arronge hätte sich geschämt, dieses Motiv zu benutzen.) Und so findet sich jedes Deckelchen zu seinem Töpfchen. Es lebe die Ehe! – Doch über den Lyriker wäre noch ein Wort zu sagen. Er verfaßt ein Gedicht, in dem die Zeile vorkommt: ‚Um deinen Mund ein Traum von Grausamkeit’, erhält von seinem Verleger einen Vorschuß von dreitausend Mark, steckt die Banknoten in den Strumpf, um sie nicht zu verlieren, und verhilft damit dem Autor zu einem höchst läppischen Aktschluß alter Schablone. – Alte Schablone – das ist die Schutzmarke dieses Lustspiels. Die kümmerliche Handlung zehrt von zwei abgenagten Knöchelchen. An den Personen wird man schwerlich eine eigene Physiognomie oder auch nur ein scharfes Profil feststellen können; es sind liebe alte Bekannte, aber mehr alt als lieb. Der Dialog ist leichter und beweglicher, als wir es im schwerfälligen deutschen Lustspiel gewohnt sind. Er prunkt nicht mit Geistreichigkeit, hat dafür gelegentlich ganz witzige Bemerkungen, die das hausbackene, philiströse Loblied der Ehe über Wasser halten. Das ganze ist ein Leckerbissen für Hofbühnen. Keine Prinzessin wird entrüstet die Loge verlassen, kein Töchterpensionat Schaden an seiner strengen Zucht nehmen. – Im Theater in der Königgrätzer Straße glaubte man offenbar, vor einem Publikum von Prinzessinnen und Prinzessinnenverehrerinnen zu spielen: für den beschränkten Untertanenverstand hätte man dreist etwas weniger zu unterstreichen brauchen. Den Erfolg hätte das kaum vermehrt.“

Berliner Theater. NZZ, 16. Oktober 1911, Erstes Abendblatt, Nr. 287.
Arthur Schnitzler, Das weite Land (Lessing-Theater, 14.10.11). – „Arthur Schnitzlers fünfaktige Tragikomödie Das weite Land brachte es im Berliner Lessing-Theater kaum über einen Achtungserfolg hinaus. Das Werk zeigt recht umständlich, wie komplizierte Geschöpfe die Menschen sind, wenn sie lieben. Vielerlei Regungen haben nebeneinander in ihrer Seele Platz, denn die Seele des Menschen ist ein weites Land. Daher der Titel, den nur die Verlegenheit geboren haben kann. Das auf dunklem Untergrund heitere Hin und Her der Liebesirrungen spitzt sich erst im vierten Akt tragisch zu: ein Mann, der der Treulosigkeit seiner Frau nicht allzuviel Gewicht beizulegen scheint, weil er selbst beständig treulos ist, fordert, sobald sie den Treubruch wirklich vollzogen hat, einen jungen Marine-Offizier zum Duell und tötet ihn. Ihm selbst scheint diese trübe Erfahrung eine Art moralischen Zusammenbruchs zu bereiten, und er sucht offenbar Trost in der Liebe zu seinem Sohn. Mancherlei Themen aus Schnitzlers früheren Werken klingen an; aber sie sind nicht eben erfreulich weiter entwickelt. Im einzelnen fehlt es natürlich nicht an Schönheiten, von denen noch die Rede sein soll. [Vgl. MMs ausführliche Besprechung in der NZZ vom 25.10.11, Nr. 296] – Die Aufführung des Lessing-Theaters war mustergültig. Herr Monnard und Frau Triesch standen im Vordergrund, ihnen ebenbürtig zur Seite Hilde Herterich, die mit jeder Rolle wächst und uns mehr ans Herz wächst.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Oktober 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 289.
Aeschylos, Die Orestie (Zirkus Schumann, 13.10.11). – „Unbedingt, der äußere Erfolg der Orestie, die Reinhardt als zweites Werk für den Zirkus ausersah, war mindestens so stark wie der des Ödipus [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 13.11.10, Nr. 314]. Er schien hier weit stärker als in München [am 31.08.11]. Dort litt man, Zeitungsberichten zufolge, unter der Dauer des Gebotenen und vermochte für den letzten Teil der Trilogie weder die nötige Aufmerksamkeit noch die einem modernen Publikum unerschwingliche Teilnahme aufzubringen. Hier hatte man klugerweise, obwohl eine solche Zerreißung künstlerisch angefochten werden mag, auf eine Darstellung der Eumeniden vorläufig verzichtet (sie soll später hinzugefügt werden). Dadurch ergab sich als Schlußakkord nicht das religiöse, sondern ein rein menschliches Moment: der von den Gewissensbissen verfolgte Muttermörder. – Niemand wird den äußeren Erfolg leugnen können. Tausende riefen nach dem ideenreichen Leiter der Vorstellung. Gerade jetzt, wo der Direktor des Deutschen Theaters seinen Rücktritt ernsthaft erwog, wo er Berlin grollend den Rücken kehren und als Virtuose der Regiekunst in die weite Welt hinausziehen will, wo er über die Schikanen der Polizei, die auch diese Zirkus-Aufführung bis zuletzt in Frage stellte, bittere Klagen führt – gerade jetzt ist eine solche Huldigung Max Reinhardt von Herzen zu gönnen. Vielleicht hat er aus dem Jubelschrei der Menge die Bitte Berlins herausgehört: ‚Max, bleibe bei mir. Geh nicht von mir, Max!’ Aber wenn Tausende nach dem Regisseur riefen, so riefen Zehntausende nach seinem Protagonisten Alexander Moissi. Er ließ als Orest den alten Aeschylos, das Griechentum und die Chöre, den modernen Zirkus, das Unisono-Sprechen und den aufdringlichen Scheinwerfer vergessen und erinnerte an Kainz in seiner besten Zeit. Mit eindringlicher Gewalt, die nie den Wohlklang der Rede schmälerte, zeichnete er ein erschütterndes Bild des aufsteigenden Wahnsinns. Wie der Muttermörder sich gegen die ihn von allen Seiten bedräuenden Schatten wehrt; wie er die finstern Gedanken aus seinem Hirn reißen will; wie er um sich selbst herumwirbelt, von der Freude über seine Tat geblendet; wie er sich in dem Purpurmantel verfängt; wie er, von der Angst gehetzt, scheu herumtastet: Orest war zu einem Halbbruder Oswald Alvings [in Ibsens Gespenster] geworden. Das rein Schauspielerische hatte gesiegt, wie es immer – ob im Theater oder im Zirkus, ob in Berlin oder in Zürich – siegen wird. – Tatsächlich ging der einzige unverlierbare Augenblick des Abends, mag der Regisseur es auch so angeordnet haben, von dem Darsteller aus: in wildem Lauf rast Orest die steile Treppe des Königspalastes hinab und stürzt mit gezücktem Beil auf seine Mutter Klytämnestra los. Unauslöschlich wird sich das dem Gedächtnis einprägen: ein Symbol für das grauenvolle Geschick des Atridenhauses. Mit einem Zauberschlag waren alle Hörer im Banne der furchtbaren Dichtung. Von da an bis zum Schluß gab es kein Entrinnen mehr. Moissi hielt die Zügel fest in der Hand, und sein Wehruf ‚Apollon!’ durchschauerte uns mehr, als es die schließliche Entsühnung des Mörders durch Maschinengötter vermocht hätte. – Bis dahin war man den Vorgängen mit geteilten Empfindungen, aber ohne rechte innere Teilnahme gefolgt. Man sah zu vielerlei; vieles, was höchstens ein Kuriositätsinteresse erregte, vieles, was willkürlich anmutete, statt künstlerisch zu überzeugen. Auch manches, was unnötig ablenkte. Wenn Agamemnon von vier prächtigen Rossen hereingezogen wird, so stellt sich ein stattliches Zirkusbild neben das imponierende Bild von dem Eroberer Trojas (zumal in Herrn Diegelmanns Verkörperung, den der Schlafrock besser kleidet als der Waffenrock). Wenn endlich die Pferde aus der Manege geführt werden, bleibt ein Wagen zurück, der als Sportwagen eher zu gebrauchen scheint, denn in der männermordenden Feldschlacht. Auf ihm wird die unheilbrütende Kassandra sichtbar, d.h. man sieht einstweilen nur einen menschlichen Rumpf. Wo hat sie nur ihren Kopf versteckt? denkt man die ganze Zeit, während Klytämnestra die Seherin mit rauhen Worten anfährt. (Übrigens büßt die Szene an Wirkung ein, weil die Gegnerinnen viel zu weit von einander entfernt sind. Die Dimensionen des Zirkus – dieser Einsicht sollte man sich nicht hartnäckig verschließen – sind eben durchaus nicht immer ein Segen.) Endlich zeigt sich Kassandra, und sofort zeigt sich der leichte Wagen rebellisch. Wird er nun kippen oder nicht? denkt man die ganze Zeit, wenn die Ärmste ihre leidenschaftlichen Klagen äußert. (Frl. Mary Dietrich, eine neue Errungenschaft des Deutschen Theaters, hatte mehr das Jähe als das Visionäre; für mein Gefühl war sie zu wach, nicht verzückt genug, nicht Opfer genug – immerhin eine respektable Leistung.) – So wollte sich im ersten Teil keine rechte Stimmung einstellen. Glaubte man endlich, nun müsse die Dichtung ihre unerbittlichen Rechte geltend machen, so fiel der Blick auf den Mann, der den Scheinwerfer bedient, und dieser Blick hinter die Kulissen sozusagen, trotzdem keine Kulissen vorhanden sind, hat sicher nichts Illusionsförderndes. Das elektrische Licht wird allzu oft als Stimulans der Stimmung benutzt. Warum läßt übrigens Reinhardt den Muttermord bei leichenfahlem grünem Licht ausführen? Um das Schaurige des Vorgangs zu erhöhen; aber Orest spricht doch von dem Sonnengott, der die Freveltat mit ansieht. Was tut’s? Der malerische Effekt ist für den Regisseur entscheidend, ist seine Stimmgabel. So läßt er gleich zu Beginn, nachdem der Wächter den Fall Ilions in trunkener Freude verkündet hat (dieser Auftakt verpuffte), die Geronten gemessenen Schritts hereinmarschieren; nichts von einer Erregung über die nahe Heimkehr ihrer Söhne ist ihnen anzumerken, sondern sie nehmen feierlich in der Orchestra Platz wie Stadtverordnete, die sich zu einem Festmahl zusammenfinden. Um so stürmischer gebärden sich nachher die halb- oder dreiviertelnackten Jünglinge. Prachtvoll, wie sie als Teppich-Karyatiden hoch oben an der Pforte des Palastes stehn! Aber das alles sind Ausschmückungen von Regisseurs Gnaden, die von der zyklopischen Wucht des Gedichts ablenken. Wenn es wirklich das Bestreben war, wie uns die Dramaturgen-Thaumaturgen versichern, den Aeschylos ‚chaotisch-barbarisch’ zu geben, so scheinen uns solche malerischen Züge mehr eine Anleihe bei der Phidias-Zeit. Und wenn jetzt mit Nachdruck der Satz verkündet wird, das Theater gehöre dem Theater, so behaupten wir nicht minder trivial: der Zirkus gehört dem Zirkus.“

Kleine Chronik. NZZ, 20. Oktober 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 291.
Hermann Sudermann, Der Bettler von Syrakus (Kgl. Schauspielhaus, 19.10.11). – „Hermann Sudermanns Tragödie Der Bettler von Syrakus wurde am Königlichen Schauspielhaus achtungsvoll, doch mit kühler Teilnahme aufgenommen.“ – Siehe auch MMs ausführliche Besprechung in der NZZ vom 27.10.11, Nr. 298.

Berliner Theater. NZZ, 20. Oktober 1911, Zweites Abendblatt, Nr. 291.
Arno Holz u. Oskar Jerschke, Büxl (Neues Schauspielhaus, 11.10.11). – „So gut sie anfing, so mittelmäßig entwickelte sich und so schlimm endete die Komödie Büxl von Arno Holz und Oskar Jerschke. Das Publikum, vom ersten Akt erwärmt, ließ sich die gute Laune nicht wesentlich verderben und bereitete dem ungleichen Stück der Verfasser des Traumulus die freundlichste Aufnahme im Neuen Schauspielhaus. – Aloys Büxl ist ein elsässischer Naturbursch, der wegen Ermordung seines Unteroffiziers, eines Scheusals in Menschengestalt, zum Tode verurteilt wurde. Schon tritt der Staatsanwalt mit dem ganzen Anstand, den er hatte, in die Zelle des armen Sünders und teilt ihm mit, daß sein Gnadengesuch abschlägig beschieden wurde. Morgen früh ist’s um ihn geschehen. Büxl knirscht vor Wut. Nur fünf Tage Aufschub, dann hätte er die Stäbe seines Fensters durchsägt und wäre ausgebrochen. Nun ist die Henkersmahlzeit bereits aufgetragen (in einer generösen Anwandlung hat der Staatsanwalt sogar eine Flasche französischen Sekts spendiert); noch eine Bitte steht dem Delinquenten frei. Sein Mädel will er sehn; mehr: küssen, herzen, lieben. Doch der Vertreter der Behörde macht ihn darauf aufmerksam, daß diese Begegnung sich in den Grenzen des Schicklichen zu halten habe. – (Man denkt einen Augenblick nach. Warum wird dem zum Tode Verurteilten, der einen letzten Wunsch äußern darf, der Liebesgenuß verweigert? Der Staat kuppelt nicht. Kann sich nicht der Vergehen schuldig machen, die er bestraft. Wirklich nicht? Das ärgste Verbrechen, die Ermordung eines Menschen, zahlt er doch mit gleicher Münze heim. Einerlei. Es geht nicht aus Gründen des Anstands. Man könnte sich immerhin einen so sublimierten, für alles Menschliche verständnisvollen Staat vorstellen, der in zwölfter Stunde die Augen zudrückte und diese Humanität übte. Schade, daß wir keine statistischen Erhebungen darüber haben und schwerlich jemals haben werden, wie viele morituri, deren stärkstes Lustgefühl in wenigen Stunden zur Neige geht, als letzte Vergünstigung das zweitstärkste Lustgefühl noch einmal auskosten möchten. Und selbst wenn es einen humanen Staat gäbe, der den letzten Wunsch ohne jede Einschränkung zu erfüllen bereit wäre – man könnte sich vielleicht einen noch humaneren denken, der aus Humanität, nicht aus Gründen der Sittlichkeit dagegen wäre, um dem zähneklappernden, schlotternden Todeskandidaten so kurz vor dem Ende eine schwere Enttäuschung zu ersparen.) – Unser Freund Büxl sieht also ein, daß ihm das Fallbeil schon im Nacken sitzt. Es bedarf seiner ganzen Gerissenheit, einen Aufschub der Hinrichtung zu erwirken. Er schreit nach seinem Verteidiger, dem nicht minder gerissenen Dr. Oppenheimer. Die Todesstunde macht erfinderisch: plötzlich führt er neue Zeugen an und trägt eine so plausible Geschichte vor, daß sein Rechtsanwalt sofort alle modernen Hilfsmittel in Bewegung setzt. Zeit gewonnen, alles gewonnen – denkt der verschlagene Büxl. – Und wirklich, im nächsten Akt hat er die goldene Freiheit wiedergewonnen. Er haust hoch oben in dem Lustschloß eines windigen Prinzen, der ein großer Nimrod vor dem Herrn ist. Büxl trotzt in seiner uneinnehmbaren Feste der Staatsgewalt und hat die Lacher auf seiner Seite. Aus dem elsässischen Strafgefangenen ist eine europäische Berühmtheit geworden: ein jüngerer Vetter des Hauptmanns von Köpenick, der sein Fort Chabrol behauptet. Die Lage wird immer verzweifelter für die Behörde und das Militär, da der Desperado schießt; immer heikler für den Prinzen, da seine im Schloß aufgestapelten Liebesdokumente vom hohen Turm herniederflattern und in die Redaktion eines sozialdemokratischen Blattes fliegen. Büxl läßt nicht mit sich spaßen; er stellt seine dreisten Bedingungen. Mit keinem andern als mit dem Prinzen persönlich will er verhandeln. Dieser wagt sich in die Höhle des Löwen und findet einen Fuchs, der schleunigst in seinem Automobil davonsaust. – Im Zwischenakt, der ihn in rasendem Tempo über die Grenze bringt, arrangiert Büxl eine Autopanne, um ein Eisenbahnunglück zu verhüten, rettet auf diese Weise dem Präsidenten der französischen Republik das Leben und wacht in den Armen einer Pariser Kokotte auf. Wie ein Triumphator zieht der Monteur ein. Er wird mit Ehrungen überschüttet, mit Geschenken und Heiratsanträgen überhäuft. In seinen luxuriösen Gemächern geruht er, den deutschen Staatsanwalt zu empfangen, bewirtet ihn mit Burgunder, wagt es sogar, ihm das traute Du anzubieten; nur auf die Herausgabe der kompromittierenden Liebesbriefe will er sich nicht einlassen. Der Prinz selbst soll kommen. Bis dahin unterzeichnet er noch rasch einen Vertrag mit dem Verleger Calman Lévy, der ihm für die Niederschrift seiner Memoiren fünfzigtausend Franken bietet. Immer unverschämter und aufgeblasener wird der Bursche, der kühn genug ist, sich mit dem Korsen zu vergleichen. Der Bürgermeister von Paris dekoriert ihn mit dem Kreuz der Ehrenlegion, die vor dem Hotel versammelte Menge brüllt Hurra, und das Ganze ist eine so groteske Anhäufung von Ungereimtheiten, daß wir längst alle Sympathie für den aus den Angeln gehobenen Büxl verloren haben. Hoffentlich bleibt er in Frankreich und erwirbt sein Schloß in der Champagne, das ihm einst ein Zigeunerweib gewahrsagt hat. – Es fing recht gut an. Der erste Akt mit seiner spannenden Situation fesselte von Anbeginn. Daneben Plänkeleien zwischen Staatsanwalt und Verteidiger, die gerade jetzt eine besonders dankbare Zuhörerschaft in Berlin fanden. Aber so gut die Herren Holz und Jerschke im Kriminellen und im Satirischen Bescheid wissen, so unbescheiden werden sie, wenn sie uns ohne Übergang in die Operette stoßen. Ihre Phantasie wird ausschweifend, und sie muten uns Dinge zu, die kompliziert sind, ohne irgendwie komisch zu sein. Das Pulver, das sie im Laufe ihrer drei Akte verschossen, wurde immer geräuschvoller und verfehlte immer mehr sein Ziel …. – Nicht einmal eine so gute Rolle wie der Traumulus bleibt übrig. Herr Salfner, der das gewitzte Kind des Volkes zuerst mit starkem Temperament spielte, konnte dem unangenehmen Patron des Schlußaktes die Volksgunst nicht erhalten.“

Das weite Land. Tragikomödie in 5 Akten von Arthur Schnitzler. (Uraufführung im Lessing-Theater am 14. Oktober). NZZ, 25. Oktober 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 296.
„,Warum ich meine Frau betrogen habe? … Sollt es Ihnen noch nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns –! Liebe und Trug … Treue und Treulosigkeit … Anbetung für die eine und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches … Das Natürliche ist das Chaos. Ja – mein guter Hofreiter, die Seele ist ein weites Land.’ So interpretiert Schnitzler Titel und Thema seines neuen Werkes. – Der Titel, einzig aus Verlegenheit geboren, deckt jede Sache. Er ist so allgemein gehalten, daß man sich fragt, auf welche menschlichen Beziehungen von tieferem Belang er nicht zutreffen könnte. Und gilt er nicht ebenso gut für den Schutzzoll oder die Mode oder das Schachspiel? Der Rahmen ist so weit gespannt, daß das verhältnismäßig kleine Bild, welches darin sitzt, keinen festen Halt hat. Es heißt: Irrlichtelieren der Liebe und ist auch in der Gattungsbezeichnung als Tragikomödie nicht glücklich. – Liebe und Trug, Treue und Treulosigkeit – sie sind unzertrennlich wie Licht und Schatten. Sie hausen dicht neben einander in der Seele des Menschen. Von allen Lebewesen ist er das komplizierteste; er ist am kompliziertesten, wenn er liebt. Es mußte einen Meister in der Enthüllung erotischer états d’âme wie Arthur Schnitzler reizen, diese Vielfältigkeit vor uns hinzustellen. Tatsächlich ist sie die Dominante seines ganzen künstlerischen Schaffens, das von jeher in dieser Tonart schwelgte. ‚Das Leben besteht ja noch aus allerlei anderm als aus Abenteuern einer gewissen Art’, läßt Schnitzler einen jungen Arzt sagen, den er vielleicht zum Sprachrohr seines eigenen Standpunktes ausersehen hat. Wenn man aber die gesamte Produktion des Wieners von der tragischen Liebelei bis zu diesen tragikomischen Liebeleien überblickt, würde man kaum auf den Gedanken verfallen, daß noch andres vorhanden ist. Es muß den Betrachter dieser sympathischen Dichterpersönlichkeit fast wehmütig stimmen, daß sie, die bald an der Schwelle der fünfzig angelangt ist, das Leben so einseitig sub specie Veneris sieht. Oder soll in den Worten des Arztes eine Selbstkritik liegen? Dann flösse aus demselben Geist die Bemerkung: ‚Wir vergessen immer wieder, daß es im Leben jeder Frau, auch wenn sie Liebhaber hat, eine Menge Stunden gibt, in denen sie an ganz andere Dinge zu denken hat, als an die Liebe.’ – Denn nichts andres als Abenteuer einer gewissen Art füllen Schnitzlers fünf Akte. Ein Reigen von Liebeleien, und der Weg ins Freie führt zum einsamen Weg. Das Leben, wie es sich hier spiegelt, mit Verzicht auf alle sozialen Perspektiven, das myriadenhafte Leben schrumpft zu einem halb frivolen, halb elegischen Spiel der Geschlechter zusammen. Wir hören wohl gelegentlich, daß der Fabrikant Hofreiter morgens ins Bureau fährt, daß er für ein neues Patent interessiert ist, daß er zu Geschäftszwecken eine Reise nach Amerika plant; aber was hat die Arbeit in dieser Phäakensiedlung zu suchen? Neben dem Sport der Liebe wird nur noch der Sport des Tennis mit Eifer betrieben, und er scheint uns für jenen bei weitem der geeignetste Nährboden. Allenfalls Bergsteigen ist noch erlaubt. – Man vermißt also durchaus das Leben mit seinen tausendfältigen Aspekten. Man vermißt sogar – was schwerer ins Gewicht fällt – das Leben in diesen ‚Herzensschlampereien’. Schnitzlers Geschöpfe scheinen dem Leben entfremdet, weil sie zu sehr Demonstrationsobjekte der Kunst, Schreibtisch-Homunculi geworden sind. Sie sollen zu viel beweisen. Sie erklären sich überdeutlich. Sie lassen sich zu willig von einem Meister des Schachspiels schieben. Statt auf dem Boden der Wirklichkeit zu gehen, balancieren sie auf dem psychologischen Drahtseil. Und gewisse Figuren haben nur den Zweck, den Hauptakteuren die Stange zu reichen, damit sie nicht (die literarische Luft macht leicht schwindlig) herunterpurzeln. – Die Hauptakteure sind der Fabrikant Hofreiter und seine Frau Genia. Das Stück fängt damit an, daß sich ein russischer Pianist erschießt. Wegen unerwiderter Liebe. Genia versagt sich dem Künstler – aus Reinlichkeitsgefühl, wie es ihr Mann zu nennen beliebt. Aber der Gedanke, daß die Tugend seiner Frau einen Menschen in den Tod getrieben hat, wird ihm unheimlich und treibt ihn von ihr fort zu neuen Abenteuern. Hat diese sophistische Auslegung wirklich noch einen Schimmer von Lebenswahrheit? Gibt es auf der weiten Welt einen Mann, der die Treue seiner Frau als Entschuldigung für die eigene Treulosigkeit, als einen Grund sie zu verlassen benützen könnte? Gibt es das in Gottes reichem Tierhaus? Existiert das nicht einzig in des Dichters engem Treibhaus? Dabei wird nicht einmal ganz klar, ob der Russe freiwillig Hand an sich gelegt hat. Wir sollen annehmen, daß er als Opfer eines amerikanischen Duells fiel, das ihm der Ehemann aufdrängte. Zu welchen Theatermitteln muß der feine Schnitzler greifen, wenn er sich auf dem psychologischen Seil produziert! – Wie durch das Erlebnis Frau Genias Lüste geweckt worden sind, brechen ihre Revanchegelüste hervor, als ihr Mann sich daraufhin von ihr abwendet. Sie gibt sich einem Marine-Fähnrich hin, der das Pech hat, von dem rechtzeitig heimkehrenden Gatten beobachtet zu werden, als er nachts aus dem Fenster ihres Schlafzimmers steigt. Sofort spielt Hofreiter den Verteidiger des häuslichen Herdes und fordert den Liebhaber seiner Frau zum Duell. Wirkt ein Duell in dieser Welt laxester Grundsätze, wo eben noch die Tugend der Frau als Grund zur Entfremdung galt, nicht einfach lächerlich? Ist es nicht die leerste Formsache? Ein Anachronismus? Ein Stilfehler? Aber es scheint zu Schnitzlers Inventar zu gehören wie die Liebelei; zu seinem Vorstellungskreis, wie ein Orden zu dem des Strebers. Nun erhält die Komödie, die bis dahin in einem amüsanten Dialog plätscherte, plötzlich ihre tragische Trübung. Der Fähnrich fällt im Zweikampf, und das gibt eine menschlich ergreifende Situation: wenn der Rächer seiner Ehre vom Duell heimkehrt und der ahnungslosen Mutter des Getöteten die Hand reicht. Dann hält er innere Einkehr, schüttelt beherzt eine jugendliche Geliebte ab, die ihm zu folgen bereit ist, und zieht in eine neue Welt hinaus. Wobei es unentschieden bleibt, ob die neue Welt für ihn Amerika ist oder sein Junge, der eben aus England zurückkommt. – Treulosigkeit trotz Liebe – das scheint Schnitzlers Problem. Hofreiter betet, so oft er seine Frau auch betrügt, sie im Grunde doch an; er sagt es ihr nur nicht. Zeigt es vielmehr durch die Tat: indem er jeden, der die Finger nach ihr ausstreckt, hinwegräumt. Aber sein Verhalten bleibt problematisch. Um es zu erklären – zu klären vermag er es nicht ganz – erfindet der Dichter ein andres Paar: da hat ein Mann seine Frau geliebt wie nie eine andere und sie doch betrogen; aber sie hat ihm das nicht verziehen, sondern sich von ihm losgesagt. Die höchste Liebe (das scheint die Nutzanwendung dieser kommentatorischen Episode) verzeiht eben nicht. – In Schnitzlers Schaffen stellt das neue Werk lediglich eine Phantasie über alte Themen dar. Seine Technik neigt, wie im Ruf des Lebens, etwas zum Theatercoupmäßigen. Dabei wird es nicht recht ersichtlich, ob er seiner Wiener Genußwelt einen Spiegel vorhalten, ob er ihr – trivial ausgedrückt – am warnenden Beispiel zeigen wollte, wie keiner, der die Treue bricht, glücklich endet, oder ob es ihn nur reizte, diese Menschen, die aus der Liebe ein verwegenes Spiel machen, zu gestalten. Unnötig zu sagen, daß ihm die Zeichnung der gefühlständlerischen Atmosphäre trefflich gelungen ist, daß der Duft seines graziösen, mit zynischen Kräutern gewürzten Dialogs wie immer bestrickt; aber der menschliche Ertrag dieser umfänglichen Komödie ist nicht groß – nicht groß genug für Arthur Schnitzler.“

Berliner Theater. NZZ, 27. Oktober 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 298.
Hermann Sudermann, Der Bettler von Syrakus (Kgl. Schauspielhaus, 19.10.11). – „Hermann Sudermann hat offenbar von den Schlußgesängen der Odyssee einen sehr starken Eindruck empfangen. Vielleicht schon auf der Schulbank, vielleicht erst jetzt bei erneuter Nachprüfung. Sicher witterte er darin, mit dem untrüglichen Instinkte des Theatervollbluts, die ungeheuren dramatischen Möglichkeiten, die er in seiner Tragödie Der Bettler von Syrakus zu verdichten strebte. – Zu verdichten? Unter fünf Akten und einem Vorspiel glaubt er seinen Stoff nicht bewältigen zu können. Aber was er an Handlung hinzuerfand, ist nicht durch leuchtende Klarheit ausgezeichnet (nein wirklich, klar ist dieses Vorspiel nicht, weder in den äußeren Geschehnissen noch in seiner mystischen Bedeutung); und was er von den Vorgängen des griechischen Epos übernahm, hat ein gewisser Homer mit ungleich größerer Fähigkeit, die Herzen zu rühren, vor etlichen tausend Jahren behandelt. – Das Vorspiel ist durchaus Sudermanns geistiges Eigentum. Lykon, ein syrakusanischer Feldherr, der im Kampf mit den Karthagern liegt, holt zum entscheidenden Streich aus: er will die Feinde in eine Felsenschlucht locken und zermalmen. Aber sein herrschsüchtiger Freund Arratos hat die List den Gegnern verraten. Lykon ahnt, daß der Plan mißlingen wird, und läßt sich seine schwarzen Vermutungen von einer Erscheinung bestätigen, die sich den häßlicheren Bruder des Todes nennt, weil sie die Lebenden in völlige Vergessenheit senkt. Zwar gewähren ihm die Götter den Sieg, um den er inbrünstig gefleht hat; aber er selbst, der Wunder der Tapferkeit verrichtet, fällt in die Hände der Karthager, wird von ihnen geblendet und ins Gefängnis geworfen. (Kleine Zwischenfrage: warum lassen sie ihn am Leben? Damit die Worte der Erscheinung sich an ihm bewahrheiten? Aber sie bewahrheiten sich ja nicht.) – Das liegt, wenn das Drama beginnt, zehn Jahre zurück. Inzwischen ist der falsche Freund mit Hilfe von Karthago auf den Thron von Syrakus gelangt, hat die Witwe des Verschollenen geheiratet, läßt seinen Kindern jede Sorgfalt angedeihen und will das Band noch festigen, indem er seinem Sohn die Tochter jenes Mannes zur Frau bestimmt. Doch Lykon lebt, und die Stunde der Abrechnung rückt heran. Irgendwie ist es ihm gelungen, seinen grausamen Peinigern zu entwischen. Der Blinde mischt sich unter die Bettler von Syrakus, die bald in ihm ihr geistiges Oberhaupt verehren. Man feiert in der Stadt gerade die zehnjährige Wiederkehr der Thronbesteigung des Tyrannen. Auf offenem Markte tritt der Blinde, der sich als Freund des verstorbenen Feldherrn ausgibt, dem Herrscher entgegen und bereitet ihm durch anzügliche Redensarten, doppeldeutige Worte und ahnungsvolle Rätsel arge Ungelegenheiten. Da sich die Stimme des Blutes bekanntlich nie verleugnet, fühlt sich Lykons Sohn sogleich zu dem schmutzstarrenden Bettler hingezogen und lädt ihn zum Gelage ein, das er am Abend der syrakusanischen Lebewelt geben will. Zuvor wird der scharfzüngige Bettler im Palast empfangen. – Hier spielt sich eine Szenenfolge von vehementer Steigerung ab. Alle Register werden von unserm Dichter gezogen, und als Orgelpunkt wird das verwandt, was die Alten Anagnorisis nannten. Zuerst: Lykon allein am Altar seines Hauses. Dann: Gespräch mit dem Verräter. Darauf: Auseinandersetzung mit der Gattin. Homer übertrumpfend, läßt sich Sudermann eine Begegnung zwischen Vater und Tochter nicht entgehen. Weitere Klimax: der Vater warnt die Tochter vor dem Bräutigam, dessen Stimme sein Mißfallen erregt. Nach diesen beiden Zutaten kehrt der Moderne in Homerische Bahnen zurück: der Bettler soll ein Bad und ein frisches Gewand erhalten. – Für das Bankett, das den vornehmen syrakusanischen Jünglingen und ihren Hetären gegeben wird, schwebten wohl die Zechgelage der Freier Penelopes vor. Wie Demodokos erscheint der reingewaschene Blinde zum Feste. Erzählt hingerissen von den Heldentaten Lykons, dessen Name verpönt ist. Weiß die Jugend durch seiner Rede Gewalt zu begeistern und zu empören. Revolution in Syrakus. Schon stürmt das Volk den Palast. Rasch trinkt der Tyrann seinen Giftring aus. Lykon ist im Straßenkampf verwundet worden. Ehe sein Leben entflieht, wird er noch zum häuslichen Herd geschleppt, kann seinen edelmütigen Sohn zum Herrscher der Stadt bestimmen und darf seine große Seele im Schoße seines lieblichen Töchterleins aushauchen. Sein Geheimnis hat er mit ins Grab genommen; aber es dämmert seinen Kindern, wer der blinde Bettler war … – Stände die Ausführung auf derselben Höhe wie die Intentionen, wir hätten um ein großes Drama reicher sein können. So ist kaum ein wirksames Theaterstück zustande gekommen. Die echt dramatische Spannung, die im Stoff aufgespeichert liegt, hat nur wenige Szenen befruchtet, und selbst da läßt sich das Gefühl nicht unterdrücken, daß die letzten Dinge, die zu sagen waren, unausgesprochen bleiben. Sudermann hat eine Zurückhaltung geübt, als fürchte er den oft gehörten Vorwurf des Effekthaschers. Gegenüber den Strandkindern [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 23.12.09, Nr. 355] bedeutet diese Arbeit eine Rückkehr zu bescheideneren Mitteln. Sie begnügt sich mit weniger grobem Geschütz und befleißigt sich auch in der Sprache einer wohltuenden Einfachheit, die allen falschen Zierat des Feuilletons meidet, ohne indes für die höchsten Empfindungen starke und eigene Töne zu finden. – Die Aufnahme des Werkes im Königlichen Schauspielhaus war sozusagen gutbürgerlich. Von Haß wie von Liebe gleich weit entfernt. Die Zeiten scheinen vorüber, da um Sudermann die Parteien rauften und erbitterte Kämpfe tobten. Man ertrug das Unabänderliche mit vornehmer Fassung. Weniger vornehm war der Versuch, die größere Hälfte des Beifalls auf den Hauptdarsteller, Herrn Clewing, abzuwälzen, der vom Bummelstudenten zum tragischen Helden aufgerückt ist an der Stätte, wo Matkowskys Schatten umgeht. Jedenfalls besaß der junge Künstler, dessen virtuoser Verwandlungsgabe kein Rollengebiet verschlossen ist, die Selbstverleugnung, sich bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen; in seelische Unkosten stürzt er sich einstweilen noch nicht. So kam es, daß der karge Gefühlsgehalt, der in den Wiedererkennungsszenen liegt, durch keinerlei schauspielerische Reserven gehoben wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 31. Oktober 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 302.
George Bernard Shaw, Fannys Erstes Stück (Kleines Theater, 21.10.11). – „,Pah, Sie nehmen die Sache zu ernst. Schließlich hat das Zeug amüsante Stellen. Gehen Sie über den Rest als eine Unverschämtheit hinweg.’ Nein, es lohnt nicht, Fannys erstes Stück, ein leichtes Spiel für ein kleines Theater in drei Akten, einem Vorspiel und einem Nachspiel, von Bernard Shaw ernst zu nehmen. Es lohnt wirklich nicht, sich zu ereifern. Schließlich weiß man, daß es sich hier um eine aus dem Ärmel geschüttelte Gelegenheitsarbeit für die Gattin eines dem Autor befreundeten englischen Regisseurs handelt. [Einen Beleg für diese Behauptung habe ich in der Shaw-Literatur nicht gefunden.] Bernard Shaw identifiziert sich mit einer blutjungen Dilettantin; niemand kann es ihm verwehren. Das oben angeführte Urteil, das er einem Kritiker in den Mund legt, träfe den Nagel auf den Kopf, wenn es das Verhältnis umkehrte. Denn man muß, der Wahrheit gemäß, feststellen, daß die amüsanten Stellen zwei Minuten dauern, die ‚Unverschämtheit’ zwei Stunden. Der Ire schneidet noch auf, wenn er sich (scheinbar) ins eigene Fleisch schneidet. – Als ich das Stück vor wenigen Wochen im Londoner Little Theatre sah [Uraufführung dort am 19.04.11], bedauerte ich schmerzlich, daß ich meine Zotos-Kapseln zu Hause gelassen hatte, die mich vielleicht vor einem Anfall von Seekrankheit bewahrt hätten. Im Berliner Kleinen Theater gab es neben den amüsanten Stellen immerhin allerlei unfreiwillig Komisches, das über die verstockte Langeweile des Abends hinwegzusetzen vermochte. Hätte es nicht von beschämender Unbildung gezeugt, man hätte darüber lächeln können, daß der Name Vaughan in Berlin so herausfordernd falsch ausgesprochen wurde, wie ungebildete Engländer eingebildeten Deutschen zufolge die Oper Fidelio aussprechen sollen. Selbstverständlich braucht Herr Direktor Barnowsky, der nächstens das Lessing-Theater übernimmt, nie etwas von dem Kardinal Vaughan gehört zu haben. Er sollte aber wenigstens den Dramatiker Pinero kennen oder doch dessen Namen nicht verhunzen lassen. Sonst hatte er das Londoner Vorbild offenbar mit Nutzen gesehen: dort war ihm aufgefallen, daß sich ein Darsteller auf den Tisch setzt; gleich ließ er ihn mit deutscher Eleganz und Gründlichkeit die Schuhsohlen an der Tischdecke abwischen. – Ungetrübtes Vergnügen bereitete es ferner, dem geschliffenen Deutsch des Dialogs zu lauschen. ‚Du sollst nicht fortfahren, daran zu denken’ – auf hundert Schritte Entfernung riecht man das Verb continue. [Irrtum: im englischen Original heißt es: ‚You shouldn’t keep thinking about it’.] Oder: ‚wenn er aufhören wird, anständig zu sein’ – eine Selektanerin wittert das Verb cease. [Ebenfalls eine irrige Annahme: im englischen Original steht: ‚Who wants to give up being respectable?’] Was ‚Maschinenhandarbeit’ ist, bleibt wohl das Privatgeheimnis des kleinen Freudenmädchens, falls sie sich nicht einen Jux machen wollte. Sie nennt sich auf ihrer Visitenkarte ‚süße Dora’, redet einen respektablen Familienvater, den sie eben kennen gelernt hat, mit ‚liebes Alterchen’ an und muß es sich gefallen lassen, daß sie ein Kritiker als ‚arme, verirrte Landstreicherin’ [‚poor waif and stray’] bezeichnet (eine Dame, die auf den Strich geht, ist doch keine Landstreicherin oder ist es nur im Shawderwelsch). Man fühlt, wie sich einem der Magen etliche Male umdreht. Gebt mir Zotos! – Um nun aber auch von der Handlung des Stückes etwas zu sagen…. Es zeigt zwei englische Familien des untern Mittelstandes in blöder Verzerrung. Die Kinder sind so puritanisch streng erzogen worden, daß sie bedenklich über die Stränge schlagen: der Sohn des einen Paares, mit der Tochter des andern versprochen, treibt in zweifelhafter Gesellschaft allerlei Unfug auf der Straße und beschimpft einen Polizisten, wofür er eingelocht wird; die Tochter, die sich den Stimmrechtlerinnen angeschlossen, haut einem Bobbie zwei Zähne aus dem Munde, wofür sie gleichfalls ins Gefängnis wandert. Dieses ahnungslose junge Geschöpf besucht abends allein das Empire (ein Variété) am Leicester Square (Zentrum des Londoner Menschenfleischmarktes), macht dort die Bekanntschaft eines verheirateten französischen Marineleutnants, läßt sich von ihm in ein Tanzlokal geleiten (wo gibt es die an der Themse?) und mit Champagner bewirten. Genau so geht es in London zu, wie jeder Kenner bestätigen wird. Aus diesem Selbständigkeitsdrang der Jugend wird dann zum Schluß eine Art Moral gezogen und die Auflösung der Familie als die große Kulturerrungenschaft Englands gepriesen. – Nicht verschwiegen werden darf die Existenz eines Dieners (aus Cashel Byrons Geblüte), der sich als Bruder eines Herzogs entpuppt. Sobald das ruchbar wird, legen ihm die Spießer den romantischen Namen Rudolf bei [‚Rudolph oder der längst verschollene Erbe’], wagen in seiner Gegenwart sich nicht mehr zu setzen und ersterben in Demut. Kann man sich eine freiere Persiflage auf den Respekt des britischen Philistertums vor der Aristokratie denken? Man fühlt, wie sich einem der Magen umdreht. Gebt mir Zotos! – Aber das Stück stammt ja gar nicht von Bernard Shaw, sondern von Fanny O’Dowda, der Tochter eines in Venedig hausenden, allem zeitgenössischen Industrialismus abholden Grafen. Sie hat in Cambridge studiert, ohne von dem Stagiriten [i. e. Aristoteles] gehört zu haben; dafür hat sie mit um so größerem Erfolg Samuel Butlers Roman The Way of all Flesh gelesen: daher kommt die Theorie, daß die Kinder ein Recht haben, ihre altmodischen Eltern wie Schuhputzer zu behandeln. – Dagegen kann die Einkleidung der Fabel – ganz abgesehen davon, daß der Rahmen hundertmal besser ist als das Bild – die Urheberschaft Bernard Shaws nicht verleugnen. Indem er die Kritiker unmittelbar nach der Aufführung über das Stück zu Gericht sitzen läßt, sitzt er selbst zu Gericht über die Kritiker in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl [Schiller, Don Carlos, II. v]. Sie raten hin und her, wer der Verfasser des Werkes sein könne, und schreien schließlich allesamt Shaw, Shaw, Shaw. Damit ist der Zweck erreicht. In London hatte es einen Sinn, das Rezensentenquartett über den mutmaßlichen Autor debattieren zu lassen; denn dort stand sein Name nicht auf dem Zettel. Hier war es läppisch und pointelos, weil alle Anwesenden mit Ausnahme der vier Tröpfe wußten, von wem das Stück herrührte. [MMs Kritik deckte sich in diesem Punkt völlig mit der Ansicht Shaws, der am 23.10.11 an seinen Übersetzer schrieb: „In the Times of today it is announced that Fanny was a disappointment and a failure in Berlin, and that it was announced as a play by me. Why did you let them do such a silly thing? The whole prologue & epilogue become absurd if the authorship is announced.” (Bernard Shaw’s Letters to Siegfried Trebitsch, ed. Samuel A. Weiss, [Stanford 1986], p. 158)]. – Doch es war eine Ehrenpflicht, der deutschen Nation, die in Bernard Shaw längst den Schutzengel des Snobismus anbetet, diese Fadaise nicht vorzuenthalten. Nichts auf der Welt wird sie von der grenzenlosen Überflüssigkeit solchen Importes überzeugen können.“

Berliner Theater. NZZ, 3. November 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 305.
Carlo Gozzi [übers. Karl Gustav Vollmoeller], Turandot (Deutsches Theater, 27.10.11). – „Chinesisch mußte uns Max Reinhardt auch einmal kommen. Das Land des gelben Drachen fehlte dem in vielen Stilen erprobten Hexenmeister des Deutschen Theaters noch auf seinem Atlas. An ein chinesisches Originalwerk war wohl nicht zu denken; also fiel die Wahl auf das in China angesiedelte Märchenspiel Turandot des venezianischen Grafen Carlo Gozzi. Allen Deutschen seit ihrer Jugend vertraut durch Friedrich Schillers Bearbeitung. – Aber Schiller – nein, das wäre zu reizlos gewesen. Ein handfest gezimmertes Theaterstück mit klassizistischem Einschlag, eigens für Weimars Bedarf hergerichtet – wen hätte eine solche Stilfälschung gefreut? Man ließ daher von Karl Vollmoeller eine neue Übersetzung anfertigen. Die den Charakter der Stegreifkomödie wahrte. Die vor allem den von Schiller rücksichtslos beschnittenen komischen Teil zu ungeschmälerter Geltung kommen ließ; denn der Humor der alten Commedia dell’Arte ist ja natürlich auch noch der Humor unsers anspruchslosen Zeitalters. Könnte es für moderne Schauspieler eine lohnendere Aufgabe geben, als nach Herzenslust zu extemporieren? Sie mögen sich das sehr lustig vorgestellt haben; es stellte sich jedoch bald heraus, daß ihnen recht wenig eingefallen war, was sie damit beschönigten, daß es den Dichtern Schiller und Vollmoeller nicht besser ergangen sei. – Immerhin war man in der besonders glücklichen Lage, zu dieser Turandot (oder wie sie im Deutschen Theater hieß: Tu-Ran-Dot) eine nicht alltägliche, das exotische Kolorit witzig betonende Musik von Ferrucio Busoni zu besitzen. Oskar Fried, der sich schon im Konzertsaal dafür eingesetzt hatte, schwang den Taktstock. Dekorationen und Kostüme waren dem in allen Strichen wie in allen Himmelsstrichen gleich bewährten Maler Ernst Stern anvertraut, der ein Peking von phantastischem Märchenzauber aufbaute. Gozzi-Vollmoeller-Reinhardt-Busoni-Fried-Stern: ist es nicht wie in der englischen Operette, die auch mindestens ein halbes Dutzend erfindungsreicher Mitarbeiter benötigt? Doch wo so viel Kräfte sinnvoll walten, da muß sich ein Erfolg gestalten. Und es war ein überschwenglicher Erfolg, ganz wie im Metropoltheater, und außer dem Regisseur und dem Übersetzer erschienen, ganz wie im Metropoltheater, auch der Komponist und der Dirigent auf der Bühne. (Kinder, Kinder, was sind das für Sitten an der vornehmsten Stätte deutscher Schauspielkunst!) Der Schneider, wiewohl er es verdient hätte, wurde zwar nicht gerufen; dafür saß aber Poiret aus Paris im Parkett [Paul Poiret (1879-1944), frz. Modeschöpfer]. Ob der literarhistorische Geheimrat Erich Schmidt, der auch im Parkett saß, dem entthronten Schiller blutige Tränen nachweinte? ... – Nicht genug, daß so viele Männer von Rang und Ruf sich über Turandots verblichene Reize hermachten: sie ergriffen auch noch in den Blättern des Deutschen Theaters (einer Programmschrift zum Programm) zu ihren Leistungen in eigener Person das Wort. Vollmoeller äußerte sich über seine Übersetzung, Busoni über seine Musik, Stern über seine Ausstattung. Welch ein Aufwand von künstlerischer und kunstgewerblicher Begabung! Welch ein Aufwand! Und wofür? Für einen keineswegs immer kurzweiligen Abend von übermäßiger Ausdehnung. Eine Stegreifkomödie, die drei und eine halbe Stunde dauert – auch die gelungensten Einzelheiten können einen solchen Stilfehler nicht entschuldigen. Die Komödie ennuyierte; der Kostümscherz amüsierte. – ‚Ist ein Fastnachtsspiel gleich Hochverrat?’ könnte Reinhardt mit dem Grafen Egmont ausrufen. ‚Sind uns die kurzen bunten Lumpen zu mißgönnen, die ein jugendlicher Mut, eine angefrischte Phantasie um unsers Leben arme Blöße hängen mag?’ [Egmont, Zweiter Aufzug, Egmonts Wohnung] Gewiß nicht; aber man scheint sich jetzt gar zu einseitig an diesen Spruch zu halten. Irgendwie drängt sich das dekorative Element vor; die Maskerade nimmt zu viel Platz ein, und das Seelische wird ein wenig karg behandelt. Sollte die dramatische Kunst, die einst eine Hochburg am Deutschen Theater hatte, im Absterben begriffen sein? Jede Zeit hat die Götter und die Götzen, die sie verdient. Nur wird mich nichts in der Welt bewegen können, vor ihnen auf die Knie zu sinken und sie im Staube anzubeten. – … Schon Caroline Schlegel, die aus dem Romantikerlager kam und daher kaum ein gutes Haar an Schiller ließ, tat den Ausspruch: ‚Die Hand Schillers wird schwer auf dem armen Turandot lasten.’ [Brief an A. W. Schlegel vom 20.12.1801] Der Dichter der Braut von Messina hatte die Prinzessin von China schreiten lassen; jetzt sollte sie wieder trippeln. Das lustige Drum und Dran sollte sich nach Kräften entfalten. Aber der dramatische Kern, die Bezähmung einer Widerspenstigen, ist von Schiller entschieden stärker herausgearbeitet als von Gozzi. Er tat für sein Adoptivkind noch ein Übriges, indem er ihm als Mitgift die glanzvollen Rätsel schenkte, die bei Gozzi vage Allegorien sind. Was man auch sonst gegen seine Diktion einwenden mag, dem Theaterstück ist seine Bearbeitung nicht schlecht bekommen, ganz abgesehen davon, daß sie ihm zu einem Nachleben verholfen hat, das, nicht einmal in seiner Heimat, das Originalwerk aus eigner Kraft zu behaupten wußte. Falls sich jetzt die ursprüngliche Fassung durchsetzen sollte, hätte sie es der reichen Einkleidung des Deutschen Theaters, nicht ihren dichterischen Vorzügen zu danken. – Der reichen Einkleidung in höherem Maße als der Darstellung. Die vier Komiker hatten bald ihr bestes Pulver verschossen und halfen, da ihnen die Worte keine Stütze mehr boten, durch drollige Bewegungen nach, deren Reiz indes mit der häufigen Wiederholung verblaßte. Das war Gozzi. Aus Schillers Reich stammten der rhetorische Märchenprinz des Herrn Moissi und die leidenschaftliche Sklavin des Frl. Terwin. In keinem von beiden Lagern stand die burleske Prinzessin der Frau Eysoldt. Sie neigt neuerdings dazu, mehr mit ihrer Rolle als ihre Rolle zu spielen, vielleicht weil ihr Aufgaben gestellt sind, denen sie nur mit ihrem überlegenen Geist beikommen kann. – Für die Stileinheit, die den schauspielerischen Leistungen fehlte, sorgten Sterns prächtige Prospekte und Busonis bizarre Begleitmusik. Sonst − − vielleicht schreibt M. Poiret über die Echtheit der chinesischen Gewänder; er hat sicher reiche Anregungen mitgenommen.“

Berliner Theater. NZZ, 8. November 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 310.
Paul Apel, Hans Sonnenstößers Höllenfahrt (Neues Schauspielhaus, 28.10.11). – „Wie es dem Gerechten der Herr im Schlafe gibt, wie ein Schwankender durch einen Traum zu raschem Entschluß gelangt, zeigt Paul Apels heiteres Traumspiel Hans Sonnenstößers Höllenfahrt. (Mit beträchtlichem und berechtigtem Erfolg am Neuen Schauspielhaus aufgeführt.) – Hans heißt er mit Vornamen, wie unsre Freunde im Märchen; die Sonne, an der er sich einen Platz zu erobern hofft, trägt er im Nachnamen. Ein junger Dichter ist er mit hochfliegenden Plänen, mit ungeborenen Meisterwerken in der Brust, mit einer tiefen Sehnsucht nach dem wundervollen Leben. Arm ist er auch, wie es sich für einen deutschen Dichter ziemt. So arm, daß er unbegabten Schülern Klavierstunden geben muß, damit er die Butter auf dem Brot hat. Aber die Rettung winkt, klopft an die Tür, rückt ihm bedrohlich zu Leibe. In Gestalt eines Philistergänschens mit 100.000 Talern Mitgift. – Soll er zugreifen? Allem Elend ein resolutes Ende machen? Seiner Seele Seligkeit für schnöden Mammon verkaufen? Heut Abend, in der Gesellschaft bei Schmidts, wird sich sein Schicksal entscheiden … Hans ist todmüde und legt sich zu erquickendem Schlummer nieder. Im Traum durchlebt er seine künftige Ehe. Mit ihren fürchterlichen Foltern, ihren niederschmetternden Gewalten. Sein liebes Frauchen enthüllt sich in all ihrer Beschränktheit und Oberflächlichkeit. Doch tausendmal schlimmer dünkt ihn die beleidigende Aufdringlichkeit ihrer Sippe. Jeder Blick von ihnen ist eine Strafe, jedes Wort ein Dolchstich; ihr Geschmack ist Gemeinheit, ihre Teilnahme Taktlosigkeit. Und der schrecklichste der Schrecken ist Tante Pauline, die strümpfestrickend auf dem Sofa sitzt (ohne, den zweiten Teil der Definition erfüllend, beleidigt zu sein – aber nur, weil sie nicht beleidigt werden kann). In seiner entsetzlichen Seelenqual greift Hans zum Papiermesser und ersticht seine Frau Minchen. Worauf der brutale Bruder Gustav, vom Schlag gerührt, mausetot zu Boden sinkt. – Der Mörder muß sich vor Gericht verantworten. Die Aussage seiner Verwandten fällt vernichtend für ihn aus. Er wird zum Tode durch das Beil verurteilt. Im Wellenschaukelbad liegend, erlebt er die Präliminarien des Köpfungsaktes. Der Staatsanwalt naht, um ihm mitzuteilen, daß sein Gnadengesuch abgelehnt wurde. Noch verliert Hans die Fassung nicht. Er kostet diese Erfahrungen mit der Neugier des Schriftstellers aus. Doch sein Herz fällt ihm in die Schuhe, als Schwager Gustav mit einem lichten Flügelpaar an den Schultern aus den Gefilden der Seligen erscheint. Nicht einmal im Jenseits fände der arme Hans seine Ruhe. Schon liegt sein Haupt auf dem Block des Henkers – da kommt Minchen und bittet für ihn um Gnade. Er wird zu lebenslänglicher Ehe mit der Spießerin verurteilt oder begnadigt, wie man will. – In diesem Augenblick der höchsten Verzweiflung wacht Hans auf. Der Traum hat ihm die Augen geöffnet. Er schwankt nicht länger zwischen Vernunft und Herz: Minchen hat ausgespielt, die verständnisvolle filia hospitalis bleibt Siegerin. – Eine ergötzliche Arbeit ohne überwältigende Einfälle, doch von einer natürlichen Erfindung und konsequenter Ausgestaltung. Mit großem Geschick werden alle Züge des Vorspiels in die Traumhandlung verwoben. So taucht der Regenschirm eines nach Antiquitäten pirschenden Freundes später als Richtschwert auf; oder der Fehler eines übenden Hornisten vergällt Hans noch die Todesstunde. Eine besonders glückliche Hand zeigt Apel in der Verschlingung wirklicher und irrealer Motive, wodurch er dem krausen Wesen des Traumes aufs beste gerecht wird. So läßt er seinen Helden eine Zeitlang in dem Wahne, er sei mit zwei Frauen verheiratet. Das Ganze ist mit einem wohligen Humor übergossen, der sich bis zu grimmiger Satire in philistros steigern kann. – Vielleicht dürfte uns Hans etwas mehr davon überzeugen, daß er eine Künstlernatur ist. Vielleicht hätte Minchen etwas weniger hausbacken ausfallen können. Das ist alles, was sich gegen das Werkchen vorbringen läßt. Man darf ihm überall guten Erfolg wünschen.“

Berliner Theater. NZZ, 12. November 1911, Drittes Blatt, Nr. 314.
Heinrich Mann, Schauspielerin (Theater in der Königgrätzer Str., 06.11.11). – „Heinrich Mann, der Romanschriftsteller, ringt mit heißem Bemühn um die Bühne. Im vorigen Jahr sahen wir drei teils grausame, teils groteske Einakter von ihm, deren sich Frau Tilla Durieux angenommen hatte [Der Tyrann, Die Unschuldige, Variété (vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 30.11.10, Nr. 331)]. Sie wandte jetzt ihr ebenso reiches wie reifes Können an das dreiaktige Drama Schauspielerin, das als Sondervorstellung vom Theater in der Königgrätzer Straße gegeben wurde. Mit mehr Erfolg für die Schauspielerin als die Schauspielerin. – Um auch einmal von der Technik zu reden: sie liegt bei dem Epiker noch im Argen. Sein bei weitem interessantester erster Akt verträgt nicht, unter die Lupe gelegt zu werden. Die Schauspielerin Leonie Hallmann empfängt, nachdem sie einen rauschenden Triumph in einer neuen Rolle gefeiert hat, ihre Freunde bei sich zu einem kleinen Essen. Dieses findet in einem anstoßenden Zimmer statt – ohne die Wirtin, die auf der Bühne gebraucht wird, was die Gäste nicht weiter zu bemerken scheinen. Für zwei Minuten (lange genug, daß ein Hoch auf sie ausgebracht werden kann) geht sie schließlich zu ihnen hinein, um sie gleich darauf zu verabschieden, weil sie eine große Aussprache mit ihrem Bräutigam herbeisehnt. Nachdem er sie verlassen, raschelt es in der Gardine zum Schlafzimmer, und hervor tritt der Bösewicht von Liebhaber. Diese entweder ungeschickte oder mit sehr verbrauchten Mitteln arbeitende Szenenführung verrät allzu offen den Anfänger. Auf den umfänglichen ersten Akt folgt ein viel zu kurz geratener zweiter, der außerdem bedenklich ins Komische abschwenkt. Leonie schüttet ihren Kollegen ihr Herz aus; ahnungslos meinen diese, sie mime ihnen eine neue Rolle vor, und ein alter Routinier reicht ihr gewandt die Stichworte. Paradestück sozusagen; große Arie nach der Melodie ‚Lache, Bajazzo’ (warum soll es zur Abwechslung nicht einmal ein weiblicher sein dürfen?). Der Schlußakt endlich ist um jede Spannung gebracht, weil die Zuschauer seit Beginn der Handlung so viel von Gift gehört haben, daß sie bitter enttäuscht wären, wenn Leonie nicht das Gift nähme. – Im Technischen hat also Heinrich Mann noch einiges zu lernen; in der Charakteristik hat er unleugbar Fortschritte gemacht. Leonie in ihrer Mischung von Weib und Komödiantin ist ein Individuum und ein Typus zugleich. Die Schauspielerin versucht, Heldin und Zuschauerin in einer Person zu sein. Sie spielt im Leben so konsequent Komödie, daß sie nicht mehr unterscheiden kann, ob ihre Empfindungen echt oder erheuchelt sind. Sie weiß nicht: ist sie wirklich ihrem Bräutigam zugetan, der ihr, der Theatermüden, zu einer beschaulichen bürgerlichen Existenz verhelfen soll, oder hängt sie noch an ihrem zynischen Liebhaber, der diese Verbindung mit allen Mitteln zu hintertreiben bemüht ist? Sehnsucht nach dem Hafen der Ehe und Sehnsucht nach wilder Sinnlichkeit lösen sich in ihr ab. Sie glaubt, den Zahmen wahrhaft zu lieben, und bewundert doch im Grunde den Dämonischen, weil sie seinem überlegenen Willen nicht zu entrinnen vermag. Die beiden Männer geraten aneinander; aber Leonie weiß das Duell durch rechtzeitige Benachrichtigung der Polizei zu verhindern. Eben hat die Schauspielerin noch für das Leben ihres Verlobten gezittert; kaum erscheint er, so kommt es zum Bruch zwischen ihnen. Aus dem Zwiespalt der Gefühle rettet sie sich durch Gift, das von ihrem Bräutigam, dem Chemiker, stammt und das ihr Liebhaber, der Arzt, ihr zugesteckt hat. Erschüttert stehn beide an der Leiche und können es nicht fassen, daß die Komödiantin, die auch mit dem Tod gespielt, ihretwegen das Leben fortgeworfen hat. – Heinrich Manns Problem – gewiß nicht neu: Hamlet ist ja nichts anderes als Held und Zuschauer in einer Person – bedeutet einen glücklichen Griff. Daß er es in die Seele eines Weibes verlegt hat und dieses Weib eine Theaterprinzessin sein läßt, schwächt weder seinen Reiz noch seine Glaubhaftigkeit. Höchstens den Gedanken an Leonies große schauspielerische Fähigkeiten; denn wo der Intellekt so wach ist und beständig auf der Lauer liegt, pflegt das Gefühl weniger ausgebildet zu sein. Doch wenn die sichere Darstellungskunst der Frau Durieux auch über diese Klippe hinwegzusetzen wußte: den Dramatiker Heinrich Mann vermochte selbst sie mit ihrem sarahbesken Können nicht völlig in den Sattel zu heben. – Für eine ‚Sondervorstellung’ sollten die Veranstalter etwas Besonderes tun. Hier lag das Besondere darin, daß man den dämonischen Liebhaber dem rheinischen Naturburschentalent des Herrn Gebühr anvertraute, der sich zwar mit Geschick aus der Affäre zog, in keinem Augenblick aber seine wahre Natur verleugnen konnte. Herr Lindner als Bräutigam aus gutem Hause zeigte auffallend gepflegte Umgangsformen. Was sonst auf der Bühne am Halleschen Tor stand, war mehr Halle als Berlin.“

Berliner Theater. NZZ, 16. November 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 318.
Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (Kammerspiele, 09.11.11). – „Schon lange hat man in den Kammerspielen des Deutschen Theaters wie im Mutterinstitut selbst nicht mehr eine so schlichte, gerundete, von allen Auswüchsen freie Vorstellung gesehen wie die des Lessingschen Nathan. Endlich lag das Schwergewicht einmal wieder auf den schauspielerischen Leistungen, die sich nicht durch Originalitätssucht bemerkbar machen wollten. Keine unnütze Freude an dekorativer Überfracht lenkte von der Dichtung ab, die in unvergänglichem Glanz erstrahlte. Wenn so ziemlich alles, was unsre Zeit an dramatischen Werken hervorgebracht hat, zu Schutt und Staub geworden sein wird, wenn das renommistische Neue, das am schnellsten bleicht, in die Rumpelkammer gewandert ist und die outriert Modernen lange modern, wird Lessings Nathan der Weise als ein Wunder unsrer Literatur fortbestehen. Wird künftige Geschlechter mit Ehrfurcht erfüllen. Wird leben durch die Jahrhunderte. Herrlich wie am ersten Tag …? Leider, leider hatte Lessing in der Erfindung der Fabel nicht durchweg eine glückliche Hand: die umständliche Enthüllung der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Muselmann, Christ und Juden (frei nach der Melodie ‚alle Menschen werden Brüder’) sagt heute weder unserm Hirne noch unserm Herzen etwas, hat für uns – seien wir offen – einen unfreiwillig komischen Beigeschmack. Daß der Tempelherr seine Liebe zu Recha in eine andre Gefühlssphäre transponieren muß, hat sogar fast etwas Peinliches für uns. Das ist der irdische Teil der Dichtung. – Aber sonst ist sie herrlich wie am ersten Tag. Wird mit jedem Tag herrlicher. Staunenswert bleibt es, unbegreiflich für alle Zeiten, daß ein Mensch, der mitten im theologischen Gezänke stand, dessen Kräfte mit der Polemik zu wachsen schienen, sich die völlige Ungetrübtheit des Blickes wahrte und nicht aus Verbitterung, sondern aus sublimierter Liebe heraus schaffen konnte. ‚Blüte edelsten Gemüts’ [Theodor Storm, ‚Für meine Söhne’] – das ist Lessings Nathan. Beinah undeutsch in der von Voltaires Witz befruchteten Weite der Auffassung; von einer hellenischen Heiterkeit des Geistes: letzte Dinge werden ebenso mutig wie anmutig gesagt. Und doch wieder so ganz deutsch, so deutsch wie Dürer und Hutten, in der Lauterkeit der Gesinnung. Von einer Humanität, die nie wieder erreicht worden ist – auch nicht von Goethes Iphigenie, die uns meist stilisierter anmutet. Lessing verkündet (1779!) die Überwindung der Religionen durch Religion; durch anständige Gesinnung. Heute streitet man sich herum, ob Christus eine historische Persönlichkeit war oder nur als Mythos zu gelten hat; wie rückschrittlich erscheint das nach Lessing, der ohne Christus, ohne Jehovah, ohne Allah auskommt. Aber wenn er heute seinen Nathan geschrieben hätte, es wäre nicht auszudenken, mit welcher Wut ihn die intellektuellen Heloten und Zeloten befehden, wie sie ihn menschlich verdächtigen würden. – Für die Aufführung der Kammerspiele hatte Goethes Wort von der heitern Naivität des Nathan [Dichtung und Wahrheit, Buch 7] die Richtung gewiesen. Man stimmte das Werk auf den Lustspielton, der freilich in den ersten Szenen kein Kammerton war, weil sich eine forcierte Lustigkeit, stellenweise sogar Zappeligkeit hervordrängte. Doch wurde der Schluß angenehm entlastet. – Für die Besetzung der Titelrolle war ausschlaggebend das Wort des Regisseurs Felix Hollaender, der den Nathan, nach einer Zeit semitischer Sentimentalität, in den nächsten zehn Jahren nur germanischen Darstellern anvertraut wissen will, weil sie ‚von Haus aus besser begabt sind, den Kern Lessingscher Lebensanschauung herauszuschälen’. Köstlich ist diese semitische Angst vor der Sentimentalität; köstlich, wie der Einzelfall nach germanischer Sitte gleich zum Typus erhoben wird. Weil Albert Bassermann den Nathan spielen sollte, wurde sofort eine Theorie darauf gegründet. Hätte man den toten Sonnenthal oder den lebenden Schildkraut zur Verfügung gehabt, so wäre wahrscheinlich zu lesen gewesen, der Nathan könne natürlich nur von einem stammverwandten Künstler ausgeschöpft werden. Was schert uns die Rasse, wenn die Rolle nicht zu kurz kommt! – Bassermann war also Nathan. Prachtvoll. Auch ohne semitisches Blut oder infolge seines Ariertums. Eine bezwingende künstlerische Schöpfung, kein ergreifendes Geschöpf. Die Weisheit hat er schon ganz, die Weichheit noch nicht. Er ist vielleicht noch um zehn Jahre zu jung (auch in der Maske). Was er macht, ist vorzüglich; aber man sieht, daß es gemacht ist. Es quillt nicht aus dem Reichtum seiner Natur, sondern aus einer bewundernswerten Beherrschung seiner Mittel. Wenn er dem Klosterbruder berichtet, wie die Christen ihm Weib und Kinder abgeschlachtet, unterbricht er seine Erzählung, muß sich, von Rührung übermannt, abwenden – große Pause, seine Schultern zucken zwei- oder dreimal; man denkt: die tiefsten Tiefen seines Schmerzes sind aufgewühlt; wenn er dann fortfährt, regt sich kein Muskel seines Gesichts. Man merkt: ein außerordentlicher Techniker war an der Arbeit. Das Märchen von den drei Ringen trug er selbstverständlich nicht als rhetorisches Prunkstück vor, sondern fast als Improvisation. (Er hatte deshalb auch nicht nötig, sich dazu nach orientalischer Art mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Diwan in Positur zu setzen.) Mit zäher Energie arbeitet er an der Vervollkommnung seiner Sprache, die bald den höchsten Ansprüchen genügen wird. – Das Vollendetste bot Hans Pagay als Klosterbruder. Hier war nicht der kleinste Rest zwischen Darsteller und Dargestelltem. Er spielte nicht die heilige Einfalt; er war sie. Gespielt dagegen, überspielt war der Derwisch des Herrn Wegener: gewiß ein komischer Kauz, aber mit zu viel Aufwand, zu quecksilbern, ohne die Beschaulichkeit, die aus seiner Sehnsucht zur Natur spricht. Selten wird der Tempelherr an einen so urdeutschen Bären wie Herrn Kayßler gelangen, der ein Meister der verhaltenen Gefühle ist. Frl. Eibenschütz machte die Recha durchaus glaubhaft, blieb aber Blanda v. Filnek [Rechas wirklicher Name] schuldig. Sollte man hier, Herrn Hollaenders Theorie zufolge, nicht eine germanische Darstellerin fordern dürfen? Doch Theorien werden ja nur aufgestellt, um in der Praxis über Bord geworfen zu werden. Das ist der Humor davon.“

Berliner Theater. NZZ, 17. November 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 319.
Ludwig Thoma, Lottchens Geburtstag und Jakob Wassermann, Hockenjos u. Gentz und Fanny Elßler (Kleines Theater, 10.11.11). – „Zwei Einakter von Jakob Wassermann und eine derbe Schnurre von Ludwig Thoma bildeten im Kleinen Theater eine bunte Schüssel. – Von Thomas Lustspiel Lottchens Geburtstag war hier schon die Rede. Ein Simplicissimus-Stoff (die sexuelle Aufklärung einer erwachsenen Tochter) wird an Typen aus den Fliegenden Blättern (der weltfremde Professor; der schüchterne Liebhaber) behandelt. Anders ausgedrückt: Benedix wird von Thomas Theodor Heine illustriert. Der Erfolg war ein homerisches Gelächter. Obwohl man sich nachträglich nicht verschweigt, daß die Handlung selbst für ein Lustspielchen gar zu dürftig ist und billige Mittel nicht verschmäht werden. Aber die Situation, mag sie auch durch die Breite der Ausführung ein wenig ermüden, ist unwiderstehlich komisch. – Jakob Wassermanns Komödie Hockenjos – die Rückkehr eines totgesagten Malers, der just an dem Tage, da ihm ein Denkmal gesetzt wird, in seinem Abdera wieder auftaucht – ist jetzt zu einem Akt verdichtet, ohne an Schlagkraft wesentlich gewonnen zu haben. [Das Werk war ursprünglich (1898) als dreiaktige Komödie erschienen.] Der verlotterte Künstler, der sich so zur Unzeit einstellt und den günstigen Augenblick zu einer Erpressung benützt, interessiert uns nicht genügend; wir erfahren nur, daß er nackte Weiber gemalt hat und für seine Mitbürger sterben mußte, um unsterblich zu werden. Köstlich ist die Schlußpointe: der Gefeierte muß sich, während man sein Denkmal mit allem modernen Trara weiht, den Bart abnehmen lassen, damit er unerkannt verduften kann und der Behörde die Riesenblamage erspart bleibt. – Der kühlsten Aufnahme begegnete die Elegie Gentz und Fanny Elßler. Wehmütiger Abschied des alternden Hofrats von der zu europäischem Ruhm aufsteigenden jungen Tänzerin. Aus dem Liebhaber ist bei Wassermann ein väterlicher Freund geworden, aus seiner glühenden Leidenschaft eine platonische Zuneigung. Fanny, ihrer Jugend sich bewußt, fest auf ihre Zukunft bauend, geht mit einem gleichaltrigen Partner (er ist auch ihr sleeping partner) nach Berlin. Gentz blickt ihr tränenden Auges nach; dann trägt er dem Diener auf, das Feuer im Kamin anzuzünden und ihm den Schlafrock zu bringen. Ein Stimmungsbildchen von einer süßen Traurigkeit, nicht ohne poetischen Duft. Wenn nur das ungleiche Paar nicht so gleichmäßig Neue Rundschau sprechen möchte!“

Berliner Theater. NZZ, 21. November 1911, Drittes Abendblatt, Nr. 323.
Leo Walther Stein u. Ludwig Heller, Die Ahnengalerie (Berliner Theater, 18.11.11). – „Was verlangt man von einem Schwank? Daß er lachen macht. Weiter nichts. (Es ist sehr viel.) Mensch, du sollst und mußt lachen – brüllt der Ausrufer vor einer Jahrmarktsbude, in der absonderlich geschliffene Spiegel aufgestellt sind. Einen solchen absonderlich geschliffenen Spiegel muß der Schwankschreiber zeigen. Einen Spiegel, in dem die Menschen zu pudelnärrischen Geschöpfen zusammenschrumpfen oder zu riesenhaften Blödianen auseinandergezerrt werden, so daß sich die Menschen in wandelnde Schrullen, in aufwärts gehende Verschrobenheiten verwandeln. Wie das der Schwankschreiber macht? Indem er das komplizierteste zweibeinige Wesen auf die höchste Einfachheit zurückführt; indem er die Fülle der Eigenschaften und vor allem der Eigenheiten, die jeder Mensch hat, zu einer einzigen emportreibt. Ein Geizhals kann im gewöhnlichen Leben ein ausgezeichneter Gelehrter oder ein pflichteifriger Postbeamter sein; im Schwank darf er nur geldgierig sein, wenn er seinen besondern Zweck erfüllen soll. Oder: es ist jemand schwerhörig, d.h. er versteht gelegentlich etwas schwer; im Schwank darf er nichts richtig verstehen. Eine Eigenschaft oder eine Eigenheit frißt im Schwank alle andern auf. Darum hat die Logik hier nichts mehr zu suchen. Der Zuschauer verzichtet gern auf die Betätigung seines Verstandes, wenn sein Zwerchfell dauernd erschüttert wird. Öde Strecken darf es also beim Schwankschreiber nicht geben. Sobald seine Erfindungskraft aussetzt, setzt unser kritisches Urteil ein und aus. Sobald er verrät, daß ihm nichts mehr einfällt, im Augenblick fällt sein ganzes Gebäude ein. Wir beklagen uns nie, daß im Schwank die Wahrheit geknebelt werde; wir beklagen uns nur, wenn sie nicht genug geknebelt worden ist. – Nach dieser langen Einleitung braucht nur noch gesagt zu werden, daß die Herren Leo Walther Stein und Ludwig Heller in ihrem Schwank Die Ahnengalerie, der ein verblödetes Ahnengeschlecht in vier Generationen auf die Bühne bringt, den redlichen Willen hatten, uns zum Lachen zu reizen, daß es ihnen aber nur streckenweise gelang, lustig zu sein, weil ihre Technik nicht leichtflüssig genug ist. Sie zehren skrupellos vom Stammkapital der Witzblätter, während ihre eigene Einlage recht bescheiden ist. In der Hauptsache besteht sie aus der Figur eines aristokratischen Tattergreises, der völlige Vertrottelung heuchelt und aus Furcht vor seiner Alten Schlafsucht markiert, bis er kurz vor seiner Entmündigung die Maske abwirft und zu den bürgerlichen Verbindungen seines Hauses den Segen gibt. – Das Berliner Theater brachte durch eine gute Aufführung einen guten Erfolg zustande.“

Berliner Theater. NZZ, 28. November 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 330.
Georg Hermann, Der Wüstling oder Die Reise nach Breslau / Rideamus [Pseud. von Fritz Oliven], Mitzi-Mutzi (Theater in der Königgrätzer Str., 23.11.11). – „Georg Hermanns Lustspiel Der Wüstling oder Die Reise nach Breslau ist, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, bei seiner Bühnengeburt in Zürich [im Pfauentheater am 02.09.11] tot zur Welt gekommen. Nicht etwa durch ein Versehen des Arztes oder die Ungeschicklichkeit der Hebamme, sondern infolge unzureichender Kraft des Erzeugers. Daß er dieses saftlose Nebenwerkchen offenbar vor seinem durch Jettchen Gebert errungenen pangermanischen Ruhm gemacht hat, mag man als mildernden Umstand gelten lassen. Damals konnte er noch ins Blaue hinein fabulieren, während er heute es sich und uns schuldig ist, ins Schwarze zu treffen. Aber es war ein Irrtum, zu glauben, dieser Ladenhüter fände jetzt, wo das Geschäft blüht, Absatz. Nur die Theaterdirektoren fragen nicht nach der Güte der Ware, sondern nach dem Renommee des Lieferanten; das Publikum besitzt zuweilen noch die Einsicht, auf die Marke zu pfeifen, wenn ihm nicht gleichzeitig Qualität geboten wird. Es wäre daher wohl klüger gewesen, der sonst so kluge Georg Hermann hätte sich durch seinen epischen Ruhm verpflichtet gefühlt, die Blößen des Dramatikers weniger schonungslos aufzudecken. Denn die Wohlgewachsenheit eines Kindes ist durchaus keine Entschuldigung für die Gebrechlichkeit eines andern, läßt diese vielmehr deutlicher hervortreten. So kam es, wie es kommen mußte: daß das Urteil der ersten Schweizer Instanz im großen ganzen von dem Berliner Appellationsgerichtshof in der Königgrätzer Straße bestätigt wurde. Die Verteidigung ließ zwar zu wünschen übrig, hätte aber nichts ändern können. – Der Leser erinnert sich vielleicht noch des dürftigen Inhalts: ein dekadenter Literat verführt die Tochter einer frauenrechtlerischen Zimmervermieterin, ein braver Spießer führt sie heim. Merkwürdig unentschlossen ist die Haltung des Dramatikers gegenüber seinen beiden männlichen Figuren: wen will er nun lächerlich machen, den geschwollenen Ästheten oder den gefoppten Philister? Wäre der olle ehrliche Kegler zum Schluß nicht doch der Geprellte, sofern er die Vergangenheit seiner Braut nicht kennt, man würde diesen Wüstling unbedenklich als geeignetes Festspiel für alle Jubiläen des Kegelclubs Alle Neune empfehlen. So werden sich die wackern Kegelbrüder wohl dafür bedanken, daß ein geschätztes Mitglied ihres Vereins derart düpiert wird. Die Ästheten anderseits könnten schmunzeln, daß einem ihrer Gilde so mühelos eine Mädchenblüte in den Schoß fällt, wenn dieser literarisch unvermögende Herr aus gutem Hause nicht gar so läppisch wäre. Man hat fast den Eindruck, als ob der Spott, der über diese Sorte [von] Mitmenschen ausgegossen wird, von einem Außenseiter stamme. Sollte Georg Hermann wirklich nie in Parvenupolis Berlin, an der Quelle des Snobtums, wo die Fischer ihre Netze nach possierlichen Hechten auswerfen, ulkigere Exemplare der von ihm verulkten Gattung gesehen haben? Er setzte sich also zwischen zwei Stühle, und da kam es, wie es kommen mußte: er purzelte zu Boden. Allerdings so schlimm war es nicht, daß zwei junge Herren im Parkett ein Recht hatten, Georg Hermann mit einem siebzigjährigen Possenschreiber gleichen Nachnamens zu verwechseln [Louis Herrmann (1836-1915)]. Das hat der Dichter Jettchen Geberts nicht verdient. ● Der verlorene Abend brachte einen recht zweifelhaften Gewinn durch die Aufführung des Einakters Mitzi-Mutzi von Rideamus (einem bekannten Berliner Rechtsanwalt). [Seine Bekanntheit verdankt ‚Rideamus’ (Fritz Oliven) nicht seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt – als solcher ist er überhaupt nicht in Erscheinung getreten –, sondern seinen Revue- und Operetten-Texten sowie seinen Humoresken.] Dieses Mädchen mit dem gräßlichen Namen umgürtet sich mit dem Trick des Kahlenbergschen Nixchens [Anspielung auf Hans von Kahlenbergs (i. e. Helene v. Monbarts) Nixchen. Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Tochter (1899)], d.h. sie betrügt den einen Liebhaber mit dem andern. Beide treffen im Séparée zusammen, geraten aneinander, drohen mit einem Duell, ziehen aber die Forderung augenblicklich zurück, sobald sich herausstellt, daß sie Regimentskameraden sind, und verlassen Arm in Arm den Schauplatz. Wenn zweie streiten – denkt man –, freut sich der dritte; in diesem Fall ein sich als Romantiker der Liebe gerierender, Mitzi-Mutzis Reizen nicht abgeneigter Konzertsänger, der nicht vom Stamme des Wedekindschen Kammersängers ist. Er legt die Pointe hin: ‚Die Frauen sind für uns nur so lange begehrenswert, solange sie nicht uns, sondern unsern Freunden gehören’ – welch ein edler Geist ward hier gehört! – und räumt gleich seinen Vorgängern das Feld. – Sollte sich wirklich, wenn die Theaterbesucher reif für die Schlager geworden sind, im Bereich der dramatischen Literatur nichts Wertvolleres auftreiben lassen?“

Gudrun. Ein Trauerspiel in fünf Akten von Ernst Hardt. (Erste Aufführung im Berliner Lessing-Theater am 24. November). NZZ, 30. November 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 332.
„In engstem Anschluß folgen die drei ersten Akte der Hardtschen Tragödie dem mittelhochdeutschen Sang. Wie König Herwig der Däne um die schöne Gudrun wirbt; wie er mit ihrem grimmen Vater Hettel ficht, um die familientraditionelle Tapferkeitsprobe abzulegen; wie das Gesinde den Ring um das Paar schließt; wie die für ihren König freienden Normannenboten beleidigt werden; wie dann ihr König Hartmut die Burg überfällt und Gudrun mit sich fortführt; wie sie von seiner Mutter Gerlind zuerst freundlich empfangen und, da sie sich dem Sohne weigert, zu niedern Magddiensten gezwungen wird: das ist mit seltenem Bühnengeschick aus dem weitläufigen Gedicht herausgezogen und in drei Akten dramatisch verdichtet. Wildenbruch hat kaum je etwas Fugenloseres gebaut. Man könnte auch an einen Operntext denken. Man denkt sogar sehr stark daran, wenn zu Beginn des zweiten Aktes die mähenden Mägde um die Primadonna – Verzeihung: um die blonde Königstochter versammelt sind, wie die Spinnerinnen um Senta im Fliegenden Holländer, und auch die alte Amme fehlt nicht. Man denkt noch mehr daran, wenn später die Mägde wie in einem italienischen Libretto ihrer Freude stereotypen Ausdruck geben: ‚O Jubel, Jubel!’ – Die im Epos über viele Jahre verstreuten Ereignisse sind im Drama auf wenige Tage zusammengedrängt. Am Morgen trifft Herr Herwig ein; am Mittag ist Gudrun seine Braut; am Abend Herrn Hartmuts Beute. Es geht ein wenig schnell in diesen prähistorischen Zeiten, aber das Drama hat nun einmal, im Gegensatz zu dem gemächlicheren Roman, Siebenmeilenstiefel an. – Wie treu Ernst Hardt dem Laufe der epischen Begebenheiten in den ersten drei Akten gefolgt ist, mag ein Zug illustrieren: König Hartmut hat ein Schwesterlein Ortrun, die der Fremden zärtlich zugetan ist. Wenn ihre böse Mutter Gerlind von der störrischen Gudrun Sklavendienste verlangt, fängt das ‚süße’ Kind bitterlich zu weinen an. Nie wolle sie ihr das vergessen, sagt Gudrun. In der alten Vorlage hat dieser Zug Berechtigung: denn die mitleidige Ortrun wird, wenn die Stunde der Abrechnung schlägt, verschont, begleitet Gudrun in die Heimat und in die Heirat. Bei Hardt schwebt es in der Luft; es ist einfach übernommen; es hätte ebenso gut wegbleiben können. – Doch das Drama muß einen seelischen Konflikt beibringen. Wie war der auf den Spuren der Sage zu gewinnen? Dreifach hält dort die blonde germanische Jungfrau die Treue: sich selbst, da die zur Magd erniedrigte Königstochter ihren Stolz nicht verleugnet; der Heimat, die sie im Elend nicht vergißt; dem Verlobten, von dem sie nicht lassen will, so sehr der Normanne sie auch bedrängt. Merkwürdigerweise steht beim alten Dichter die Spröde ihrem Peiniger nicht gerade feindlich gegenüber; sie haßt ihn jedenfalls nicht. Hier hakte der Moderne ein. Gudrun liebt Hartmut – das ist Hardts Erfindung. Die Hegelingentochter bleibt ihrem Herwig treu, aber heimlich liebt sie den andern. An dieser Gefühlsverwirrung geht sie zugrunde. Um sich nicht selbst untreu zu werden, fordert sie Frau Gerlind auf, ihr den Dolch ins Herz zu stoßen. Das Vorbild germanischer Treue erliegt also der Treulosigkeit. Die Sagenfigur ist damit um ihre symbolische Bedeutung gebracht, aber das moderne Drama hat keinen Konflikt. So geht es, wenn überkommene Stoffe psychologisch umgekrempelt werden. – Noch eine andere Gestalt der Sage mußte für heutige Zwecke umgemodelt werden. Gerlind ist dort nichts anderes als die böse Stiefmutter im Märchen. Hardt erhöht sie zu einer Monomanin der Mutterliebe. Was sie an Grausamkeiten ersinnt, tut sie aus Liebe zu ihrem Sohn, zu ihrem ‚goldnen’ Sohn (ein Beiwort, das durch die häufige Wiederkehr nicht geschmackvoller wird). Im Epos wird sie eine Wölfin genannt; sie hat dort Nibelungenformat; und ihre teuflischen Quälereien fließen aus der Wildheit des Charakters. Ich kann nicht finden, daß die übergroße Liebe zum Sohn eine besonders glückliche Begründung der übergroßen Härte gegen die Schwiegertochter ist. – Immerhin, bei den beiden Frauen ist wenigstens der Versuch gemacht, eine neue Lesart zu finden. Die Männer dagegen sind Schatten, Tröpfe aus grauer Vorzeit. Was ist das für ein Mensch, der vielgeliebte Herr Hartmut? Unter uns, er ist dumm wie ein Tenor. Er merkt von nichts, er weiß von nichts. Er hat keine Ahnung, daß Gudrun ihn liebt; er hat keine Ahnung, daß Gudrun mißhandelt wird. Einen Wortsetzer, einen ‚Wortefinder von dröhnender Gewalt und großem Klang’ nennt ihn die alte Amme einmal; sie kann nicht sehr verwöhnt sein. Und wer ist Herr Herwig? Wir kennen ihn nicht. Gudrun kennt ihn auch nicht, aber sie entscheidet sich trotzdem für ihn aus freier Wahl. Sie kennt ihn knapp drei Stunden und soll ihm dreizehn Jahre die Treue wahren? Ist das nicht ein bißchen viel verlangt? Wenn er endlich die Braut am Meeresstrand findet, schleppt er sie nicht fort, sondern läßt sie zu neuen Demütigungen in die Burg der Feinde zurückkehren. Verstiegene Ehrbegriffe scheinen die alten Germanen um allen gesunden Menschenverstand gebracht zu haben. Aber sie handeln ja nicht der Not gehorchend, sondern der Sage. – Man sieht, daß für uns menschlich nichts herauskommt, wenn alte Sagenstoffe neu aufgebügelt werden. Aber die Sprache könnte eigene Leuchtkraft besitzen. Sie könnte, erhebt sich hier jedoch nicht über Normaltemperatur. Auffallend ist die Weglassung der Pronomina. Wie im schlechten Briefstil heutiger Kaufleute wird gelegentlich das Ich unterdrückt: ‚Du liebe Schwester, dräng mich dicht zu dir und küsse dich.’ Dem Du ergeht es nicht besser: ‚Bist darum traurig?’ – ‚Wann kommst nach Hause?’ usw. – Das Lessing-Theater verhalf dem Werke des Tantris-Dichters [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 26.10.09, Nr. 297] zu einem unbestrittenen Erfolg. Er war am stärksten nach dem dritten Akt, in dem Irene Triesch als Gerlind ihre unheimliche Innerlichkeit entlud. Das Werk verhalf uns zu der wundervollen Künstlerin Lina Lossen, die sicher einen bleibenden Gewinn für die deutsche Bühne bedeutet. Als Gudrun hat sie ihren Berliner Ruhm begründet; im Hause Ibsens und Hauptmanns wird es ihr nicht an ergiebigeren Aufgaben der Menschendarstellung fehlen.“

Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes, erneuert von Hugo v. Hofmannsthal. (Erste Aufführung im Zirkus Schumann zu Berlin [am 01.12.11]). NZZ, 7. Dezember 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 339.
„Soll man dem Leser gebildet kommen? Ihm erzählen, daß die um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entstandene englische Moralität Everyman auf einer indischen Parabel fußt? Daß sie zeigt, wie der Mensch in der Not von seinen Freunden verlassen und auf seinem Weg zum Grabe einzig von seinen guten Werken begleitet wird? Daß das englische Spiel wahrscheinlich ins Niederländische übersetzt wurde, wo es Elkerlyk hieß? In lateinischer Umdichtung dann unter dem Namen Homulus nach Deutschland kam? Sich unter den Händen eines gewissen Macropedius zum Hekastus häutete und natürlich auch von dem alles besingenden Hans Sachs, der ein Nürnberger Hofmannsthal mit derb volkstümlichem Einschlag war, recht und schlecht besohlt wurde? Soll man den Leser, der nie in einem germanistischen Seminar gesessen, mit solchem literarhistorischen Kram langweilen? – Soll man ihn ferner daran erinnern, daß die mittelalterlichen Spiele, genau so wie das Drama der Griechen, ursprünglich eine Kulthandlung waren und aus dem Gottesdienst hervorgingen? Daß die Responsorien der katholischen Kirche die Urzelle des dramatischen Dialogs sind? Daß die Darstellung biblischer Begebenheiten, besonders der Leidensgeschichte Christi, aus der Kirche auf den Platz vor der Kirche verlegt wurde und unter freiem Himmel mit Entfaltung eines großen Schaugepränges vor sich ging? Daß die religiösen Stoffe von allegorischen mit stark lehrhafter Ausdeutung, die Misterien von den Moralitäten abgelöst wurden? (Nebenbei: man sollte Misterien schreiben, denn das Wort kommt von ministerium, welches geistliche Handlung bedeutet, und hat nichts mit Mysterien zu tun.) Soll man dem Leser mit solchem theaterhistorischen Kram aufwarten? Wenn er das alles weiß – schön und gut; wenn er es nicht weiß, wird er auch selig werden. Zu modernen Menschen mit gesunden Sinnen, nicht zu Bücherwürmern, die sich nur in Staub und Moder wohl fühlen, soll das von der Kunst unsrer Tage Geschaffene sprechen. – Von der Kunst unsrer Tage? … Was Hugo v. Hofmannsthal, ein Hans in allen literarischen Gassen, aus dem mittelenglischen Everyman und der Bearbeitung des Hans Sachs mit Benutzung eines gereimten Gebets von Albrecht Dürer und etlicher Minnelieder des dreizehnten Jahrhunderts gemacht hat, ist eine kulturhistorische Spielerei ohne Beziehung zur Kunst unsrer Tage. Eine Stilübung in Knüttelversen. Das Märchen von der Ladung des reichen Mannes vor Gottes Richterstuhl wirkt allein durch seine Situation, nicht durch die Behandlung. Was uns heute noch daran interessiert und packt, steht in Goethes Faust und Mozarts Don Juan. Wie im größten dramatischen Werk der Deutschen ertönt zu Beginn die Stimme des Herrn; in der Mitte wird der Mensch von guten und bösen Mächten umstritten; zum Schluß fährt der Teufel, der den Höllenbraten für sich in Anspruch nehmen möchte, mit Gestank und leeren Händen ab. Es folgt die Grablegung des Geretteten, und die himmlischen Heerscharen führen die geläuterte Seele des Bußfertigen hinan zu ewigen Wonnen. Der selbstsüchtige Prasser und Schlemmer aber, dessen letztes Stündlein naht, hat seine unsterbliche Verkörperung im größten musikdramatischen Werk der Deutschen gefunden. Wie sich bei dem singenden Wüstling der steinerne Gast einstellt, erscheint hier, als Jedermann und seine Geliebte Buhlschaft in den Freuden der Tafel schwelgen, der beinerne Gast, will sagen: der Tod. Gerade diese unverwüstliche Szene litt einigermaßen durch die Dimensionen des Zirkus, der uns das Schreckgespenst nicht nahe genug auf den Leib rücken ließ. – Man könnte sich vorstellen, daß ein Moderner ein Spiel vom Sterben des reichen Mannes wirklich aus dem Geist unserer Zeit heraus dichtet. Dann müßte er aber auch den Mut haben, mit allen hergebrachten Anschauungen der Legende zu brechen. Dürfte nicht so billige Spruchweisheit breit schlagen, daß man im Glück viele Freunde, in der Not keinen einzigen hat. (‚Blinde so gehn wir und gehen allein – Keiner kann keinem Gefährte hier sein’, singt ein Moderner: Richard Beer-Hofmann.) Der Mammon kann dem Reichen das Sterben zwar nicht ersparen, aber je nach seiner Lebensauffassung erleichtern oder erschweren. Die guten Werke, die ihm auf seinem letzten Gange folgen, dürften keinerlei dogmatische Auslegung erhalten, und der Glaube, der allein selig machen soll, müßte natürlich in den Spielzeugschrank wandern. Hofmannsthal hat diesen Ehrgeiz nicht besessen; ihm kam es nur darauf an, das alte Spiel zu ‚erneuern’. Trotz Hebbels Warnung dichtet er mit Vorliebe da weiter, wo ein anderer aufgehört hat. Er wollte einfach stilecht sein, was er durch eine leicht archaisierende Sprache und die Holprigkeit des Rhythmus erreichen zu können glaubt. – Es ist merkwürdig, daß solche Zwitterschöpfungen nur von der Dichtkunst unsrer Zeit in die Welt gesetzt werden. Welchem heutigen Maler fiele es bei, wenn er schon in Giottos Vorstellungskreis eintaucht, sich zu den Besonderheiten seiner Technik zurückzuschrauben? Nur einem Fälscher. Welcher heutige Musiker dächte daran, wenn er schon ein Madrigal in der Art Palestrinas komponiert, die Dürftigkeit seiner Instrumentation nachzuahmen? Mehr als ein Kuriositätsinteresse ist für solche Versuche nicht zu verlangen; und selbst wenn man es durch die Wahl des Schauplatzes künstlich aufbauscht, man ändert nichts an dem Eindruck, daß das Gros der Hörer – sagen wir: sich angenehm langweilt. – Aber für Reinhardt, rerum antiquarum cupidissimum, ist das ein Festschmaus. Nachdem er vom Zirkus aus die Wiederbelebung der griechischen Tragödie unternommen hat, kam er uns jetzt mittelalterlich fromm. Nach Theben – Oberammergau. Ein mehrstöckiges, von gotischen Chorschranken gekröntes Brettergerüst war in die Arena eingebaut. Waren uns die Leiden der Labdakiden in weite Ferne gerückt, so wandelt Jedermann fast unter uns. Von ganz oben erdröhnte die Donnerstimme des Herrn, der sich bald heiser geschrien hatte – offenbar eine Anspielung auf seine menschliche Vergangenheit. Eine Etage tiefer standen die Engel im Strahle ihrer Goldglorie, einige mit dem starren Ausdruck wie auf Bildern Cimabues, andere von präraphaelitischer Süßigkeit. Aus der Versenkung im ersten Stockwerk tauchte das Tischlein-deck-dich auf; hier nahm der Tod (in ausgezeichneter Maske) Platz. Ganz unten in der Manege wälzte sich der wüste Teufel. Alle Sinne kamen auf ihre Kosten. Das Auge wurde durch das farbenfrohe Gelage entzückt, allerdings auch durch elektrische Scheinwerfer geblendet, die gar zu sichtbar und darum nicht illusionsfördernd mit verschiedenen Scheiben bedient werden. Das Ohr wurde durch die gepflegte Stimme des Herrn Moissi ergötzt, durch andere (piepsige oder polternde) Stimmen verletzt. Daß auch die Nase nicht leer ausgeht, dafür sorgt im Zirkus der genius loci, der Gerechte und Ungerechte gleichermaßen in seinen Duft einhüllt. Wo die Sinne so schwelgen, darf die Seele ein wenig darben. Niemand verlangt, daß an einer Palme Trauben wachsen.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Dezember 1911, Zweites Morgenblatt, Nr. 351.
Fritz v. Unruh, Offiziere (Deutsches Theater, 15.12.11). – „Was mag die Leitung des Deutschen Theaters bestimmt haben, sich mit solchem Eifer für das Drama Offiziere des jungen Herrn Fritz v. Unruh einzusetzen? Fraglos nur das, was bei der Annahme eines Bühnenwerkes, selbst wenn es von einem Anonymus herrührt, entscheidend ist (oder sein sollte): die Vorzüge der Arbeit. Wir wollen uns Mühe geben, diesen Vorzügen gerecht zu werden. – Unleugbar könnte das hier gestellte Problem eine tiefere Erfassung der Sonderart des Soldatenstandes bedeuten, als sie in den vielen Militärstücken (vom burlesken Veilchenfresser [von Gustav von Moser (1875)] bis zum tragischen Rosenmontag [von O. E. Hartleben (1900)]) üblich ist. Es handelt sich um die am Mark der jungen Krieger in Friedenszeiten zehrende Untätigkeit. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr gewährt auf die Dauer ihrem Tatendrang keine Befriedigung. Sie tragen den Waffenrock, und das Schwert rostet in der Scheide. Ach, welche Unlust, Soldat zu sein! Aber auch für sie schlägt die große Stunde. In Südwestafrika hat ein wilder Völkerstamm deutsche Farmer überfallen und soll dafür nach Gebühr bestraft werden. Endlich, endlich soll der Durst nach Taten gestillt werden. Doch auch jetzt stößt die Sehnsucht der Offiziere, Großes zu vollbringen, auf natürliche Hindernisse: die militärische Disziplin bindet ihnen die Hände. Nicht einmal der Offizier, geschweige denn der Gemeine, trägt heute, wie zu Zeiten Napoleons, in seiner Patronentasche den Marschallsstab. Auch im Felde ist Subordination die Losung. Wer auf eigene Faust vorgeht, mißachtet den Befehl des Vorgesetzten. Und doch können im Kriege Fälle eintreten, wo der Offizier eigenmächtig handeln muß, wo Gehorchen fast ein Verbrechen wäre. Allein dieses Stück hat schon ein gewisser Heinrich v. Kleist geschrieben, und es brauchte selbst unter den veränderten Bedingungen moderner Taktik kaum wiederholt zu werden. Derselbe Kleist hat auch bereits recht überzeugend dargestellt, wie der Tapferste, der dem Tode furchtlos ins Auge zu sehen von Berufs wegen gezwungen ist, plötzlich von einer sehr menschlichen Todesfurcht befallen wird. Auch dieses Motiv, das ein professioneller Heldenverkleinerer wie Bernard Shaw mit Vorliebe ins Komische zerrt, ist dramatisch sozusagen schon erledigt. Immerhin: Fritz v. Unruh hat den Konflikt zwischen der unfreiwilligen Ruhe des Garnisonsdienstes und dem Wunsch nach Betätigung – einen Konflikt, unter dem moderne Marssöhne leiden müssen – wohl als erster auf die Bühne gebracht. (Auch den Kampf gegen die Hereros auf eine erste Bühne.) Und dieses Dilemma ist aufgezeichnet von einem, der vielleicht selbst schwer darunter gelitten hat. Aber leider gab ihm nur Mars zu sagen, was er leidet … – Mehr Mars als Ars spricht aus der Vertrautheit mit dem Milieu. Nur den Außenstehenden kann die Echtheit der Beobachtung verblüffen; im Grunde ist sie doch selbstverständlich. Ein Reichstagsabgeordneter weiß, wie es bei parlamentarischen Verhandlungen, ein Pennbruder, wie es im Asyl für Obdachlose zugeht; warum sollte ein Offizier in seiner Welt nicht Bescheid wissen? Es wäre töricht, wollte einer ein Militärstück schreiben, der nie gedient hat; es ist ein geringes Verdienst, wenn ein Militär über die nötige Sachkenntnis verfügt. Nur in den Tagen eines mißverstandenen Naturalismus konnte die Treue der Milieuschilderung maßlos überschätzt werden. Das Nebeneinander von Zügen befördert auf der Bühne nur die Langeweile; der Dichter, dessen Kunst beim Verdichten anfängt, muß zugleich Weichensteller sein, wenn er uns weiter und sich uns menschlich näher bringen will. Einzig auf das Überleben des Passendsten kommt es an. – Langweilig ist die Arbeit des Anfängers keineswegs, wenigstens nicht in den ersten Bildern. Das Treiben im Kasino wird durch etliche humoristische Lichter erhellt. Auch auf wirksame Stimmungsingredienzien versteht sich Herr v. Unruh schon recht gut. Wenn vor dem Auszug der Truppen in die Schlacht ein Hoch auf den obersten Kriegsherrn ausgebracht wird, hebt sich stolz jede Männerbrust; wenn das traute Volksliedchen ‚Muß i denn, muß i denn zum Städtele ’naus’ gesungen wird, bleibt kein Frauenauge tränenleer. Es gibt eben gewisse Situationen des Lebens, die auf der Bühne ihre Schuldigkeit tun müssen. Der Dichter braucht sie nicht zu verschmähen; aber daß er sie weidlich ausnutzt, das allein stempelt ihn noch nicht zum Dichter, selbst wenn Max Reinhardt segnend die Hände über ihn breitet. – Nun kann nicht verschwiegen werden, daß neben den Vorzügen auch andere Eigenschaften der Offiziere auffallen. Die Technik – um damit zu beginnen – ist ernstlich nicht zu diskutieren. Das erste Bild allein dürfte etwa sechzig Auftritte haben (ohne Übertreibung). Ein ununterbrochenes Kommen und Gehen; ein Taubenschlag ist dagegen eine Krankenstube. Massenszenen, Gespräche zu zweien, Monologe ohne den geringsten Versuch, das Erscheinen oder Verschwinden der Personen zu motivieren. Mancher Auftritt dauert kaum zehn Sekunden, so daß die gelegentlich verspottete Kunstlosigkeit der Russen daneben nicht mehr als Kurzatmigkeit gelten darf. Schon der Kontrastwirkung wegen hätte der Verfasser nach diesem perpetuum mobile des Eingangs auf Ruhepunkte bedacht sein müssen, aber er kann sich überhaupt von diesem System nicht trennen. – Keinem Anfänger, der etwas zu sagen hat oder auch nur einen Menschen zu formen weiß, soll aus seiner unbeholfenen Technik ein Strick gedreht werden. Die läßt sich erlernen; das andere aber ist das Unerlernbare. Überall da, wo der Dichter sprechen müßte, tritt irgendwie Kurzschluß ein. Das mag als preußische Gefühlskargheit ausgelegt werden, mit demselben Rechte jedoch, solange nicht der Beweis des Gegenteils erbracht ist, als poetisches Unvermögen. Nicht einmal in den Liebesszenen ringt der Überschwang der Empfindung nach Ausdruck. Ein gewisser militärischer Jargon ist ganz glücklich getroffen; sonst bleibt die Sprache beängstigend farblos, ohne Schattierungen, ohne Vortragsbezeichnungen, einfach preußisch schlicht. – Darstellerisch ist unter solchen Umständen nicht allzuviel aus einem Werk herauszuholen. Die Aufführung des Deutschen Theaters ging mit Bravour ins Zeug und durch übertriebene Lautheit auf die Nerven. Herr Kayßler als der schwerblütige Held hatte das Pathos Friedrich Schillers aus den Karlsschülern. Herrn Bassermanns komplizierte Natur kam in der Rolle eines wegen Spielschulden verabschiedeten und später für seine Tapferkeit rehabilitierten Leutnants schwerlich auf die Kosten. In Episoden bewährten sich die Herren Wegener und Waßmann aufs beste. So verhalf die alte Garde dem jungen Autor, trotz vereinzelten Protesten, zu einem recht ansehnlichen Erfolg, der dem Stück vielleicht einiges Bühnenleben verheißt.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Dezember 1911, Erstes Morgenblatt, Nr. 357.
August Strindberg, Der Scheiterhaufen (Sondervorstellung des „Berliner Künstlerischen Theaters“ im Lessing-Theater, 20.12.11). – „Neben mir im Lessing-Theater, wo August Strindbergs Drama Der Scheiterhaufen als Sondervorstellung des ‚Berliner Künstlerischen Theaters’ in Szene ging, – neben mir saß eine Dame, die gegen den Schluß hin die Finger in die Ohren steckte, weil sie, ein weiblicher Odysseus, nichts mehr von dem schaurigen Sirenengesang zu hören wünschte. Es scheint also, daß die Menge, selbst in Berlin, wo der Naturalismus zur höchsten Blüte gelangte, für gehäufte Greuel nicht mehr zu haben ist. Oder wehrte sich nur eine wohlige Weihnachtsvorfreude gegen die Ausschreitungen menschlicher Verruchtheit? – Und doch, welch ein Kerl von danteskem Maß, dieser maßlose Strindberg! Noch in einer schwächeren dramatischen Arbeit. Welch ein überlebensgroßer Haß spricht selbst aus einem solchen Nebenwerk! Es ist, als ob er alle Schrecken von Malebolge in den Umfang eines engen Zimmers zwänge. Ein Fanatiker von kyklopischer Wucht – auch darin den Kyklopen ähnlich, daß er nur mit einem Auge sieht – reißt die Fetzen von den Seelen; ein geistig Angefressener enthüllt die Schwären seiner Bisse. Vier Menschen benötigt er nur: Mutter, Sohn, Tochter und deren Mann (eine alte Dienerin verschwindet nach der ersten Szene), und er hält uns doch gebannt, so sehr wir uns innerlich gegen seine Zumutungen sträuben. Eine Familienkatastrophe ohne jeden Lichtfleck, ohne den schwächsten Strahl von Humor. Nichts als menschliche Gemeinheit, la bête humaine in ihrer abstoßenden Niedertracht. Den Vater hat die Mutter zu Tode gequält; ihre Kinder ließ sie hungern und frieren, während sie selbst ihren Freuden nachging und ihre Liebhaber mästete. Den letzten hat sie mit der eigenen Tochter verkuppelt. Der Sohn stöhnt seinen Schmerz auf dem Klavier hinaus und ersäuft seinen Hunger in Alkohol. Die Tochter ahnt die Beziehungen, in denen ihr Mann zu ihrer Mutter gestanden, und fröstelt. Nun zerreißt die Megäre auch noch das Testament, das ihren Sohn bedenkt, und steckt es in den Kamin. Kaum glaublich, daß eine so abgebrühte Verbrecherin nicht überlegter zu Werke gehen soll; denn das Schriftstück ist nur so oberflächlich vernichtet, daß der Sohn es bei der ersten Gelegenheit herauszieht und mühelos lesen kann. Aber die Stunde der Vergeltung naht. Niedere Magddienste muß die Alternde verrichten; die ekle Speise, mit der sie ihre Kinder bis zum Überdruß gefüttert, wird ihr selbst vorgesetzt; der liebliche Herr Schwiegersohn, der sein wahres Gesicht zeigt, dringt mit dem Stock auf sie ein; dazu wird sie von den Schreckgestalten ihrer Phantasie verfolgt. Im Zustand der Trunkenheit steckt der Sohn schließlich die Wohnung in Brand, und da die von der Angst fast zum Wahnsinn getriebene Mutter keinen andern Ausweg mehr sieht, springt sie zum Fenster hinaus. Eng aneinander geschmiegt, von wenigen holden Erinnerungen an die Kindheit eingelullt, geht das unterernährte Geschwisterpaar nach vollendetem Rachewerk jämmerlich im Rauch zugrunde. – Ein naturalistisches Schauerstück mit okkultem Einschlag. Es ist etwas von Schicksalsdrama darin. So in der Art, wie das Gewissen der Mutter erwacht, wenn der Schaukelstuhl, auf dem ihr verstorbener Mann mit Vorliebe gesessen, zu wackeln anfängt; auch Türen springen auf, die Gardinen blähen sich im Winde. Eine unmenschliche Brutalität der Empfindung stürmt auf die Hörer ein; nicht so leicht wird man im Bezirk des Dramas einer ähnlichen Gefühlsroheit zum zweiten Male begegnen. Und doch liegt in dieser Häufung von Widerwärtigkeiten beinahe Größe, wenn auch nur die Größe des Hasses. Ein poète maudit malt den Sturz der Verdammten. Natürlich spielt seine alte Lieblingstheorie hinein, daß durch das Weib alles Übel in die Welt gekommen ist. Das Weib begeht nicht nur Verbrechen: es ist die geborne Verbrecherin. Das Weib lügt nicht nur: es ist eine Lüge. Mutterliebe – ein Betrug; Kindesliebe – ein unfrommer Wahn. Man darf in so ungeheuerlichen Verzerrungen keinen Spiegel des Lebens sehn wollen; es sind gräßliche Übertreibungen eines Besessenen, eines, dem das Leben blutige Striemen geschlagen hat. – Wie empfänglich gerade in der Weihnachtswoche die Herzen für derartige Dinge sind, kann jeder ermessen. Hätte nicht die reife Kunst einer Rosa Bertens Respekt gefordert, August Strindberg wäre vielleicht von den Hyänen im Zuschauerraum zerfleischt worden.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Dezember 1911, Drittes Morgenblatt, Nr. 359.
Carl Rößler, Die fünf Frankfurter (Theater in der Königgrätzer Str., 23.12.11). – „Bei dem gesteigerten Interesse der Zeitgenossen für Millionäre und Fürstlichkeiten war es eine kluge Spekulation Carl Rößlers, die Anfänge eines internationalen Bankhauses auf die Bühne zu bringen. Es handelt sich in seinem Lustspiel Die fünf Frankfurter um die Rothschilds. Schon im Jahre 1822 wurden die fünf Söhne des verstorbenen Bankiers Mayer Anschel Rothschild in den österreichischen Freiherrenstand erhoben. Salomon, der Wiener Vertreter der Firma, will noch höher hinaus: seine Tochter soll einen deutschen Fürsten heiraten. Dafür will er die traurigen Finanzverhältnisse seines künftigen Schwiegersohnes regeln. Der Handel ist aufs feinste eingefädelt, die Präliminarien zu beiderseitiger Zufriedenheit erledigt; da weigert sich das Töchterlein, das Verstand und Herz sprechen läßt, diese ungleiche Ehe einzugehen. Ihr Onkel Jakob, der Pariser Repräsentant des Hauses, scheint ihr die Gewähr eines gesicherterten Glücks zu bieten. Der Herr Papa ist zwar bitter enttäuscht, daß sein hochfliegender Plan scheitert; da aber auch seine gute Mutter gegen die Partie ist, macht er schließlich gute Miene zu dem Herzensbund. Wenigstens bleibt auf diese Weise das Geld in der Familie. – Dies ist der knappe, geschickt auf drei kurze Akte verteilte Inhalt des Lustspiels, das nicht minder geschickt ernste und heitere Stimmungselemente mischt. Die Liebe der Nichte zum Onkel hat Georg Hermann in Jettchen Gebert vorweggenommen; auch das Milieu. Und wie bei dem Romanschriftsteller ist die Zeichnung des Milieus reizvoller als die der Personen. Wir werden in die Frankfurter Judengasse geführt. Die fünf Söhne hängen mit zärtlicher Liebe an ihrer Mutter, der liebenswerten Frau Gudula, deren Herz so proper ist wie ihre Haube. Hier im Stammhaus herrscht noch die gute alttestamentarische Tradition. Wenn die Söhne heimkommen, kocht die Mutter jedem der fünf seine Lieblingsspeise. – Recht anheimelnd ist das Quintett abgestuft. Anselm, der älteste, der das Frankfurter Stammhaus übernommen, wurzelt noch am tiefsten in den Eigentümlichkeiten des Stammes. Er ist eine etwas verfeinerte Herrnfeld-Figur [Anspielung auf das jüdische Jargontheater der Brüder Anton und Donat Herrnfeld]. Die andern, die in die Welt hinaus gezogen, haben sich rasch anzupassen vermocht. Nathan, der Londoner, ist berechnend, kühl und wortkarg wie ein Engländer. Salomon, der Wiener, ist ein dezidierter Streber. Carl, der nach Neapel gegangen ist und schon im Vatikan empfangen wird, gefällt sich als Stutzer. Jakob, der Pariser, ist schwerblütig und schwermütig wie Onkel Jason (bei Georg Hermann). Von der überragenden finanziellen Bedeutung der Brüder erhält man indes nur einen ziemlich vagen Begriff. Daß sie fleißig die Börse besuchen und treu zusammenhalten, das allein hätte wohl nicht den Glanz der Firma gemacht. Nur in einer Szene entwickelt Salomon, der aktivste, seine großzügigen Geldprojekte. Aber selbst er, an dessen Gerissenheit wir immerhin glauben können, enttäuscht uns insofern, als er, bei dem Heiratsprojekt mit dem Herzog vom Taunus – und auch das ist ein großzügiges Geldprojekt –, sich nicht vorher der Zustimmung seiner Tochter versichert: ein Salomon Rotschild fragt sein Kind, bevor er ihm den Bräutigam aussucht, zumal da dieses Kind einen ausgesprochenen Willen hat. – Dagegen sind in die Schilderung des Milieus recht lebenstreue Züge getragen. Die Enge der Judengasse wird fühlbar; etwas von der Anmut und Bescheidenheit der Biedermeierzeit weht hinein. Die Sprache gestattet sich allerdings etliche Anachronismen: das Wort ‚daseinsfreudig’ hat im Jahre 1822 noch nicht existiert; von vieux jeu im heutigen Sinne wußte man damals nichts; und auch der Ausspruch: ‚das soll uns die Konkurrenz einmal nachmachen’ ist gewiß jüngern Datums. Weniger überzeugend ist Rößlers Darstellung der aristokratischen Welt. Der leichtlebige Herzog, der die Verschwendungssucht und den Umgangston des französischen Hofes kopiert, tritt kaum aus dem Relief heraus; die Personen seiner Umgebung sind so unpersönlich wie möglich geraten. Doch rafft sich Rößler jedesmal energisch auf, sobald der Aktschluß herannaht. Die drei glänzenden Schlußpointen – die letzte fast poetisch – werden überall das Glück des Stückes entscheiden. – Die Aufnahme in der Königgrätzer Straße war sehr freundlich; die Aufführung hätte im Lokalkolorit echter sein dürfen.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Januar 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 10.
Hermann Bahr, Das Tänzchen (Lessing-Theater, 06.01.12). – „Sollte Hermann Bahr sein Lustspiel Das Tänzchen […] konzipiert haben, ehe sich der Polizeipräsident v. Jagow zum Plauderstündchen bei einer bekannten Schauspielerin ansagte? [Siehe MMs Theaterkritik vom 03.04.11, Zweites Abendblatt] Kaum glaublich. Wäre es aber dennoch der Fall, so hätten wir ein Schulbeispiel, wie weit die dichterische Phantasie hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Es ist jedoch hundert gegen eins zu wetten, daß nur eine spekulative Phantasie am Werke war, daß Herr Bahr sich von dem berühmten Sonntagnachmittagsvergnügen des Berliner Zensors inspirieren ließ. Der Fall Jagow auf die bevorstehenden Reichstagswahlen gepfropft; ins Politische übersetzt; ins Geschmacklose gezerrt; seines Humors beraubt. Und das hat mit seinem Tänzchen der Hermann Bahr getan… – […] Der erste Akt – ein solennes Essen bei Borchardt, in Berlins vornehmstem Weinrestaurant, mit daran anschließender parlamentarischer Besprechung – ist recht unterhaltend. Es fehlt nicht an guten Witzen, so etwa, wenn der Assessor als eine Art ‚Ober der Regierung’ definiert wird, und an gescheiten Worten. Allerdings, einen günstigeren Zeitpunkt als wenige Tage vor der Reichstagswahl hätte man nicht wählen können: jede Pointe wurde sozusagen mit offenem Munde aufgefangen und, nach leidiger Berliner Unsitte, wie in einer politischen Versammlung beklatscht. Hier sind immerhin Ansätze zu einem politischen Lustspiel, für das es in Deutschland zurzeit kaum einen fähigeren Kopf geben dürfte als den Österreicher Hermann Bahr. – Dann kommt der zweite Akt mit seiner plumpen, geschmacklosen Intrigue, die sich wie eine ganz gemeine Erpressungsaffäre anläßt. […] Selbst im Lessing-Theater, wo sich die vorurteilsloseste, neuerdings verschiedentlich auch urteilsloseste Gemeinde zu den Premieren einzustellen pflegt, ging dieser ordinäre Spaß etlichen Hörern so sehr gegen den Strich, daß sie mit kräftigem Zischen quittierten. Was die Situation des zweiten, ist die Gestalt des Generaldirektors im dritten Akt. Eine Herrnfeld-Figur, die sich ins Lessing-Theater verirrt hatte. Aber mir scheint, dieses ganze Lustspiel hat sich nur durch einen Irrtum dort eingeschlichen. Trüge es nicht die Marke ‚Hermann Bahr’, es wäre nie in Brahms Haus gelangt.“

Berliner Theater. NZZ, 17. Januar 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 17.
Wilhelm Schmidtbonn, Der Zorn des Achilles (Deutsches Theater, 13.01.12). – „Achilles hat nun, wie es ein leidiger Brauch unsrer dramatischen ‚Bücherrevisoren’ will, seine Umwertung, seine Deutung aus dem Bewußtsein der heutigen Zeit heraus erfahren. Homers herrlichster Held ist zu einer komplizierten Natur geworden, zu einem Herrenmenschen, durch dessen Adern einiges Blut von Nietzsches Zarathustra rinnt. Ein großer Einsamer steht vor uns. Ein Stück Mythos, wie Hebbels Siegfried. Die Persönlichkeit ist abstrakt gefaßt als das Genie der Kraft. Er wird irre an seinen Mitmenschen, der stolze Adler an den neidischen Krähen; sie vermögen ihm auf seinem Fluge zu den eisigen Gipfeln nicht mehr zu folgen. Unwillig zieht er sich aus ihrer widernden Mitte zurück. – […] Dieser Achill macht nur noch (nach einem stillschweigenden Abkommen mit Wilhelm Schmidtbonn) die Homerischen Vorgänge mit, aber diese ganze Welt muß ihm innerlich fremd sein. Er hat einige Tropfen zu viel von Kleistschem Öl. Die Vertiefung des Charakters ist gewiß eine schöne Sache und die einzige innere Rechtfertigung für den Dichter, der nach abgetragenen Stoffen greift; aber der Widerspruch zwischen Gefühlsverfeinerung und barbarischem Tun darf uns nicht allzu sehr zum Bewußtsein kommen. Das ist die überaus gefährliche Klippe für jeden, der auf erborgtem Schiffe fährt. Steht mir nun wirklich Schmidtbonns Achilles menschlich viel näher als der Homers? Ich habe meine Zweifel. Darum erstreckt sich meine Bewunderung für das Drama nur auf die ausgezeichnete Art, mit der das Technische gemeistert ist, aber nicht auf seine Gefühlswerte.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Januar 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 24.
Peter Nansen, Eine glückliche Ehe (Kammerspiele, 20.01.12). – „Peter Nansen, den seine Verehrerinnen einen nordischen Maupassant genannt haben, war gestern [am 20.01.12] fünfzig Jahre alt. Die Kammerspiele glaubten durch die Aufführung seines Lustspiels Eine glückliche Ehe den Tag feiern zu müssen. Es gab einen durch Jubiläumsstimmung besiegelten Erfolg. Wir gratulieren u. W. – Vier Akte ohne jegliche Handlung. Ein Weibchen, das auf den üblen Namen Nancy hört, wechselt die Liebhaber wie die Hüte. […] Das wird in behaglichem Allegro-Tempo vorgetragen. Ein bißchen weitschweifig, mit Wiederholungen, dünn, aber zierlich instrumentiert. Die Redseligkeit des Dialogs, der weder Gemüt, noch Geist, noch Witz anstrebt, entgleitet nie ins Geschmacklose. Es ist ein angenehmes, nur zu gleichförmiges Plätschern.“

Berliner Theater. NZZ, 30. Januar 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 30.
Lothar Schmidt u. Heinrich Ilgenstein, Fiat justitia! (Neues Schauspielhaus, 25.01.12). – „Lange, viel zu lange wurde die Kriminalgroteske Fiat justitia! von Lothar Schmidt und Heinrich Ilgenstein durch ein Polizeiverbot hinter Schloß und Riegel gehalten. Dadurch erhielt sie künstlich eine Bedeutung, die sich ihr künstlerisch kaum zusprechen läßt. Man fühlte sich an die bellenden Hunde erinnert, die nicht beißen. Der Zensor hat immer eine übertriebene Angst, die Stücke könnten beißen, und gibt ihnen durch unangebrachte Reklame Gelegenheit, vorher tüchtig zu bellen. Wenn sie dann ihre Zähne in der Öffentlichkeit zeigen sollen, entpuppen sich diese als stumpfe Kauwerkzeuge. – […] Die Phantasie der beiden Verfasser hat sich zu ängstlich an Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit geklammert, ohne sich sonderlich in eigne Unkosten zu stürzen. Da sie eine Groteske geben wollten, war es ihr gutes Recht, zu übertreiben. Aber davon haben sie nur streckenweise, eigentlich erst im letzten Akt, Gebrauch gemacht, während sie sonst in den Schranken der Wirklichkeit blieben und, statt zu erfinden, bewährte Züge oder Episoden zusammentrugen. Lustig werden sie nur zum Schluß im serbischen Leipzig. Hier liegen der gesunde Menschenverstand und das in Paragraphen eingeschnürte Recht in ergötzlichem Kampfe. Hier wird die Satire zwar Kasperletheater, aber wirksam.“

Berliner Theater. NZZ, 12. Februar 1912, Drittes Abendblatt, Nr. 43.
Leo Tolstoi, Und das Licht scheinet in der Finsternis (Kleines Theater, 08.02.12). – „Etwas Seltsames, etwas Wunderbares ist geschehn: ein Drama, an dessen Bühnenmöglichkeit, an dessen Bühnenwirksamkeit niemand zu glauben schien, hat uns gepackt, ergriffen, fast erschüttert. Und das Licht scheinet in der Finsternis, des Grafen Leo Tolstoi posthume Beichte, strahlte wie eine reine weiße Flamme in die Dunkelheit der Massenbelustigung. Ein verehrungswürdiger Mensch ließ uns in das Labyrinth seiner Brust blicken, enthüllte die schwärenden Wunden seiner Seelenkämpfe. Nicht als ob von einem großen Theatererfolg Kunde zu geben wäre – dazu ist dieses handlungsarme Gewissensdrama mit seinen hochnotpeinlichen Auseinandersetzungen nicht angetan, und das grenzenlos verflachte, durch übertriebenen Ausstattungszauber verdorbene und nur nach schalen Vergnügungen lechzende Durchschnittspublikum der Großstadt würde einem so ernsten Werke die Gefolgschaft weigern –, aber die wenigen Menschen, die im Theater mehr suchen als nur Sinnenkitzel, sind wieder einmal (wohl zum erstenmal in diesem unsagbar tristen Winter) von den Brettern herab eines Erlebnisses teilhaftig geworden. – Aus dem Nachlaß des russischen Dichters wurde diese schmerzensreiche Konfession hervorgezogen. Ein unfertiges Werk. Ausgeführt ist eigentlich nur der erste Akt, dessen Dialog die volle Rundung empfangen hat. Die Gestalten sind mit fester Hand umrissen, aber die letzte Ausgestaltung ward ihnen nicht zuteil. Man spürt: hätte der Dichter dieses religiös-soziale Bekenntnis bei Lebzeiten aus der Werkstatt entlassen (was sich seinem intimen Charakter nach aus Gründen des Taktes verbot), vieles wäre anders geworden, manches wäre erst geworden. Noch stand ihm der Schluß nicht fest, für den er einen kruden Theatereffekt notiert hatte, während jetzt das Drama wie der wehe Satz einer Tschaikowskyschen Sinfonie still verklingt. Der Entwurf darf also nicht auf die kritische Goldwaage gelegt werden; aber wir wollen freudig bewegt feststellen, welche Kraft dichterischer Vision, welche Stärke ethischen Gefühls, welche Fülle von Menschlichkeit darin steckt. – Auch von einem Kunstwerk kann gegenüber dieser losen Szenenfolge kaum die Rede sein. Ein Bußfertiger vertraut sich dem Papier an, führt seine persönliche Sache, schüttet sein volles Herz aus, wägt das Für und Wider. Die Bühne wird zur Kanzel, das Drama zum Traktat. Stände hinter dieser unvollendeten Dichtung Tolstois nicht sein vollendetes Leben, die Dichtung könnte nicht bestehen. Sie erhält ihre tiefere Bedeutung und ihre höhere Weihe durch das Leben des Menschen, das bis zu jener äußersten Konsequenz ging, vor der die Fiktion zurückschreckte. […] – Fragt man, welche Werte sich aus diesem Bekenntnis für die Menschen der Gegenwart ergeben, so ist der positive Gewinn recht prekär. Der theoretische Kommunismus als Frucht der Bibelauslegung hat in unserm Weltenbau keine Stätte. Die allgemeine Menschenliebe auf der Grundlage des religiösen Glaubens führt uns nicht viel weiter: denn schließlich strebt die Kirche, deren Lügenhaftigkeit Tolstoi unerschrocken entlarvt, ja nichts anderes an. Was sich eine moderne Zeit als Ziel vorzusetzen hätte, wäre die Menschenliebe auf der Grundlage des sozialen Mitleids, unabhängig von jeder Religion. Aber über alle Schranken und Schrullen hinaus tönt hier die Stimme eines Predigers in der Wüste. Die Kraft und Reinheit seiner Überzeugungen zwingen uns auch da noch zur Ehrfurcht, wo wir die Durchführbarkeit seiner Ideen belächeln.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Februar 1912, Drittes Abendblatt, Nr. 54.
August Strindberg, Königin Christine (Theater in der Königgrätzer Str., 20.02.12). – „Als (verspätete) Huldigung zu August Strindbergs sechzigstem Geburtstag [22.01.1909] brachte das Theater in der Königgrätzer Straße das vieraktige Schauspiel Königin Christine zur Aufführung. Damit machte der Historiendichter Strindberg wohl seine Antrittsvisite auf einer Berliner Bühne. Um das Urteil über diesen Zweig seiner dramatischen Betätigung gleich vorwegzunehmen: der andere Strindberg, der Zeitkritiker, selbst wenn er maßlos haßt, ist uns weit lieber, hat uns mehr zu sagen und sagt uns mehr. Es scheint fast, als fänden wir ihn am ansprechendsten, wenn er uns zum Widerspruch reizt. – Diese Historie ist weder ein gutes Theaterstück noch eine gute Dichtung. Zum Theaterstück fehlt ihr die lückenlos gefügte Aktion, die überzeugende Wechselwirkung zwischen den Personen und ihren Handlungen und manches andere; zur Dichtung so gut wie alles. Wir sehen eine in Akte aufgeteilte Reihe lose verbundener Begebenheiten, die sich um die Zentralfigur der schwedischen Königin gruppieren. An sich haben sie geringe menschliche Bedeutung; erst durch die Geschichte erhalten sie eine erborgte Wichtigkeit. Macht aus dieser Königin Christine eine simple Christine – sie ist uns weniger als das Wiener Vorstadtmädel gleichen Namens bei Schnitzler; macht aus diesem Kanzler Oxenstjerna einen schlichten Vormund, aus diesem unrasierten Vetter, dem nachmaligen Karl X., einen Vetter aus Bremen: das unterernährte Drama stürbe vorzeitig an Entkräftung von Haupt und Gliedern, an innerer Belanglosigkeit. – […] Als Strindberg sich für diese historische Heldin entschied, mag etwas von seinem früheren Weiberhaß in ihm aufgeblitzt sein. Hier fand er ein Paradigma, an dem sich seine Theorie von der Inferiorität der Frau erhärten ließ. Sie ist untauglich zum Regieren; sie tändelt mit dem Schicksal ihres Landes wie mit den Herzen ihrer Buhlen; ihr Spieltrieb macht sie unempfänglich für die Anforderungen der Politik; ahnungslos beschwört sie Kriege herauf; nicht den kleinsten ihrer Wünsche opfert sie; für die Not des Volkes hat sie kein Ohr. Die Tochter Gustav Adolfs treibt die Farce so weit, daß sie der Religion ihres Vaters den Rücken kehrt. Aber während der Arbeit scheint sich der Dichter in seine Christine verliebt zu haben. Er hat ihr so reizvolle Züge mitgegeben, daß selbst er auf die Dauer nicht widerstehen konnte. Und in einer Liebesszene sind so tiefe und schöne Worte niedergelegt, daß sie unmöglich aus einem widerstrebenden Herzen fließen konnten. Das Modell hat an dem Künstler die amüsanteste Rache genommen: es zog ihn in seinen Bann. Der Weiberfeind kniet am Altar des Weibes und kränzt ihn mit Blumen…“ – Als Strindberg wenige Wochen später (am 14.05.12) starb, diente das ‚vorwegnehmende Urteil’ des ‚Berliner Kollegen M.M.’ übrigens der NZZ als Aufhänger für ihre Betrachtung ‚Nachträgliches zu August Strindbergs Tode’ (NZZ, 31.05.12, Nr. 150).

Berliner Theater. NZZ, 28. Februar 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 59.
William Shakespeare, Viel Lärm um Nichts (Deutsches Theater, 23.02.12). – „Max Reinhardts Neuaufführung von Shakespeares Komödie Viel Lärm um nichts im Deutschen Theater hat, dem Beifall nach zu schließen, den Leuten großartig gefallen. Was hat ihnen gefallen, das Stück oder die Darstellung? Beides vermutlich. Das Stück ist von Shakespeare – was will man mehr! Die Wahrheit zu gestehn: gerade dieses unsterbliche Lustspiel ist teilweise recht ungenießbar geworden. […] Die Reinhardtianer de pur sang werden, vom Erfolg berauscht, die Parole ausgeben, auch dieses Werk Shakespeares habe erst auf den Meister der Regie warten müssen, um sein Klima, seine Atmosphäre, sein Tempo, seinen Rhythmus, seinen Rahmen zu empfangen. Für sie ist nicht, was nicht von ihm ist. Ganz so hoffnungslos steht diesmal die Sache nicht. Ich habe unvergeßliche Aufführungen des Lustspiels in London gesehen – Aufführungen von strahlender Schönheit und moussierendem Geist, die das merry old England ins Leben zurückzurufen schienen. Ellen Terry als Beatrice war wohl das Sprudelndste, was man an holder Weiblichkeit finden konnte, noch in reiferen Jahren von der siegessicheren Anmut des Mädchens umleuchtet. Ihr Sohn, Gordon Craig, hatte für sie eine Inszenierung gedichtet, die vielleicht alles, was ich je auf europäischen Bühnen sah, übertraf [s.o. NZZ vom 22.07.03, Nr. 201]. Dieselbe Ellen Terry spielte an dem Tage, da sie fünfzig Jahre auf den Brettern stand [am 12.06.06], einen Akt dieser Komödie, von sämtlichen Künstlern Englands umringt, und man darf ohne Übertreibung sagen: eine solche Fülle erlesenster Menschenschönheit war selten auf einem Erdenfleck vereinigt.“

Berliner Theater. NZZ, 8. März 1912, Drittes Abendblatt, Nr. 68.
Eberhard König, Alkestis (Lessing-Theater, 02.03.12). – „Von Euripides, dem dramatischen Zwischenstufler, von Hans Sachs in allen Gassen, von weiland Wieland, Goethe und Herder, so weit sie mit Alkestis in Verbindung steh’n, braucht der moderne Theaterbesucher nichts zu wissen und kann dennoch reichlich auf seine Kosten kommen, wenn ihm eine witzige Verspottung der Antike vorgemimt wird. Offenbach bedarf keines Kommentars: er wirkt durch sich selbst. Eberhard König wäre durch die ausführlichen Erörterungen über das Schicksal seines Stoffes um kein Iota interessanter zu machen. Ein ausgeblasenes Ei wird dadurch nicht voll, daß man es in einen Korb mit Häcksel legt. Blumauer, den die zünftige Literarhistorik hochnäsig einen miserablen Kerl schilt, ist neben Eberhard König ein Riese an Haupt und Gliedern. – […] Der Parodist konnte mit diesen ernsteren Zügen nichts anfangen. Er schloß die Figur des lustigen Witwers ins Herz. Während der untröstliche Admet die treue Alkestis beweint, bandelt er schon mit ihrer schnippischen Zofe an. Indem er die eine betrauert, lauert er schon auf die andre. Ach, wie so trügerisch sind Männerherzen. Das ist das Einzige, was König herausarbeitete. – Dazu nähte er moderne Lappen auf den antiken Stoff. Wenn im alten Hellas plötzlich das Telephon bimmelt oder im Hades die Schreibmaschine rattert, so sind das anachronistische Späße, über die jeder Primaner, Blumauers Spuren ohne Erröten folgend, mühelos verfügt. […] Königs Schelmenspiel erhebt sich kaum über das Niveau eines Bierulks, wie ihn Studenten mit gutem Humor auf der Kneipe darstellen.“

Berliner Theater. NZZ, 21. März 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 81.
Gustav Wied, Tanzmäuse (Kleines Theater, 15.03.12). – „Aus seinem Roman Tanzmäuse, der amüsant und frech sein soll (relata refero), hat Gustav Wied ein Satirspiel in dreizehn Momentbildern exzerpiert, von denen das gleiche nur mit Einschränkung gilt. […] Momentaufnahmen. Was ist ihr Wesen? Daß sie eine aparte Situation festhalten. So weit ist der Schnellphotograph Wied hier nicht vorgeschritten. Er fand nur aparte Unterschriften für seine Bilder, nachdem er x-mal Dargestelltes auf die Platte gebracht hatte. Wenn er sich wenigstens auf scharfe Beleuchtung verstände! Ab und zu blitzt wohl eine witzige Bemerkung auf (etwa diese: ‚Frauen und Tiere sind glücklich; wir Menschen sind es nicht’), dann wieder breiten sich Strecken von öder Dagewesenheit aus. Der Satiriker rollt mit Bewußtsein einen Film ab, doch es fehlt ihm der flimmernde Stil für dieses vorüberflitzende Genre. Und der tragische Rahmen für seine Kinoaufnahme ist geradezu peinlich. So geht es in der Welt zu, demonstriert der ernste Schalk: für das Genie ist kein Platz oder nur ein Platz in der Irrenanstalt; der unterernährte Sozialreformer fällt religiösem Wahnsinn anheim. – Das aus beliebig vielen Stücken bestehende Stück wurde im Kleinen Theater durch eine überaus liebevolle Inszenierung und Darstellung über seine Bedeutung emporgetragen. Der Hauptanteil des Beifalls gebührt dem Maler Svend Gade, der durch köstliche Dekorationen im Bilderbuchstil, auf denen jede Einzelheit drastisch aufgepinselt war, die lustigste Fassung für einen nicht immer lustigen Inhalt bot. Dem verdienstvollen Regisseur Barnowsky stand ein Häuflein Schauspieler zur Seite, die gleichermaßen durch ihre Wandelbarkeit wie durch die Sicherheit der Gestaltung entzückten. Allen voran die Meisterin der Charge Ilka Grüning, die, wie man im Sportjargon sagt, eine Klasse für sich bildet. Es war ein Erfolg derer, die mehr zu machen wußten, als Gustav Wied diesmal für sie gemacht hatte.“

Berliner Theater. NZZ, 27. März 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 87.
Georges Courteline u. Pierre Wolff, Margot kann mir gestohlen werden (Kammerspiele, 19.03.12); Victor Arnold, Pierrots letztes Abenteuer (Kammerspiele, 19.03.12). – „Zuerst sah man den ausgezeichneten Darsteller [Victor Arnold] in der Komödie Margot kann mir gestohlen werden von Georges Courteline und Pierre Wolff. […] Wie er [der Philister] um den Besitz des Mädels ringt und alles, was an Empfindungswerten in ihm vergraben liegt, für eine im Grunde ungeliebte Person in die Wagschale wirft: das erhebt ihn zu einer tragikomischen Figur. – Erhob ihn zu einer solchen in Herrn Arnolds lebensechter Verkörperung. Wir haben diese Gestalt zwar nicht zum erstenmal von ihm gesehen, aber es ist immer wieder bewundernswert, wie mühelos und überzeugend er den Übergang von einer zappelnden Possenfigur zu einem rührenden Menschen findet. Eben noch war er ein putziges Geschöpf, das erheiterte; im Augenblick darauf ist er von einem Hauche der Tragik umwittert. Der echte Komiker – wer wüßte es nicht längst? – hat mehr Gewalt über die Tränendrüsen als über die Lachmuskeln der Hörer. […] – Danach kam der Dichter Victor Arnold an die Reihe. Mit einer Pantomime Pierrots letztes Abenteuer. Mich dünkt, sie war fehl am Ort. Der Sohn, der, als Mädchen verkleidet, vom Vater umworben wird – das ist Kost mit einem penetranten Hautgout. Sie gehört ins Variété (am Coliseum in London hat sie bereits eine Stätte gefunden) oder in eines der unausstehlichen Berliner Kabaretts; schwerlich auf die Bühne, deren Ehrgeiz es einst war, die erlesenste dramatische Kleinkunst, die sonst an verschlossene Türen klopft, würdig zu beherbergen.“

Berliner Theater. NZZ, 2. April 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 93.
Moritz Heimann, Der Feind und der Bruder (Kammerspiele, 26.03.12). – „‚Man hat nicht vier Akte auf der Bühne gesehen, sondern drei Stunden Moritz Heimann gelauscht’, stand hier vor Jahresfrist zu lesen, als seine ostelbische Komödie Joachim von Brandt im Kleinen Theater aufgeführt wurde [s.o. NZZ vom 24.11.10, Nr. 325]. Noch für die Zahl der Akte und die Zeitdauer gilt dasselbe von seiner Renaissancetragödie Der Feind und der Bruder, die in den Kammerspielen mit wachsendem Unbehagen angehört wurde. Und wenn uns nächstens der Lektor des Fischerschen Verlags mit einem Griechendrama oder einer christlichen Moralität kommen sollte: durch alle Kostümierungen und Datierungen hindurch wird weniger ein Herz, eine Seele, ein Temperament vernehmlich sein als der weisheitstriefende Mund Moritz Heimanns. Ob er einen Condottiere oder eine Fischersfrau, einen Krautjunker oder einen Dogen sprechen läßt: in jeder Maske spricht er selbst, den Wert der Worte wägend, sie auf der Zunge zergehen lassend. ‚Ein Sirach! Ein Salomo! Er hakt in jeder Öse.’ – ‚Der Prediger sagt mit Wahrheit (ich zitiere Moritz Heimann): wo viel Träumen, da ist viel Eitelkeit und viel Gerede.’ Bei unserm Renaissancedichter ‚träumt’ selbst der Blitz. (Es ist eines jener ungemein geistreichen Bilder, die das Wesenhafte seiner Metaphern blitzartig erleuchten.) Ein Blitz, der ‚überm Horizont’ träumt! Man mag daran ermessen, wieviel Gerede in dieser Tragödie steckt. […] Daneben kommt auch die Eitelkeit zu ihrem Rechte; denn in der Art, wie alle Figuren ohne Unterschied des Geschlechts, Alters oder Standes über einen oratorischen Kamm geschoren werden, verrät sich das Wohlgefallen des Sprechers an seiner eigenen Stimme. ‚Jedes Wort, im kleinen und im großen (ich zitiere Moritz Heimann), wächst dir so zu etwas Ungeheuerlichem aus, daß es den Sinn ertränkt und nur sich selbst in seinem blinden Rasen wissen will.’ Statt einer Aktion wird uns ein großer Kuchen Weisheit vorgesetzt, mit dem Öl der Neuen Rundschau angerührt; statt dramatischer Rede und Gegenrede tritt ein Aphorismus dem andern auf die Hacken. Von theatralischer Begabung ist nicht der leiseste Hauch zu spüren. […] – Umständlichkeit, nicht Gegenständlichkeit ist das Rüstzeug des Dramatikers Heimann. In keinem Augenblick fühlt man die Notwendigkeit, daß sich dieser mitteilsame Geist just durch das Theater mitteilen müsse. Durch sämtlicher Personen Mund wird nur Herrn Heimanns Weisheit kund.“

Berliner Theater. NZZ, 4. April 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 95.
Gerhart Hauptmann, Das Friedensfest (Lessing-Theater, 30.03.12). – „‚Anno 48 hat Vater auf den Barrikaden angefangen, and als einsamer Hypochonder macht er den Schluß.’ Mit diesen Worten wird der alte Dr. med. Fritz Scholz in Gerhart Hauptmanns Bühnendichtung Das Friedensfest charakterisiert. Als sie jetzt im Lessing-Theater gesprochen wurden, wollte es uns scheinen, als fänden sie auf seinen Leiter, den Dr. phil. Otto Brahm, nicht unpassend Anwendung. – Er hat auf den Barrikaden angefangen; wenn auch nicht Anno 48, so doch im literarischen Sturmjahr 89. Er war ein Zertrümmerer alter Altäre, ein Petroleur; er ward ein Bannerträger neuer Ideen, ein Pionier. Er hat für die bessere Sache (oder wenigstens für die, welche ihm als die bessere erschien) mit unbeirrter Energie, mit zähester Konsequenz gekämpft. Und mit der ganzen Einseitigkeit des Fanatikers, der neben den von ihm verehrten Göttern keine andern dulden wollte. Wie alle Doktrinäre war er blind für das, was außerhalb seines Interessenkreises lag. Lange existierte es überhaupt nicht für ihn; als er es schließlich anerkennen mußte, geschah es fast widerwillig. Im Herzen blieb er dem von ihm zum Siege getragenen Prinzip treu. Er wurde nicht – mit Sudermann zu reden – an das Kreuz seiner Erfolge geschlagen, er schlug sich selbst daran. Der Revolutionär wurde ein Reaktionär. Seine künstlerische Mission war erfüllt, als die von ihm geförderten Künstler durchgedrungen waren. – Otto Brahm ist der Begründer eines realistischen Darstellungsstiles in Deutschland geworden und hat ihn zur höchsten Vollendung ausgebildet. Aber man lernte allmählich einsehen, daß dieses Höchste, was die Schauspielkunst in Berlin leistete, eigentlich das Leichteste war. Wenn Max Reinhardt nichts weiter getan hätte, als daß er dieser Überzeugung den Weg geebnet, er hätte für die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst, der Haltung, Musik und Phantasie gleichermaßen zu entschwinden drohten oder vielfach schon entschwunden waren, sehr viel getan. Reinhardt zeigte, daß die von Brahm bevorzugten Werke nicht die höchsten Aufgaben für den darstellenden Künstler seien; und indem er sich selbst gelegentlich auf dieses Gebiet begab, erbrachte er (spielend) den Nachweis, daß nicht einmal die Art, wie Brahm seine Lieblingsstücke aufführen ließ, die höchste sei. (Allerdings, es war der frühe Reinhardt, der aus Brahms Schule kam.) – Ein Vergleich zwischen der Aufführung des Hauptmannschen Friedensfestes, die wir vor fünf Jahren bei Reinhardt sahen [s.o. NZZ vom 24.01.07, Nr. 24], und der jetzigen des Lessing-Theaters fällt keineswegs zugunsten Brahms aus. Die Niederlage zählt doppelt, wenn man bedenkt, daß die Kammerspiele durchaus nicht auf diesen Stil eingeschworen waren, während Brahm nur auf diesen Stil eingeschworen ist. Zwar die große Else Lehmann, die dem Stück im Lessing-Theater Glanz und Klang und Sonne leiht, obwohl sie nur die Rolle der Mutter Buchner gibt, hatte Reinhardt nicht zur Verfügung; aber sonst waren fünf Partien besser in seiner Vorstellung besetzt, abgesehen davon, daß seine Regie Ton und Atmosphäre des Werkes ungleich schärfer herausarbeitete. Wer weiß, wie das Urteil über Brahms naturalistische Darbietungen, die einst als Gipfel dastanden, ausfallen würde, wenn wir mehr Vergleichsmöglichkeiten besäßen! – […] Welchen neuen Dramatiker hätte Otto Brahm gefördert? Es gibt keine neuen, wird er erwidern. Gewiß nicht, wenn man sich von ihnen nur ein sicheres Geschäft verspricht und bloß die Trägheit des Publikums, aber nicht den Wagemut der Schaffenden unterstützen will. Auch einem Theaterdirektor fliegen die gebratenen Tauben nicht in den Mund. Welches klassische Werk hätte er zu spielen unternommen? Keines. Seitdem Otto Brahm in dem Hause am Ruder ist, das auf den Namen Lessings getauft ist, hat er nicht ein einziges klassisches Werk gegeben. Seine Künstler halten es ja auch in dem öden Einerlei dieses Repertoires nicht aus. Rittner hat sich theatermüde zurückgezogen; Bassermann ging ohne Skrupel zur Konkurrenz; wenn es die Triesch nach neuen Taten gelüstet, sucht sie bei andern Direktoren Unterkunft. Und die Schauspieler, die selbstgenügsam an der Scholle kleben, werden sicher nicht vielseitiger, dadurch, daß sie jahraus jahrein sich in demselben engen Kreis bewegen. – Wenn sie sich nächstens auf eigene Füße stellen werden, wird es ihre erste Pflicht sein, frische Luft hereinzulassen. Der Quietismus ihres jetzigen Leiters würde sie bald um alle Sympathien bringen. – … Was Otto Brahm geleistet hat, gehört der Vergangenheit an. Sie wird ihm seine Verdienste weder vergessen noch schmälern und ihm stets einen Ehrenplatz in der deutschen Theatergeschichte anweisen. Aber die Gegenwart hat sich damit abgefunden, nichts mehr von ihm zu erwarten. Er sollte sie nur weniger eindringlich an Heinrich Laubes Ausspruch erinnern, daß kein Theaterdirektor länger als zehn Jahre im Amte bleiben sollte. Wenn Otto Brahm, der Barrikadenkämpfer von 1889, im Jahre 1914 vom Schauplatz abtritt, könnte er mit Kaiser Otto III. (beim Grafen Platen) sprechen: ‚Und legt den tatenlosen zum tatenreichsten Mann!’“

Berliner Theater. NZZ, 18. April 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 108.
Molière, George Dandin oder Der beschämte Ehemann (Deutsches Theater, 13.04.12). – „Wie kommt es, daß sich Reinhardts Blicke just auf dieses Stück des Franzosen lenken, das bis auf das Zitat ‚Vous l’avez voulu, George Dandin’ verschollen ist? Was mag ihn bewogen haben, den abgestandenen Trank zu kredenzen? Einzig der Wunsch, ihn in einen funkelnagelneuen Becher zu gießen. Der Wein kann ihn nicht bestimmt haben; es ist der Becher, die Fassung, die Aufmachung, das Drum und Dran. Um die Hahnreikomödie des George Dandin, der eine Aristokratin heiratet und nach allen Regeln höflicher Form zu Kreuze kriechen muß, hätte Reinhardt nicht den kleinen Finger gekrümmt, wenn ihn der überladene Rokokorahmen, die Tänze und Zwischenspiele, die für die Aufführung im Schloßpark zu Versailles hinzugedichtet wurden, nicht gelockt hätten. Darnach streckte er beide Hände aus. Schäfer und Schäferinnen, die ihr verliebtes Spiel treiben, sich in zierlichem Menuett drehen; Fischerchöre, wenn die Liebhaber aus dem Karpfenteich gefischt werden; die Arie der verzweifelten Chloris bei Mondenschein; Musik von Lully; pastorale Mätzchen; bukolischer Schnickschnack; graziler Reigen; Watteau vivant – wenn das nicht den Gaumen reizt! Das Gericht ist ja den vergnügungstrunkenen Zeitgenossen Nebensache geworden; die Herrichtung macht es, und keiner fragt darnach, ob sie nicht einer Hinrichtung gleichkommt. – Nach Herzenslust konnte der maître de plaisir schwelgen. Die anmutigste Dekoration. Im Hintergrund ein petit Trianon, von einem Rokokopark mit kosigen Lauben umgeben. Schäfertänze zu entzückenden Lullyschen Weisen; anakreontische Stimmung; bauschige Röckchen; schlanke Frauenbeine schimmern; Moissi läßt seinen schmalzigen Tenor strahlen. Gebet dem Theater, was des Theaters ist! Nur sagt uns nicht, daß das Deutsche Theater noch das deutsche Theater ist. Dergleichen hat in allen Hauptstädten eine Heimstätte. Und wenn Reinhardt nicht zufällig mit außerordentlichem Erfolg in Deutschland wirkte, das bis vor kurzem sich der ernstesten Theaterkunst rühmen konnte, in England und Amerika würde er unbedingt Geschäfte und Sensation machen (er macht sie schon). Schade um diesen wertvollen Menschen, der als ein Bringer neuen Heils anfing und damit zu enden scheint, daß er auf den Geschmack seiner Zeitgenossen gekommen ist. Auch er ein Opfer Groß-Berlins. Sein Herz gehört jetzt dem Ausstattungszauber, den Massenaufzügen, den Beleuchtungseffekten, stilechten Gewändern, geschmackvollen Interieurs, all dem, was auch zum Theater gehört, was sich aber nicht breit und umständlich und selbstgefällig vordrängen darf, wenn es das Wichtigere nicht ersticken will. – […] … Die ernste dramatische Kunst schickt sich an, von uns Abschied zu nehmen. Adieu pour toujours. Sie liegt bereits in den letzten Zügen oder zum mindesten auf dem Siechenbett. Noch ein paar Jahre kann der Todeskampf dauern, dann ist es aus – aus für immer. Als Todesursache wird der Anatom (wenn auch nicht auf dem Leichenschein, so doch in den Büchern der Theatergeschichte) Max Reinhardt verzeichnen. Sie wird nicht an Entkräftung, sondern an Überfütterung zugrunde gehen. Was Reinhardt heute macht, das machen soundsoviele Theater in London, machen es zum Teil besser. Nur in der Art, wie er den ganzen Bühnenerdball umspannt, von Petersburg bis nach New York, vom Oedipus bis zur Schönen Helena, ist er ein Unikum. Und der letzte Satz des Anatomen wird lauten, während ihm eine Träne aufs Papier rollt: Deutschlands nationales Theater erzeugte einen internationalen Theaternapoleon und – starb …“

Berliner Theater. NZZ, 25. April 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 115.
Gustav Collijn, Der Turm des Schweigens (Neues Schauspielhaus, 20.04.12). – „Was soll das? Man hört diese drei Akte still ergeben, mit edler Fassung an. Auch nicht ein Satz, nicht ein Vergleich, nicht ein Wort dringt tiefer als bis zur Ohrmuschel. Es wäre lehrreich, den Direktor des Neuen Schauspielhauses zu fragen, wieso er auf diese Semiramis verfallen ist. Weil ihm die Schöneberger Polizei die Aufführung des Dramas Korallenkettlin von Franz Dülberg nicht gestattet, brauchte er sich nicht gleich in den verbotenen Turm des Schweigens zu begeben. […] Der Verfasser ist ein junger Schwede, wie vorher mitgeteilt worden war; nachdem man sein Werk kennen gelernt hatte, wußte man nicht mehr von ihm. Es ist kaum möglich, von der erschütternden Belanglosigkeit des Stückes auch nur einen annähernden Begriff zu geben.“

Berliner Theater. NZZ, 2. Mai 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 122.
Sacha Guitry, Der Nachtwächter (Kleines Theater, 27.04.12). – „Sacha Guitry kommt in seinem dreiaktigen Lustspiel Der Nachtwächter mit drei Personen aus. Es sind: Sie, der junge Mann und der alte Herr. Jeder weiß sofort, was los ist. Der alte Herr erhält sie; der junge Mann unterhält sie. Er erscheint auf der Bildfläche (da er Maler ist, bleibt das Bild sozusagen im Bilde), wird gesehen und erhört. Tausendmal auf der französischen Bühne dagewesen […]. Was ist nun das Besondere dieses Stücks? Daß der alte Herr den Teilhaber (englisch heißt er sleeping partner) duldet, sanktioniert, zum Ausharren ermutigt. Es ist ein talentvoller Bursche, brav und fleißig. Bei Tag wie bei Nacht. Er hat dem Fräulein durch seine große Liebe eine neue Existenz geschenkt und sie durch seine Gesellschaft davor bewahrt, im Sumpfe nächtlicher Vergnügungen mit zweifelhaften Kumpanen unterzugehen. Dafür ist ihm der alte Herr aufrichtig dankbar. Und er wünscht den Fortbestand des dreieckigen Verhältnisses. Einmal: weil ihn die Mitwirkung eines jüngern entlastet. Ferner: weil ‚sie’, solange sie den Maler liebt, ihm, dem alten Herrn, treu bleibt. Mit einem Wort: er ist zufrieden. Weniger ist es der Maler, der, anspruchsvoll wie die Jugend ist, den Alleinbesitz des geliebten Wesens für sich fordert. Er fängt an, sich in der Rolle des approbierten ‚Nachwächters’ unbehaglich zu fühlen. […] – Ist es nicht Kunst, was die heutigen Franzosen dem Theater bieten, so ist es doch gutes Handwerk. Die zarte Sorgfalt, mit der sie Einzelheiten ausführen, nötigt auch den zur Bewunderung, der für das ganze abgegriffene Genre nicht allzuviel übrig hat.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Mai 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 131.
André Rivoire u. Lucien Besnard, Mein Freund Teddy (Kammerspiele, 07.05.12). – „Mein Freund Teddy von André Rivoire und Lucien Besnard ist – rara avis! – ein Pariser Lustspiel ohne Ehebruch oder, wie man heute so schön euphemistisch sagt, ohne Eheirrung. Kein junges Mädchen braucht im Theater zu erröten. Höhere Töchter können truppweise hingeführt werden. Es wird ihnen sogar ein wenig Moral gepredigt. Sie haben, die jungen Dinger von heute, ziemlich frivole, oder unziemlich frivole Ansichten über das Sakrament der Ehe; sie meinen, sie sei nur dazu da, gebrochen zu werden. Aber sie sollen eines bessern belehrt werden durch das Beispiel einer verheirateten Frau, der tugendhaften Madeleine Didier-Morel. (Der Name schon klingt wie ein Programm.) […] – Doch der Sommer steht vor der Tür, und das Publikum der Kammerspiele schien seine Ansprüche merklich herabgeschraubt zu haben. Es bereitete dem behaglich plaudernden Werkchen nach dem sehr frischen ersten Akt einen ganz echten Erfolg, der später ein wenig abflaute, aber auch noch den bedenklichen dritten Akt sicher in den Hafen brachte.“

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1912 / 1913

Berliner Theater. NZZ, 17. September 1912, Drittes Abendblatt, Nr. 259 (Nr. 1301).
Carl Sternheim, Don Juan (Deutsches Theater, 13.09.12). – „Wie war es möglich, daß das Deutsche Theater die Tragödie Don Juan von Carl Sternheim zur Aufführung annahm? ‚Die innere Kraft und Bedeutung dieser Dichtung’ stand bei den Dramaturgen fest; nun sollte das Werk, an Haupt und Gliedern gekürzt, seine Bühnenfähigkeit erweisen. Mit dem Ergebnis, daß selten eine kläglichere Niederlage erlitten wurde. Einen halben Abend lang ließ sich das Publikum von der eigenen Urteilslosigkeit einlullen. Es ging willig mit aus Furcht, sich bloßzustellen, wenn es einer veritablen Dichtung den schuldigen Respekt versage. Die eben erst aus der Sommerfrische heimgekehrten Hörer glaubten sich wohl noch dem Dunstkreis der Literatur entrückt und schoben darauf ihr Unvermögen, dem Gange der Handlung zu folgen. Da sie gar nichts begriffen, hielten sie sich wenigstens an den abgestandenen Witzen eines dummdreisten Dieners schadlos und lachten mit einer Kindlichkeit, als ob sie ein Kasperletheater vor sich hätten. Aber als es immer hoffnungsloser wurde, den Zusammenhang zu kapieren, und man auch die Worte nicht mehr verstand, wurde den guten Leuten die Sache doch zu bunt. Und als König Philipp vom Kriegsschauplatz einen Brief erhielt und seinen Minister bedeutungsvoll fragte: ‚Wer schrieb diesen Unsinn?’, da hatten alle mit einem Schlage erfaßt, wie die Antwort lauten müsse. Endlich war die Erleuchtung gekommen. Minutenlanger Beifall dröhnte zu den Akteuren empor. Bewundernswert war in dieser Situation die Haltung des Schauspielers Wegener, der dem Ausbruch des Volkswillens mit wahrhaft königlicher Würde, ohne mit der Wimper zu zucken, standhielt. (Es war das einzige Bewundernswerte an diesem qualvollen Abend.) Unter reger Anteilnahme der Hörerschaft wurde dann das Stück zu Ende gespielt; oder vielmehr: ihre Anteilnahme war so rege, daß das Stück nicht zu Ende gespielt werden konnte und der eiserne Vorhang, noch ehe die Komödie aus war, fallen mußte. Ein wüster Lärm, in dem der Hausschlüssel dominierte, hub an. Ironischer Beifall, Lachen Zischen Pfeifen bildeten eine symphonia domestica. Im Zuschauerraum spielten sich erregte Auftritte ab, deren Handgreiflichkeit größer war als die der Bühnenvorgänge. Aber – ‚die innere Kraft und Bedeutung dieser Dichtung steht fest’, war im Programmheft des Deutschen Theaters zu lesen. – Nun würde es jeder Kritiker als seine schönste Pflicht betrachten, den also brutalisierten Autor gegen die Radaumacher in Schutz zu nehmen; würde seinen Stolz darin erblicken, die Dichtung zu retten, falls man ihr Gewalt angetan hätte. Doch in diesem Falle trifft die Hörer nicht der Schatten einer Schuld, und es wäre frecher Snobismus, von einem Durchfall des Publikums reden zu wollen. So wie das Deutsche Theater Carl Sternheims Tragödie Don Juan spielte, war sie ein Mysterium, ein Privatgeheimnis des Dichters und seines Regisseurs [Felix Hollaender], ein völlig unverständliches Sammelsurium von Szenen und Szenchen, deren Existenzberechtigung in der Luft schwebte. Kenner des Buches, das vor drei Jahren im Insel-Verlag erschienen sein soll (auch diese literarische Schutzmarke kann nur den Einsichtslosen düpieren) – die Tragödie ist bereits im Jahre 1904 entstanden, liegt also lange vor desselben Autors begabten Komödien Die Hose und Die Kassette – Kenner des Buches versichern, auch in der ausführlichen Fassung sei das Werk unfaßlich, wollen aber an einzelnen Stellen Spuren eines Talents entdecken. Wenn dem so ist, darf die im Einverständnis mit dem Verfasser zusammengestrichene Bühneneinrichtung das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß sie den Wirrwarr geflissentlich steigerte und die Talentproben sorgsam tilgte. Was wir sahen, hat nirgends den Wunsch erweckt, uns mit dem bekannt zu machen, was wir nicht sahen. Jede nachträgliche Rettung scheint somit aussichtslos. – Was wir sahen, war weniger der dämonische Verführer der Legende als der Seeheld von Lepanto, mehr Don Juan d’Austria als Don Juan Tenorio. Doch auch dieser hat das Glück, daß ihm alle Frauen auf den ersten Blick erliegen, und das Unglück, daß ihm die Geliebte, während er im Felde weilt, von seinem älteren Halbbruder, dem König Philipp II. von Spanien, entrissen wird. Mehr kann ich vom Inhalt nicht erzählen, da ich nicht mehr verstanden habe. – Daran trägt auch die Aufführung Schuld, der es gleichermaßen an Licht wie Schatten fehlte. Statt Menschen sah man kostümierte Puppen; statt geistiger Zusammenhänge gab es farbige Bilder zu schauen; statt des Dramatikers Sternheim herrschte der Maler Stern. Herr Moissi sollte den ungezählte Bogen sprechenden Helden verkörpern; er gab in der Hauptsache sich selbst, sang und sprang nach Herzenslust, riß Zelte um, konnte an einer ernsten Stelle das Lachen nicht verbeißen und entzückte die Backfische. Sein Diener Leporello, hier Ripio genannt, wurde in Herrn Arnolds Darstellung beinahe ein Lebewesen. Sonst standen noch einige vierzig Schauspieler auf dem Zettel. – Vielleicht hat der verlorene Abend wenigstens das Gute, daß das Deutsche Theater aus diesem Eklat eine heilsame Lehre zieht. Wo aber, fragen wir, war der Herr des Hauses? Weiß Max Reinhardt überhaupt noch, was in Berlin vorgeht?“ – Die Inszenierung wurde nach nur zwei Aufführungen vom Spielplan abgesetzt.

Berliner Theater. NZZ, 24. September 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 266 (Nr. 1335).
Ludwig Fulda, Feuerversicherung und Max Dreyer, Der lächelnde Knabe (Komödienhaus, 19.09.12). – „Mit schöner Pietät ließ der Direktor des (aus dem Neuen Operettentheater erstandenen) Komödienhauses, der auf allen literarischen Tummelplätzen agile Dr. Rud. Lothar am Eröffnungsabend zwei fünfzigjährige Poeten zu Worte kommen: Ludwig Fulda mit einem einaktigen Lustspiel Feuerversicherung und Max Dreyer mit einem dreiaktigen Scherzspiel aus alten Tagen Der lächelnde Knabe. Es war für den Frankfurter eine nachträgliche, für den Rostocker eine vorzeitige Geburtstagsfeier. Die zur Weihe des neuen Unternehmens geladenen Gäste zeigten sich des Anlasses würdig und bereiteten den beiden Spielmännern, den Spielleitern und den Spielleuten das Geschenk einer aufmunternden Erfolgsattrappe. Doch wer Ohren hatte zu hören –  –. Es ist ein löblicher Brauch, der sich in diesem Jahre ausgebildet hat: fünfzigjährige Dramatiker durch Aufführung ihrer Werke zu ehren. Warum soll der Dichter, allein von allen, leer ausgehn? Laßt ihn mit einer Gratifikation rechnen. Rechnen! Doch wenn sich die gute Sitte einbürgern sollte, besteht für die Gefeierten die Verpflichtung, sich des Anlasses würdig zu zeigen. Sie sollen zu ihrem Geburtstagskuchen ein halbes Pfund Butter mehr nehmen als gewöhnlich, eine Prise attisches Salz und die Rosinen nicht vergessen. Vergeßt mir die Rosinen nicht, deutsche Meister! Es wäre unklug von ihnen gehandelt, wenn sie just an diesem Tage mehr ihre Blößen als ihre Größe zeigen, sich in ihrem fadenscheinigsten Rocke vorstellen wollten. Auch ist man mit fünfzig Jahren noch keineswegs gehalten, Spuren von Arterienverkalkung nachzuweisen. Wie es einen erotischen Johannestrieb gibt, gebe es einen künstlerischen. Sonst könnte es von diesem Brauche heißen, daß der Bruch mehr ehrt als die Befolgung. – Also Ludwig Fulda hatte das jus primae noctis. Wir wissen, was wir an ihm haben. Seine Begabung trotzt dem Wandel der Zeiten. Fertig entsprang er dem Haupte Apolls; fix und fertig. Mit Plaudereien fing er an – früher nannte man das Bluetten –; zur Plauderei kehrt er auf der Höhe seiner Bühnenerfahrung zurück. Er läßt zwei Ehepaare in holdester Harmonie zusammen leben. Die Frauen waren Pensionsfreundinnen, die Männer sind Geschäftsteilhaber und außerdem befreundet wie Orest und Pylades. Friede und Freude walten in diesem Vierbund. Bis eine Besucherin vor dem Neide der Götter warnt und der eine Ehemann auf den brenzligen Gedanken verfällt, man solle die Probe auf die Feuersicherheit der beiderseitigen Frauen anstellen. Der Socius ist durchaus mit diesem Vorschlag einverstanden. Der Anreger des Experiments blitzt bei der Frau des andern nach allen Regeln der Kunst ab. Er ist beseligt, daß von dieser Seite keine Gefahr droht, und verlangt gebieterisch die Gegenprobe. Der andere tut ihm den Gefallen und findet bei der Frau des Freundes ‚in weitest gehendem Maße’ Gefallen. Selbstverständlich verschweigt er dem Gutgläubigen die sprießenden Hörner … Früher nannte man das ‚Spielt nicht mit dem Feuer’; jetzt heißt es Feuerversicherung und ist genauso harmlos geblieben. Aber auch so salzlos. Wie friedlich fromm muß es in der Seele eines Fünfzigers aussehen, daß er sich dazu aufschwingt, eine solche abgeklapperte Weisheit vorzutragen! Ehedem wurde, wenn der Inhalt die Feuerprobe nicht aushielt, wenigstens der fein geschliffene Dialog solcher Fuldaschen Nippes gerühmt; wir wollen hoffen, daß er ihn bald zurückgewinnt. – Der lächelnde Knabe Max Dreyers ist ein Scherzspiel aus alten Tagen. Aus Max Dreyers alten Tagen. Früher hat er ähnliche Stoffe mit robuster Hand angepackt; jetzt wickelt er sie in breites Behagen. Die Idee, einen in der Maiennacht gefundenen Säugling, um dessen Besitz mehrere Parteien streiten, allerlei Schabernack unter den Erwachsenen anrichten zu lassen, ist nicht übel. Aber schon der erste Akt läßt keinen Zweifel über den Ausgang und bringt das Ganze um viele seiner besten Wirkungen. Wenn ein polternder Artilleriemajor, der das wimmernde Knäblein im Garten aufgelesen, und die altjüngferliche Hausbesitzerin, auf deren Grundstück es gefunden wurde, in ewiger Fehde miteinander liegen, so weiß jeder Säugling, der nie etwas von Benedikt und Beatrice gehört hat: sie werden ihren Frieden schließen und sich in das Kind teilen. Auch an der Waterkant liebt sich, was sich neckt. Als Mutter des Bastards wird in der alten Ostseestadt, allwo sich die Handlung zuträgt, eine den Napoleonkult schürende, lockere Französin eruiert. (Der gute Deutsche macht, was seine Arbeit allen patriotischen Seelen empfiehlt, eine Ausländerin für den Verfall der Sitten unter der männlichen Bevölkerung verantwortlich.) Der Vater des Findlings läßt sich in der Einzahl nicht feststellen. Die Hauptsache ist, daß die gallische Abenteurerin zu Schiff nach Petersburg verschwindet und daß jeder Hans zu seiner Grete kommt; jeder Kluckuhn zu seiner verflossenen Krischane. (Nebenbei: ein Ratsbote, der sich 1820 von seiner Ehehälfte scheiden ließ, dürfte eine kulturhistorische Rarität ersten Ranges sein.) Lustige Einzelzüge wie die, daß der Schreihals aus einer Tabakspfeife Milch zu trinken bekommt und nur durch das Waldhorn seines Pflegevaters beruhigt werden kann, sind wohl recht nach dem Herzen junger Mütter; man braucht jedoch kein Mann von fünfzig Jahren zu sein, um etwas weniger Milch der frommen Denkungsart und etwas mehr beizenden Tabak zu verlangen. Immerhin, der Humor läßt das Schifflein nicht sinken. – Für die Darstellung waren in der Mehrzahl Schauspieler aufgeboten, die von andern Berliner Bühnen her bekannt sind, ohne daß sie sich schon, was kein Mensch erwarten durfte, zu einem vollen Ensembleklang gefügt hätten. Als bärbeißiger Junggeselle von mittleren Jahren zog sich Herr Stägemann, der frühere Held des Königlichen Schauspielhauses, mit Geschick aus der Affäre; doch scheint es im Interesse des Künstlers zu liegen, ihn vor solchen Rollen, denen sein Draufgängertum zuwiderläuft, einstweilen zu bewahren. Die gefällige Ausstattung des Biedermeierschwanks kam auf das Konto des Architekten Leo Nachtlicht, der sich auch um die Veränderung des Theaterraums verdient gemacht hatte. Man könnte also dem Komödienhaus den Schüttelreim widmen: ‚O Freunde, voi ch’entrate – lacht nicht! / Der Stern des Hauses ist ein Nachtlicht.’“

Berliner Theater. NZZ, 2. Oktober 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 274 (Nr. 1376).
Melchior Lengyel u. Ludwig Biro, Die Zarin (Komödienhaus, 27.09.12). – „Seid gewarnt – vor dem Schauspiel Die Zarin, das zwei skrupellose Ungarn, die Herren Melchior Lengyel und Ludwig Biro, ‚mit der kalten la main’ zusammengezimmert haben. – Seid gewarnt, Theaterdirektoren, die ihr auf den guten Ruf eures Hauses haltet. Der Name Lengyels, welcher das brauchbare Bühnenstück Taifun geliefert [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 25.02.10, Drittes Abendblatt], mag euch locken; geht ihm aber nicht auf diesen mit Paprika vermischten russischen Leim. Wollt ihr durchaus Reißer spielen, so wird der zum alten Eisen geworfene Sardou immer noch eher seine Schuldigkeit tun als diese beiden mit Pariser Vorstadtdramatik aufgepäppelten Vertreter Jungungarns. – Seid gewarnt, ehrgeizige Stars und gastierende Virtuosinnen. Die Bombenrolle mag eure gieren Sinne blenden; aber besinnt euch darauf, daß ihr Schauspielerinnen seid und nicht Schaustellerinnen von sechs oder sieben Prunktoiletten, daß ihr Trägerinnen der Handlung und nicht der Gewandung sein wollt. Wenn ihr durchaus nach solchen die funkelnagelneuesten Kulissen zum Wanken bringenden Aufgaben verlangt, so werdet ihr immer noch mehr auf eure Rechnung kommen in den Spielereien einer Kaiserin von Dauthendey [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 06.10.11, Nr. 277] oder der Königin Christine von Strindberg [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 23.02.12, Drittes Abendblatt]. Die Zarin stammt aus demselben Blute wie diese beiden Bühnenüberweibchen, doch ihre Erzeuger stammen aus einer höheren Luftschicht als diese beiden Bühnenübermännchen. Noch einmal darum: seid gewarnt! – Taktvoll – es ist das einzige Taktvolle des Werkes – hüllen die Verfasser ihre Heldin in eine historische Anonymität. Man soll offenbar an die große Katharina von Rußland denken. Die eine Personalunion von Semiramis und Phryne darstellte. Der das rauhe Handwerk des Mars so geläufig war wie die überlegene Kunst Minervas. Die auf dem Paradefeld ebenso tüchtig war wie im Paradebett. Die für die französischen Enzyklopädisten nicht minder schwärmte als für die Enzyklopädisten ihrer Person, einerlei, ob es sich um einen feingebildeten Diplomaten oder einen baumlangen Grenadier handelte. – Doch das sind nur amoureuse Episoden in ihrem fruchtbaren Erdendasein; ihre große Liebe gehört dem kleinen Leutnant Alexei Czerny. Vom Kriegsschauplatz kommt der gute Junge angesprengt, um seiner Herrin die Kunde von einer Verschwörung zu überbringen, und avanciert für diese Nachricht alsbald zum Major und zum Günstling Ihrer Majestät. Trotzdem er eine Braut am Hofe hat, vermag er den Buhlkünsten der abgefeimten Kaiserin nicht zu widerstehen. Aber sein männlicher Stolz empört sich dagegen, daß er vorwiegend zur Nachtzeit beschäftigt wird. Alexei kann und will nicht der Sklave einer Frau sein; soll er sie dauernd lieben, so muß er ihr Herr sein. Darum konspiriert er mit den unzufriedenen Adligen des Landes, wird verraten, eingesperrt, zum Tod verurteilt, begnadigt und schließlich von der Zarin blutenden Herzens in den Krieg geschickt, während sie sich mit Frankreichs Abgesandtem tröstet. Liebe, Eifersucht, Haß ergeben so eine Folge von knalligen Szenen, in denen alle erotischen Gefühlsregister gezogen werden. Ihre Eindeutigkeit läßt nichts zu wünschen übrig. Doch dürfte man sie in Budapest mehr goutieren als in Berlin. Auch die Sprache, die einen Gipfel der Klischeehaftigkeit bedeutet; sie klebt in der Erinnerung. – Für die in sämtlichen Farben zwischen Puder und Schminke schillernde Titelrolle war Frl. Adele Hartwig aufgeboten, die das Kompendium der Sinnlichkeit mit der kalten Hand erledigte. Herr Staegemann verschwendete an seinen feurigen Jüngling ein geradezu Matkowskysches Temperament. Und Herr Direktor Lothar hatte an das Stück eine prunkvolle Kostümierung verschwendet, ohne daß ihm die Hörer dafür mit unbestrittenem Beifall dankten. Solche Kost wird nicht einmal dadurch erträglicher, daß man ihr die Kosten anmerkt. Der neue Herr des Komödienhauses scheint dem Theater geben zu wollen, was des Theaters ist; die Zukunft wird lehren, ob ihn dieser Glaube selig macht. Einstweilen hat er eine Lektion empfangen – er ist gewarnt.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Oktober 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 281 (Nr. 1414).
Oskar Blumenthal, Ein Waffengang (Kgl. Schauspielhaus, 05.10.12). – „Ein Schriftsteller, der Romane schreibt; der noch lieber Romane erlebt. Er hat einen geschrieben, ist in einer vorgeschrittenen Frauenrevue sehr ungünstig, persönlich verletzend besprochen worden und fordert, mehr dem Brauche als innerer Überzeugung gehorchend, den Verfasser der Kritik zum Duell. Er ist dabei, einen zu erleben. In einer Nachmittagsvorstellung des Odéon hat er eine Schöne gesehen, ist ihr dann zufällig am Quai Voltaire bei einem bouquiniste wiederbegegnet und hegt das brennende Verlangen, sie kennen zu lernen. Wer beschreibt unser Erstaunen, als sich der Autor jener gehässigen Rezension und die schöne Unbekannte als eine und dieselbe Person entpuppen! – Auf diesen Prämissen ruht das dreiaktige Lustspiel Ein Waffengang von Oskar Blumenthal. Der Zufall spielt im Leben eine so erschreckend große Rolle, daß er – obwohl in den dramatischen Handbüchern verpönt wie in den musikalischen die parallelen Quinten – in einem Bühnenwerk, mag es immerhin so lebensfremd wie möglich sein, einmal eine erfreulich große Rolle spielen darf. – Also das schöne Fräulein mit dem schönen Namen Yvonne de Laferrière wird zu einem Waffengang gefordert und – nimmt an. Die Ritterlichkeit ihres Gegners will zwar vor dem Geschlecht der Besitzerin der scharfen Federspitze die Degenspitze senken (das ist Blumenthalisch ausgedrückt); allein sie ist fest entschlossen, nach moderner Weibchen Art, alle Konsequenzen zu tragen. Schließlich einigt man sich, den Austrag des Duells drei Monate hinauszuschieben. Zeit gewonnen, alles gewonnen. Und der unschuldige Backfisch gerät gar nicht in Erstaunen, daß nach Ablauf der Frist (und der vorgeschriebenen zweieinhalb Bühnenstunden) die unversöhnlich scheinenden Gegner sich in den Armen liegen. – Aber der Meister des Handwerks, der sich diesmal so früh in die Karten gucken läßt, als könne er jede stoffliche Spannung entbehren, hat es nicht unterlassen, die unaufhaltsame Verbindung zu verzögern. Das macht er so: Yvonnes Onkel ist im Begriff, sich mit einer gefeierten Malerin zu vermählen, und diese Malerin stand dem Schriftsteller einst sehr nahe – so nahe, daß die alten Tanten im Königlichen Schauspielhaus fast erröten. Das wäre doch ein gesellschaftlicher Affront, wenn die verflossene Geliebte, mag sie immerhin zum Künstlervölkchen gehören, die Tante des Romanciers würde. Nein, es geht nicht. Also kommt der Onkel nach einigem Sträuben zu der Einsicht, daß es nicht wohlgetan ist, in einem Alter zu heiraten, das schon zur silbernen Hochzeit berechtigte. Und nun steht der Verbindung des jungen Paares nichts mehr im Wege – wie ihm ja von Anfang an nichts im Wege stand. – Braucht man noch zu sagen, daß ein solches Lustspiel in Handlung und Charakteristik von A bis Z vieux jeu ist? Das Alte brauchte gewiß nicht schlecht zu sein; hier ist das Schlechte alt. Statt Menschen treiben Typen ihr nach der Uhr bemessenes, allzu durchsichtiges Spiel. (Um 10¼ Uhr ist alles vorbei.) Und sie reden eine Sprache, die nur unter dem Strich geduldet, selbst im Lustspiel aber unter der Kritik ist. In zwei Sätzen bereiten sie umständlich eine Pointe vor; dann legen sie diese mit Schmalz hin und runden sie in einem Nachsatz fein säuberlich ab. Wandelnde Feuilletonblüten. Auch wenn die Handlung nicht in Paris vor sich ginge, würde man eine Übersetzung aus dem Französischen zu hören glauben. Keine gute übrigens. Der ‚Meister des Epigramms’ hatte wohl gallische Mundstücke nötig, durch die seine feingeprägten, geistreichen Aussprüche zum Tönen gebracht werden sollten; aber es gelang ihnen nicht, die Unnatur seines Wesens zu verbergen. Daß er daneben auch ab und zu ein witziges Wort findet, wird den Kenner seiner Dichterpersönlichkeit nicht überraschen. – Die Bühnengrößen des Hoftheaters, von dem jeder frische Lufthauch ängstlich ferngehalten wird, setzten sich mit sichtlicher Liebe für das wahlverwandte Werk ein. Mit Schrecken gewahrte man, daß ein so moderner Künstler wie Herr Clewing schon nach einem Jahre von dem genius loci, der Schablone, ergriffen ist. Aber mit Freuden sah man die Damen Arnstädt und Mayburg modernste Toiletten wie Damen tragen. So konnte man wenigstens Wunderwerke des Schneiders anstaunen. – Oskar Blumenthal durfte nach jedem Akt für freundlichen Beifall danken.“

Berliner Theater. NZZ, 16. Oktober 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 288 (Nr. 1449).
Ludwig Thoma, Magdalena (Kleines Theater, 12.10.12). – „Bauernstücke haben vor dem Publikum der Weltstadt einen schweren Stand. (Nur scheinbar wird dieser Satz durch die Tatsache widerlegt, daß Anzensgrubers Stern in Berlin aufging.) Mit umso größerer Genugtuung darf Ludwig Thomas Volksstück Magdalena einen vollen Erfolg verzeichnen. Der Beifall verhielt sich nach dem ersten Akt mit seiner etwas ‚volksstückmäßigen’ Aufmachung noch abwartend, zum Teil vielleicht, weil das Verständnis des oberbayrischen Dialekts für norddeutsche Hörer erschwert war, rang sich aber dann zu herzlicher Wärme durch. Man folgte der meisterhaft gefügten, sich in kein unnötiges Detail verlaufenden Handlung mit äußerem Interesse, wenn man auch von dem Schicksal dieser Menschen nicht recht innerlich ergriffen wurde. Das liegt vor allem daran, daß die gefallene Heldin weder uns ihr tiefes Verderben miterleben ließ noch ihr menschliches Herz offenbarte. Magdalena, wie sie der Dichter gezeichnet, ist einfach ein dummes Luder, das von der Bosheit und Borniertheit der Dorfbewohner zur Strecke gebracht wird. Zu einer ganz andern Höhe wächst ihr Vater empor. Wenn der den Kampf gegen Tücke und Gemeinheit allein ausficht, so steht er zuletzt wie Hebbels Meister Anton [in Hebbels Maria Magdalena] da in einer Welt, die er nicht mehr begreift, und der bäuerliche Odoardo [der Vater von Emilia Galotti] hat gar nichts vom Heldenvater an sich. – Was Ludwig Thoma gewollt hat – das ist das Erfreuliche an seiner Arbeit –, hat er restlos gestaltet. Nur spannt dieses Drama den Hintergrund zu eng und eröffnet nirgends Perspektiven. Man hat nicht die Empfindung: so wie Magdalena vom Pharisäertum der Bauern verfolgt wird, kann es jedem oder jeder ergehn. Darum hat man nur Mitleid mit dem armen, gehetzten Geschöpf, das die Niedertracht eines Mannes auf die schiefe Bahn gedrängt, aber keine Furcht für die eigne Person, und beide Elemente zusammen ergeben erst die der Tragödie unentbehrliche reinigende Wirkung. Daß die Welt in oberbayrischen Dörfern mit Brettern zugenagelt ist, brauchte uns wahrlich nicht mehr demonstriert zu werden. Wohl stimmt die Satire in jedem Zuge, aber die Züge sind sparsam, und die Satire ist zahm im Vergleich zu dem, was der Peter Schlemihl des Simplizissimus sich auf komischem Gebiete leistet. Er vergreift sich nie, aber ergreift auch nicht. – Die Aufführung des Kleinen Theaters war (bis auf die allzu geleckte Dekoration) musterhaft. Wie Herr Barnowsky mittlere Schauspieler dirigiert und das Äußerste aus ihnen herausschlägt, ist bewundernswert. Für die Rolle der Magdalena hatte er Frl. Centa Bré aus Hamburg berufen, die zwar nichts aus Eigenem hinzufügte, aber dem Dichter auch nichts schuldig blieb. Herr Klein-Rohden als ihr Vater erbrachte den Nachweis, daß er nicht nur in Episoden seinen Mann steht. Frl. Ilka Grüning als unendlich rührende Mutter sah man mit Bedauern nach dem ersten Akt verschwinden. Diese todeswunde Bäuerin ward ein Symbol der am meisten leidenden Liebe. Von ihrer Gestaltung ging eine Vertiefung aus, die man dem Werke zu seinen sonstigen Vorzügen hinzugewünscht hätte, damit es, abgesehen von einem ausgezeichneten Theaterstück, für das der Verfasser reichen Dank erntete, eine unvergängliche Dichtung geworden wäre.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Oktober 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 294 (Nr. 1479).
William Shakespeare, König Heinrich der Vierte. Teil I / Teil II (Deutsches Theater, 12.10.12 / 18.10.12). – „Nirgends im ganzen Shakespeare findet man wohl so geniale Eingebungen wie in den beiden Teilen von König Heinrich IV., die das Deutsche Theater jetzt im Laufe einer Woche mit glänzendem Erfolg herausgebracht hat. Sie stehen nicht nur an der Spitze aller Historien, sondern bleiben hinter keiner Tragödie oder Komödie zurück. In der souveränen Mischung von Ernst und Scherz sind sie unerreicht. Eine Fülle bestrickend liebenswürdiger Züge ist darüber ausgegossen. Einzelheiten von hinreißender Schönheit, von einer Leichtigkeit der Empfindung, wie sie auch dem Genie nur in seinen glücklichsten Momenten eigen, lassen über die Sorglosigkeit der Komposition hinwegsehen. Und in dem Prinzen Heinz und Falstaff sind zwei Charakterbilder von humoristischer Grundfärbung geschaffen, die (trotz Don Quichote) in der Weltliteratur nicht ihresgleichen haben. – Nach diesem keineswegs übertriebenen Lobeshymnus will ich jedoch nicht verschweigen, daß mir das Verhalten des Thronfolgers gegenüber dem ‚Lehrer und Pfleger seiner Lüste’ [Zweiter Teil, V.ii] unerträglich ist. Warum sollen wir als moderne Menschen nicht mit modernen Empfindungen an Shakespeare herantreten dürfen? Das Ewige in aller Kunst ist an keine Zeit und Stimmung gebunden. – Schon daß Heinz am Schlusse der zweiten Szene sich großmäulig der Sonne vergleicht, die sich ein Weilchen von ‚schädlichem Gewölk’ verdunkeln läßt, um nachher desto strahlender hervorzubrechen [Erster Teil, I.ii] –, schon daß der Prinz so früh seines Wesens Kern enthüllt und sich in direkter Charakteristik decouvriert, ist nur mit der Dickhäutigkeit der ‚Gründlinge des Parterres’ [Hamlet, III.ii] zu entschuldigen. Wie schwer von Begriff und denkfaul muß die im elisabethanischen Theater versammelte Gesellschaft gewesen sein! Sonst hätte es der Dichter nicht für nötig gehalten, an einer so frühen Stelle bereits den Zuschauern einzuschärfen: was euch der Prinz da vormacht, dürft ihr nicht für bare Münze nehmen; er ist mit der Seele nicht bei diesem wüsten Treiben; er macht es nur mit, um es kennen und verachten zu lernen; es netzt bloß seine Stiefelsohlen, er wird heil daraus hervorgehen. – Wenn ein moderner Dramatiker so früh die Karten aufdeckte – nicht drei Akte von ihm könnten zu Ende gespielt werden, und Shakespeare braucht deren zweimal fünf, um den Wandel des Prinzen erschöpfend darzustellen. Mir scheint, es gibt keine andere Erklärung für diesen technisch angebrachten, menschlich unangenehmen Monolog. Offenbar waren die Theaterbesucher von damals noch nicht so weit, daß sie selbständig ihre Schlüsse zu ziehen vermochten. Es mußte ihnen alles gesagt, unterstrichen gesagt werden, damit sie die Absichten des Dichters nicht mißdeuteten. Trotzdem – Shakespeare hat nicht oft einen Trumpf so schnell ausgespielt wie hier. Der Monolog, an sich herrlich, ist durch die Maßlosigkeit der Vergleiche fast peinlich und macht mir den jungen Kronprinzen, der sein Lotterleben zu beschönigen sucht, unsympathisch. – Der junge König wird durch seine erste Handlung nicht sympathischer. Auf dem Krönungszug schüttelt er den dicken Ritter nebst seinem liederlichen Anhang wie ekles Gewürm ab. Nicht daß er es tut, machen wir dem Dichter zum Vorwurf: wie er es tut. ‚Ich kenn’ dich, Alter, nicht; an dein Gebet!’ [Zweiter Teil, V.ii] Jeden modernen Menschen muß das verletzen. So frömmelnd konnte ein Herrscher nur in dem damals schon bis auf die Knochen monarchischen England sich gebärden. Die Zeitgenossen Shakespeares betrachteten es wohl als gerechte Strafe für den alten Lüstling, daß er – wie wir uns heute ausdrücken würden – unter Polizeiaufsicht gestellt wird; ihrer Vorstellung vom Idealbilde des Fürsten mußte geschmeichelt werden. Für uns wird der gegenteilige Effekt erzielt: Falstaff in seinem naiven Verbrechertum wächst uns ans Herz; König Heinrich V. kann uns gewogen bleiben. – Es ist natürlich sehr schwer, uns diesen von sich selbst und der Königsidee erfüllten Prinzen zu Danke zu spielen. Herrn Moissi schien das nicht sonderlich zu bekümmern: er erleichterte sich seine Aufgabe wesentlich, indem er bei den Szenen in der Schenke sich ganz passiv verhielt. Dadurch wuchs er dann wie von selbst zu der steilen Höh’ empor, ‚wo Fürsten stehn’ [Heil dir im Siegerkranz]. Er brauchte den seelischen Übergang gar nicht zu vollziehen, weil er das erste Stadium nicht durchmessen hatte. So kam es, daß er im zweiten Teil der Dichtung viel stärker und echter wirkte. – Merkwürdigerweise war diesmal der Eindruck, der von der Fortsetzung ausging, im ganzen weit stärker. Vielleicht lag es daran, daß Herr Diegelmann (Falstaff) am ersten Abend durch eine Indisposition behindert wurde und kaum mehr als markierte. Das Hauptverdienst gebührt jedoch dem Regisseur Reinhardt, der die Szene mit Dortchen Lakenreißer zu einer ungeahnten Höhe führte. Da erwachte wirklich der Geist des merry old England. Es war lustig und eine Lust dabei zu sein. In der Aushebungsszene hatte er dagegen des Guten zu viel getan. Shakespeare kommt immer noch am ehesten zu seinem Rechte, wenn man alle Zutaten der eigenen Phantasie unterdrückt. In der Hauptsache war dies geschehen und das Ergebnis darum erfreulicher als bei frühern Regieexzessen. Zum Glück traten die Dekorationen hinter den schauspielerischen Leistungen zurück. Der erste Abend empfing seine Besonderheit durch Herrn Bassermanns Percy – vorzüglich in der Intention, aber in der Ausführung auf die Dauer quälend. Man ließ den Künstler nach der Bühnentradition stottern, weil Schlegel das englische ‚speaking thick’ falsch übersetzt hat [Zweiter Teil, II.iii]. Aber ein so moderner Darsteller wie Bassermann, der alles von sich aus neu macht, hätte auch mit diesem Herkommen brechen sollen, lediglich von der Erwägung ausgehend, daß sich das Stottern gar nicht mit dem Temperament des Heißsporn verträgt. Einwandfrei an beiden Abenden behauptete sich der König des Herrn Wegener; von ihm empfingen die großen Auseinandersetzungen mit dem Sohne ihre geistige Bedeutung. Wenn auch im einzelnen manches Schwächere mit unterlief, so erbrachte doch die ganze Aufführung der Historie den Beweis, daß Reinhardt wieder an seine schlichten Anfänge anzuknüpfen scheint.“

Berliner Theater. NZZ, 29. Oktober 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 301 (Nr. 1513).
Richard Skowronnek, Die Generalsecke (Komödienhaus, 26.10.12). – „Richard Skowronnek hat vor Jahren einmal mit guter Selbstironie aus den Nöten eines Lustspieldichters, dem gar nichts einfällt, einen ganz lustigen ersten Akt herausgeschlagen. Er sollte auf seiner Hut sein, daß man nicht zu oft an jenen Helden erinnert wird. – In seinem neuesten Lustspiel, Die Generalsecke, ist er auf den Hut gekommen. Den Damenhut vom vorigen Jahr, der sich durch sein Riesenformat auszeichnete. Die tückische Mode ist inzwischen zu etwas kleinern Dimensionen zurückgekehrt und hat den Militärschwank teuflischerweise um den Reiz der Aktualität gebracht. So bewährt sich wieder einmal das Dichterwort: ‚Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie.’ [Schiller, ‚An die Freunde’] – Immerhin verdanken wir Herrn Skowronnek die Kenntnis der Tatsache, daß die Offiziersdamen in ostpreußischen Garnisonsnestern den Berlinerinnen am Umfang ihres Kopfschmuckes nicht nachstehen wollten. Natürlich macht eine so extravagante Mode in Krähwinkel böses Blut: der Chronist des Kreisblättchens zieht mit allen Waffen des Witzes darüber her, und der Herr Oberst fürchtet, daß ihm das bei der Beförderung zum General verhängnisvoll werden könne. Aber die Frau Oberst, die Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, ist um Rat nicht verlegen, wie sie denn überhaupt eine Prachtfigur von Skowronnekschem Ausmaß ist; und wenn sie gar (hinter Allenstein!) so prächtige Toiletten trägt wie Frl. Hartwig, läßt sich die Wonne nicht beschreiben. Die Regimentskommandeuse bekehrt also mit dem ganzen Aufgebot ihres weiblichen Scharfsinns die Generalin zu der verpönten Mode; söhnt sie überdies mit einem kratzbürstigen Verwandten aus, dessen beide Kinder durch Verlobungen mit der Soldateska in Beziehungen gebracht werden, und der Oberst braucht nicht mehr zu zittern. – Was läßt sich über einen solchen Schwank sagen? Daß er im Komödienhaus ein höchlich amüsiertes Publikum fand. Als ein forscher Leutnant nicht gleich den Konsens zu seiner Verbindung mit dem auf höhern Befehl gemiedenen Fabrikantentöchterlein erhielt, gab eine Zuschauerin ihrer Entrüstung vernehmlichen Ausdruck. Es war die Stimme der Natur. So nahe geht den Besucherinnen des Komödienhauses das Schicksal eines Uniformträgers. Und die Leute quietschten vor Vergnügen, als eine Anspielung auf die teuren Fleischpreise fiel. Schiller scheint doch recht zu haben: ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.’ [Wallenstein, Prolog] Der Kritiker senkt den Speer …“

Gabriel Schillings Flucht. Drama in 5 Akten von Gerhart Hauptmann. (Erste Aufführung im Lessing-Theater zu Berlin am 29. Oktober). NZZ, 1. November 1912, Drittes Abendblatt, Nr. 304 (Nr. 1535).
„Als sich Gerhart Hauptmann entschloß, das im Jahre 1906 entstandene Drama Gabriel Schillings Flucht zu Anfang dieses Jahres in der Neuen Rundschau zu veröffentlichen, setzte er eine kurze Vorbemerkung an die Spitze, worin er bekannte, daß er eine Aufführung mehr gescheut als gewünscht. ‚Heute (Januar 1912) würde ich das Werk nicht auf den Hasardtisch einer Premiere legen mögen. Es ist keine Angelegenheit für das große Publikum, sondern für die reine Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kreises. Einmalige Aufführung, vollkommenster Art, im intimsten Theaterraum, ist mein unerfüllbarer Wunsch.’ – Er war nicht unerfüllbar und ist nicht lange unerfüllt geblieben, wie sich die Leser erinnern werden. Im Sommer dieses Jahres [am 14.06.12] wurde das Drama im intimen Theaterraum von Lauchstedt, das als Dependance Weimars gelten kann, vor einem kleinen Kreise (zahlkräftiger Zuschauer) zur Darstellung gebracht. Reine Passivität und Innerlichkeit ließ sich dem hauptsächlich aus Berliner Premierenhabitués bestehenden Urauditorium zwar schwerlich nachrühmen, eher schon Schaulust und die Sucht, dabei zu sein, wo irgendein nicht alltägliches künstlerisches Ereignis vor sich geht; aber die Aufführung, für die man die besten verfügbaren Kräfte herangezogen hatte, kam dem Ideal vollkommenster Art immerhin so nahe, wie dies im Bereich einer von hundert Zufälligkeiten abhängigen Theatervorstellung überhaupt möglich ist. Schließlich war auch die Lauchstedter Uraufführung der Hasardtisch einer Premiere – allerdings ein besonders hergerichteter, auf dem nicht wie sonst der blinde Zufall entschied, sondern der die unsichtbare Inschrift trug corrigez la fortune. Denn ein Mißerfolg war doch bei den Lauchstedt-Pilgern von vornherein so gut wie ausgeschlossen. – Die Aufnahme, die Gabriel Schillings Flucht dort fand, war das Signal für Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit. Sechs Jahre hatte er in der Schreibtischlade seines Schöpfers gelegen (freilich ohne tiefe Spuren der Horazischen Maxime nonum prematur in annum an der Stirne zu tragen), weil er nicht für das große Publikum und das große Publikum nicht für ihn taugen sollte; und nun wird er wohl bald von Aachen bis Zürich über sämtliche Bühnen deutscher Zunge gehetzt werden. Was sind Vorsätze, was sind Entwürfe! – Ich kann nicht finden, daß der unbefangene Beobachter von dem geräuschvollen Drum und Dran dieses stillen Schauspiels sonderlich erbaut zu sein braucht. Wenn ein Dichter sein Werk für so heilig hält, daß er es nicht vor einem x-beliebigen Publikum profaniert sehen möchte, so sollten ihm auch seine Intentionen mit diesem Werke heilig sein. Man darf nicht heute mit Emphase anzeigen: dies ist mir eine Herzenssache, und sie morgen zu einer Sache des Geldbeutels erniedrigen. (Ähnliches haben wir ja schon vor Jahren bei der Veröffentlichung der Elga erlebt; doch die Wiederholung eines derartigen Reklamemittels läßt die Sache nicht erfreulicher werden.) Wer die Mimosenseele eines Künstlers sein eigen nennt, sollte nicht im Handumdrehen mit dem Unternehmungsgeist eines Geschäftsmannes wetteifern wollen. Es verstimmt die bessern Zeitgenossen genug, daß ein anderer Großer im Reiche der Kunst, Richard Strauß, kaltlächelnd duldet, wie mit der Erstaufführung seiner Opern ein widerlicher Schacher getrieben wird. ‚Klappern gehört zum Handwerk’ – vielleicht; doch seit wann zum Kunstwerk? Wer Gerhart Hauptmann liebt, sieht ihn ungern auf solcher Spur. ● Darüber dürfte kaum ein Zweifel sein: das Drama Gabriel Schillings Flucht ist mehr eine persönliche Angelegenheit seines Verfassers als ein geschlossenes und entschlossenes Theaterstück. Mehr eine Fundgrube für den Biographen als eine Goldgrube für die Bühnen. Das Werk wird in Hauptmanns Lebensbeschreibung dereinst eine wichtigere Stelle einnehmen als in seinem Oeuvre, denn es ist aus der subjektiven Gefühlswelt nicht ganz in den Bezirk künstlerischer Objektivität getreten. Es ist – um Goethes Wort zu gebrauchen – keine völlig abgestreifte Schlangenhaut. Wiederum taucht der Schatten jenes Hugo Ernst Schmidt auf, dessen Andenken bereits Michael Kramer gewidmet war. An seinem Schicksal scheint der Satz erläutert werden zu sollen: das Ewig-Weibliche zieht uns – hinab. Darauf deutet die dem Buche als Motto vorangestellte Stelle aus Plutarch. [‚Einige … versichern, Eunosthus sei ihnen begegnet, ans Meer eilend, um sich zu baden, weil ein Weib sein Heiligtum betreten habe.’ (Moralische Schriften)] – Wie der Mann am Weibe zugrunde geht. Der Mann? Nein; ein (auch physisch) kranker Schwächling. Ein haltloserer, blutloserer Vetter Johannes Vockerats [in Hauptmanns Einsame Menschen]. Seine Sonderart hat gar nichts allgemein Männliches, wenig allgemein Menschliches. Wir kennen diesen Gabriel Schilling kaum. Kennen ihn nur als ein Exemplar jener Spezies von angeschossenen Helden, für die Hauptmann eine dauernde Vorliebe hegt (zu unserm Bedauern). Schilling ist einem Weibe verfallen. Er hat mit ihr gebrochen, fest entschlossen, ein neues Dasein zu beginnen, und sinkt ihr, sobald er ihrer ansichtig wird, wieder an den Hals. Im Leben mag das alle Tage vorkommen; wenn es auf der Bühne mehr als ein Unglück sein soll, müßten wir den Kampf, den Widerstand des Mannes irgendwie fühlen. Doch wir sehen nur einen Waschlappen, der uns seine Individualität schuldig bleibt. – Und ebenso wenig kennen wir im Grunde dieses Weib, die Jüdin aus Odessa. Wer ist Hanna Elias? Eine russische Harpyie? Aber sie, die voll Stolz erzählt, daß sie dem Maler für seine Geburt der Venus als Modell dienen durfte, hätte ihm bei ihrem Ehrgeiz vielleicht wirklich zu einem Rinascimento als Künstler verholfen, statt den Menschen wie den Künstler in ihm zu lähmen, zu vergiften, zu erwürgen. Wenn sie die geniale Frau ist, als die sie verschiedentlich bezeichnet wird, warum inspiriert, spornt, stachelt sie den Weichling nicht zu neuen Taten? – Die Art, wie diesen Gezeichneten ein selbstsicheres, glanzvolles, blondes Kontrastpaar gegenübergestellt wird, scheint zu äußerlich. Der Bildhauer Mäurer und seine violinspielende Freundin Lucie Heil sind gewiß liebenswerte Menschen, aber ihre Mission in der Ökonomie des Kunstwerks ist ihnen überdeutlich aufgeprägt. Wundervoll bleibt es und ohne alle Absichtlichkeit gestaltet, wie Mäurer vorübergehend seiner Lucie entgleitet und sich einer blutjungen Russin zuwendet, die ihn bei seiner Eitelkeit zu packen weiß. Dieses Neigen von Herzen zu Herzen und eine voll ausströmende Sehnsucht nach Griechenland sind die nachhallenden Akkorde der Dichtung. – Das Lessing-Theater hatte keinen glücklichen Abend. Schon die Dekoration des ersten Aktes wirkte unmöglich. Fortgesetzt wird von den Herrlichkeiten des Meeres gesprochen, so daß man einen Salzgeschmack auf der Zunge haben müßte, und man sah, beängstigend nahe, ein kornblumenblaues, unbewegliches Stück Leinwand, wie es auf kitschigen Bildern von Neapel früher beliebt war. Es mag schwer sein, die Illusion der See zu erwecken; mit Hilfe der Liebermannschen Skizzen hätte man es wohl aber etwas mehr erreichen können. So wirkte es geradezu komisch. – Auch darstellerisch hatte Brahms Bühne keinen Ehrenabend. Verblüffend echt wurde eine einzige Nebenfigur gegeben (der Dr. Rasmussen durch Paul Paschen), alle übrigen erstaunlich schlecht, ohne jedes sprachliche Kolorit. Besser war es um die Hauptrollen bestellt. Herr Theodor Loos (Schilling) ist unbedingt ein hochbegabter Anfänger, der einstweilen noch in Kainz- und Rittner-Reminiszenzen schwelgt und gut daran tun wird, seinen eignen gequetschten Ton recht bald abzulegen. Frl. Sussin in der unglücklichen Rolle der unglücklichen Malersfrau war nur überzeugend, als sie Else Lehmann mit zwei Sätzen körperlich in die Erscheinung treten ließ. Frau Durieux lieh der Hanna Elias mehr virtuose Bravour als Seele und könnte etwas weniger reizlos in der Maske sein. – Die Aufnahme des Dramas war kühl. Nach dem ersten und dem dritten Akt regte sich keine Hand. Selbst die Explosionsszene des vierten Aktes schlug nicht so ein, wie man erwartet hatte. Erst zum Schluß wurde Gerhart Hauptmann von seinen Verehrern oft gerufen. Es schien mehr ein Dank für den Dichter als für diese Dichtung – eine Huldigung, ante festum sozusagen, für den Poeten, der nächstens sein fünfzigstes Lebensjahr vollendet. Sollte er in seinem ersten dunklen Drange sich doch des rechten Weges bewußt gewesen sein?“

Berliner Theater. NZZ, 25. November 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 328 (Nr. 1659).
Das neue Theater Groß-Berlin und die dortige Inszenierung von Gustav Kadelburg, So bummeln wir (21.11.12). – „Am Zoologischen Garten ist ein neues Theater eröffnet worden, das den Zweckverbandsnamen Groß-Berlin trägt. Die vorhandenen Ausstellungshallen, in denen bald landwirtschaftliche Geräte, bald ‚die Frau in Haus und Beruf’, bald Hunde oder Hühner zur Schau standen, gaben den Raum her. Der Architekt hatte das Kunststück fertig zu bringen, man könnte auch sagen: das Problem zu lösen, aus langgestreckten Bogengängen einen geschlossenen Theatersaal herzustellen. Und löste es in überraschend kurzer Zeit. Darauf kommt es heut in Berlin an. Wo ein Bedürfnis vorhanden scheint (denn alle diese theatralischen Gründungen entsprechen natürlich einem Bedürfnisse), muß es fix befriedigt werden; sonst könnte sich der Geschmack der Menge mittlerweile wandeln. – Groß-Berlin ist in dem typischen neuberlinischen Stil ausgeführt, dem es um Augenbluff zu tun ist. Den Vorwurf ‚billig und schlecht’, den Reuleaux einst gegen die deutsche Industrie aussprach, kann man nicht mehr erheben; aber durch die Verwendung kostbaren Materials wird nicht viel gebessert, wenn es lediglich auf knallige Wirkungen abgesehen ist. Und die lassen sich mit billigem Material ebenso gut wie mit teurem erzielen. Betritt man ein solches Lokal – einerlei ob Café, Restaurant oder Theater – zum ersten Male, so staunt man über irgendeinen grellen Farbenklang, einen frappanten Lichteffekt, ein kühnes Ornament; hat man sich eine halbe Stunde darin aufgehalten, so hegt man den Wunsch, nie wieder länger darin zu verweilen. – So ergeht es einem auch hier. Allerlei Nebendinge erregen für wenige Minuten die Aufmerksamkeit. Doch unabwendbar schleicht der Augenblick heran, ‚wo auf sich selbst die Seele sich besinnt’ [Theodor Storm, ‚Du warst es doch’] (wenn man es so lyrisch ausdrücken darf), und das Unbehagen überwiegt. Den besten, weit diskretesten Eindruck machen noch die Beleuchtungskörper; nur stimmen die an sich schönen Schalen mit ihrem sakral feierlichen Licht wenig zu dem profanen Zweck. – Da in der letzten Zeit noch nicht genug oder so viele Vergnügungsstätten an der Spree verkracht sind, mußte eine neue geschaffen werden. Mit einer eignen Note: Verbindung von Spezialitäten und Ausstattungsposse. Halb Apollo-, halb Metropol-Theater. Die Mischung von Tingeltangel und Klingklang soll den nach des Tages Arbeit abgespannten Nerven der Großstädter als Balsam dienen. Dazu muß ein solches Programm sich Schlag auf Schlag abwickeln, jede Nummer muß ein Schlager sein; denn je abgespannter Menschen sind, desto gespannter wollen sie sein. – Zuerst gab es also einen Variététeil im Schneckentempo. Ein russisches Tänzerpaar. Russische Tänzer sind jetzt in Mode, aber die russischen Tänzer hätten den verwöhnten Einwohnern Hannovers nichts zu bieten. Amerikanische Musikexzentriks. Hundertmal dagewesen, von den fortgeschrittenen Königsbergern als vieux jeu abgefertigt. Dressierte gallische Hähne. Endlich eine neue Nuance; aber bessere Mitteleuropäer empfanden sie nur als Tierquälerei. Zum Schluß lebende Bilder, Goldbronzegruppen: ‚der sterbende Krieger’ und ähnlicher Kitsch, woran höchstens noch Eierfrauen und Buttermänner Gefallen finden; auch diese haben schon Besseres gesehen. – Es folgte die Ausstattungsposse So bummeln wir. Verfaßt von dem berühmten Gustav Kadelburg. Gesangstexte von dem nicht minder berühmten Leo Leipziger. Musik von dem berühmtesten Jean Gilbert, Komponisten der deutschen Nationalhymne ‚Das haben die Mädchen so gerne’. Solche Berühmtheiten haben das nobile officium, daß ihnen nichts einzufallen braucht; sie zehren vom Kapital der Routine. Herr Kadelburg erfindet die Fabel vom Pantoffelhelden, der sich in Abwesenheit der gestrengen Ehegattin amüsieren möchte, von ihr zum Bahnhof geschleppt wird und mit dem Mute der Verzweiflung aus dem fahrenden Zug springt. Herr Leipziger steuert Couplets bei, wie er deren mindestens zwei als Roland von Berlin allwöchentlich dichtet. Und Herr Gilbert setzt sie in Musik, wenn man es so lyrisch ausdrücken darf. Wesentliche Ingredienzien sind ferner die Ballets in Baruchscher Drapierung und, wenn die Not aufs höchste steigt, patriotische Strophen, etwa auf das bevorstehende Regierungsjubiläum des Kaisers. Ein peinlicherer (und beinlicherer) Abklatsch des Metropoltheaters läßt sich kaum denken. – Drei Operettensterne erster Größe sind dem Hause verpflichtet: Max Pallenberg, der witzigste Komiker, Fritzi Massary, die rassigste Soubrette, und Carl Bachmann, der eleganteste Tenor. Aber wo nichts ist, fühlt man die Verschwendung solcher Kräfte dreifach. – … Der Kritiker, mit dem dreifachen Erze seines Verantwortlichkeitsgefühls gewappnet, hätte sich mit aller Macht gesträubt, über ein derartiges, auf die lokale Bannmeile beschränktes Unternehmen zu berichten, wenn es nicht als Symptom für eine gewisse Sorte Berliner Theatergründungen gelten könnte; trotzdem bittet er seine Leser um Entschuldigung.“

Berliner Theater. NZZ, 26. November 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 329 (Nr. 1665).
Edward Knoblauch [Knoblock], Kismet (Theater am Nollendorfplatz, 22.11.12). – „Man stelle sich vor, Ernst v. Possart wolle auf dem Programm eines Vortragsabends anzeigen: Enoch Arden, Gedicht mit Musik von Richard Strauß, Text von A. Tennyson, aus dem Englischen übersetzt von Adolf Strodtmann – es wäre genau das, was Herr Gustav Charlé, Direktor des Theaters am Nollendorfplatz, sich mit dem Märchendrama Kismet von Edward Knoblauch herausnehmen zu dürfen glaubte. ‚Text von E. Knoblauch’ stand auf dem Zettel, als wäre diese orientalische Dichtung la quantité la plus négligeable. – Ein solcher, Gott weiß und Gott allein weiß mit welchem Rechte nach Berlin versetzter Theaterleiter braucht natürlich keine Ahnung zu haben, daß Edward Knoblauch, ein Enkel des ausgezeichneten Berliner Architekten Eduard Knoblauch, in England und Amerika als namhafter dramatischer Schriftsteller gilt. Er hält ein kraß realistisches, aber auch von feinen Poesiefäden durchzogenes Märchenstück aus der Welt von 1001 Nacht eben für gut genug, sein zu höchst zweifelhaften Regiekünsten greifendes Mütchen daran zu kühlen. Ihm ist es darum zu tun, einen echten Zwerg, eine berückend schöne, wiewohl unrhythmische spanische Tänzerin auftreten zu lassen; geräuschvolle Massenaufzüge zu inszenieren; den Reinhardt von Sumurûn [1910] zu überreinhardten. Mit dem Ergebnis, daß man noch nie weniger von einem Autor, aber desto mehr von einem Regisseur gesehen hat und daß diese Charlétanerie nach Gebühr vom Publikum abgelehnt wurde. – Was von Kismet am Nollendorfplatz gespielt wurde, entzieht sich jeder Kritik. Man sah ein knalliges Ausstattungsstück (Stil Groß-Berlin), dessen Handlung vielfach unverständlich bleiben mußte, weil mindestens die Hälfte des Textes glatt unter den Tisch gefallen war. Statt geistige Zusammenhänge zu enthüllen, enthüllte man Körper durch zarte Umhänge. Um der Verballhornung aber ein literarisches Mäntelchen zu geben, wurde sie in die Form des Traums eingekleidet, wovon im Original nicht der Schatten einer Spur zu finden ist. Nun ja, Grillparzer ist in Der Traum ein Leben mit gutem Beispiel vorangegangen, Gerhart Hauptmann hat es in Elga benutzt. Was nicht Hand noch Fuß hat, das stellt man zur rechten Zeit auf Ballettbeine und stempelt es als Traum ab; so rettet man wenigstens den Schein und hofft, den Kassenschein für sich zu haben. – Ein übriges glaubte man für das also geschändete Stück tun zu müssen, indem man den sehr begabten böhmischen Komponisten Josef Gustav Mraczek, dessen Oper Ein Traum unlängst im Königlichen Opernhause aufgeführt wurde, mit der musikalischen Illustration betraute. Seine Vergangenheit prädestinierte ihn gewissermaßen zur Traumdeutung. Mit dem Schwergepäck des modernen Tonsetzers ausgerüstet, besorgte er sie so gründlich, daß man ihm den Vorrang auf dem Zettel einräumte. Mraczek begnügte sich nicht damit, von Bild zu Bild überzuleiten, sondern eröffnete dieses ‚Ausstattungsstück’ mit einem veritabeln Liebesduett im Stile der großen Oper und legte pikant rhythmische Tänze ein, zu denen Salome ihre sieben Schleier hätte entfalten können. Doch sei nicht verschwiegen, daß die Musik als solche ihre Meriten hat. – Ich möchte das Geschrei hören, wenn das Drama eines bekannten deutschen Schriftstellers in England ähnlich malträtiert worden wäre. Hier scheint man, von keinen Gewissensskrupeln behelligt, einfach der Ansicht zu sein, daß der Mißhandelte kein besseres Schicksal verdient hat. Was mich nicht hindern soll, im Namen des englischen Verfassers energisch gegen eine solche Verschimpfierung seines Stückes zu protestieren.“

Berliner Theater. NZZ, 2. Dezember 1912, Zweites Abendblatt, Nr. 335 (Nr. 1700).
Nachruf auf Otto Brahm (gest. 28.11.12); Arthur Schnitzler, Professor Bernhardi (Kleines Theater, 28.11.12). – „Als man ins Kleine Theater kam, erfuhr man, Otto Brahm, der Direktor des Lessingtheaters, liege im Sterben. Tiefe Teilnahme bemächtigte sich der Anwesenden… – Der Zufall, der das Leben beherrscht, hatte es gefügt, daß just an diesem Abend Arthur Schnitzlers in Wien verbotene Komödie Professor Bernhardi in Berlin ihre Feuerprobe bestehen sollte, – das erste Schnitzlersche Werk, das nicht bei Brahm, sondern bei seinem Nachfolger Barnowsky in Szene geht. – Der erste Akt führte uns an die Schwelle eines Sterbezimmers. Jedes Wort, das da über die letzten Augenblicke eines armen Menschenkindes gesprochen wurde, war in doppelter Beziehung belangvoll. – Man erinnerte sich jenes unvergleichlichen Abends vor sechzehn Jahren, an dem Arthur Schnitzlers köstlichste Dichtung Liebelei von Otto Brahm, damals noch im Deutschen Theater, aufgeführt wurde [04.02.96]. Seitdem hat man ein Kapitel deutscher Theatergeschichte miterlebt. Eines der glorreichsten Kapitel. Im Deutschen Theater wurde die deutsche Theatergeschichte gemacht. Und der sie machte, hieß Otto Brahm. Die zehn Jahre, die er dort regierte, sind mehr als ein strahlender Abschnitt der Theatergeschichte – sie sind Lebenseindrücke geworden. Unauslöschlich, unwiederbringlich. Eine neue Kunst hatte mit dem Ungestüm der Jugend an die Pforte gepocht. Der ihr die Tore sperrangelweit öffnete; der von Anbeginn einsah, daß dieser Jugend die Zukunft gehöre; der sich mit der ganzen Kraft eines zum Kämpfer geborenen, zum Helfer erkorenen Mannes für sie einsetzte; der sie mit aller Lauterkeit seines Wesens förderte und ihr mit der Einseitigkeit des Fanatikers, aber auch mit der Treue eines edlen Tieres bis zum letzten Atemzug ergeben blieb – das war Otto Brahm. – Damals lohnte es noch, über das Theater zu schreiben. Es war eine von allem Firlefanz freie Kunst. Mehr: eine Lebensangelegenheit. Von hier aus traten Ibsen und Hauptmann ihren Siegeszug durch die Lande an. Hier wurden die literarischen Schlachten ausgefochten. – Auch Brahm vermochte natürlich nicht, die einmal erreichte Höhe zu behaupten. Seine Dichter hielten seinem Wagemut nicht gleichen Schritt; seine Schauspieler flüchteten teilweise zu andern Göttern. Schon in den letzten Jahren seiner Direktionsführung am Deutschen Theater war ein Abstieg unverkennbar. – Als er dann ins Lessingtheater übersiedelte, wechselte er nur den Schauplatz seiner Tätigkeit, nicht seine Prinzipien. Auch ihm blieben Kompromisse nicht erspart, aber die Konsequenz war seines Lebens Leitstern. Und die Konsequenz führte ihn gelegentlich zur Enge. Aber dann raffte er noch einmal alle Kraft zusammen und stellte Ibsens Werk mustergültig in einem Zyklus dar. Unauslöschlich, unwiederbringlich. Menschen, die diese vollendeten Aufführungen miterlebt hatten, schüttelten sich die Hand zum Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit. Das Theater – eine Lebensangelegenheit. Wir haben es miterlebt, wir werden es in dankbarer Erinnerung bewahren, und wir werden Otto Brahm, den Cato dieser Epoche, als die außergewöhnlichste Erscheinung des heute an andern Altären betenden Theaterbetriebes verehrend im Gedächtnis behalten. – Heute – heute stehen wir mitten im Verfall. Reinhardt repräsentiert sozusagen das Rom der Kaiserzeit. Aber die Vergnügungsstätten neben ihm erfüllen uns nicht mit dem Gedanken an die ruhmvolle Gegenwart, sondern lassen uns den umschleierten Blick in die Vergangenheit zurücklenken. – … Als der vierte Akt der Schnitzlerschen Komödie begann, war die Nachricht vom Tode Otto Brahms eingetroffen. Wir grüßen dich, du mutiger Kämpfer, du Sieger ohne Hochmut. Wir legen dir den Lorbeer auf die Bahre, du singulärer Mensch in einer lauen Zeit! ● Der Lebende verlangt sein Recht. An demselben Abend feierte Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi im Kleinen Theater einen Triumph, der zur Hälfte auf das Konto der unvergleichlichen Darstellung zu setzen ist. Herr Barnowsky hat mit dieser neuen Regietat seine fest begründeten Rechte auf die Nachfolge im Lessingtheater erwiesen. – Die Komödie setzt mit einem schwerwiegenden Konflikt ein. Professor Bernhardi untersagt einem Priester, ein sterbendes junges Mädchen mit den letzten Tröstungen der Religion zu versehen, weil sich die Patientin im Zustand der ‚Euphorie’ befindet, also völlig im unklaren über ihr nahes Ende ist und durch den Eintritt des Geistlichen jäh aus ihrer Illusion gerissen würde. Hie Priester – hie Arzt; hie Glaube – hie Wissenschaft. – Der Konflikt wird erschwert, dadurch, daß Professor Bernhardi Jude ist. Und dadurch für mein Gefühl verengt. Arthur Schnitzler, der den Arzt in seinem dichterischen Schaffen nie verleugnet hat, verleugnet auch den Juden nicht – was ihm menschlich gewiß alle Ehre macht, ohne ihn poetisch sonderlich zu fördern. Er kämpft mit scharfen, durch den Witz allzu scharfen Waffen für das Judentum. Dem Katholiken steht nicht nur der vorurteilslose moderne Mensch gegenüber, sondern auch der Jude. – Der Fall wird weiterhin eingeschränkt, dadurch, daß er auf österreichische Verhältnisse lokalisiert ist. Das Vorkommnis in der Klinik wird in den Streit des Tages gezogen, die verschiedenen Parteien nehmen Stellung dazu. Es erfolgt eine Interpellation im Parlament, daraus entwickelt sich eine Anklage wegen Religionsstörung, und Bernhardi wird zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. – Der Dichter, der öfter als nötig dem Debatter das Wort gibt, läßt zum Schluß auch den Ironiker zu Worte kommen und gräbt sich selbst den Boden unter den Füßen ab. Alle menschlichen Zusammenstöße werden sub specie aeternitatis, im Lichte einer aus Bernhard Shaws Teufelsküche stammenden Ironie gesehen. Schnitzler belächelt, was wir tragisch zu nehmen im Begriffe waren. Seiner Weisheit letzter Schluß lautet: durch Rechthaben schafft man sich Feinde; Rechthaben ist eine Form des Eigensinns; vom Rechthaben ist noch keiner populär geworden. Michael Kohlhaas, ein bornierter Roßkamm, setzt Gut und Blut für die Chimäre seines Rechtsbegriffs ein; aber ein aufgeklärter Wiener Arzt, ein Jude überdies, hat nicht mehr das Zeug zum Märtyrer seiner Überzeugung. Was als dramatischer Konflikt begonnen, das endet auf dem Glatteis der Glosse. – Mit bewundernswertem Geschick ist der erste Akt gefügt. Mit einer Knappheit ohnegleichen. Kein Wort des Lobes scheint für diese spielende Sicherheit der Technik zu hoch. Bald löst sich die Sache in breite Diskussionen auf. Im vierten Akt kommt dann die dichterisch wertvollste Szene zwischen Arzt und Priester, in der sich die beiden Gegner bis auf den Grund der Seele schauen. Damit wird die Brücke geschlagen zu dem sophistischen Ende, das mehr gewollt, als mit überzeugender Logik den Komödiencharakter anstrebt. – Aus der Problemstellung hätten sich wohl tiefere menschliche Angelegenheiten ergeben können. Schnitzler ist aber in dieser Arbeit erstens Arzt, zweitens Österreicher, drittens Jude und erst an vierter Stelle, gleichsam nur im Nebenberuf, Dichter. Der Schalk Shaw äugt ihm zu sehr über die Schulter. Aus dem Wortgeplänkel erklingt zu vernehmlich die Komödienparole: in hundert Jahren ist ja doch alles einerlei; es lohnt nicht, für seine Weltanschauung seine Ruhe zu opfern. Doch wenn diese Moderichtung, alles mit dem Sprühregen der Ironie zu begießen, weiter um sich greift, dann ist das Drama bald Matthäi am Letzten angelangt. – Was der Arzt an diesem Werke geschaffen, ist glänzend. Die verschiedensten Typen von Medizinern sind scharf und amüsant umrissen. Eine Galerie von Charakterköpfen. – Was der Österreicher zu diesem Werke beigesteuert, war ihm offenbar Herzenssache; aber wir sagen uns doch: non tua res agitur. – Das Ganze bleibt eine k.k. semitische Angelegenheit mit allgemein menschlicher Perspektive.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Dezember 1912, Zweites Morgenblatt, Nr. 343 (Nr. 1745).
Thaddäus Rittner, Sommer (Lessing-Theater, 06.12.12). – „Es war ein wehmütiger Abend im Lessing-Theater, diese erste Premiere nach Otto Brahms Tode. Gegeben wurde Thaddäus Rittners Komödie Sommer. Wie ein düsterer Schatten lag es über Hörern und Spielern. Man fröstelte mitten im ‚Sommer’. Schon an der Wahl dieses Stückes, das den Tod als Appell zur Lebensfreude hinstellt, nahm man ein wenig Anstoß. Man ließ den Blick nach der untern Proszeniumsloge links schweifen, von wo der Verstorbene so oft, das Opernglas fast ununterbrochen vor Augen – Lesser Ury hat ihn so gemalt –, die Vorgänge auf der Bühne mit der Aufmerksamkeit eines die Schlacht leitenden Feldherrn verfolgte. Von der Arrangierprobe bis zur Generalprobe hatte er mitgeholfen, aber vor der entscheidenden ersten Aufführung saß er mit einer Spannung, wie das Kind vor der Weihnachtsbescherung. Man sah in die untere Proszeniumsloge, die kleine, wohlvertraute Gestalt mit der Seele suchend – ein schwarzes Loch gähnte uns an. Was verloren, kehrt nicht wieder… – Wenn irgend etwas die vielfach verbreitete Mär, Otto Brahm sei kein Regisseur gewesen, schlagend widerlegen kann – die Darstellung der Rittnerschen Komödie hat den unumstößlichen Gegenbeweis geliefert. In all den Jahren unter Brahms ‚literarischer’ Leitung hat man nie ein solches Auseinanderspielen erlebt. Der eine, der dominierende Wille, die eine, die überragende Intelligenz, schien zu fehlen. Das herrliche Ensemble löste sich in eigenwillige Einzelmitglieder auf. Von seiner oft bewunderten pupillarischen Sicherheit war nichts geblieben. Ein Teil der Künstler kam nicht über die Farblosigkeit hinaus, ein anderer trug die Farben zu dick auf. Und beide wollten sich nicht verquicken. Auch an Fehlbesetzungen herrschte kein Mangel. – Hätte der Dahingeschiedene von den elysäischen Gefilden aus diese erste neue Aufführung nach seinem Heimgang mit ansehen können, er hätte vor allem Frau Tilla Durieux als einen fremden Tropfen Blut in seiner Künstlerschar empfunden. Also hätte er etwa zu ihr gesprochen: ‚Was Sie aus Ihrer Rolle machen, Frau Durieux oder, wie ich jetzt sehe, nachdem der Herr Gemahl an die Spitze der Sezession getreten ist, wohl sagen muß: Frau Präsident – was Sie machen, ist amüsant und reizvoll, aber Sie machen zu viel. Sie machen zu viel von sich her. Sie arbeiten zu sichtbar und zu stark. Sie tauchen nicht in die Rolle unter, sondern strecken beständig den Kopf heraus und scheinen mit den Augen zu fragen: wie hab’ ich das wieder gemacht? Sie sind zu selbstbewußt. Etwas mehr Triebhaftigkeit und Selbstvergessenheit wäre Ihnen zuträglich. Ich weiß, Sie waren an verschiedenen Berliner Bühnen ein Star; aber bei mir gibt es nur gleichwertige Künstler. Ob einer drei Worte oder das halbe Stück zu sprechen hat: er muß der Dichtung förderlich sein. Wir sind in diesem Hause Diener am Worte. Uns kommt es vor allem auf das Werk an. Also lassen Sie, bitte, Ihre geschätzte Person etwas zurücktreten. Sie kleiden sich auch zu auffallend für diese Frau Medizinalrat. Ich verstehe zwar nicht viel von Damenmode, aber die schwarz-weiße Robe mit dem langen Schoß, die Sie im zweiten Akte tragen, bezeichnet man wohl als dernier cri de Paris. Wenn Sie in der Provinz damit gastieren, wird sie gewiß angestaunt werden; für die Frau eines kleinen Arztes ist sie viel zu elegant. Sie würde allen Besucherinnen des Sanatoriums die Nachtruhe rauben. Also bitte etwas gedämpfter, auch in der Kleidung.’ – Und zu Herrn Loos, einer jungen Hoffnung seiner Bühne, würde er dieses äußern: ‚Es ist ein Irrtum, zu glauben, Jugend prädestiniere zur Darstellung von Jugend; zu wähnen, weil man jung sei, könne man ohne weiteres junge Menschen spielen. Der selige Kainz hat einmal gesagt, man müsse mindestens vierzig Jahre alt sein, um den Leon in Weh dem, der lügt glaubhaft zu machen. Sie sind jung, Herr Loos, Sie sind sogar außergewöhnlich begabt, aber Ihr junger Mann ist nicht jung. Sie sollen schüchtern sein, aber Sie sind verhärmt, mißtrauisch und traurig. Darum finden Sie auch nicht den Übergang von der Schüchternheit zum Draufgängertum. Torup erwacht, den nahen Tod vor Augen, zu Lebensfreude. Den einen Sommer, den er, dem Ausspruch des eifersüchtigen Arztes zufolge, noch vor sich hat, will er bis zur Neige auskosten. Das ist mehr literarische als reale Psychologie. Sie haben es also doppelt schwer, den Umschlag in Torups Stimmung zu versinnlichen. Nehmen Sie das memento vivere des Jünglings nicht wie ein Tragödienheld, sondern geben Sie ihm, wenn er der sinkenden Sonne zujubelt, etwas von ephebenhafter Beschwingtheit, von der Seligkeit eines Knaben. Soll ich Ihnen sagen, was Hans Torup sein müßte? Ein Zwillingsbruder des Eugen Marchbanks in Shaws Candida. Das mag Ihnen einen Anhalt geben. Also bitte etwas weniger Trauerweide und etwas mehr Birke!’ – So oder ähnlich hätte sich der Verblichene mit fast jedem Mitglied seines Ensembles auseinandersetzen können. Und hätte vielleicht bewirkt, daß Rittners blutleere, doch keineswegs belanglose Komödie nicht abgelehnt worden wäre. Unter seiner Ägide wäre seine treue Gemeinde bereitwilliger auf die feinen psychologischen Schachzüge des Werkes eingegangen; ohne ihn vermochte sie kein rechtes Zutrauen zu dem neuen Dichtersmann zu fassen. Wie ein düsterer Schatten lag es über Hörern und Spielern… – Nicht ohne Besorgnis – das darf man nach dieser ersten Probe aussprechen – sieht man der Zukunft der Brahmschen Schauspielervereinigung entgegen. Schon ist das neue Haus (in ungünstiger Gegend, will mir scheinen) gemietet. Sie werden bald als Sozietäre auf eigenen Füßen stehen. Sie werden, fürchte ich, jeder auf seinem Kopfe bestehen. Schon munkelt man von Mißhelligkeiten. Wenn sie nicht das Glück haben, einen primus inter pares zu finden: den Mann, den sie freudig als oberste Instanz gelten lassen, der sie durch die souveräne Sicherheit seines Urteils und die Unbeirrbarkeit seines Willens in Schach hält, dann wird es eine Anzahl ausgezeichneter Künstler mehr, aber eine in ihrer Art einzige Stätte der Kunst weniger in Berlin geben. Dann wird sich das Schauspiel der führerlosen Herde wiederholen und die Trauer um diesen Führer nie verstummen. Die Absicht, in Otto Brahms Geiste fortzuwirken, ist löblich; wird sie sich, ohne seinen Geist, realisieren lassen?“

Berliner Theater. NZZ, 30. Dezember 1912, Drittes Morgenblatt, Nr. 362 (Nr. 1859).
Maurice Maeterlinck, Der blaue Vogel (Deutsches Theater, 23.12.12). – „Maurice Maeterlincks Märchendichtung Der blaue Vogel ist keine dramatische Ausdeutung der Goetheschen Maxime: ‚Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da’. [‚Erinnerung’] Auch keine Paraphrase über den bitter resignierenden Schluß des Schubertschen Wanderers: ‚Da, wo du nicht bist, ist das Glück’. Sondern: wie die deutschen Romantiker für ihre menschliche und poetische Sehnsucht das Symbol der blauen Blume geprägt haben, ist hier der blaue Vogel, der überall gesucht und nirgends gefunden wird, der entflattert oder tot zu Boden sinkt, wenn man ihn zu besitzen wähnt, der fast zu realer Existenz gelangt, als er in altruistischer Regung verschenkt wird – so ist hier der blaue Vogel für das Verlangen und die Sehnsucht des Menschen nach Glück gesetzt. – Ein mit Allegorien, Personifikationen, abstrakten Begriffen, Mythos und Mystik vollgepacktes, streckenweise überladenes kindliches Spiel. Ein altkluges Märchen. Und doch darf man ihm von Herzen gut sein, weil ein Dichter das Füllhorn seiner Phantasie darüber ausgegossen. Besser die Phantasie feiert einmal Orgien, als daß sie immer zur Rolle des am Herde sitzenden Aschenbrödels erniedrigt wird. Man muß dieses Märchen bewundern, obwohl sich der Zweifel nicht unterdrücken läßt. Man muß es lieben, obwohl der kritische Verstand nur zu scharf seine Schwächen erspäht. Man muß davor zum Kinde werden, obwohl das Kind nichts Rechtes mit so viel Tiefsinn anzufangen weiß. Man muß sich aller Bildung entschlagen, die aus vielen Quellen der Weltliteratur hier zusammengeströmt ist, um diese reizvolle Bilderreihe unbefangen genießen zu können. – Wer dieses Märchen liebt, den wird seine Liebe zwar nicht blind machen, aber befähigen, mit den beiden Kindern Tyltyl und Mytyl (nebenbei: schreckliche Pralinénamen für unser deutsches Ohr) gläubig durch alle Wunder der Welt zu wandern. Es ist eine etwas umständliche und bisweilen schwer verständliche Reise, die den Kopf ebenso anstrengt wie die Füße. […] Als poetischste Stationen dieser seltsamen Reise ins Blaue haften im Gedächtnis: der Spuk im Walde, wo sich Bäume und Tiere gegen das winzige Menschenpaar verschwören, und besonders die Begegnung mit den verstorbenen Großeltern und Geschwistern im Lande der Erinnerungen – eine köstliche Eingebung, herzlich und herzig und ein wenig sentimental wie das deutsche Märchen [von Hänsel und Gretel]. Anderes dagegen ist zu anspruchsvoll und auch zu verstiegen: […] namentlich die mit didaktischen Episoden geschmückte Einkehr im Schlosse der Freuden, wo das feisteste Glück, will sagen: die niedrige Sinnenlust, und die selbstloseste Freude, die Mutterliebe, ihre Spruchbänder entfalten. – Doch gegen solche Allegorien wäre weniger einzuwenden, wenn sie alle so überzeugend und so strahlend versinnlicht worden wären wie die Mutterliebe durch die Schauspielerin Else Heims, die den Märchenton – neben Humperdincks weicher, wohliger Musik – für mein Gefühl am echtesten und keuschesten erklingen ließ. Wäre nur alles in diesem Stile gelungen! Aber schon in den von Ernst Stern geschaffenen Dekorationen gab es störende Nebenklänge. Die mangelnde Naivität der Dichtung schien hier unterstrichen oder durch eine übel angebrachte Primitivität ersetzt. Das Ganze wirkte wie ein Bilderbuch moderner Richtung, von der die Kinder bekanntlich nichts wissen wollen. – Auch der Regisseur Reinhardt schien sich nicht recht klar darüber geworden zu sein, ob er das zwitterhafte Märchen dem Geschmack der Großen oder der Kleinen anpassen solle. Er begann gut realistisch mit der holländischen Bauernstube und hielt, wohl aus Angst, in den etwas süßlichen Stil der englischen Christmas-Pantomime zu verfallen oder das Märchen allzu sehr dem Ausstattungsstück anzuähneln, bis zur Dürftigkeit an diesem Realismus fest. So sah es etwa im Palaste der Fee erschreckend ärmlich aus. Auf das schönste Bild im Reiche der ungebornen Kinder – wer es in London bei Herbert Trench gesehen, wird es nie vergessen – hatte Reinhardt merkwürdigerweise verzichtet. [Trenchs Inszenierung am Haymarket Theatre hatte London im Sturm erobert: nach der Premiere am 08.12.09 erlebte sie noch mehr als 200 Aufführungen.] Man gewann den Eindruck, daß der sonst so gestaltungsfrohe Regisseur nicht recht an den Zauber des Werkes glaubte. Jedenfalls hat seine Inszenierung nicht Farbe bekannt (in doppelter Bedeutung). – Für die geteilte Wirkung im Deutschen Theater mache ich auch den Umstand verantwortlich, daß die Rolle des zehnjährigen Knaben von der voll entwickelten Schauspielerin Lia Rosen gegeben wurde. Sie war in kaum einem Augenblick ein Kind, in keinem ein Knabe. Der Dreikäsehoch in London trug auf seinen schmächtigen Schultern die Dichtung über alle Abgründe; Frl. Lia Rosen schädigte sie für mein Empfinden von Grund aus. Es war ein Mißgriff. Dagegen entzückte die kleine Danegger aus Wien mit jedem Blick, jedem Wort, jeder Geste. – Die Hörer wurden von des Gedankens Blässe verstimmt und kamen nicht in Weihnachtsstimmung. Ich denke mit ungetrübtem Vergnügen an die Londoner Aufführung zurück.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Januar 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 7.
Thomas Mann, Fiorenza (Kammerspiele 03.01.13). – „Thomas Manns (schon vor sieben Jahren als Buch erschienenen drei Akte Fiorenza sind eine einzige, um 2¾ Akte verzögerte dramatische Szene. Und selbst in diesem letzten Zwölftel der Dichtung, auf das alle vorhergegangenen Gespräche und Auftritte hinweisen, hindrängen, sich zuspitzen – selbst in dieser künstlich hinausgeschobenen, mit den bewährten Mitteln des Ritardando eingefädelten scène à faire kommt es nicht zur vollen dramatischen Entladung. Sondern zwei Temperamente, zwei Ideenträger, zwei Weltanschauungsrepräsentanten halten geistige Abrechnung miteinander, ohne daß die Gegensätzlichkeit ihres Empfindens Feuer aus dem Stein zu schlagen vermöchte. – Eine Dialogfolge aus den Tagen Lorenzos de’ Medici nach Gobineaus berühmtem Muster – gedankenreich, erinnerungsreich, gestaltenreich, doch gestaltungsarm. Dieser Dialog, mag er auch die Hand eines Künstlers bezeugen, stammt nicht von einem Manne, der das Geheimnis der Bühnensprache kennt. Dieser barocke Bau mit seinem breitesten Fundament, seinem fehlenden Mittelgeschoß, seiner Überfülle von Ornamenten, stammt von einem Theaterfremdling, der aus seiner Unkenntnis kein Geheimnis macht. Elf Zwölftel der Dichtung haben nur eine sekundäre, vorbereitende Bedeutung. Wenn sie nach vielen freiwilligen Stationen endlich zum Ziele geführt haben, enthüllen sie ihre völlige Überflüssigkeit. Die bewegte Aussprache des Schlusses zwischen dem sterbenden Magnifico und seinem wütigsten Widersacher Savonarola ist durch den Anschauungsunterricht im Studium der Renaissance und durch den Aufwand tönender, geschliffener Worte um kein Jota gefördert worden. – […] Vielleicht hätte ein skrupelloser Regisseur die kargen Funken der Handlung durch beherzte Striche und kühne Zusammenballungen zu hellerem Feuer anblasen können. Herr v. Winterstein, Spezialist fürs Mittelalter, der in den Kammerspielen für die Regie verantwortlich zeichnete, hatte gegen das Sparsystem (Dekorationen) und das Schonsystem (Darsteller) einen schweren Stand. Das Prinzip, Novizen dann und wann zelebrieren zu lassen, ist gewiß löblich, aber es empfiehlt sich, nur bei weniger gefährlichen Stücken davon Gebrauch zu machen. Einzig für den Magnifico trat ein vollwertiger Künstler in die Schranken. Herr Wegener als sterbender Leu reproduzierte eindringlich das Bild seines sterbenden Fuchses aus Heinrich IV. von Shakespeare [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 22.10.12, Nr. 1479]. Die schlimmste Unterlassungssünde hatte man an dem Bruder Girolamo [Savonarola] begangen: nachdem zwei Stunden unaufhörlich von ihm gesprochen worden ist, muß man, wenn er schließlich auf die Bühne kommt, einen Kerl von überirdischem Geisteswuchs, von dämonischer Willenskraft, von fulminanter Redegabe sehen. Kayßler hätte das Verbissene, Moissi wenigstens die Lavaglut der Worte besessen. Statt dessen hörte man einen Schauspieler [Lothar Koerner], dem, wie es bei Vergil heißt, vox faucibus haesit [Aeneis, IV.280: die Stimme blieb im Halse stecken]. Ganz Erscheinung blieb Frl. Mary Dietrich als holdseligste Kurtisane: ein Bild des Fra Filippo Lippi, das seinen Reiz zerstörte, wenn es die Lippen öffnete. Auch die vollendetste Darstellung hätte das Drama nicht retten, wohl aber der dialektischen Seite der Dichtung mehr zu ihrem Rechte verhelfen können.“

Berliner Theater. Der gute Ruf. Schauspiel in vier Akten von Hermann Sudermann. (Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus zu Berlin am 7. Januar.) NZZ, 10. Januar 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 10.
„O rühret nicht daran! Wo ihr es packt, da ist’s vertrackt, wenn es auch packt, und abgeschmackt, wiewohl befrackt. Aber das Publikum liebt es, mit den Stützen der Gesellschaft zu verkehren, besonders wenn sie in Pfützen wurzeln; und das Publikum der Premiere hat sich keineswegs, wie ein schlechter Prophet vor der Schlacht weissagte, dem neuen Werke Hermann Sudermanns gegenüber ablehnend verhalten, sondern rief seinen Dichter vom zweiten Akt an, zum Teil mit studentischem Trampeln, beinahe demonstrativ immer wieder vor die Rampe. – […] Wir wandeln im rosigen elektrischen Licht auf dicken Smyrna-Läufern über marmorne Stufen; aber wir können uns nicht verhehlen, daß trotz der ‚hochherrschaftlichen’ Aufmachung die Hintertreppe bedenklich kracht. Diese ganze Geschichte mit dem krösushaften Reichtum, mit dem bösen Baron, der nach Erpressungen zu schielen scheint, mit der nach außen hin ängstlich gehüteten Reinheit, hinter der sich Fäulnis birgt, das wurmstichige Milieu mit der wurmstichigeren Psychologie ist cachierte Hintertreppe. […] – Der romanhafte Eindruck wird durch eine sorgsam geölte und pomadisierte Sprache verstärkt. Diese Vertreter des Berlinischen high life suchen durch Bonmots zu glänzen, was ihnen manchmal gelingt. Der schnoddrige Ton der Welt, in der man sich nicht langweilt, ist getroffen. Es gibt einige treffende Bemerkungen im Dialog, aber ihre allzu geschwollene Polsterung macht sie schwer verdaulich – Kaviar mit Mayonnaisensauce serviert. Auch hier bewährt sich wieder der Techniker Sudermann, der seine Figuren mit untrüglichem Kalkül schiebt; doch kommt er nirgends über eine rein äußere Spannung hinaus. […] – Echt Sudermännisch war die Aufführung des Deutschen Schauspielhauses nicht; man merkte ihr mehr das Bestreben an zu mildern, als es dem virtuosen Stil des Stückes gleich zu tun. […]“

Berliner Theater. NZZ, 21. Januar 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 21.
Etienne Rey, Schöne Frauen (Kammerspiele, 17.01.13). – „Seit die Kammerspiele mit den Harmlosigkeiten Freund Teddys (von André Rivoire) einen überraschenden Dauererfolg hatten [198 Aufführungen; Premiere am 07.05.12], scheinen sie einen Narren an dieser Gattung gefressen zu haben, wenn es auch keineswegs ihre ursprüngliche Bestimmung war, so leichte, dem bloßen Amüsement dienende Ware mit allen Zeichen der Entdeckerfreude zu bieten. Dem Residenz- und dem Trianon-Theater, wo die gepfeffertsten französischen Ehebruchiaden eine dankbare Adoptivheimat gefunden haben, keck Konkurrenz zu machen, dürfte wohl unter ihrer Würde sein. (Das wäre sozusagen unlauterer Bettbewerb.) Also beziehen sie aus Gallien eine gewürzlosere Sorte von Stücken, die sich, bei aller Überlegenheit der Technik, dem deutschen Lustspiel von Anno Dazumal durch eine gewisse Treuherzigkeit des Inhalts nähert. Zwar ist es keine Kost für Jungfrauen, aber junge Frauen brauchen hier nicht bis unter die Haarwurzeln zu erröten, selbst wenn sie aus Polzin [im ehemaligen Hinterpommern] stammen. – Auf dieser Linie liegt das dreiaktige Lustspiel Schöne Frauen von Etienne Rey. Der deutsche Übersetzer [Otto Eisenschitz] versichert uns, er halte ‚Etienne Rey für den Lustspieldichter der Zukunft, den Lustspieldichter, der die Sehnsucht der Theaterdirektoren aller Länder ist’ (also ein kosmopolitischer Oskar Blumenthal?); der Regisseur [Felix Hollaender] will uns glauben machen, Etienne Rey gelte ‚als eine der stärksten Hoffnungen des jungen Frankreich’ (steht es dort schon so schlimm mit der Bevölkerungsabnahme?); der Dramaturg nennt ihn den ‚feinsten unter den amüsanten Chroniqueuren des Pariser Boulevards’. Sie nehmen – mit Verlaub – den Mund ein bißchen, ein ganz klein bißchen voll, die drei Herren Geburtshelfer. Nachdem wir die Bekanntschaft ihres Hätschelhans gemacht haben, dünkt er uns mehr ein Lustspieldichter der Vergangenheit. Denn alles an seinem heiteren Werkchen ist von einer Dagewesenheit ohnegleichen, und seine eigene Wesenheit scheint uns eine unbekannte Größe oder ein Extrakt der Wesenheiten vieler bekannter Größen. […] – Neu ist nur ein Requisitentrick, der die Handlung weiter bewegt. Ein Ehepaar älteren Schlages verkehrt miteinander auf schriftlichem Wege. Er sagt sich bei ihr an, wenn er ein menschliches Rühren fühlt. Ein solcher Brief gerät in die falschen Hände. Daraus ergibt sich die Komplikation, daß die betrogene Ehefrau behauptet, sich aus Rache einen Liebhaber angeschafft zu haben. Sonst wird man beim besten Willen nichts Neues in dem Spielchen gewahren können – es sei denn die Schlußpointe, daß der Held Zwiesprache mit dem lieben Gott hält und ihm, der alle die schönen Frauen geschaffen, den größeren Teil der Schuld zuwälzt. – Trotzdem die Kammerspiele ihre Liebe zu diesem Genre nachdrücklich betonen, darf man (zu ihrem Ruhme) sagen, daß sie ihm keine ideale Heimstatt bereiten, da es an geeigneten Konversationsschauspielern fehlt. […]“

Berliner Theater. NZZ, 21. Januar 1913, Drittes Abendblatt, Nr. 21.
Hermann Bahr, Das Prinzip (Lessing-Theater, 18.01.13). – „Es ist stets eine undankbare Aufgabe, Wasser in den edlen Wein der Begeisterung zu gießen. Hermann Bahr hat in der vorigen Woche die Bürger Ihrer Stadt durch die Beweglichkeit seines Geistes entzückt [Anspielung auf die Rezension von Bahrs Essays (1912) in der NZZ vom 10.01.13, Nr. 10]. Ich möchte das schöne Bild, das sie von seiner in allen Farben des Regenbogens schillernden Persönlichkeit empfangen haben, nicht durch Einschränkungen und Vorbehalte trüben. Wozu sein im Lessing-Theater aufgeführtes Lustspiel Das Prinzip herausfordert. Sondern begnüge mich mit der Feststellung, daß es einen sogenannten Lacherfolg gab und daß Else Lehmann eine dralle Köchin himmlisch spielte, wie nur sie es kann. – Auch hier bewährt sich, wie fast immer in seiner dramatischen Produktion, die geschickte Hand unseres Hermann Proteus Bahr in der Stoffwahl. Er wollte einen Menschheitsbeglücker zeichnen, den Prediger eines neuen Glaubens, eines ‚monistisch anarchistisch sozialistisch optimistisch pietistisch franziskanisch demokratisch asketisch epikureischen Urchristenheidentums’ (ich schreibe das aus dem im Verlag von S. Fischer, Berlin, erschienenen Buche ab), den Verkünder einer schrankenlosen Freiheit des Individuums, die bei der Kindererziehung anfängt. […] – Man wird nicht recht klug daraus, was Hermann Karneades Bahr eigentlich wollte: ob er, nach Sophisten Art, für oder wider dieses ‚moralische Akrobatentum’ Partei nimmt. Fast hat es den Anschein, als mache er sich darüber lustig, als weise er mit schalkhaftem Schmunzeln auf die Gefahren einer allzu freien Kindererziehung hin; denn in der Figur eines raunzenden Onkels – der weitaus besten des Lustspiels –, die den gesunden Menschenverstand vertritt, hat er für eine kräftige Verulkung der überspannten Ideen gesorgt. Anderseits durfte er jedoch nicht, wollte er nicht selbst zum Verräter an der heiligen Sache werden, so fortschrittliche, zukunftsstarke Lehren dem Spotte der Philister aussetzen. Darum geht alles gut aus. – Man wird nicht recht klug daraus, was der Vielgewandte mit diesem Lustspiel wollte. Aber da er, jede Scheu überwindend, sich alsbald beherzt der Posse in die Arme wirft, wollte er vermutlich seine Hörer nur lachen machen. Das ist ihm im Lessing-Theater nach Wunsch gelungen, wenn es auch einige Mißvergnügte gab, die an den akrobatischen Geistessprüngen dieser mit Prinzipien kokettierenden Clownerie wenig Gefallen zu finden schienen.“

Berliner Theater. NZZ, 27. Januar 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 28.
Henrik Ibsen, Brand (Theater in der Königgrätzer Straße, 23.01.13). – „Seit dem Jahre 1898, als es galt, den siebzigsten Geburtstag des Dichters zu feiern, hat man Ibsens Brand in Berlin nicht mehr aufgeführt. Damals wagte sich das Schiller-Theater (mit Ferdinand Gregori in der Titelrolle) an das spröde, in die höchsten Regionen der Gletscherwelt des Gedankens hinaufweisende und wie von Eiszapfen starrende Werk. – Man hat es Otto Brahm verdacht, daß er die Dichtung seinem Ibsen-Zyklus nicht einfügte; daß er sie überhaupt nicht auf die Bühne bringen wollte. Jetzt wissen wir, daß der kluge Brahm auch hierin klug beraten war. Wußten es, seit erneute Lektüre uns im innersten Herzen kühl ließ. Wissen es, seit im Theater in der Königgrätzerstraße Brand in den wundervollen Bühnenbildern des stammverwandten Malers Sven Gade an unsern Blicken vorüberzog, ohne daß die weitschichtige Dichtung im Verlaufe von vier und einer halben Stunde an mehr als zwei oder drei Stellen die Seelen der Hörer berührt hätte. – Diese tiefern Wirkungen gingen von den Vertreterinnen der beiden Frauenrollen aus. Rosa Bertens als des starrköpfigen Helden hartherzige Mutter wußte uns, so peinlich der eine Auftritt zwischen Mutter und Sohn ist, wie mit einem Frosthauch anzublasen. Jedes Wort von ihr stand in kaltem Erz gemeißelt: jede Geste zeugte gleichermaßen von Gram und Grauen. Die ganze Figur des liebeleeren Weibes, das am Sterbebette des Mannes mit Raubtiergelüsten nach dem verborgenen Gelde sucht, hatte einen leisen Stich ins Hexenhafte, also ins Unreale; die Unnatur der Gestalt wie der Szene – denn feindlicher steht der Mutter im Bereich der Weltliteratur vielleicht nur noch Orest gegenüber – kam gerade dadurch aber zu eindringlichster Geltung. Alle Wärme der Mutterliebe dagegen quoll aus Irene Trieschs Darstellung der Agnes. Dem ‚reizenden Schmetterling’ mag sie schon ein wenig entwachsen sein; doch dem liebenden Weibe und der in ihrem Schmerze zum größten Opfer bereiten Mutter lieh sie alle Inbrunst und alle Seligkeit des Gefühls. Diese Agnes ist der menschliche Gewinn der Dichtung; sie wurde der darstellerische Gewinn des Dramas in Irene Trieschs seraphisch leuchtender Verkörperung. Man wird nicht so bald wieder eine ähnlich grausame Szene finden wie die, in welcher der bis zur äußersten Prüfung schreitende Zelot von der ihres Söhnchens beraubten Mutter, noch dazu am Weihnachtsabend, verlangt, sie solle sich von jedem Erinnerungszeichen an ihr totes Kind trennen. Wenn Brand durch die Reinheit seines Strebens irgendwelche Sympathien besessen hat, verscherzt er sie durch diese bis zur Besessenheit verstiegene Forderung bei allen Hörern, die so naiv menschlich empfinden, daß sie den abstoßenden Vorgang nur in seiner greifbaren Bedeutung fassen und ihm keine symbolische Deutung unterzuschieben vermögen. – Die Schuld, daß solcher Rigorismus alle gesunde Empfindung verletzte, lag hier nicht an dem Schauspieler Ludwig Hartau, obwohl er uns sonst in keinem Augenblick zum Glauben an sein Übermenschentum des Willens zwang. Die Gedächtnisleistung war erstaunlich, die dialektische – denn Brand ist in den an die Stimmbänder gestellten Anforderungen ein Sprech-Rienzi – durchaus achtenswert; aber der Fanatiker, der sein ‚Alles oder nichts!’ gegenüber den höchsten wie geringfügigen Lebensfragen hinausdonnert, wurde uns unterschlagen. Das kann man nicht spielen; das muß man sein. (Von lebenden Schauspielern wüßte ich nur einen, der diese intransigente Riesennatur zu bewältigen hoffen dürfte: Friedrich Kayßler.) Herrn Hartaus mnemotechnische und sprachtechnische Vorzüge deckten den Mangel an einer homogenen Persönlichkeit nicht zu. Auch ohne daß es uns der Dichter zum Schluß durch eine Stimme von oben zurufen läßt und den deus caritatis ex machina bemüht, hätten wir die Botschaft des Gedichts vorweggenommen: nicht die Willensstärke des Menschen, mag sie auf noch so ideale Güter gerichtet sein, entscheidet über seinen Wert – die Güte macht ihn groß oder klein. ● In Ibsens Lebenswerk wird Brand stets seinen Rang behaupten. Was er später mit knappster Kraft gestaltet (Dichten heißt Verdichten), was er an idealen Forderungen geprägt, ist hier schon im Keime vorhanden. Aber von einem uferlosen Wortschwall ertränkt. Außerdem von dem durch jede Übersetzung, selbst durch die in vieler Hinsicht bewundernswerte Christian Morgensterns vermehrten Klingling des Reimes um ein gut Teil der seelischen Resonanz gebracht. Doch was literarhistorisch in Ehren besteht, bleibt für die Bühne der Lebenden ein Danaergeschenk. […]“

Berliner Theater. NZZ, 1. Februar 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 32.
Eduard Stucken, Astrid (Deutsches Theater, 24.01.13; insgesamt nur 2 Aufführungen). – „Zur Ehrenrettung des Gralsängers und Balladendichters Eduard Stucken laßt uns annehmen, daß sein Isländerdrama Astrid aus seiner Gymnasiastenzeit stammt. Damals hatte es gewiß noch fünf Akte; jetzt ist es auf vier reduziert (redugiert). In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Doch der Geist ist derselbe geblieben. So dichtete ein hoffnungsvoller Unterprimaner, als sein Auge zum erstenmal in schönem Wahnsinn und seine Sprache in edlen Jamben rollte. Dann ging er, sanft und keck, mit seinem Werke zu dem Lehrer, der den Unterricht in deutscher Literatur erteilte, und legte es vertrauensvoll in seine Hände. Nach drei Tagen beschied Dr. Gotthold Messing seinen besten Schüler im deutschen Aufsatz zu sich und sprach also in wohlmeinendem Tone zu ihm: ‚Was Sie mir da zu lesen gegeben haben, mein lieber Stucken, hat mich von Herzen gefreut. Ich bin stolz darauf, daß sich einer meiner Schüler in seinen Mußestunden mit der Muse befaßt, statt wie die andern in die Kneipe zu laufen und sich mit Kellnerinnen zu befassen. Etwas von dem Verdienst, das Ihnen zukommt, fällt vielleicht auf mich zurück. Ich habe es mir immer angelegen sein lassen, Ihre Blicke auf unsere herrliche altgermanische Vorwelt zu lenken, die der große Richard Wagner für unsere Zeit neu belebt hat. In diesen Bahnen wandelnd, haben Sie nicht das alte Rom zum Schauplatz Ihrer Tragödie gewählt, haben keinen Caligula und keinen Nero geschrieben, sondern sind in dem sagenumwobenen Island eingekehrt. Sie haben sich offenbar mit Eifer in Ihre altnordische Saga vertieft. Wenn ich mich nicht täusche, hat Ihnen die Laxdoelasaga als Vorbild gedient. Nicht wahr? (Stucken nickt.) Sie haben auch Hebbel gründlich studiert. Ich vermute sogar, daß Sie ein eigenes Erlebnis gehabt haben. Sie brauchen nicht rot zu werden, mein lieber Stucken. Auch ich bin einmal jung gewesen und noch nicht so verknöchert, daß ich für derlei kein Verständnis hätte. Nil humani a me alienum puto. Aus Ihrer Stoffvorlage, aus Ihrer Behandlungsvorlage und aus – Ihrem Erlebnis ist Ihnen ein Stück geworden, das mich anmutet, als wär’s ein Stück von mir. Das Ihnen, Ihr Alter völlig ausgeschaltet, zur höchsten Ehre gereicht. Ja, ich glaube sogar, sagen zu können: es hat nicht nur seine poetischen Qualitäten, sondern ist auch durchaus bühnenreif. Sie sind in der Technik schon weit vorgeschritten. Besonders freut es mich, daß Sie die drei aristotelischen Einheiten befolgt haben. Gut, sehr gut. Aber das Schönste an Ihrer Dichtung bleibt doch, wie echt Sie die altgermanischen Recken charakterisiert haben. Ich wüßte nichts, was mir näher ginge, als das Schicksal dieser nordischen Menschen aus dem 11. Jahrhundert. Ihre Frauengestalt, um die so viel Liebe und so viel Haß entbrennt, will mich moderner bedünken. Sie nehmen mir das nicht übel? Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen die lautere Wahrheit zu sagen. Amicus Stucken, sed magis amica veritas. Für Ihre Astrid scheint Ihnen Wagners Brünnhilde vorgeschwebt zu haben. ‚Doch sag’ ich nicht, – um mit dem Meister zu sprechen  – daß dies ein Fehler sei.’ [Die Meistersinger von Nürnberg, III.2] Nun gehen Sie nach Hause, lieber junger Dichter, und verschließen Sie die Tragödie gut in Ihrem Schreibtisch. Denken Sie daran, was Ihnen heut Ihr auf Sie stolzer Lehrer prophezeit: kommen wird einst der Theaterdirektor!’… – Und er kam. Dreißig Jahre später fand die Uraufführung von Astrid im Deutschen Theater statt. Professor Gotthold Messing hatte es sich nicht nehmen lassen, zu diesem Ereignis nach Berlin zu fahren. Angetan mit seinem Bratenrock, saß er mitten im Parkett, verstand nur die Hälfte, obwohl der alte Herr keineswegs schwerhörig geworden war, und fand die Darstellung einfach ideal. Tränen der Rührung tropften auf seine Röllchen, als er seinen ehemaligen Schüler, vom Beifall des Publikums umtost, auf der Bühne erscheinen sah.“

Berliner Theater. NZZ, 3. Februar 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 34.
Leo Lenz, Wieselchen (Kgl. Schauspielhaus, 25.01.13). – „Wer unter siebzehn und über siebenundachtzig ist, darf […] hier in Seligkeit schwelgen; die zwischen diesen beiden Altersgrenzen liegenden Jahrgänge sind nicht mehr kindlich oder noch nicht kindisch genug für solchen Seim der Seichtheit. Daß selbst verstockte Theaterpietsche, die sonst vor den königlichen Schützlingen auf dem (Verzeihung!) Bauch rutschen, es brüsk ablehnen, sich mit dem Lenzschen Meisterwerk kritisch auseinanderzusetzen (hei, welcher Männerstolz vor Königsdrohnen!), mag als Beweis gelten, bis zu welchem Gipfel man hinangeklommen ist. Jedesmal denkt man: schlimmer kann es nicht mehr kommen, und sieht sich dann angenehm überrascht, daß eine Steigerung noch möglich ist. – Man stellt die Tatsache fest und gibt jede Hoffnung auf, daß es in absehbarer Zeit besser werden könne. Denn der Chef [Georg von Hülsen] ist persona gratissima und Duzfreund der Allerhöchsten Stelle (am Geburtstag seines kaiserlichen Herrn empfängt er in aller Herrgottsfrühe eine Ordensauszeichnung, wobei verschwiegen wird, ob es sich um sins of commission oder omission handelt). Die königlichen Prinzen allerdings verweigern die Gefolgschaft: der Kronprinz amüsiert sich besser beim Filmzauber – Posse mit Gesang und Tanz [Operette von Walter Kollo, 1912] –, und Prinz August Wilhelm retiriert in die Kammerspiele. Was tut’s? Das Schauspielhaus hat sein Stammpublikum, das in rührender Anhänglichkeit mit ihm durch dick und dünn (meistens durch dünn) geht; eine treue Gemeinde, die seit Generationen in Schinkels Hause ansässig und in keinem andern Berliner Theater zu finden ist. Der Apfel fällt nicht weit vom Abonnementenstamme, und der Generalintendant darf – die einzige belangvolle Neuerung in seinem Regime – schon nach zehn Jahren mit Sang und Klang ein Jubiläum feiern, wobei wir uns dankbar erinnern, daß er wirklich seit zehn Jahren feiert. – Sehen wir uns einmal an, was die königliche Bühne in dieser Spielzeit geleistet hat. Sie begann mit der Bluthochzeit von Albert Lindner, einem typischen Epigonendrama mit lächerlich gespreizter Gebärde [10.09.12]. Sie brachte darauf, wie alljährlich, den neuesten Blumenthal [Ein Waffengang], der immer noch unter den Blinden die Würde des Einäugigen behauptet [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 09.10.12, Nr. 1414]. Da das klassische Repertoire gelegentlich einer Auffrischung bedarf, gab es als Neueinstudierungen die Kleistsche Hermannsschlacht [09.11.12] und Schillers Don Carlos [12.12.12]. Beide Werke verschwanden wieder nach wenigen Aufführungen, weil die Art, wie man hier den Klassikern nicht als Pilot, sondern als Piloty dient, nicht mehr ganz dem durch Reinhardt verwöhnten Geschmacke der Zeitgenossen entspricht. Unter dem Deckmantel des sanften Silvester-Ulks wurde der Austauschleutnant [von Richard Wilde u. C. G. v. Negelein] eingeschmuggelt [31.12.12], ein gesinnungstüchtiger Militärschwank zum höheren Ruhme des obersten Kriegsherrn. Und nun – Wieselchen. – Eine stolze Arbeitsleistung für fünf Monate. Wir wollen gerne anerkennen, daß der Spielplan einer Hofbühne von gewissen Rücksichten bestimmt wird; aber die Rücksicht auf ihr Renommee sollte die Anspruchslosigkeit nicht unter den Nullpunkt sinken lassen. Weil man die Modernen vom Schlage Frank Wedekinds verhöhnt und verpönt, braucht man noch lange nicht an Leistungsfähigkeit hinter jeder Berliner Privatbühne zurückzustehen. Zahmheit kann nicht als ausreichender Entschuldigungsgrund für Arterienverkalkung gelten. – Wer die Schuld an den Verhältnissen trägt? Nicht leicht zu sagen. Schwerlich ein einzelner. Eher das System mit seinem Instanzenzug, seinen bureaukratischen Verästelungen. Zu Beginn jeder Spielzeit pflegt Herr Dr. Paul Lindau [1839-1919], erster Dramaturg der Kgl. Schauspiele, mit Aplomb seine hochfliegenden Pläne verkünden zu lassen. Nach Ablauf der Spielzeit, ‚wenn man’s beym Licht und recht besicht, so wird ein Mauß gebohren’ [Volkslied]. Am guten Willen des Vielgewandten zweifelt keiner. Wenn in der Kunst das Wollen den Ausschlag gäbe, dann wäre Paul Lindau einer der bedeutendsten der unter uns lebenden Künstler. Mit zunehmenden Jahren hat sich die Zahl seiner großen Rosinen eher vermehrt als vermindert; doch die Kluft zwischen dem Gewollten und dem Erreichten, der Unterschied zwischen Programm und Premieren macht den unbefangenen Zuschauer stutzig. Eine jüngere Kraft würde wohl verzagt die Flinte ins Korn werfen, wenn sie in einem Moment der Einkehr die Bilanz zöge. Vielleicht muß man aber die biblische Altersgrenze überschritten haben, um sich so in Selbsttäuschung einlullen zu können. In allen Lagen bewährt sich der rüstige Greis als ein virtuoses Stehaufmännchen. Er macht den Zug der Zeit zum Kino wacker mit und bearbeitet sein Kriminalstück Der Andere für den Film, wodurch, nach dem kritischen Urteil seines Schauspiel-Interpreten Albert Bassermann, das erste literarische Kinodrama entsteht. Diese Betätigung, die alles, was sie berührt, in Gold verwandelt, fordert unsere höchste Bewunderung heraus. Dieselbe Energie ist am Werke, wenn sie aus der eingereichten dramatischen Produktion so kostbare Juwelen wie den Waffengang, den Austauschleutnant und Wieselchen zur Annahme empfiehlt und die Aufführung durchsetzt. Wirklich, unsre Bewunderung für das Finderglück und den ungebrochenen Mut des Dramaturgen wächst ins Maßlose. Mag das Kgl. Schauspielhaus, das unter dem geschaßten Regisseur Max Grube noch als ernste Bühne mitzählte, von Jahr zu Jahr fossiler werden – die Hauptsache bleibt, daß Paul Lindau keinen Schaden an seiner unverwüstlichen Vitalität nimmt. Und der Humor davon ist, daß kein Mensch auch nur das Geringste an den Zuständen ändern kann. Es wird ruhig fortgewurstelt. Warum also mit Papierkügelchen gegen Kanonen schießen?“

Berliner Theater. NZZ, 7. Februar 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 38.
Franz von Schönthan u. Rudolf Presber, Der Retter in der Not (Komödienhaus, 30.01.13). – „In der Not frißt der Teufel Fliegen. Faute de mieux… gibt man das Lustspiel Der Retter in der Not von Franz von Schönthan und Rudolf Presber. Wenn das bedauernswerte Komödienhaus aber damit für sich selbst einen Retter in der Not zu finden hoffte, so wird ihm der Star sehr bald gestochen werden. Denn nicht an jedem Abend füllen die hundertdreiundachtzig intimsten Freunde des beliebten Dr. Presber das Parkett, und nicht an jedem Abend sitzt sein hoher Gönner, der Kronprinz, in der Loge, sein frohes Lachen zur Schau tragend und sein Gähnen mühsam hinter dem Zettel verbergend. – Über die eklatante Dürftigkeit der Handlung käme man mit Wohlwollen hinweg. [….] Auch die Verbrauchtheit des Milieus wäre zu ertragen. […] Aber der Humor, mit dem diese Handlungsbrocken angerührt und diese Typen gesalbt sind, ist wirklich nicht nach jedermanns Geschmack. […] Das Charakteristische des Schönthan-Presberschen Witzes ist häufig ein Mangel an Takt. Für Kaffern witzig sein ist keine Kunst; mit Grazie witzig sein ein Göttergeschenk. Der attische Witz wird mit der Bemerkung abgetan, von ihm gelte das Wort: ‚Spaß bei Seite’; aber an seine Stelle lassen die Autoren, von ihrer komischen Unwiderstehlichkeit überzeugt, vielfach den kaffrigen Witz treten. ‚Mensch, du sollst und mußt lachen’ ist ihre Parole; ihr Schutzgeist: der Commis voyageur Hugo Maguzi, Mitglied des Verbandes reizender Kaufleute [Maguzis ‚billiger Bummelwitz’ für ‚Verband (Verein) reisender Kaufleute’], der den Mikosch [Baron Mikosch, ‚der ungarische Witzbold’, Titelheld einer Reihe beliebter Anekdotensammlungen um die Jahrhundertwende] und die Unsterbliche Kiste [Alexander Moszkowski, Die unsterbliche Kiste. Die 333 besten Witze der Weltliteratur (1908)] und die Meschuggene Ente [Felix Schloemp, Die meschuggene Ente oder des Fehlerteufels Scherze (1909)] und wie alle die Kompendien heißen, offenbar schon auf der Schule gelesen hat. – Viel gelesen haben auch andere Personen des Unlustspiels. Sie schütten das Füllhorn ihrer nicht erlesenen Früchte mit Bravour, doch ohne Scheu aus. Man muß Grünkramhändler in Glogau oder Weinreisender aus Bautzen sein, um daran Gefallen zu finden. Was das Publikum des Komödienhauses indes nicht hinderte, Darsteller und Verfasser an einen Erfolg glauben zu lassen. Doch nicht an jedem Abend … (siehe oben).“

Berliner Theater. NZZ, 14. Februar 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 45.
Ernst Hardt, Der Kampf ums Rosenrote (Deutsches Schauspielhaus, 06.02.13). – "Wie neulich Eduard Stucken, als er so unvorsichtig war, in seiner Astrid auf das Gepränge des Doppelreims großmütig zu verzichten, und mit dem schlichtern Jambus auszukommen gedachte, eine stupende Gestaltungsohnmacht an den Tag legte, so hat Ernst Hardt in seinem Schauspiel Der Kampf ums Rosenrote mit verräterischer Deutlichkeit gezeigt, daß er der Krücke des Verses dringend bedarf, wenn er gute Figur machen will. Nehmt ihm den Vers, und ihr zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Laßt ihr ihm nicht sein Piedestal, so steht er nicht mehr auf seinen zwei Beinen. Warum wollt ihr ihn durchaus an den Pranger stellen? – Das Stück ist zehn Jahre alt (1903 als Buch im Insel-Verlag erschienen), ohne irgendwie veraltet zu sein, weil es nie jung war. Der Verfasser zählte siebenundzwanzig Jahre, als er es in die Welt sandte. Alles können wir einem Jugendwerk verzeihen – nur nicht den Mangel an Jugend, was hier so viel bedeutet wie innere Leere oder Talentlosigkeit. Die Jugend soll nichts sagen, wenn sie nichts zu sagen hat. Das überlasse sie ruhig dem Alter. Aber die Jugend darf nach Herzenslust schwärmen, darf allen Überschwang des Gefühls freudig ausströmen, darf den Ossa der Empfindung auf den Pelion der Schwelgerei türmen. Anklagen darf meinethalben die Jugend, donnern, wettern, donnerwettern, die Stützen von Thron und Altar einreißen, das Kind mit dem Bade ausschütten. Alles darf die Jugend – nur muß sie wirklich jung sein. – Das Erstaunliche an Ernst Hardts Jugendwerk (in reifern Jahren) ist der erschreckliche Mangel an jeder persönlichen Besonderheit. Enthüllen ihn seine spätern Jambendichtungen als edlen Epigonen, so steht er hier als Epigone der Epigonen des Naturalismus da. Wer mit siebenundzwanzig Jahren ein solches Stück veröffentlicht – das den Kampf der Kinder gegen die Vorurteile der Eltern behandelt und das Recht auf Selbstbestimmung verkündet –, der muß etwas Ähnliches an sich selbst oder in seiner nächsten Umgebung erlebt haben. Dem muß das Herz zum Überlaufen voll gewesen sein. Es ist nicht anders denkbar. Doch kein Gott gab Ernst Hardt zu sagen, was er leide. Er redet vier Akte lang, aber er sagt nichts. Er zeigt einen Bankierssohn, der gegen den Willen seines Vaters Schauspieler wird, nach Berlin flieht, die Not kennen lernt, seinem besten Freunde das Mädel wegnimmt, an Nervenfieber erkrankt, sich endlich durchsetzt und seinen Frieden mit dem Elternhause schließt – nur vergaß der Dichter, diesem Jüngling eine Seele einzuhauchen. (Dafür legte er ihm den schönen Vornamen Vult in die aristokratische Wiege.) – Zehn Jahre lang blieb das Stück vor Berlin und Berlin vor dem Stück bewahrt. Da fiel das Deutsche Schauspielhaus darüber her, offenbar in dem Glauben, der Autor werde auf der Höhe seines jetzigen Ruhmes, mit dem Panzer des doppelten Schiller-Preises gewappnet, sein Jugendwerk mit feurigen Armen emporheben. Konnte er auch die Aufführung nicht hindern, so hätte er sich eine solche Aufführung nimmermehr gefallen zu lassen brauchen. Herr Dumcke als rosenroter Sohn betonte einzig das blaue Blut, und Herr Dr. Blümner, der den Vater machte, war so überwältigend komisch, daß er einen Heiterkeitserfolg erzwang. – Kehre zu deinen Jamben zurück, Ernst, und alles ist dir verziehen.“

Berliner Theater. NZZ, 17. Februar 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 48.
Leo Tolstoi, Der lebende Leichnam (Deutsches Theater, 07.02.13); Heinrich Mann, Die große Liebe (Lessing-Theater, 08.02.13). – „Je stärker der künstlerische Erfolg, desto maßvoller die Beifallssalven. Das konnte man im Deutschen Theater beobachten, als Max Reinhardt eine außergewöhnlich gute Aufführung des Dramas Der lebende Leichnam von Leo Tolstoi bot. Es gab nicht wie sonst, wenn der Meister in höchsteigener Person die Regie führt, geräuschvolle Kundgebungen; dafür folgte das Publikum vier Stunden lang den Vorgängen mit unverminderter Teilnahme. – Von den beiden dramatischen Schöpfungen, die sich im Nachlaß des russischen Dichters fanden, ist Das Licht scheinet in der Finsternis für mein Empfinden als persönliches Bekenntnis wie als sozialethisches Manifest ungleich höher zu bewerten; als Theaterstück jedoch steht fraglos Der lebende Leichnam voran. Die Handlung, setze ich voraus, ist Ihnen von heimischen Aufführungen noch gegenwärtig. Spannender Kriminalfall: Wiederauftauchen eines Totgesagten; Anklage wegen Bigamie wider seine Frau und deren zweiten Mann. Ein aus Willensschwachheit zum Selbstmord Unfähiger findet aus Hochherzigkeit den Mut zur Tat, um den Frieden des glücklich vereinten Paars nicht länger zu stören. Überzeugend wird dargestellt, wie noch im verkommensten Wesen, einem Trunkenbold, einem aufgeblasenen Schwächling ein Fonds von Güte ruht. Fedja kann nicht lügen. Er steht moralisch auf der tiefsten Stufe, verkehrt nur noch mit dem Auswurf der Gesellschaft und besitzt doch mehr Zartgefühl als ein Untersuchungsrichter, der mit täppischer Hand an intime Familienbeziehungen rührt. Aus dieser grandiosen Szene spricht Tolstoi eifervoll wie ein Prophet des Alten Testaments, doch ohne aufdringliche Tendenz. Man fühlt: das war ihm Herzenssache; das war vielleicht der Keim des Dramas. – Mir scheint diese erste Niederschrift, die man nicht als fertiges Kunstwerk beurteilen soll, dramaturgisch fesselnder denn als Drama. Man blickt wirklich in die Werkstatt eines Schaffenden, eines Schöpfers mit genialer Inspiration und wird das Bedauern nicht los, daß er seine Skizze, die alle Vorzüge, aber auch die Weitschweifigkeit erster Impressionen an sich trägt, nicht vollendet hat. Manches hätte er gewiß eliminiert, vieles zusammengeballt; doch gerade in der losen Aneinanderreihung der Lebensausschnitte liegt unbedingt ein starker künstlerischer Reiz. (Wunderbar etwa, wie just in die idyllische Stimmung die Vorladung vor Gericht hineinplatzt.) – Den Impressionisten Reinhardt mag es gelockt haben, das Werk in seiner Urfassung mit der Ungleichheit seiner Teile zu geben. Nur war die Spieldauer von vier Stunden des Guten ein wenig zu viel. Auch die liebevolle Beibehaltung des nationalrussischen Kolorits – die Zigeunerlieder wurden von echten Russen in ihrer Muttersprache gesungen – war übertrieben. Mit dieser Einschränkung darf man rückhaltlos loben, und man freut sich, nach manchem Fehlschlag der letzten Zeit wieder von einem vollen Gelingen und der Rückkehr zu schlichter Menschendarstellung sprechen zu können. Die Palme gebührt Lucie Höflich, die an Innigkeit der verhaltenen Empfindung wie im Ausdruck der Leidenschaft auf deutschen Bühnen ihresgleichen sucht. Mit rührender Einfachheit war die Passivität der unglücklichen Frau gezeichnet, ergreifend dann ihre wilde Verzweiflung, als das Schicksal die Schuldlose vor Gericht zerrt. Herr Moissi gab den edlen Schwächling – mit Verzicht auf Ohrenschmaus und Augenweide, aber nicht ganz ohne mimische und seelische Koloraturen. Er kostete zu genießerisch die Haltlosigkeit der Figur aus, deren romantischem Naturell er im übrigen nichts schuldig blieb. Immerhin ist es bewundernswert, mit welcher Intensität ein Romane diesen slawischen Charakter zu erfüllen vermochte. Aus der Schar der Episodenspieler, die zur äußersten Anspannung aller Kräfte gespornt waren, ragte Rosa Bertens als mondäne Mutter hervor. – Nach einer solchen Vorstellung schöpft man neue Hoffnung, daß sich Berlin wieder auf seinen Rang als erste Theaterstadt besinnt. ● Heinrich Manns Schauspiel Die große Liebe ist eine dreiaktige Monotonie zwischen der verheirateten Frau Liane Löwen und dem gefeierten Komponisten Christoph Gaßner. Madame, die Mutter eines Töchterchens ist, hat einen Mann, der ihr alles gestattet, der sie in ihrer eben überstandenen Krankheit zärtlich betreut hat, der schief liegt und nach dem ersten Akt auf Nimmerwiedersehen verschwindet (poor fellow). Ein zweiter Mann ist ihr verfallen; er hat sich von seiner Frau scheiden lassen, um für die Begehrte frei zu werden, und zieht nun als ein ‚rasender Roland des Weltverkehrs’ ruhelos von Ort zu Ort. Der dritte ist ein Mode- und Zukunftsmusiker, der manchen Strauß auf dem Felde des Flirts ausgefochten, sich die Keuschheit eines Jünglings (sagt er!) bewahrt hat und in Liane die große Liebe seines Lebens wittert. Gar zu bald wird sie inne, daß sie einem Manne nicht alles sein kann. Beide sind in ihrem wortreichen Egoismus nicht dazu geschaffen, einander Opfer zu bringen, und trennen sich wieder, ohne daß ihre Herzen brechen, obwohl der Mond den Schauplatz mit Melancholie übergießt. – Nach der Schauspielerin, seinem vorletzten Drama, durfte man mit einigem Optimismus erwarten, daß der vielbewunderte Romanschriftsteller Heinrich Mann den Weg zum Theater finden werde. Er ist wieder ins Wesenlose zurückgeglitten. Er glaubt, drei Akte ohne jede Handlung bestreiten zu können, und was er an Tatsächlichkeiten aufbietet (denn von Geschehnissen läßt sich nicht sprechen), ist von einer Unwahrscheinlichkeit, die nicht einmal durch das Milieu einer innerlich wie äußerlich angefaulten Welt von internationalen Hochstaplern des Gefühls gerechtfertigt wird. (Erst im Schlußakt werden karge Handlungsbrocken serviert: ein russischer Großfürst, der zum Lohne für seine nächtlichen Bemühungen in fremden Schlafzimmern die Perlenkolliers der Bewohnerinnen einsteckt, wird eingesteckt; ein feinfühliger Barkellner, der Scheine mit den Fingern erkennt und aus nächtlichen Schatten deren Geschlecht errät, macht einen Erpressungsversuch.) Wir sind im Zauberland der Liebe, und was sich da an zweifelhaften Kreaturen herumtreibt, gelangt zu keiner realen Existenz – nicht einmal zur Bühnenwirksamkeit. – Wenn man aber ein Stück durchaus von der Liebe speisen zu können glaubt, muß man eine beträchtliche Wärme des Gefühls aufbringen, die Schieber wie Geschobene einhüllt, oder eine schwingende Melodie, die über Gründe und Abgründe hinwegträgt, oder klingende Lyrismen, die zur Liebe gehören wie die Seele zum Körper. Heinrich Manns Dialog zieht weder Gefühlssaiten auf, noch zieht er durch Witz und Ironie auf. Seine Pointen sind sparsam gesät, und es fehlt ihnen an funkelnder Fassung wie an Schlagkraft. Jede Stunde einen Teelöffel voll. – Die frostige Dürre des Werkes wurde durch die Vertreterin der Hauptrolle allzu säuberlich bloßgelegt. Tilla Durieux ist eine große Könnerin, aber sie kann über den Mangel an Temperament nicht hinwegtäuschen. Sie macht alles mit der kalten Hand, und sie macht zuviel. In keinem Augenblick geht von ihr ein warmer Strom aus. Sie gibt sich nicht hin; sie gibt sich, wie sie ist: interessant, intelligent, intellektuell. Sie bleibt vernunftbegabt, wo sie nichts als Weib oder Weibchen sein müßte; und statt eines sinnlichen Charmes, statt animalischer Triebe läßt sie die Künste eines Zerebralwesens spielen. Ihr Partner, der große Komponist, der die Musik der Zukunft schreibt (so weit das nicht Arnold Schönberg besorgt), war Herr Stieler. Er machte gute Figur, indem er zu einem Ernst Hardt-Profil eine Peter Nansen-Frisur trug. Für die zahlreichen Episoden traten die ersten Kräfte des Lessing-Theaters ein; doch selbst ihnen gelang es nicht, Schemen zu beleben und Feuer aus dem Stein zu schlagen. – Das Publikum lehnte dankend ab.“

Berliner Theater. NZZ, 10. März 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 69.
Carl Sternheim, Bürger Schippel (Kammerspiele, 05.03.13). – „Im Zeitraum von zwei Jahren hat Max Reinhardt nicht weniger als vier Werke Carl Sternheims herausgebracht. Welcher andere Bühnenschriftsteller hat so zielbewußte Förderung erfahren? Mit siegessicherer Hartnäckigkeit muß der Leiter des Deutschen Theaters an die ungewöhnliche Begabung dieses Komödiendichters geglaubt haben; selbst eklatante Mißerfolge (auf dem Gebiete der Tragödie [Don Juan: vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 17.09.12, Nr. 1301]) vermochten daran nichts zu ändern. Nun ist die Zuversicht der Gläubigen belohnt worden durch einen herzhaften Erfolg, den Sternheims jüngste Komödie Bürger Schippel in den Kammerspielen fand. – […] Carl Sternheim besitzt den deutschen Nationalvorzug – oder soll man es, weitsichtiger, ein Nationalübel nennen? –, einen sehr guten ersten Akt zu schreiben. Er exponiert vortrefflich, doch er disponiert nicht. Unter fünf Akten tut er es nicht (wie schon in der Kassette). Er geht heillos in die Breite. Seine Handlung wächst nicht, sie wuchert. Auch die Menschen erschließen im weitern Verlauf der Begebenheiten keine neuen Wesensseiten: es sind Typen, keine Individuen; höchstens Typen mit einer individuellen Gebärde. Sie stehen fix und fertig da, ohne sich zu entwickeln, ja fast ohne Entwicklungsmöglichkeiten. – […] Wenn Carl Sternheim das Glück hätte, einen bühnenkundigen Mitarbeiter zu finden, der das Handwerk nicht auf die leichte Achsel nähme, so könnte ihm statt eines guten ersten Aktes auch einmal ein gutes Stück gelingen. Vorläufig gibt er amüsante Stücke, glänzendes Stückwerk; aber es gebricht ihm noch an Konzentration, an der Kunst des Verdichtens. Er müht sich redlich um den Stil der Charakterkomödie, sucht seinen eigenen Stil durchzusetzen, aber er arbeitet noch stark ‚im Stile von …’. Molière und Shakespeare sind hier seine Paten; in der romantischen Diktion berührt er sich gelegentlich mit Herbert Eulenberg. Für den literarisch versierten Hörer hat es einen besondern Reiz, daß die Balkonszene aus Romeo und Julia köstlich parodiert wird und daß unmittelbar darauf Schippel, offenbar mehr unbewußt als bewußt, in den Ton Shakespearescher Komödienfiguren verfällt. – Carl Sternheim hat das Glück, daß sich Max Reinhardt mit der ihm eignen Zähigkeit für ihn eingesetzt hat und an ihm festhält. Er selbst leitete die Aufführung und holte aus den krausen Verschlingungen das Theatralische nach Möglichkeit heraus. […] Aber selbst Reinhardt vermochte nur bedingt schauspielerische Eigengewächse aus dem Nichts hervorzuzaubern. Viktor Arnold konnte wenigstens das Eigengewächs seines Humors beisteuern, und Alfred Abel gab ein einheitliches Gemisch von geprügeltem Clown und frechem Petroleur. – An anderm Orte, von weniger sicher geleiteten Künstlern dargestellt, hätte der Dichter – das wird er sich kaum verhehlen – leicht einen neuen Durchfall mit Pauken und Hausschlüsseln an seine in manchem Sturm durchlöcherte Fahne heften können; hier trug sie der Generalissimus durch alle Fährnisse zum Sieg. Aber außerhalb Berlins wird der brave Bürger eine Erscheinung wie Sternheim, trotz ihrer stofflichen Befruchtung durch den Bourgeoisboden, noch lange als eine exotische Pflanze, als einen Wedekind des Philistertums empfinden.“

Berliner Theater. NZZ, 13. März 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 72.
Ludwig Ganghofer, Tod und Leben / Otto Erich Hartleben, Die Erziehung zur Ehe (Lessing-Theater, 08.03.13). – „Schon lange hat man im Lessing-Theater nicht mehr so herzlich gelacht wie über Ludwig Ganghofers einaktige Dorfkomödie Tod und Leben (im Stile des Stückes müßte man sagen: es gab a Mordsgaudi). Ein burleskes Diptychon. Links die Leidtragenden, rechts die Kindtäufer. Die links kommen vom Begräbnis der Annemirl Schwaighofer, welche sechs Jahre in kinderloser Ehe mit dem reichen Bauern verheiratet war und ihm das Leben zur Hölle gemacht hat. Die rechts feiern die Taufe eines Annemirl, das schon vor der Ehe zur Welt gekommen ist. Links Leichenbittermienen; rechts Juchhestimmung mit Gitarrebegleitung. Zwischen beiden Gruppen der kugelrunde Wirt und die leckere Kellnerin. – Zuerst Unwille darüber, daß die Trauerversammlung und die Taufgesellschaft im selben Raum untergebracht sind. Vereinzelte Worte fliegen von Tisch zu Tisch. Etliche tauschen die Plätze. Der Herr Pfarrer findet sich ein – als weiteres Bindeglied; verduftet aber wieder, als man ihn hoch leben lassen will. Trinkspruch eines Trauernden auf das Neugeborne; Trinkspruch eines Luftigen auf die Entschlafene. Man rückt zueinander. Das Bier löst die Zungen. Und da stellt sich heraus, daß die Verstorbene zwar im Punkte Kinderkriegen versagte, dafür aber um so tüchtiger war, ihrem Manne Hörner aufzusetzen. Als der das hört, ist alles Leid im Nu vergessen. Er wirft den patzigen Schwiegervater hinaus, befördert den Hauptliebhaber seiner Seligen an die Luft, schlingt brünstig die Arme um die gar nicht widerstrebende Kellnerin und scheint Bestattung und Begattung an einem Tage feiern zu wollen. In der allgemeinen Sauferei und Rauferei hat man das kleine Annemirl auf dem Ofen liegen lassen; es hat das Schlußwort (oder den Schlußschrei) dieser Memento vivere-Suite. – Das ist nicht ohne Virtuosität gemacht, aber zu sehr gemacht. Mehr à la Thöny als à la Thoma (Ludwig!); mehr à la Defregger als à la Thöny. Mit einem Wort: diese Bauern sind zu sehr frisiert. Man darf nicht an den Lebensrealismus etwa der Fahnenweihe von [Josef] Ruederer [1895] denken, sondern mehr an einen belletristischen Realismus, den man als bajuvarisch in Gänsefüßchen bezeichnen könnte. Immerhin hat das Ganze eine urgesunde Fröhlichkeit. Es gibt bei Ludwig Ganghofer, einem Lieblingsautor des deutschen Kaisers, die folgende ergötzliche Definition des Heiratens: ‚Heiraten heißt zusammenrücken mit Leib und Seele’; es gibt so erheiternde Züge wie den, daß das kleine Annemirl schon die zweite Generation von Kindern repräsentiert, die nicht das Patronymikon tragen dürfen. Um die Wirkung mit einem bekannten Witzworte zu erschöpfen: ‚Ma lacht’. Unter den Darstellern ragte als ungemein echter Bauer Herr Kurt Stieler hervor, dem, wie weiland Antäus, durch die Berührung mit seinem Heimatboden die Kräfte unheimlich zu wachsen schienen. ● Voran ging eine Aufführung von Otto Erich Hartlebens schon reichlich verblaßter Komödie Die Erziehung zur Ehe. Sie ist genau zwanzig Jahre alt; aber schon heute geht einem der unwahrscheinliche, sentimentale Mittelakt, der beim Edelmut einer Buchhalterin verweilt, tüchtig auf die Nerven. Die satirischen Teile dagegen haben sich ganz frisch erhalten, obwohl sie nur von einer vergnügten Seichtheit sind. In zehn Jahren wird das Werkchen nicht mehr zu ertragen sein. Aber in zehn Jahren wird der ganze Hartleben nur noch eine Literatenberühmtheit sein, zu der ihm der feuchtfröhliche Otto Erich verholfen hat.“

Berliner Theater. NZZ, 26. März 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 84.
Arthur Mayer-Brandus, Das gelobte Land (Deutsches Schauspielhaus, 18.03.13). – „Zehn Jahre war Karl Lohenstein trotz seiner wissenschaftlichen Bedeutung und seiner Beliebtheit bei den Studenten Privatdozent (der Philosophie). Es wurmte ihn, daß man ihn so lange mit einem Fuß im Steigbügel ließ. Wollte er Professor werden, so brauchte er nur den Glauben seiner Väter abzulegen und dem Christentum seine Reverenz zu erweisen. (Warum hat sich das Karl Lohenstein nicht überlegt, bevor er die akademische Laufbahn wählte?) Nicht aus Überzeugung, sondern um des schnöden Vorteils willen tut er den Schritt. Nun sitzt er im Sattel. Aber er hat die Rechnung ohne die Charakterlosigkeit seiner israelitischen Braut gemacht. (Warum hat Karl Lohenstein sie nicht vorher verständigt?) Als sie das Geschehene erfährt, redet sie ihm ernst ins Gewissen – so ernst, daß er schleunigst wieder umsatteln möchte. Nicht einmal den Fluch der Lächerlichkeit scheut er in diesem Konflikt zwischen Karriere und Liebe. Als ihm die Studenten einen Fackelzug bringen, jagt er sich eine Kugel in die Schläfe, nachdem er schon im ersten Akt versichert, daß er ein ausgezeichneter Schütze sei. Seine Braut aber wird vermutlich doch noch die Frau eines getauften Amtsrichters werden. (Quand même!) – Das ist in Kürze der Inhalt eines vieraktigen Schauspiels Das gelobte Land von Arthur Mayer-Brandus, das im Deutschen Schauspielhaus seiner anständigen Gesinnung wegen bis zu Ende angehört wurde. Im übrigen mögen Rabbiner, aber nicht Kunstkritiker das Stück beurteilen, das Herrn Isidor Frankenstein aus der Königstraße [heute Rathausstraße, in Berlin Mitte] vielleicht aufregen, dagegen Herrn Curt Egon Frankenstein vom Kurfürstendamm kalt lassen wird. – Es bemüht sich, plausibel zu machen, daß der Übertritt eines Juden zum Christentum allemal eine Charakterlosigkeit ist. Der Verfasser nimmt die Sache furchtbar pathetisch und wirft mit Phrasen um sich, die nicht aus einer modernen Weltanschauung, sondern aus dem Bannkreis des oft von ihm zitierten Ghetto oder zum mindesten aus mäßigen Leitartikeln semitischer Blätter stammen. Darum hat es keinen Zweck, sich mit Herrn Mayer-Brandus über das von ihm angeschlagene Thema zu unterhalten. Eine Verständigung scheint so unmöglich, als ob Mrs Pankhurst mit Frau Hirsekorn aus Kötzschenbroda über das Frauenstimmrecht oder Bebel mit einem ostelbischen Junker über das preußische Wahlrecht debattieren wollte. Wem der Glaube seiner Väter (so sagt man ja wohl hochtrabend) noch etwas bedeutet; wer in der Annahme der Staatsreligion mehr als einen belanglosen Formalismus (wie es deren Tausende gibt), mehr als eine indifferente Konzession erblickt (wie es deren Zehntausende gibt): der tut gut daran, zu bleiben, was er ist. Ehrlicher ist es auf alle Fälle. Herr Mayer-Brandus läßt aus seinen Diskussionen ferner hervorgehen, daß ein Jude kein nationaler Deutscher sein könne. Auch das ist eine Auffassung, gegen die man nicht mit Kanonen schießen soll. Es lohnt wirklich nicht, mit dem Verfasser die Klingen zu kreuzen (Pardon!). Er trägt noch zu schwer an seiner Vergangenheit, als daß er lächelnd eine urteilsstärkere und vorurteilsfreiere Zukunft zu grüßen vermöchte. – In den Tagen, da Professor Bernhardi es in Berlin zu einem unerwarteten Erfolg gebracht hat [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 02.12.12, Nr. 1700], glaubte man wohl, sich von Professor Lohenstein etwas versprechen zu dürfen. Aber Arthur Schnitzler bleibt in seinem österreichischen Tendenzstück immerhin noch genug Künstler, während Arthur Mayer-Brandus etwa die Höhe eines Theodor Herzl-Jüngers erklimmt.“

Berliner Theater. NZZ, 2. April 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 91.
Lothar Schmidt, Das Buch einer Frau (Theater in der Königgrätzer Straße, 28.03.13). – „Man möchte Lothar Schmidt so gerne zu dem großen Lustspiel-Erfolg verhelfen, den er redlich verdient, den sich mancher Schlechtere mit unbedenklicheren Mitteln geholt. Wenn man nur wüßte, wie! Soll man ihm einen tüchtigen Mitarbeiter wünschen? Nein; das letztemal, als er sich mit einem Kompagnon zu einer Satire auf die Justiz zusammentat, war es eine Niete [Fiat justitia!: vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 30.01.12, Nr. 30]. Allein muß er also, aus sich selbst heraus, das Ziel erreichen. Er steht dicht davor. Ihm fehlt nichts als ein kleiner Schuß Temperament, ein Quentchen Unbefangenheit. Er sieht zu klar, ist zu intelligent, zu wach. Und den Seinen gibt’s der Herr bekanntlich im Schlafe. Man kann demnach Lothar Schmidt nur wünschen, daß er das Vorrecht des Dichters nutze, gelegentlich ein wenig zu schlafen, was ihm ja der gute Homer schon vorgemacht. – Schmidt hat eine eigene, höchst reinliche Technik, mit zwei Paaren drei Akte zu bestreiten. Das gelang ihm mühelos in seinem besten Lustspiel Nur ein Traum [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 22.03.09, Nr. 81]; das ist wiederum seine Force in dem Buch einer Frau. Für jeden Akt entbietet er dann noch eine Episodenfigur, so daß er im ganzen mit sieben Gestalten auskommt. Der Fluß der Handlung stockt keinen Augenblick; wenn nur die Handlung etwas weniger verbraucht wäre! […] – Lothar Schmidt hat für die neumodische Ehemoral, die kleine Seitensprünge toleriert und den Reiz der verbotenen Frucht in lockenden Farben malt, einen eigenen Ton. Es ist nicht die graziöse Unverschämtheit der Franzosen, sondern eine neuberlinische Sachlichkeit, die nicht um den heißen Brei herumgeht. Kinder, sagt er, wir alle wissen doch, wie die Dinge liegen; warum Verstecken spielen? Darum braucht eine Ehe nicht gleich in die Brüche zu gehen, weil der Mann es mit der Maxime des alten Ovid hält: nitimur in vetitum semper cupismusque negata [Amores, III.iv.17: ‚Ständig drängen wir hin zum Verbotenen, wünschen Versagtes’]. Bedenklicher steht es freilich um das ‚illegitime’ Bankkonto der Frau. Trotz der harmlosen Aufklärung könnte das zarte Gemüter verdrießen. – Doch es beeinträchtigte nicht den guten Erfolg des Lustspiels, dem eine saubere Aufführung des Theaters in der Königgrätzer Straße zu Hilfe kam. Das schöne Frl. Tilly Waldegg und der amüsante Herr Eugen Burg standen in erster Reihe. Nun mag dem Erfolg die neuberlinische Sachlichkeit nicht ausbleiben.“

Berliner Theater. NZZ, 9. April 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 98.
Sacha Guitry, Die Einnahme von Berg-op-Zoom (Kammerspiele, 04.04.13). – „Sollen die Kammerspiele, die als Heimstätte für ungewöhnliche, zukunftsreiche, verheißungsvolle Kinder der dramatischen Muse gedacht waren – sollen die Kammerspiele ein Boulevardtheaterchen werden, in dem die Tradition, die Konvention, die Schablone liebevolle Aufnahme finden? Sie sind auf dem besten Wege dazu. Es kommt allmählich System in ihre Bevorzugung französischer Dutzendstücke. Ich kann nur wiederholen, was ich hier vor zwei Monaten schrieb: ‚Seit die Kammerspiele mit den Harmlosigkeiten Freund Teddys (von André Rivoire) einen überraschenden Dauererfolg hatten, scheinen sie einen Narren an dieser Gattung gefressen zu haben, wenn es auch keineswegs ihre ursprüngliche Bestimmung war, so leichte, dem bloßen Amüsement dienende Ware mit allen Zeichen der Entdeckerfreude zu bieten.’ [NZZ vom 21.01.13, Nr. 21] – Nein, dazu waren sie wirklich nicht gegründet, um bei Sacha Guitrys Einnahme von Berg-op-Zoom zu landen. – Was bleibt von der mäßigen Komödie im Gedächtnis haften? Der gesuchte Titel, ein originelles Fetzchen aus dem Personenverzeichnis und – eine Zote. […] Voilà tout. Was sonst an Personen und Begebenheiten in der Komödie vorkommt, ist blöde oder öde. Mit intermittierender Technik vorgetragen. Schauspielergeschicklichkeit; doch ohne den hinreißenden Zug, ohne die gallische Verve, die nicht zur Besinnung kommen läßt. Ein Schuß Anständigkeit für mangelndes Tempo. – Trotzdem die Kammerspiele diesem absterbenden Genre jetzt ersichtliche Zuneigung widmen, sind die Darsteller noch nicht in den ihrer Wesensart fremden Stil hineingewachsen. Es fehlt ihnen die leichte Hand, die Anmut, die Selbstverständlichkeit. Bei Charles Hériot, dem Polizeichef, denkt man an den Alexanderplatz, und wenn vom Montmartre die Rede ist, wird man an den Kreuzberg erinnert. Reinhardts Beharrlichkeit in Ehren – hier ist sie an ein untaugliches Objekt und ungeeignete Subjekte verschwendet. Ich kann nur wiederholen, was ich hier vor zwei Monaten schrieb: ‚Warum will man solche Darsteller mit aller Gewalt da beschäftigen, wo die wahren Wurzeln ihrer Kraft nicht liegen?’“

Berliner Theater. NZZ, 19. April 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 108.
Tim Klein, Veit Stoß (Kgl. Schauspielhaus, 10.04.13). – „Und als er kam zu sterben, der frumbe Ratsherr Anton Tucher aus Nüremberg der Stadt, wollte er durch ein herrliches Kunstwerk im Gedächtnis seiner Mitbürger fortleben. (Im Gedächtnis der Nachwelt lebt er durch einen tiefdunkelbraunen Gerstensaft fort, das Tucherbräu.) Zu diesem Zwecke beschied er zwei ortsansässige, hochangesehene Künstler zu sich: den deutschen, echten Meister Veit Stoß und den windigen Gaukler, der als ‚welscher Meister’ auf dem Zettel fungiert, und ließ sich von ihnen Vortrag halten, wie sie das ihm vorschwebende Werk ausführen wollten. – Mit dieser Szene beginnt das (auf dem Zettel als Schauspiel fungierende) fünfaktige Trauerspiel Veit Stoß von Tim Klein. – Genau so, dachte ich mir, macht es ein Mäzen. Wenn der Geheimrat [Eduard] Arnhold [1849-1925] heute sein Porträt malen lassen will, beruft er Max Liebermann aus Wannsee und Hubert Herkomer aus Bushey, empfängt sie zur gleichen Zeit und bittet sie, ihm auseinanderzusetzen, wie sie ihn darstellen wollen. Und nachdem ihm Liebermann gesagt hat, daß alle Kunst aus der Natur schöpfe, und Herkomer, daß das Niedrige, Häßliche in der Kunst keinen Platz habe, weswegen er für seine Person nackten Niedlichkeiten huldige, bestellt Geheimrat Arnhold selbstverständlich sein Bildnis bei dem in England wohnenden Meister. Liebermann aber denkt nicht: der Arnhold kann mir gewogen bleiben, sondern: nu wer’ ick ihn erst recht malen. So geht es her – nicht wahr? Oder so ging es doch in Nüremberg an der Pegnitz Anno 1518 her. Im Nürnberg Tim Kleinscher Fiktion. – Nach diesem Auftakt wußte man ungefähr, was man zu erwarten hatte. Wenn man es nicht schon vorher geahnt hatte. Denn die bloße Annahme eines Werkes durch das Kgl. Schauspielhaus genügt heute, den Zuschauer auf Schlimmes vorzubereiten. Die Hofbühne erblickt seit langem ihre einzige Aufgabe darin, zu feiern. (Sei es patriotische Gedenktage, sei es blaue Montage.) Die andern Theater machen das Rennen; das königliche feiert. Ruht auf seinen Lorbeeren aus, die das heranwachsende Geschlecht nur noch vom Hörensagen kennt. Es gab einmal ein Kgl. Schauspielhaus in Berlin, das mitzählte – doch ist’s schon lange her. – Der neue Mann fügte sich dem genius loci nicht unpassend ein. Er hat einen gewissen Theaterschmiß, der in direkter Linie von Wildenbruchs dramatischem Berserkertum stammt. Sein geistiges Gardemaß jedoch weist auf Rudolf Herzog. Wenn Deutschlands populärster Romanschriftsteller, den es ab und zu nach den Brettern gelüstet, ein Künstlerdrama zu schaffen unternähme mit dicker Handlung, reichlichem Pathos, dürftiger Seele – es würde der Erstlingsarbeit Tim Kleins zum Verwechseln ähnlich sehen. […] – Wie Wildenbruch im Christoph Marlow, ist Tim Klein nicht an dem Konflikt vorübergegangen, in den das Genie mit den bürgerlichen Satzungen gerät. Da lassen sich tönende Worte über die göttliche Kunst, die Himmelstochter, und die Enge menschlichen Gesetzes aus bewegter Brust hervorholen. Mehr als eine klingende Schelle ist es aber nicht geworden. Ein Kühneres wagte der Dichtersmann, als er in dem Verhältnis zwischen Vater und Tochter einen leisen Unterton von Sinnenliebe mitschwingen ließ. Veit Stoß, wiewohl er kein Cenci ist, spricht Bärbel als seine Muse an und vergleicht sie mit der von ihm dargestellten Himmelskönigin. Doch sorgte die Hofbühne dafür, daß diese Veit Stößigen Beziehungen nicht an die Oberfläche drangen. Immerhin, wie ein durchgestrichener Satz in einem vier Seiten langen Brief einen manchmal mehr interessiert als alles, was dasteht, so scheint in diesem Erstickten etwas wie eine eigene Stimme zu stecken, während das Hinausgeschriene ohne Echo verhallt. – Der Gewinn des Abends war nicht ein neuer Dramatiker, sondern eine Darstellerin: Helene Thimig, die Tochter des Burgtheaterdirektors [Hugo Thimig] (obgleich, nicht weil!). Eine Wienerin von Geburt, eine Norddeutsche ihrer Abstammung nach; Johanna Brahms sozusagen. Seit Lucie Höflichs erstem Auftreten hat es in Berlin keine Künstlerin von so herber Innerlichkeit gegeben. Als Erscheinung nicht sonderlich bestrickend, doch beglückend durch die seelische Resonanz. Sie hatte eine Puppe zu spielen und war wirklich eine gebenedeite Jungfrau. Was müßte sie für eine Bildnerin von Menschen sein, die seit Jahr und Tag verurteilt ist, Bärbeles zu machen! Am Lessing-Theater wird sie es bald erweisen. Zu neuen Taten, teure Heldin…“

Berliner Theater. NZZ, 14. Mai 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 132.
Schalom Asch, Der Bund der Schwachen (Kammerspiele, 09.05.13). – „In einer autobiographischen Skizze erzählt der jüdische Nationaldichter Schalom Asch, er habe von den deutschen Klassikern Goethe, Schiller, Heine, Körner gelesen. Der letzte Name, in diesem Zusammenhang heute verblüffend, ist bezeichnend. Schalom Asch selbst, der in seinem vor Jahren vom Deutschen Theater aufgeführten Drama Der Gott der Rache [19.03.07] wie ein hebräischer Klinger (wenn auch nicht Neutöner) anmutete, hat sich in seinem jetzt in den Kammerspielen gegebenen Schauspiel Der Bund der Schwachen ein wenig zu einem in der Schule des Naturalismus aufgewachsenen Körner gewandelt. Aus dem Stürmer und Dränger ist ein Türmer und Sänger geworden. Er ist nun so friedlich und zuversichtlich, so bieder und treu geworden – ein rosenroter Optimist. Auch die Mißhandelten, Unterdrückten, Enterbten kommen bei ihm zu ihrem Glück und fühlen etwas von der Lust zu leben. Sie brauchen sich nur zusammenzuschließen, dann wird aus der armen Suppe ein Festschmaus. Staat und Kirche allerdings werden, da es sich um einen geschiedenen Mann und eine noch verheiratete Frau handelt, selbst in Polen zu einem solchen Bunde schwerlich ihren Segen geben; dafür gibt ihn großmütig der Dichter. Er besingt aus voller Brust die Freuden des Heims: ein treues Weib (mag sie auch einem andern angetraut sein), ein eigner Herd sind Goldes wert. ‚Und die Freuden der Menschen in den alten Tagen sind doch nur Kinder.’ – Der Bund der Schwachen gehört zu jenen Stücken, von denen sich das eine sagen läßt, daß sich nicht viel darüber sagen läßt oder, wie Alfred Kerr es ausdrückt, die weniger hervorragende Mängel als einen Mangel an Hervorragendem aufweisen. [In einer Besprechung vom 02.12.05 hatte Kerr über Richard Fellingers Drama Ein Feiertag geurteilt: „Der Kategorie nach gehört so ein Stück in die Reihe: keine hervorragenden Mängel, nur Mangel an Hervorragendem.“] Das knappe Werk empfiehlt eine anständige Gesinnung; die anständige Gesinnung empfiehlt das Werk. Auch im November, wo das Theater zu Herz und Sinnen spricht, hätten wir nicht bewegter davor gesessen als im leuchtenden Mai, wo der Kulissenzauber bedenklich zu verblassen beginnt. Man hört das ruhig, gelassen an und denkt: im Original ist der Reiz der Diktion vielleicht so stark, daß man sich gefesselt fühlt. Etwas wie eine ferne Wortmelodie scheint noch durch den Schleier der Übersetzung zu dringen – ein Grammophon, das durch die geschlossenen Fenster des Nachbarhauses tönt. Es ist ein lyrischer Rhythmus darin, wenn der einarmige Fabrikaufseher, den seine geschiedene Frau barsch zurückstößt, in überströmendem Gefühl von dem Frühling schwärmt, von den Akazienbäumen, die er pflanzen wird. Zwar treibt er die Arbeiter mit der Peitsche in die Fabrik, aber er holt wie der Weihnachtsmann Geschenke für fremde Kinder aus der Tasche. Und vor allem ist in dem Werk eine tiefe Sehnsucht nach Glück niedergelegt. Nur was letzten Endes als Glück gepriesen wird, ist für primitive Gemüter ausreichend, eine Abschlagszahlung für die Armen im Geiste. Wollte man das in Strophen fassen, was Schalom Asch in gehobener Prosa vorträgt, so käme ein für die Gartenlaube druckreifes Gedicht heraus. Mehr ist es nicht. – Es waren keine Maifestspiele, zu denen sich die Kammerspiele aufschwangen, aber die Aufführung war eben und sorgsam vorbereitet. Nur Gertrud Eysoldt als mißachtete Anstreichersfrau ließ etwas von ihrer Madonnenmodell-Vergangenheit durch tiefes Unglück hindurchschimmern. Ausreichend war die Signatur des Abends: ein ausreichendes Stück, eine ausreichende Darstellung. Mehr war es beim besten Willen nicht.“

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1913 / 1914

Berliner Theater. NZZ, 2. September 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 243 (Nr. 1225).
Karl Gustav Vollmoeller, Venezianisches Abenteuer eines jungen Mannes (Kammerspiele, 29.08.13). – „Aller Anfang mit Reinhardt. – Während die andern noch bauen, rüsten, proben, streichen und streichen lassen, bringt er (in absentia) die Pantomime Venezianisches Abenteuer eines jungen Mannes von Karl Vollmoeller in den Kammerspielen heraus. – Nur für Berlin eine Neuheit. Gedacht und gemacht war sie für das Palace, eine Spezialitätenbühne in London. Eine Nummer; nicht mehr. An der Themse volkstümlicher als an der Spree. Doch der Zensor der britischen Großkinderbewahranstalt (the British Empire) glaubte einschreiten zu müssen, weil jemand den verworfenen Gedanken ausbrüten könnte, die Traumvorgänge für wahr zu halten. – Haarsträubend, als real anzunehmen, eine Neuvermählte dulde einen Offizier in ihrem Schlafgemach. Noch entsetzlicher, mit leibhaftigen Augen zu schauen, wie ein junger Mann, nur mit dem Nachthemd bekleidet, im Schlafzimmer einer fremden Dame erscheint. (Man ließ ihn hoffentlich in London Pyjamas tragen.) – Berlin, der Sündenpfuhl, bekam die Pantomime unverfälscht zu sehen. Und nahm sie mit Seelenruhe hin – als das, was sie sein soll: ein Mittelding zwischen Mimus und Film; eine kino-theatralische Zwischenstufe. Recht unterhaltsam und selbst an einem Hochsommerabend, fast wider Erwarten, erträglich. Wäre sie statt in den Kammerspielen, die ihrer höheren Aufgabe zu keiner Jahreszeit vergessen sollten, im Apollotheater oder sonstwo gegeben worden, man dürfte beinahe von einer Veredlung des Varietés sprechen. Und das will nicht wenig besagen. – […] Man spürt eine literarische Hand, der das Handwerksmäßige vertraut ist. Für einen herrlichen Hochsommerabend fast zu gut; nur für die Kammerspiele nicht gut genug, weil ihr genius loci doch sozusagen das gesprochene Wort ist – und bleiben soll. – Bewundernswert, mit welcher Exaktheit die Drehbühne arbeitete. Bewundernswerter, wie Reinhardt auf denkbar beschränktestem Raum die Personen hin- und herschiebt, wie Kaleidoskopsteinchen durcheinander schüttelt, wie Schachfiguren umsichtig dirigiert. Am bewundernswertesten Maria Carmi (geborene Gilli aus Florenz, verehelichte Vollmoeller), deren statuarische Schönheit durch ausdrucksvolle Gesten noch gehoben wird, deren Lächeln Mona Lisa-Abgründe vortäuscht und deren Trauer zum Niobe-Schmerz erstarrt. Ich sah sie in Amsterdam auf dem gräßlichen Mirakel-Film als Madonna und dachte: so etwas sollte verboten sein; ich sah sie jetzt als Marchesina wieder und dachte: so etwas gibt es? Am Ende sah ich das Mirakel in Berlin. – […] Der Anfang war nicht schlecht. Fleht um schlechteres Wetter, Direktoren!“

Berliner Theater. NZZ, 3. September 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 244 (Nr. 1231).
Herbert Eulenberg, Paul und Paula oder Die Geschwister; Anton Wildgans, In Ewigkeit Amen; Max Mell, Der Barbier von Berriac (Kleines Theater, 30.08.13). – „Als zweiter gab Herr George Altman aus Hannover, der dem ins Lessingtheater übersiedelnden Herrn Barnowsky in der Leitung des Kleinen Theaters gefolgt ist, seine Visitenkarte ab. – Wenn schon gewöhnliche Sterbliche bei erster Bekanntschaft selten den besten Eindruck hinterlassen – nur die ganz Flachen, gerissene Routiniers und Allerweltskriecher können später nicht enttäuschen, weil sie nie Hoffnungen erweckt haben –, so dürfen Theaterdirektoren in diesem Falle besondern Anspruch auf nachsichtige Beurteilung erheben. Womit keineswegs gesagt sein soll, daß dies auf Herrn Altman in verstärktem Maße zutraf. Man empfing von seiner Eröffnungsvorstellung weder einen ausgesprochen günstigen noch ungünstigen Eindruck. Ist nach einer alten, jetzt wohl als veraltet geltenden Auffassung der Regisseur der beste, von dem man am wenigsten merkt, so muß man den auf Berliner Boden annoch Unerprobten als einen sehr guten Regisseur bezeichnen. Er wird sicher bald Gelegenheit haben, seine Persönlichkeit weniger zu verbergen, als es ihm in drei recht ungleichwertigen Einaktern möglich war. – Von diesen schien Herbert Eulenbergs Lustspiel Paul und Paula oder Die Geschwister am meisten Anklang zu finden. Dabei war es unstreitig die belangloseste Arbeit – ein nettes, gereimtes Nichts [….]. Ohne das liebenswürdige, in Form und Inhalt an Ludwig Fulda erinnernde Versgeplätscher würde man nicht über die Fadaise hinwegkommen. Aber merkwürdig: Herbert Eulenberg, der so lange um die Gunst des Publikums ringen mußte, scheint sie jetzt so gründlich erobert zu haben, daß er sich Scherz, Satire, Ironie ohne tiefere Bedeutung erlauben darf. […] – Die tiefere Bedeutung mangelt auch dem überaus wirkungsvollen Plädoyer In Ewigkeit Amen von Anton Wildgans. […] Ich kann nicht finden, daß dieser mit realster Exaktheit aufgezeichnete Gerichtsakt irgend etwas Neues zu sagen hat; er illustriert bekannte Tatsachen an einem ziemlich ausgeklügelten Fall, der sich gleichwohl genauso in der häufig noch phantastischeren Wirklichkeit zugetragen haben mag. – Einzig eine prickelnde Situation gibt Max Mells fälschlich als Komödie etikettierter Akt Der Barbier von Berriac. […] Eine Variation des von Wilde in der Florentinischen Tragödie mit raffinierter Unheimlichkeit und ganz anderem poetischen Rüstzeug behandelten Themas.“

Berliner Theater. NZZ, 9. September 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 250 (Nr. 1262).
Frank Wedekind, Franziska (Kammerspiele, 05.09.13). – „,Ich bin durchaus nicht schwerfällig, aber solch einer Gymnastik ist auch mein Verstand nicht gewachsen. Und deshalb, siehst du, geht es eben nicht!’ – Ein hirnloser Heldendarsteller mit dem breiten Brustkasten hat die Worte in Frank Wedekinds modernem Mysterium Franziska zu äußern. Sie wurden, bei der Aufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, von dem in allen Sätteln gerechten, mit allen Hunden gehetzten, in allen Wassern gewaschenen Mephistophelino des Mysteriums gesprochen, ohne daß die Inkongruenz besonders aufgefallen wäre. Links herum, rechts herum, alles vertauscht. Nichts bezeichnender für das krause Stück, das sich in einem heillosen Wirrwarr der Struktur austobt, hinter faunischem Lächeln philosophischen Gehalt simuliert und mit kaustischer Konsequenz Widersinn als Tiefsinn auftischt. – Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode – sofern in der Beharrlichkeit Methode liegt. Oder um den Dichter selbst als Kronzeugen für sein Werk aufzurufen: ‚Die Kunst, wissen Sie, überspringt jeden Abgrund. Dazu ist sie Kunst. Sonst wäre sie Blödsinn.’ – Leider habe ich für diese Kunst (schon seit Musik) kein Organ mehr. Ich halte an der Etymologie fest, daß Kunst von ‚können’, aber nicht von der krampfhaften Anstrengung kommt, und lasse mir den altmodischen Glauben nicht ausreden, daß es wichtiger ist, Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, als umgekehrt. Daß das Allerwichtigste die Gestaltungsfähigkeit ist. Wenn künftige Zeiten bare Impotenz als Triumph künstlerischer Zeugungskraft gelten lassen sollten, so beneide ich sie um solche Erkenntnis wahrlich nicht. ● Frank Wedekind gelüstete es, seinen Faust zu schreiben, der selbstverständlich weiblichen Geschlechts sein mußte (so wie in Heines Tanzpoem aus dem Teufel eine Mephistophela ward). Eine Faustula demnach. Auch von ihr darf es heißen, daß sie ‚immer strebend sich bemüht’; nur liegt ihr Betätigungsdrang ausschließlich auf erotischem Gebiete. Früh fing es an; doch hat sie sich nicht verführen lassen, sondern den ersten besten verführt. Nachdem sie ihm den Laufpaß gegeben, tritt just im rechten Augenblick der Versicherungsagent Veit Kunz herein und schließt mit ihr, nach berühmten Mustern, einen Pakt: zwei Jahre darf sie von Begierde zu Genuß taumeln; danach gehört sie ihm als Geliebte, als Leibeigene, als Sklavin an. Um die Frist der ‚Bewegungsfreiheit’ ungehemmter auszunutzen, macht Franziska die Metamorphose zum Manne durch. Verwandelt sich in einen Franz. Erregt die Eifersucht eines Schriftstellers, der seine Geliebte kurzerhand über den Haufen knallt. Heiratet ein Mädchen aus guter Familie, das über mangelnden Kindersegen und Untreue des Gatten zu klagen hat und sich wuppdich erschießt, als das Geheimnis seines Geschlechtes enthüllt wird. Treibt die Maitresse eines künstlerisch belasteten Herzogs in den Tod und wirft sich einem brutalen Komödianten an die Brust. Doch auch dieser Faust-Natur wird Erlösung zuteil durch ein Kind mit einem Doppelnamen, der auf den Ursprung von zwei vermeintlichen Vätern deutet, und durch eine gut bürgerliche Ehe mit einem braven Dachauer Maler. – Dazu also der ganze Aufwand von Ideen und Symbolen, von Pathos und Satire, von Überzeugung und Blague, von Kabarett-Einschiebseln und klassischen Anleihen, um schließlich bei einem Spießerideal vom reinsten Wasser zu landen? Eine Libertine, die am häuslichen Herd endet. Der Simplizissimus vom Daheim verschluckt – wär’ der Gedank’ nicht so verwünscht gescheit … – Es wäre leicht, aber unwürdig oder zum mindesten frivol, die Ähnlichkeiten mit Goethes Faust fortzusetzen. Geradezu peinlich werden sie, wenn auch Helenas Schatten nicht verschont bleibt. […] – Amüsant – das vorherrschende Gefühl ist nämlich eine panoptikumhafte Unberührtheit – amüsant sind lediglich etwelche höchst persönliche Bekenntnisse Wedekinds über die Zensur, die Literaten und das Publikum. Da sprengt er den Rahmen des Stückes und entlädt die volle Brust der angehäuften Bitternis; doch kennt man solche Monomanien zur Genüge aus seinem früheren Schaffen. Sie machen so wenig den Wert eines Kunstwerkes aus, wie intervalla lucida den erfahrenen Arzt über das wahre Krankheitsbild eines Patienten zu täuschen vermögen. ● ‚Eine Wedekind-Premiere ist kein Experiment mehr … mit feierlichem Ernst wird der Dichter angehört, und ein so bedeutungsschweres, kühnes und tiefes Werk wie das Mysterium Franziska wurde in München und Wien einstimmig bejubelt und verstanden.’ – So steht in den Blättern des Deutschen Theaters zu lesen. Mit bewußter Umbiegung der Wahrheit. Denn selbst wenn Franziska in München und Wien einstimmig bejubelt worden wäre, was der Jude Apella glauben möge, so würde dies nicht für das Verständnis der Menge zeugen; jeder Unbefangene würde daraus vielmehr auf die absolute Verständnislosigkeit eines der Mode nachlaufenden Publikums schließen. Aber die Furcht, sich vor der Nachwelt zu blamieren, scheint auch bei den Kritikern heute stark entwickelt zu sein, stärker jedenfalls als das Odium, die Mitwelt zu düpieren. Und wenn in den Blättern des Deutschen Theaters eine Parole, wie die oben mitgeteilte, ausgegeben wird, so rieselt den Rhadamanthyssen ein Schauer durchs Gebein bei dem Gedanken, sie könnten vor den Richterstuhl der Ewigkeit geladen werden.“

Berliner Theater. NZZ, 15. September 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 256 (Nr. 1289).
August Strindberg, Schwanenweiß (Kgl. Schauspielhaus, 11.09.13) – „Als Einschnitt in Strindbergs Leben hat das Werk ungleich größere Bedeutung als in seinem Schaffen. Es ist seine Marienbader Elegie sozusagen, der Schwanensang seiner Liebe. Darum wird es seinen Biographen mehr angehn als den Kritiker. – Das Märchen fiel dem Dichter als Herbstfrucht in den Schoß, als ihn zum letzten Male die Liebe – im Stile der Sprache zu reden: die hehre Wundermacht der Liebe ergriff, packte, schüttelte, ihn schwärmen ließ wie einen Jüngling, dessen Auge den Himmel offen sieht, dessen Herz in Seligkeit schwelgt. Also geschehen während seiner Verlobungszeit mit Harriet Bosse, die den Reigen seiner Frauen beschloß (ultra bosse nemo obligatur, wie Joseph Ettlinger mit treffsicherem Witze scherzte). – Harriet war Schauspielerin, und August wollte ihr eine Bombenrolle auf den zarten Leib schreiben, damit zugleich das sinnigste, minnigste, innigste Bräutigamsgeschenk darbringen. So verkündete er durch ihren kleinen Mund das Hohelied der Liebe, das jeden Backfisch mit Wonneschauern durchrieseln, jedem Greis das Auge feuchten muß. Mit einem Worte: Kitsch. Gefühlskitsch holdester Observanz […]. – In besondere geistige Unkosten hat sich Strindberg für die Handlung nicht gestürzt. Er nahm das Gute, wo er es fand. […] Wo steckt in dem allem der echte Strindberg? Man fahndet in diesem Sammelsurium von Märchenmotiven nach eigenen Zutaten und findet eine herrliche Eingebung darin, daß Schwanenweißchens tote Mutter, die ihm im Traume erscheint, die Füße des Kindes mit ihren Tränen wäscht. Für mich die schönste Situation des Märchens. Doch am bezeichnendsten ist dies: wie aus nichtigem Anlaß plötzlich eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Liebenden entsteht; mit einem Mal scheint alle Seligkeit zu schwinden, der Zank ist da. Hier streckt der alte Löwe seine Klaue hervor. Wie aus solchen winzigen Differenzen in der Ehe oft fürchterliches Ungemach erwächst, hat er in andern Stücken wollüstig bloßgelegt. Hier ist es wie ein Wetterleuchten am wolkenlosen Abendhimmel. […]“

Berliner Theater. NZZ, 19. September 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 260 (Nr. 1313).
Henrik Ibsen, Peer Gynt (Lessing-Theater, 15.09.13). – „Zur Eröffnung des Lessing-Theaters unter der Direktion Barnowsky: Peer Gynt von Henrik Ibsen (in der reimgewandten Übersetzung Christian Morgensterns) mit der Musik von Edward Grieg, einem stark national gefärbten Mendelssohn. – Spieldauer: von 7 bis 12 Uhr! Der Leser kennt meine durch nichts zu erschütternde Ansicht über solche Rekorddarbietungen, die den Kunstgenuß mit körperlicher Anstrengung erkauft haben wollen. Man hatte allerdings tüchtig zusammengestrichen, konnte aber doch nicht die übergebührliche Ausdehnung des Abends verhindern. – Schuld daran trug zum Teil die ungekürzte Vorführung der Griegschen Musik (unter der Leitung eines delikaten dänischen Dirigenten). Sie ist weit populärer als das Gedicht; auch sinnenfälliger; auch einen Schuß banaler; stammt überhaupt aus einer andern Temperamentszone und besticht immer wieder durch ihre raffinierte Koloristik. Ohne den Text kann man die Musik in jedem Konzertsaal hören; ohne die Musik wäre der Text heute fast undenkbar. Jedenfalls hatte Grieg einen rauschenderen Erfolg als Ibsen. – […] Endlich sind auch die Schauspieler mit dafür verantwortlich, daß nicht von einem vollen, schlackenlosen Gelingen des wagemutigen Unternehmens gesprochen werden kann. Friedrich Kayßler, zum Faust geboren, mußte auf Grund seiner innersten Natur am Peer Gynt scheitern oder konnte ihn nur so weit veranschaulichen, als er ihm mit der Intelligenz beikam. Die Schnurrpfeifereien des norwegischen Eulenspiegel dringen ihm, dem ein tiefer Hang zum Grübeln innewohnt, unmöglich aus der Seele. Sein wahres Wesen brach sich erst auf Peers Irrfahrten Bahn, und ergreifende Töne fand er, als der Gealterte den Weg in die Heimat antritt. Da tauchte der Schatten seines greisen Faust auf. Auch Ilka Grüning, sonst eine Meisterin, versah es im Anfang, nicht weil sie zu wenig, sondern weil sie zu viel gab und dadurch grell und zappelig wurde; aber in der unvergleichlich schönen Sterbeszene besann sie sich auf ihre diskrete Charakterisierungskunst und machte aus der verschrumpften Bauerswittib eine von himmlischer Magie verklärte Gestalt. Die dankbarste Rolle der Solveig war Lina Lossen zugefallen, und sie erfüllte sie mit leuchtender Güte, auf der ein Abglanz von Agnes Sormas Lächeln lag: das Schlußbild der mulier dolorosa, in deren Schoße der Heimgekehrte ruht voll der süßen Gewißheit, daß hier sein Kaisertum war, wird der unverlierbare Gewinn der Vorstellung bleiben. – Wenn man im allgemeinen mit Recht den Standpunkt einnimmt, daß die Bühne einem dramatischen Werk ungeahnte Dienste leisten könne, so muß in diesem besonderen Falle hervorgehoben werden, daß die Eindrücke der Aufführung sich in nichts von denen der Lektüre unterschieden. Die drei ersten Akte, von den Trolle-Ranken gesäubert und etwas straffer zusammengezogen, werden immer durch ihre sinnliche Handlung zu dem Hörer sprechen. Gleich der Beginn des Gedichts, das mit der lapidaren Zeile ‚Peer, du lügst’ fanfarenartig einsetzt, hat durch das Brio seiner Erfindung etwas Bezwingendes. Dann folgen die Begegnungen mit Solveig: so kurz sie sind, so unsterblich sind sie. Nur mit Goetheschen Frauengestalten läßt sich dieses rührendste Ibsensche Mädchen in einem Atem nennen. Und die Sterbestunde der Mutter, deren letzte Augenblicke der verlotterte Sohn durch märchenhafte Lügen vergoldet, erhebt sich zu Shakespeareschem Format: auch der sterbende Falstaff ist nicht grandioser ersonnen. Von dem Moment an, wo Ibsen den Heimatboden unter den Füßen verliert, erlahmt seine dichterische Kraft. Peers Wanderjahre, die den Phantasten ins Labyrinth des Lebens führen, sind ohne Schwung der Phantasie ausgeführt. Seien wir offen: in dem krausen, verschnörkelten, mit geheimem Firlefanz überladenen vierten Akt ist dem Dramatiker nichts Rechtes eingefallen. Das schleppt sich in bunten Bildern bis zum Tollhaus nach Kairo. Der Magnus des Nordens vermochte die Farbenpracht des Südens nicht lebendig zu machen; er verlegt sich darauf, allerlei Mystisches hineinzustopfen. Wenn es schon den Interpreten nicht ganz gelingen will, hier die erwünschte Klarheit durch scharfsinnige Deutungen zu erzielen, so kämpft das Theater diesen abstrusen Füllseln gegenüber auf einem verlorenen Posten. Hier kann nur die radikalste, rücksichtsloseste Amputation retten, damit man für die wundervolle Coda noch frisch bleibt. […]“

Berliner Theater. NZZ, 22. September 1913, Erstes Morgenblatt, Nr. 263 (Nr. 1323).
Friedrich von Schiller, Wilhelm Tell, inszeniert von Gerhart Hauptmann unter dem Titel Die Eidgenossen (Deutsches Künstler-Theater, 16.09.13). – „Mit Kabale und Liebe wurde vor neunzehn Jahren die Ära Otto Brahm im Deutschen Theater eingeleitet [am 01.09.1894]. Es war ein Versuch, Schillers Pathos von aller Tradition zu säubern und in den realistischen Darstellungsstil der Gegenwart umzusetzen. Es war ein Fiasko, ‚davon wird man noch reden in den spätsten Zeiten’ [Wilhelm Tell]. – Mit Wilhelm Tell begannen die Kämpen der Brahmschen Direktion des Lessing-Theaters, die jetzt unter der Flagge ‚Deutsches Künstler-Theater Sozietät’ auf eigenen Füßen stehen und in die umgebaute Kurfürstenoper übergesiedelt sind. – Wilhelm Tell von Friedrich v. Schiller (wie freundlich, daß man sich des Namens noch erinnerte!); inszeniert von Dr. Gerhart Hauptmann. Das war die Sensation. Daß der Dichter des Hannele an der Einstudierung seiner eigenen Werke von jeher regen Anteil genommen hatte, wußte man; nun trat er zum erstenmal als Regisseur einer fremden Dichtung hervor. Und errang ihr unleugbar einen großen äußeren Erfolg, der nur vereinzelt durch Zischen bestritten wurde. Zweimal mußte Hauptmann von seiner Loge aus für die Huldigungen danken, die er mit gnädiger Handbewegung an die Bühne wies. – Unter diesen Händen des Verfassers der Weber wurde aus dem Tell teilweise ein neues Drama, das Die Eidgenossen hieß. Nicht ein Einzelner war mehr der Held, sondern die Masse, die Unterdrückten, die sich gegen die Tyrannei der Vögte auflehnten, wie die schlesischen Weber das Joch der Fabrikanten abschütteln. […] – Doch wenn der wortkarge Naturmensch in seiner Qual verstummt, gab Schiller ihm zu sagen, was er leidet. Er läßt es ihn in rhetorischen Blankversen ausdrücken, die in einer dem heutigen Geschmack und vor allem der realistischen Wahrheit des Moments vielfach widerstreitenden klassizistischen Diktion schwelgen. Das ist sein die Gegenwart oft befremdender Stil. Ihn auf Grund naturalistischer Erwägungen zerstören, heißt: die Seele der Dichtung in einen andern Körper übertragen. – Und das war im Übermaß geschehen. Um der lieben Wahrheit willen wurde der Vers mitunter bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt. Da gab es ergötzliche Verlegenheitspausen, ganze Lachintermezzi wurden eingeschoben – es hätte nur noch gefehlt, daß sich die biederen Herren Walter Fürst und Stauffacher mit ‚ju ju, nee nee’ traktiert hätten – und die schönrednerischen Gefühlsergüsse, das was der Engländer purple patches nennt, glatt ausgemerzt. Daß Arnold Melchthals Tirade über den Segen des Himmelslichtes im Augenblicke des höchsten seelischen Schmerzes nach heutigen Begriffen fehl am Platze ist, versichert jeder Sekundaner mit dem Brustton der Überzeugung. Gleichwohl ist diese Tirade ein wesentliches Element des Schillerschen Stils. Sie ist ferner, was man auch gegen ihre innere Berechtigung einwenden mag, deutscher Nationalbesitz geworden. Sie an der betreffenden Stelle mit tränendurchwühlter Stimme zu sprechen, ohne den Eindruck barer Unnatur hervorzurufen, ist ein kleines Kunststück, mit dem der junge Kainz seinerzeit Furore machte; sie einfach unter den Tisch fallen zu lassen, ist Kinderspiel. So ward es jetzt gehalten. […] – In der Konsequenz, mit der Schiller so zu Leibe gegangen wurde, lag entschieden Methode. Trotzdem profitierte das Drama davon nicht überall. Eine Tell-Aufführung, die fünf geschlagene Stunden währt, leidet natürlich an einer unerträglichen Verschleppung des Tempos. Das schwerste Gebrechen der Vorstellung aber war, daß von dem Feuergeist, der doch schließlich in dem Gedicht auflodert, kaum ein Funke übersprang. Schillers hinreißender furor war auf normale Körperwärme, die eher zu Untertemperatur neigte, herabgesetzt. […] – So fesselnd und aufschlußreich es in mancher Beziehung war, zu sehen, wie sich eine Dichtung der Vergangenheit in der Seele eines zeitgenössischen Dichters spiegelte: diese Transsubstantiation wird doch nur ein Kuriosum bleiben, ein lokales Ereignis für das reizbedürftige Publikum von Berlin W.“

Synge. NZZ, 30. September 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 271 (Nr. 1363).
Leserbrief zu der Besprechung der deutschen Uraufführung von J. M. Synges Der Held des Westerlands in den Münchener Kammerspielen am 20.09.13 (NZZ, 27.09.13, Zweites Morgenblatt, Nr. 268 [Nr. 1350]): „Ihr Herr Referent irrt, wenn er die von mir übersetzte, 1906 im Deutschen Theater gespielte Legende Der heilige Brunnen einen Einakter nennt: sie hat drei Akte. Bei der Generalprobe allerdings machte Max Reinhardt den Vorschlag, das Werk mit dem ersten Akte schließen zu lassen – was für die Bühnenwirkung vielleicht vorteilhafter gewesen wäre, die seltsam schöne Dichtung freilich um Sinn und Verstand gebracht hätte, so daß ich dagegen Verwahrung einlegen mußte. – Ich bin stolz darauf, daß ich diesen Iren in Deutschland eingeführt habe, obwohl mir wenig Gegenliebe zuteil geworden ist. Von sämtlichen Berliner Kritikern hat ihn einzig Gustav Landauer nicht abgeschlachtet. In London sprach ich von Synge (der sich übrigens ßing ausspricht) zu einer Zeit, da sein Name selbst Theaterfachleuten noch unbekannt war. Heute gilt er den Engländern allgemein als ihr einziger, wirklich großer moderner Dramatiker, und es gibt Enthusiasten, die ihn unmittelbar nach Shakespeare nennen. Gleichwohl konnte ich mich nicht entschließen, The Playboy of the Western World  (Der Held des Westerlands) ins Deutsche zu übertragen. Ich erinnere mich noch der stürmischen Londoner Premiere, die mit einem wahren Höllenlärm endete. Überall, wo Iren ansässig sind – besonders in New York – wiederholte sich der Skandal. – Der arme Synge, der 1909 einer unheilbaren Krankheit erlag, war bitter enttäuscht, als ich ihm im Zwischenakt auseinanderzusetzen suchte, daß es unmöglich sei, für seine wundervolle, in der Volkstümlichkeit wurzelnde Sprache ein Äquivalent zu schaffen ohne Zuhilfenahme eines Dialekts. Weil ich vor dieser unüberwindlichen Schwierigkeit zurückschreckte, mochte ich mich nicht an die Übersetzung wagen. Ich freue mich aber, daß andere dem Werke ihre Mittlerdienste liehen. Mit welchem Gelingen, das werde ich nach der Aufführung in den Berliner Kammerspielen feststellen.“ [Die Aufführung war für die Spielzeit 1913/1914 angekündigt, kam aber nicht zustande.]

Berliner Theater. NZZ, 5. Oktober 1913, Viertes Blatt, Nr. 276 (Nr. 1392).
Robert de Flers u. Gaston de Caillavet, Die goldenen Palmen [L’habit vert] (Kammerspiele, 01.10.13). – „Max Reinhardts Liebe zur Boulevardkomödie fängt an pathologisch zu werden. Nicht einmal, sondern xmal ist ihm gesagt worden, daß seine Leute das nicht können und vermutlich nie lernen werden. Daß die Kammerspiele zu Besserem geschaffen und bestimmt waren. Daß seine Künstler denkbar ungeeignet sind, solche gallische Typen zu verkörpern. Daß dazu eine ganz andre Leichtigkeit des Tons und Tempos, eine ganz andre Eleganz und Verve gehören, als sie deutschen Schauspielern eigen. Er darf sich deshalb nicht wundern, daß ein Pariser Schlager wie L’habit vert der betriebsamen und witzigen Firma de Flers und Caillavet, deutsch unter dem Titel Die goldenen Palmen aufgeführt, in der Schumannstraße wie naß gewordenes Feuerwerk versagte. – Zwar waren die Damen Rosa Bertens und Johanna Terwin samt dem Komikerkleeblatt Arnold-Biensfeldt-Waßmann aufgeboten, aber ihre ausgeprägte Eigenart sträubt sich vielfach gegen die Inhaltslosigkeit der ihnen anvertrauten Aufgaben. Diese Menschendarsteller streben in die Tiefe, wo sie fix und graziös und behend und beschwingt an der Oberfläche dahingleiten sollten. Statt ihre Rollen zu spielen, spielen sie mit ihren Rollen. Was neben ihnen auf der Bühne stand, ließ keinen Augenblick an die Seine denken, nicht einmal an die Spree; wollte ich hinzufügen: auch nicht an die Ilm – die Bewohner Weimars würden es wahrscheinlich als eine schwere Beleidigung auffassen. – Und doch ist vielleicht der größere Teil der Schuld am Verpuffen einer stellenweise amüsanten, nur in ihren Mitteln allzu wahllosen Komödie weniger den Darstellern und der Regie beizumessen als dem Stück selbst, das in seiner unbändigen Verspottung der Académie Française für uns wirklich Hekuba ist. Die vierzig Unsterblichen mögen lächerlich sein; wenn man sich aber nach Herzenslust über sie lustig macht, brauchte es nicht nur lächerlich zu werden, es könnte auch ein wenig unsterblich sein. Der Spötter Aristophanes lebt länger als das von ihm Verspottete. Doch de Flers und Caillavet haben diesmal im Bau der Fabel wie in der Mischung der Elemente ihre geschickten Finger nicht bewährt. Operettenfiguren, Possenzüge ältester Provenienz stehen zwischen feineren komödienhaften Einfällen. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich mehrere Witzblätter verschiedener Richtung und verschiedener Jahrgänge im Wartezimmer eines Zahnarztes mit leisem Unbehagen durchgeblättert hätte. – […] Die Pariser mögen sich vor Lachen über diese blutige Satire auf die viel geschmähte und noch mehr begehrte Zugehörigkeit zur Akademie geschüttelt haben. Wir, als unbeteiligte Zuschauer, stellen fest, daß eine solche Ansammlung von Tröpfen und Trotteln vielleicht nur noch in Schilda existiert hat. Sollten die Autoren nicht am Ende mit Spatzen nach Kanonen geschossen haben? Sie würden die Ehre, der erlauchten Gesellschaft anzugehören, gewiß nicht ablehnen.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Oktober 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 277 (Nr. 1397).
Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso (Deutsches Theater, 27.09.13); Heinrich von Kleist, Der Zerbrochene Krug [inszeniert von Gerhart Hauptmann] (Deutsches Künstler-Theater, 02.10.13); Gerhart Hauptmann, Hanneles Himmelfahrt (Deutsches Künstler-Theater, 02.10.13). – „Während früher die Ansicht vorherrschte, der sei der beste Regisseur, von dem man am wenigsten merke, hat sich seit dem märchenhaften Aufstieg Max Reinhardts ein gründlicher Wandel der Anschauungen vollzogen, sofern man jetzt den für den besten Regisseur zu halten scheint, von dem am meisten Wesens gemacht wird. Selbst ein so persönlicher, zu seiner Zeit revolutionär wirkender Regisseur wie der Herzog von Meiningen hatte für seine Person nur den Ehrgeiz, verkannten oder vergessenen Dichtwerken zu ihrem Rechte zu verhelfen, und wurde von der Mitwelt weniger mit Ruhm bedacht als seine Truppe. Er gab seine Lesart eines Dramas, drängte aber nie die eigene Auffassung übergebührlich in den Vordergrund, sondern verschwand mit einer fast legendär anmutenden Bescheidenheit hinter dem Worte des Dichters. Den treuesten Diener am Worte von einer künstlerischen Lauterkeit ohne gleichen fand die deutsche Bühne in Otto Brahm. Er war von Hause aus Literat; das erklärt seine allem Kulissenflitter, aller Zurschaustellung in tiefster Seele abgeneigte Art. – Jene Zeiten scheinen unwiederbringlich dahin. Seitdem Max Reinhardt, der pontifex maximus der europäischen Schaubühne, dem theatrum mundi seinen Stempel aufgedrückt, steht der Regisseur fast gleichwertig neben dem Dichter, einerlei, ob er die Hand an Faust II. oder Die schöne Helena anlegt. Es ist nur ein Zweig einer zeitgenössischen Entwicklung, die Alfred Kerr als Überschätzung des Managertums bezeichnet oder gezeichnet hat. (In der Musik etwa erleben wir es, wie der Dirigent neben dem Komponisten zu ungeahnter Bedeutung gelangt, ja, ihn fast in den Schatten stellt.) – … Früher ging man ins Theater, um – sagen wir: Kainz als Tasso zu sehen; noch früher, um Goethes Tasso zu sehen; heute, um Reinhardts Tasso zu sehen. Im Ernst, so drückt man sich neuerdings aus. Als ob der Regisseur der Erzeuger der Dichtung wäre. Kann man sich eine ärgere Verkennung seines sekundären Wirkens denken? Es ist nicht anders, als wolle man eine Hebamme und nicht die Mutter für den Akt der Geburt eines Kindes verantwortlich machen. ● Tatsächlich haben wir vorige Woche im Deutschen Theater Goethes Torquato Tasso von Max Reinhardt inszeniert gesehen. Zum Glück war es Goethes und nicht Reinhardts Tasso – will sagen: der Regisseur verzichtete auf jede selbstherrliche Betätigung und gab dem Dichter, was des Dichters ist. Gab den Dichter. Brachte die Melodie des Werkes zu reinem Klingen. Wenn ihm trotzdem der löbliche Vorsatz nicht ganz zur Tat werden wollte, so lag es in der irdischen Begrenztheit seines Schauspielerquintetts begründet. Denn Tasso wird nur dann aus dem Buch in unverminderter Lebensfrische auf die Bühne springen, wenn sich irgendwo und irgendwann einmal der außerordentliche Glückszufall begeben sollte, daß fünf harmonisch aufeinander abgestimmte Künstler von edelstem Geblüt zusammenkommen. Schwer verständlich bleibt es allerdings, daß Reinhardt, der den intimen Raum der Kammerspiele zur Verfügung hat, dieses gesprochene Kammermusikwerk nicht an der für es prädestinierten Stelle spielen läßt. […] ● Auch Gerhart Hauptmanns zweite Regieleistung blieb einem Meisterwerk die letzte Schlagkraft der Bühne schuldig. Zwar lag ihm die derb realistische niederländische Welt von Kleists Zerbrochenem Krug entschieden näher als Schillers idealisiertes Schweizer Freiheitslied; aber während er dem Wilhelm Tell mit höchst eigenmächtigen Strichen zu Leibe ging, die in das Wesen der Dichtung verletzend eingriffen [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 22.09.13, Nr. 263], ließ er dem Lustspiel nicht genügend die Wohltat der Striche angedeihen. Namentlich gegen den Schluß hin, wo die Lösung des Knotens immer wieder retardiert wird, hätte sich eine straffere Zusammenziehung empfohlen. Vorläufig scheint diesem Regisseur das Gefühl für die Wichtigkeit des Tempos im Kunstwerk noch nicht ausgebildet, obwohl sich das am leichtesten durch die Praxis gewinnen läßt. Aber sonst war aller Saft und alle Kraft des unvergänglichen Lustspiels mit Liebe und Laune herausgeholt. Als begünstigender Umstand kam hinzu, daß Herr Tiedtke, der bei Reinhardt bis dahin an zweiter Stelle gestanden, den ergötzlichsten Dorfrichter Adam schuf. Die alte Weisheit: mit dem rechten Schauspieler hat der Regisseur leichtes Spiel. ● Mit einer herrlichen, für meinen Geschmack nahezu einwandfreien Inszenierung führte sich dagegen der lange der Bühne entfremdete Rudolf Rittner ein, der nicht umsonst in Otto Brahms strenger Schule groß geworden ist. So viele Aufführungen von Gerhart Hauptmanns unantastbar schöner Traumdichtung Hanneles Himmelfahrt wir auch in Berlin gesehen haben, ich würde dieser unbedenklich den Preis zuerkennen. Besonders die Wunder der Phantasie waren überzeugend lebendig geworden. Wo Brahm geizte, verschwendete Rittner eher. Dabei waren die schauspielerischen Kräfte keineswegs außergewöhnlich. Aber der neue Regisseur scheint instinktiv hinter das letzte Geheimnis aller Bühnenwirkung gekommen zu sein: die Aufmerksamkeit keinen Moment erlahmen zu lassen. Man spürte einen festen und doch liebevollen Griff. Nach diesem Befähigungsausweis ist Rudolf Rittner nicht nur eine Hoffnung als Regisseur, sondern die Stütze des Deutschen Künstlertheaters, das sich beglückwünschen darf, ihn der Bühne wiedergeschenkt zu haben.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Oktober 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 282 (Nr. 1425).
Herbert Eulenberg, Belinde (Kleines Theater, 07.10.13). – „Als ich vor Jahr und Tag Herbert Eulenbergs fünfaktiges Liebesstück Belinde [erschienen bei Rowohlt in Leipzig 1912] las, stand mir das eine fest: die vorangestellten Strophen, in denen der Dichter seine Heldin anschwärmte, waren mir lieber als das nachfolgende Drama. Ich kann nicht sagen, daß der erste Eindruck jetzt durch die Aufführung des Kleinen Theaters wesentlich korrigiert wurde, obwohl die Zueignung selbstverständlich das Privileg des Buches blieb. Mit andern Worten: die Bühne – oder die bestimmte Bühne, an der das Werk in Szene ging – hat ihm nicht Fleisch und Blut, keine gesteigerte Wirklichkeit oder entrücktere Romantik, keine reichere Melodie geben können. […] – Herbert Eulenberg zeigt in Belinde nur insofern ein anderes Gesicht, als er sich endlich bequemt hat, mit der Bühne zu paktieren. Er gibt in fünf Akten von mäßiger Länge eine geschlossene Handlung, wahrt sogar die drei Einheiten. Die verwegensten Auswüchse einer hypertrophischen Phantasie sind unterblieben. Aber sonst fabuliert er ganz so unbekümmert darauf los wie früher. Wenn er schon nirgends für die Logik des Verstandes plädiert, so hat auch seine Logik des Herzens keine warme Überzeugungskraft. Das alles ist mit der souveränen Willkür des Schreibtischmenschen ersonnen, der seine Liebe zum Theater nicht über das Dilettantenhafte (das Wort ohne jede verkleinernde Nebenbedeutung gebraucht) hinauskommen läßt. Er bleibt, selbst wenn er zielbewußt scheint wie hier, ein Amateur (abermals in gutem Sinne). Und vielleicht liegt gerade darin seine Stärke, mag auch aus der Not eine Tugend geworden sein. […] – Das hinderte das Publikum indes nicht, der Prämierung durch den Schiller-Preis seine Reverenz zu erweisen und Herbert Eulenberg, den es schon mit Hausschlüsseln ausgefaucht, als nunmehr Arrivierten zu feiern.“

Kleine Chronik. NZZ, 16. Oktober 1913, Erstes Abendblatt, Nr. 287 (Nr. 1450).
Herbert Eulenberg, Zeitwende (Lessing-Theater, 15.10.13). – „Eulenbergs zwischen Realismus und Verstiegenheit pendelndes Stück Zeitwende versagte bei der Aufführung im Lessingtheater.“

Berliner Theater. NZZ, 20. Oktober 1913, Drittes Abendblatt, Nr. 291 (Nr. 1472).
Herbert Eulenberg, Zeitwende (Lessing-Theater, 15.10.13). – „Vor acht Tagen, im Kleinen Theater, bei Belinde, saß man einem ‚Liebesstück’ gegenüber. (Liebeswahnsinn – ein Pleonasmus, hat der unerbittliche Schopenhauer gesagt; Liebesstück – eine Bitte um mildernde Umstände.) Da empfahl es sich, den Verstand mit der Garderobe im Vorraum abzugeben und sich ganz dem Gefühl zu überlassen. Um Gottes Willen, keine Fragen stellen, keinen Motivierungen nachspüren, nichts auf die Goldwaage legen! […] – Wesentlich anders liegt jedoch der Fall, wenn der Dichter aus dem Reiche dessen, was sich nie und nirgends hat begeben, in das Land der nüchternen Wirklichkeit einlenkt. Herbert Eulenberg hat es in seinem Schauspiel Zeitwende wohl zum erstenmal getan. ‚Das Stück spielt zwischen uns und in unsern Tagen’, heißt es mit preziöser Selbstgefälligkeit. Er suchte den Anschluß an die Gegenwart, an eine mit kahlen, kalten Tatsachen rechnende Gegenwart, und er rettete sich vor der Wucht der niederstürzenden Geschehnisse in seine romantische Rumpelkammer. […] – Um das roh gezimmerte, mit knalligen Effekten ausgestattete Handlungsgerüst einigermaßen zu verdecken, hat der Dichter die verblichenen Blumen seiner Romantik darüber gebreitet. Romantik aus zweiter Hand. Anleihen bei früheren Werken. Der schon auf dem Zettel vorlaut als ‚romantische Figur’ gekennzeichnete Sebald bemüht sich nach Kräften, Belindens Bruder Hyazinth Konkurrenz zu machen. Und fällt mit seinen Flausen auf die Nerven. Seinen weiblichen Widerpart findet er in der für Balder schwärmenden Schwägerin Fanny. (Nur die Kunst Frau Fehdmers rettete diese Figur vor völligem Schiffbruch.) – … Ich stelle mir vor, Zeitwende wäre ohne Angabe des Autornamens eingereicht worden. Kein Theaterdirektor hätte diese Mischung von Felix Philippi [Verfasser zahlreicher seichter Theaterstücke (1851-1921)] und rostigen romantischen Requisiten zu Ende gelesen. Heut ist Herbert Eulenberg so sehr Mode geworden, daß er sich schon einen bedenklichen Abstieg in die Niederungen gestatten zu dürfen glaubt. Das Publikum, das sich musterhaft verhielt, besann sich freilich im Laufe des Abends auf seinen gesunden Menschenverstand und ließ sich selbst von den stärksten Handlungstrümpfen nicht mehr imponieren. Es hätte wenig gefehlt, und der Arrivierte hätte die bittern Erfahrungen, die dem Ringenden mehr als einmal beschieden waren, abermals zu kosten bekommen. – Schuld daran trug in der Besetzung der wichtigsten Rolle die sonst vortreffliche Aufführung des Lessing-Theaters. Man hatte sich für den Abenteurer Herrn Albert Steinrück aus München verschrieben, der statt eines Blenders einen Schieber, statt eines Glücksritters einen gemeinen Ludewig gab. Wie kommt der unheimliche Kerl, der Jack den Aufschlitzer bei Wedekind machen könnte, in eine so soignierte Sippe? Die Willkür des Stückes schien durch den Darsteller bedrohlich übertrieben. – Nachdem wir nun in wenigen Wochen Herbert Eulenberg dreimal genossen, bitten wir submissest um Schonzeit für ihn und – für uns.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Oktober 1913, Drittes Abendblatt, Nr. 295 (Nr.1494).
Georg Engel, Die heitere Residenz (Deutsches Schauspielhaus, 21.10.13). – „Berlin, längst die fortschrittlichste wie die vielseitigste unter den europäischen Theaterstädten, beansprucht für sich bisweilen das Vorrecht, nachzuhinken. So sah ich im Hamburger Thalia-Theater schon vor drei Wochen Georg Engels Lustspiel Die heitere Residenz (mit der feschen Vallière in der weiblichen Hauptrolle der an einen deutschen Duodezfürsten verheirateten Balkanprinzessin). Ich fühlte mich den saumseligen Berlinern um ein gutes Stück – was mit bout und nicht mit pièce zu übersetzen wäre – in der Kultur voraus. Doch was man an der Alster genossen, braucht man nicht mehr an der Spree zu sehen. Oder hält mich der Leser für so vergnügungssüchtig, daß er mich im Verdacht hat, ich ließe mir keine Aufführung der Heiteren Residenz entgehen, wie es Musikenthusiasten gibt, die keine Vorstellung von Figaros Hochzeit versäumen? Ach nein, so sehr hat mich Georg Engel nicht in seinen Bann gezwungen. Aber es liegt auch keine Veranlassung vor, daß der Kritiker ihn in den Bann tut, weil er den Leuten in der Provinz eine harmlose Abendunterhaltung geboten hat. Die Berliner lieben ja im allgemeinen gepfefferte Kost; doch scheint das Lustspiel im Deutschen Schauspielhaus, was wenigstens lokal zu Berlin gehört, recht gut gefallen zu haben. Es handelt sich darin um einen Schlüsselroman, der eine eheliche Entfremdung des erbprinzlichen Paares unverblümt zur Sprache bringt. Die Prinzessin hat zu diesem ungewöhnlichen Mittel gegriffen, um durch eine Enthüllung des Tatbestandes die Liebe ihres Gatten zu gewinnen. Was ihr denn auch zur Freude aller loyalen Herzen gelingt, so daß weitere Enthüllungen zu erwarten sind. In einem Försterhause dürfte die Thronfolge des Ländchens gesichert werden. Auf eine eingehende Analyse des Werkes dürfen wir wohl im allgemeinen Einverständnis verzichten.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Oktober 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 299 (Nr. 1510).
Wilhelm Schmidtbonn, Der verlorene Sohn (Kammerspiele, 24.10.13). – „[…] Wilhelm Schmidtbonn war es um den ewigen Gehalt der Parabel zu tun. Er verzichtet auf Modernität und skeptischen Geist und sucht aus den kargen Andeutungen des Evangeliums [Lukas 15:11-32] dramatisches Kapital zu schlagen. So wenig wie Hofmannsthal das Mysterium Jedermann aus unserer Zeit heraus neu dichtete, hat es Schmidtbonn gelüstet, dem überlieferten Inhalt eine neue Deutung unterzuschieben. Sondern er begnügt sich damit, Vorhandenes nachzuzeichnen und ihm ein neues sprachliches Gewand umzuhängen, für das er den freien Rhythmus wählte. In den umrahmenden Akten ist seine Erfindung einfach, stark und überzeugend bis auf die Figur des älteren Bruders, der zu einem kleinlichen Neidbold hinabsinkt. Um so schmerzlicher hat die Phantasie des Dichters im Mittelakt versagt. Da ist ihm so gut wie nichts eingefallen, und was ihm einfiel, ist nicht gut. […] – Trotzdem entschied der weihevolle Ausklang den Erfolg des Werkes in den Kammerspielen. Es war eine Freude, Max Reinhardt selbst wieder an der Arbeit zu wissen und seine sichere Hand zu spüren. Doch wurde der nichtige Mittelakt allzu geräuschvoll ausstaffiert, und die Coda mit dem chormäßig anschwellenden Ruf ‚heimgekehrt!’ erhielt einen Stich ins Opernhafte. Sollte der Regisseur da nicht den intimen Raum der Kammerspiele mit dem nach überbauten Wirkungen schreienden Zirkus verwechselt haben? […]“

Berliner Theater. NZZ, 29. Oktober 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 300 (Nr. 1518).
Henri Nathansen, Hinter Mauern (Komödienhaus, 25.10.13). – „Auf seinem ungehemmten Siegeslauf von Kopenhagen bis Krotoschin ist des Dänen Henri Nathansen vieraktiges Schauspiel Hinter Mauern nun auch in der deutschen Reichshauptstadt mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel eingezogen. Herr Isidor Frankenstein, Berlin SW, Jerusalemer Straße 163, berichtet darüber seiner Gattin nach Posen: ‚Liebes Röschen, ich habe mir über den Trennungsschmerz hinwegzuhelfen gesucht, indem ich gestern Abend, leider ohne Dich, zur Premiere ins Komödienhaus ging. Neunzig Prozent, ich übertreibe nicht, waren Glaubensgenossen. Es ist doch ein erhebendes Gefühl, wenn man sich im Theater wie im Tempel vorkommt. – Das Stück Hinter Mauern von einem von unsre Leut’ hat mir großartig gefallen. Das war so recht etwas nach meinem Geschmack, und habe ich schon lange nichts mehr gesehen, was mir so zu Herzen ging und dessen Tendenz mir voll und ganz aus der Seele gesprochen war. Ein jüdisches Mädchen, die Tochter streng religiöser, hoch achtbarer Eltern, verlobt sich mit einem Goi. Zuerst ist der Vater, der seinen langjährigen Prokurist für seine Esther in petto hat, wie vor den Kopf geschlagen, daß ihm das passieren muß, ausgerechnet wo sich der Vater von dem Bräutigam früher einmal schofel gegen ihn benommen hat. Nachher geht er aber doch zum Essen hin – woraus ich schließe, daß die alten Levins nicht mehr koscher essen, trotzdem es am Freitag Abend Fleischklößchen bei ihnen gibt. Bei der Gelegenheit, als die Mitgift festgesetzt werden soll, geraten die Väter aneinander, und nehmen sie kein Blatt vor den Mund. Ein Christ kann keinen Jud’ lieben und umgekehrt, denn die Rassenunterschiede sind zu groß. Darauf läuft’s hinaus. Wie nun aber der Goi verlangt, daß die Tochter von dem alten Levin in der Kirche getraut werden soll und daß die Kinder im christlichen Glauben erzogen werden sollen, da geht dem braven Mann so’ ne Chuchzbe doch über die Hutschnur. Esther sieht auch ein, daß es charakterlos von ihr war, daß sie zu allem, was ihr Bräutigam von ihr fordert, Ja und Amen gesagt hat. Wenn er sie nicht ganz verlieren will, muß er klein beigeben. Er verspricht, daß die Kinder weder als Christen noch als Juden aufwachsen sollen, sondern als freie Menschen. – Zukunftsmusik! Ob’s gut gehen wird? Meine Sorge! Auf der Bühne geht’s manchmal gut aus, im Leben nie. Du kennst doch meine Ansicht über den Punkt. Aber das Stück hat mich unbedingt sehr interessiert, weil mir alles so bekannt vorgekommen ist. Auch die Witze. Onkel Adolf in unserer Mischpoche macht zwar bessere, aber man kann sich die im Stück auch gefallen lassen. Die jüdischen Leute sind von dem Dichter mit großer Liebe gezeichnet. Es heimelt einen alles so an und wird es einem ordentlich warm ums Herz, wenn man sieht, daß das jüdische Familienleben doch kein leerer Wahn ist. So was gibt’s bei den Andersgläubigen nicht. Ich kann Dir sagen, das Publikum war furchtbar gerührt, schon lange hab ich so was von Naseputzen und Schnauben nicht mehr gehört. Es war ein Bombenerfolg. Ich taxiere: hundert volle Häuser. Alle Glaubensgenossen werden das Stück sehen wollen. – Nachher ging ich zu Berg, leider ohne Dich, aß ein schönes Stückchen Gänsebraten – bei Dir schmeckt er aber noch besser –, und dann ging ich, im Gefühl, einen anregenden Abend verlebt zu haben, ins Bett, leider ohne Dich. – Es grüßt und küßt Dich herzlich Dein Isi.’ ● P.S. Diese berufene Kritik entwaffnet unseren ständigen Referenten.“

Berliner Theater. NZZ, 4. November 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 306 (Nr. 1545).
John Galsworthy, Kampf (Deutsches Künstler-Theater, 01.11.13). – „Als John Galsworthy im Jahre 1906 mit dem Roman The Man of Property (Der reiche Mann) und der Komödie The Silver Box (Der Zigarettenkasten) seine ersten breiteren Erfolge in England errang, wurde neben der Bewunderung für seine gerade, ehrliche, tapfere, schlanke Kunst auch die Verwunderung laut, daß ein Dichter auf epischem wie dramatischem Gebiete so Vortreffliches leistete. Es gibt in der Literaturgeschichte nicht allzu viele Erscheinungen, die in beiden Gattungen exzellieren. – Der Romanschriftsteller, für dessen Verdeutschung ich alsbald sorgte, wenn ich sie auch nicht selber besorgte, hat inzwischen mit seiner subtilen Seelendeutung, seinem Scharfblick für kleinste und feinste Schwingungen der Menschennatur, seiner mehr verschweigenden als grell aufzeigenden Sprache bei uns zwar nicht populäre Geltung, aber die Anerkennung der besten Geister gefunden. Er wird stets eine Gemeinde, nie die Massen für sich haben. – Als Dramatiker kommt Galsworthy ein wenig verspätet zu uns. Nicht nach Technik und Sprache, die einen ganz eigenen, überaus knappen, fast bis zur Nüchternheit sachlichen Stil haben, wohl aber was die Wahl seiner Stoffe betrifft, die aus der Welt exakter Wirklichkeitsschilderung geschöpft sind, und ihre gelegentlich die Tendenz streifende Behandlung. Das glaubte ich zu fühlen, als ich mich nicht entschließen konnte, sein bis dahin in England erfolgreichstes Schauspiel Kampf (Strife) für die deutsche Bühne zu übertragen. Wäre dieses Streikdrama vor zwanzig Jahren entstanden, man hätte ihm zugejubelt. Jetzt ist es in die erdrückende Nachbarschaft der Weber gerückt und wird immer von dem Schatten dieses gewaltigeren, das Leid der Besitzlosen mit erdhafter Kraft aufwühlenden Werkes verdunkelt werden. – Das war meine Ansicht vor sieben Jahren; das ist sie geblieben, nachdem wir Kampf im Deutschen Künstlertheater gesehen haben. Und doch hat gerade dieses Stück dem Engländer die Wege in Deutschland geebnet, nachdem sich anfänglich sämtliche Bühnen seinem Schaffen gegenüber vollkommen teilnahmslos oder gar ablehnend verhalten hatten. Mit Kampf gewann Galsworthy seinen ersten Sieg an der Wiener Volksbühne, der die Theaterleiter veranlaßte, nun gierig nach ihm zu greifen. Er hatte plötzlich Kurswert erlangt. In Berlin, wo er bisher nur vereinzelt auf der Freien Volksbühne zu Worte gekommen, scheint ihm jedoch die Gunst des Publikums weniger entgegenzufliegen als in Wien: es gab einen Achtungserfolg – nicht mehr. – Unbedingt handelt es sich hier um ein gutes Theaterstück von sauberer, präziser, korrekter Mache. Aber es fehlt ihm alles Hinreißende, alles Übermaß, ganz so wie es dem Verfasser an furor, an himmelstürmendem Temperament, an dem zündenden Funken mangelt. Ich möchte sagen: er bringt mehr die dem Umpire, dem Richter als dem Dichter typischen Eigenschaften mit; als deren wichtigste den Sinn für fair play. Mit gleicher Ruhe und Sachlichkeit, gewissermaßen mit der Kaltblütigkeit des sportsman sind die Chancen der beiden aufeinanderprallenden Parteien abgewogen. Natürlich gehört Galsworthys Herz den um Lohnaufbesserung kämpfenden Arbeitern; doch das bestimmt ihn nicht im mindesten, die Kapitalisten nun als blutaussaugende Ungeheuer oder auch nur als Karikaturen hinzustellen. Dazu ist sein Gefühl für Gerechtigkeit zu entwickelt. Er läßt die Gegner mit gleicher Eindringlichkeit, fern von aller Vehemenz ihren antagonistischen Standpunkt vertreten. […] – Wenn ich die Aufführung, die ich im Sommer dieses Jahres in London sah, mit der des Künstlertheaters vergleiche, so muß ich leider sagen, daß die Berliner Schauspieler schwerlich den Vorrang verdienen. […] Auch sollte man in Berlin, wo ohnehin genug falsche Vorstellungen von englischem Wesen verbreitet sind, englische Wohnräume nicht im Stile der Wiener Werkstätten dekorieren.“

Berliner Theater. NZZ, 6. November 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 308 (Nr. 1554).
George Bernard Shaw, Pygmalion (Lessing-Theater, 01.11.13). – „[…] Aber Professor Higgins, wiewohl er seine Wette spielend gewinnt (Bernard Shaw hat hoffentlich zu viel Respekt vor der Sprache, um selbst an seine spleenige Voraussetzung zu glauben) – Higgins, der eingefleischte Junggeselle und Grobian, hat die Rechnung ohne das Weib gemacht. Nachdem er mit seinem Experiment ans Ziel gelangt ist, weigert sich Miß Eliza Doolittle energisch, beiseite geschoben und nur als Sprechmaschine behandelt zu werden. Und nun beginnt ein Geplänkel auf erotischer Grundlage oder besser: ein Geplänkel mit fernen, unterirdischen sexuellen Geräuschen, das die Perspektive des Hafens der Ehe eröffnet. – Pygmalion, der Bildhauer, fleht (in den Metamorphosen des Ovid) die cyprische Venus an, seiner Elfenbeinstatue zum Leben zu verhelfen. Higgins, der Philolog, hat keine Augen für die Lebende, die trotz Fleisch und Blut wie eine Elfenbeinstatue mit ihm unter demselben Dache haust. (Und doch erklärt Higgins, kein Gentleman könne anständig bleiben, wenn es sich um Weiber handle!) Diese ungewöhnliche Enthaltsamkeit des Professors ist nur in einem Lande denkbar, wo die Mittelklasse es kategorisch ablehnt, von natürlichen Dingen zu sprechen. Oder resultiert sie in letztem Betracht aus der Enthaltsamkeit des Autors, dessen Kunst selten aus der Sexualität, meistens aus dem Verstande floß? – Auch sonst hat Bernard Shaw in diesem zahmen und lahmen Lustspiel reichlich Enthaltsamkeit geübt. Wenn er sich ernstlich vorgenommen hätte, sich auf das bescheidenste geistige Niveau zurückzuschrauben, hätte ihm seine Aufgabe nicht vollkommener gelingen können. Dafür hat er aber auch dieses Werk den Engländern noch vorenthalten und den Deutschen zu erstem Genusse bestimmt, so daß das geschmeichelte Hofburgtheaterpublikum [am 15.10.13] in diesem jus primae noctis tatsächlich ein Kompliment erblickte. Selbsteinschätzung scheint demnach nicht nur im Bereiche der Steuern zu gelten. – Einzig amüsant finde ich die geistige Wandlung, die mit Shaw selbst vorgegangen ist. So lange gefiel er sich in der Rolle, den Bourgeois durch seine Paradoxien vor den Kopf zu stoßen; so lange war die Moral des englischen Mittelstandes für ihn das rote Tuch, gegen das er bei jeder Gelegenheit mit den Hörnern anrannte, daß er allmählich, ohne es zu wissen und zu wollen, etwas von den Grundsätzen des Philisteriums abbekommen und das rote Tuch auf ihn abgefärbt hat. Er plätschert jetzt ganz vergnügt in den Anschauungen der Mittelklasse. Man wird in England ob solcher Häutung Hosianna singen. – Vielleicht wird man dort aber das Lustspiel weniger unterhaltsam finden als im Berliner Lessing-Theater. Dort kann es den Aufgeklärten nicht entgehen, daß Shaws Puppen nie das sagen, was ihnen der Moment eingeben sollte, sondern das, was ihnen der Drähtelenker einbläst, und doch bei aller Geschwätzigkeit die Strohfüllung nicht verbergen können. Hier stießen sich die Leute nicht einmal an der unmöglichen Form, in der die Gedanken zum Ausdruck kommen. Hier sahen die Leute nicht, daß vom Regisseur erfundene Requisitenscherze über die Flachheit des Dialogs hinwegzutäuschen hatten. Hier glaubten die Leute, Frau Durieux könne, weil sie sich wie eine Dame zu bewegen versteht, mit ihrem Elan auch die Gossengrazie einer Londoner Blumenverkäuferin glaubhaft machen, und hier ließ man sogar den trockenen, überlauten Ton des Herrn Steinrück als Humor gelten. Aber selbst hier werden die Leute am andern Morgen merken, daß als Gewinn eine Paraderolle mit fünf Toiletten übrig bleibt.“

Berliner Theater. NZZ, 11. November 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 313 (Nr. 1580).
August Strindberg, Die Kronbraut (Theater in der Königgrätzer Straße, 04.11.13). – „Nach Schwanenweiß im Kgl. Schauspielhaus [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 15.09.13, Nr. 256] Die Kronbraut von August Strindberg im Theater in der Königgrätzer Straße. Es scheint, daß uns der Märchendichter Strindberg vollständig geboten werden soll; und doch wäre das Selektionsprinzip seinem Nachruhm vielleicht förderlicher, obwohl die Zukunft ganz von selbst ein survival of the fittest besorgt. – Im ungeheuer reichen Schaffen dieses schwedischen August bedeutet ein Werk nicht mehr als ein Kind im Leben des sächsischen August mit dem Beinamen der Starke. Gelungene und mißratene lösen sich in ziemlich bunter Reihe ab. Ihre Gesamtheit erst ergibt die unendlich komplizierte, zwischen Himmel und Hölle hin- und hergeworfene Persönlichkeit ihres überragenden Schöpfers. Aber wenn man so ein einzelnes Bausteinchen wie die Kronbraut aus dem Mosaikbilde fortdächte, würde niemand die Lücke merken oder beklagen. […]“

Berliner Theater. NZZ, 13. November 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 315 (Nr. 1590).
Hans Müller, Gesinnung (Kleines Theater, 08.11.13). – „Aus einem Einakter-Zyklus Gesinnung von Hans Müller wurde im Kleinen Theater, an der passendsten Stätte für dramatische petits fours, ein heiteres Terzett geboten. Der Verfasser, dessen Komödie Hargudl am Bach den Hofburgtheaterdirektor Paul Schlenther entthronte [Oktober 1909], ist begabt wie die meisten jungen Österreicher, outriert witzig, graziös, ohne Hemmungen, hinter Pointen her wie der Teufel hinter einer armen Seele, vom Feuilletonismus umduftet wie ein Friseurgehilfe von Pomade – alles Qualitäten, die ihn auf den Sketch hinweisen –, versteht sich aber noch nicht auf die besondere Zeitrechnung des Einakters. So kommt es, daß wir, selbst in der irrationalen Zone der Groteske, dem Tempo seiner Folgerungen oder Voraussetzungen Widerstand leisten. Er möchte überrumpeln, rumpelt aber zu sehr mit seinem Rüstzeug. Unmögliches zu glauben ist in dieser Sphäre leichter als Unwahrscheinliches; Hans Müller mutet uns die krassesten Unwahrscheinlichkeiten zu. […] – Erzählt, täten diese grotesken Nippes ihre Schuldigkeit; agiert, enthüllen sie zu deutlich die Willkür der Erfindung im Dienste eines Aperçus. – Immerhin vermittelte uns das heitere Terzett nicht nur die Bekanntschaft mit einem skrupellos witzigen Autor, sondern auch mit dem vielgepriesenen Darsteller Herrn Gustav Waldau aus München, der den Fanatiker der Güte mit überzeugender Kunst zu verkörpern wußte. Er war rührend menschlich in seiner hilflosen Einfalt. – Endlich verdient noch eine Neuerung des Zettels erwähnt zu werden: er plaudert mit aller erdenklichen Vollständigkeit aus, von wem die neuen Dekorationen, die Bühnenausstattung, die Beleuchtungskörper stammen, und erzählt sogar, daß ‚Abendkleid und Morgenröcke von Frl. Silten von Kersten u. Tuteur, das (!) Haus der Moden, Leipziger Straße’, sind. Sollten mir künftig die Namen des Perückenmachers, der Lieferanten von Puder und Schminke vorenthalten werden – ich hätte eine schlaflose Nacht.“

Berliner Theater. NZZ, 20. November 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 322 (Nr. 1626).
Henri Nathansen, Die Affäre (Deutsches Künstler-Theater, 15.11.13). – „Nach dem jüdischen Milieustück Hinter Mauern, das sich an den unkultiviertesten Vorstadtgeschmack wendet (woraus sich ohne weiteres sein Berliner Erfolg erklärt) [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 29.10.13, Nr. 300], bedeutet das Lustspiel Die Affäre des Dänen Henri Nathansen eine angenehme Überraschung. Dort befand man sich in Gesellschaft eines Autors, der die Welt mit Brettern zunagelte, weil das auf den Brettern immer noch seine Schuldigkeit tut; der einem Problem mit mittelalterlichen Gedanken und Gefühlen beizukommen suchte. Nun ward man inne, daß er in der modernen Komödie eine wesentlich bessere Figur macht. Grobe Geschmacklosigkeiten, die dort wie Hagelkörner niederprasselten, sind hier wenigstens vermieden; doch auch alles, was irgendwie in das Gebiet des Besonderen hinaufweist. – Die Affäre gehört zu jener weit verbreiteten Gattung von Stücken, an denen nichts so markant ist wie der Mangel an Markantem. Das plätschert vier Akte lang mit einer glatten Routine dahin, und nirgends wird das dünne Bächlein durch einen Stein gehemmt. Der winzige Handlungskern wird wie ein Schneeball so lange weiter gerollt, bis er das vorgeschriebene Format hat. Zwei- oder dreimal lacht man im Verlaufe des Abends; sonst wird man nicht aus einer sanften Lethargie geweckt. – Immerhin ist es schon erfreulich, daß Herr Nathansen sich von jeder Tendenz fern hält und auf Nutzanweisung verzichtet. Er zeigt ganz einfach, daß eine Schreiberin mit hübschen Augen unumschränkte Gewalt über sämtliche Männer des Bureaus hat und daß sie allemal Sünder sind, vom handfesten Boten angefangen bis zur höchsten Stelle. […] – Für vier Akte ist das recht dürftig. Leider kommt die Charakteristik kaum der schmächtigen Handlung zu Hilfe. Mehr als Name und Stand, sowie etliche konventionelle Züge des Beamtentums erfahren wir von keiner der auftretenden Personen, so daß sie letzten Endes im Typischen stecken bleiben und für uns Namenlose sind. – Solche schwache Süppchen können freilich durch eine überlegene, aus Eigenem beisteuernde Darstellung schmackhaft oder zum mindesten schmackhafter gemacht werden, und das war im Deutschen Künstlertheater mit Eifer und Liebe geschehen. Man sah eine blitzsaubere Aufführung, an der die bewährten Kräfte des Unternehmens, die Herren Marr, Forest, Tiedtke und Rickelt, ihren Anteil hatten. Die Damen beschieden sich mit der Rolle des schwächern Geschlechts. Leider gab es nicht den breiten Erfolg, den diese Bühne nötig hat, um sich im Existenzkampfe zu behaupten. Denn es genügt nicht, daß die Kenner wissen: in diesem Hause wird von allen Berliner Theatern am reinsten Komödie gespielt – die Kunst der Sozietärs darf auch hier an fragwürdige Gegenstände verschwendet werden.“

Berliner Theater. NZZ, 30. November 1913, Drittes Blatt, Nr. 332 (Nr. 1678).
George Bernard Shaw, Androklus und der Löwe (Kammerspiele, 25.11.13). – „Seit dem Arzt am Scheidewege (21.11.08) ist das in den Kammerspielen zum erstenmal aufgeführte Märchenspiel Androklus und der Löwe von Bernard Shaw wieder das erste Werk des Iren, in dem sich die Klaue des Löwen zeigt. Nur ist es leider dramatisch nicht genügend durchgeknetet, sondern ward allzu früh der Haft des Schreibtisches entwunden, so daß neben sehr lebendigen Partien tote Strecken liegen. […] Hier, im Androklus, regt sich wieder der alte unehrerbietige Geist, der gleichermaßen christliche Demut wie heidnischen Übermut lachend bloßstellt. Aber – es kann nicht verschwiegen werden – auch ein früher schon hervorgetretener Mangel an Takt, eine gewisse Gefühlsroheit macht sich unangenehm bemerkbar. Sie bewirkt, daß man der genialen Einzelheiten nicht recht froh wird und einen verstimmenden Gesamteindruck zurückbehält. – […] Shaw hat diesen Androklos, den er mit einer Xanthippe verheiratet sein läßt, zu einem Märtyrer des christlichen Glaubens gemacht und sich damit ein Ventil für seine Ansichten über das Urchristentum geschaffen. Die Art etwa, wie er die verstiegene Nächstenliebe der neuen Lehre ad absurdum zu führen sucht, ist vielleicht das Bitterste, was seit Nietzsche gegen diese Religion vorgebracht wurde, und könnte von empfindlichen Gemütern geradezu als Blasphemie aufgefaßt werden. […] – Schlimmer empfinde ich es, daß Shaw überhaupt diese Glaubensstreiter zur Zielscheibe seines Witzes macht und den uns seit Offenbachs Operetten geläufigen burlesken Ton auf sie überträgt. Die ersten Christen sollten ihm einfach als verfolgte Menschen, die um ihrer Religion willen unendlich viel zu leiden hatten, heilig oder zum mindesten sakrosankt sein. Ich will meine Ansicht durch ein modernes Beispiel illustrieren: der Satiriker, der im Überfluß schwelgende jüdische Kommerzienräte aufs Korn nähme, hätte dichterisch und menschlich dazu ein weit höheres Recht, als wenn er die ihres Glaubens wegen aus Rußland vertriebenen Juden, diese Ärmsten der Armen, mit den Pfeilen seines Witzes treffen wollte. – Das Unbehagen steigert sich, weil die Anulkung in einem Augenblick erfolgt, wo die Opfer römischer Tyrannei dem sicheren Tode geweiht sind. […] Bei aller Anerkennung für Shaws Geistesschärfe muß ich doch gestehen, daß mir die ganze Situation sehr gegen den Strich geht. Dem Dichter soll ohne weiteres das Recht der Rücksichtslosigkeit, einer schamlosen Offenheit in den wichtigsten Fragen des Lebens eingeräumt werden – sofern sie unter der Kontrolle des Taktes steht. Denn Takt ist Dichtung des Herzens. Daran läßt es Bernard Shaw leider fehlen. Ein großer Dichter hätte diese armseligen Schwärmer, die als Vorläufer der Heilsarmee erscheinen, nimmermehr im Momente höchster Not auch noch dem Spotte preisgegeben. Seine Menschenliebe hätte ihn davor bewahrt. – Als Ersatz wird die Liebe zu Tieren eingeführt, und dies ist mir der liebste Zug des in Fragen des Gefühls vielfach unerquicklichen Stückes. Wenn der kleine Schneider in Freudentränen ausbricht, als der Löwe mit Hilfe seiner Witterung, die ihm das Gedächtnis ersetzt, einen rührenden Erkennungsakt vornimmt; wenn Androklos sich dagegen ausspricht, daß Tiere im Käfig gehalten werden; wenn er dem Kaiser empfiehlt, nur keine Angst zu haben, dann sei der Verkehr mit Bestien gar nicht so gefährlich: so ergreift Bernard Shaw selbst das Wort, und jeder Tierschutzverein dürfte ihn zu seinem Ehrenmitglied ernennen… – Die Aufführung der Kammerspiele […] trug das Werk nicht über alle Fährnisse hinweg. Viktor Arnold allerdings, der ein Spezialist für getretene Kreaturen ist, war in den Gefühlsmomenten seiner Rolle von einer tiefen, zu Herzen gehenden Menschlichkeit. Doch die Regie hatte nicht entschieden genug den parodistischen Ton angeschlagen, der vielleicht das Verletzende mancher Vorgänge gemildert hätte. Man bewunderte, aber man fühlte sich ein wenig beklemmt. Dementsprechend bekannte auch das Publikum mit seinen Beifallskundgebungen nicht recht Farbe. Immerhin: viventes te salutant, Bernard Shaw!“

Berliner Theater. NZZ, 2. Dezember 1913, Drittes Morgenblatt, Nr. 334 (Nr. 1688).
William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum (Deutsches Theater, 14.11.13); ders., Viel Lärm um nichts (Deutsches Theater, 21.11.13). – „Im Deutschen Theater wird zurzeit ein Shakespeare-Zyklus veranstaltet, der die zwölf von Max Reinhardt im Laufe von neun Jahren inszenierten Werke zusammenfaßt und mit dem Sturm abgeschlossen werden soll. Ein imposantes Unternehmen, das überall freudige Anerkennung, ja schon seinen Platz in der deutschen Theatergeschichte (nicht nur in der Geschichte des Deutschen Theaters) gefunden hat, uns gerade darum aber vor kritikloser Verhimmelung bewahren sollte. Den Beginn machte der Sommernachtstraum, Reinhardts erster populärer Erfolg im klassischen Bezirk und noch heut ein Erzeugnis glücklichster Eingebung; eine Woche später folgte Viel Lärm um nichts. – Man hat also jetzt bequem Gelegenheit, diese bewundernswert zielbewußte Leistung, auf wenige Wochen zusammengedrängt, noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen und sein Urteil, wenn nötig, zu revidieren. – Der Sommernachtstraum  liegt nun in dritter Fassung vor, ohne etwas von seinem frischen Glanz und seiner glänzenden Frische eingebüßt zu haben. Vielleicht übertraf die letzte Fassung, in der sich einige neue Töne angenehm bemerkbar machten, die voraufgegangenen noch an Konzentration der Phantasie und bewußter Herausarbeitung dessen, was die Stärke der früheren Aufführungen gebildet hatte. Die ganze Poesie des Waldes, in Böcklinsche Farben getaucht, erwachte wieder zu ungeahntem Leben, und die Rüpelszenen wirkten in ihrer grobianisch derben Komik wie unverbrauchte Improvisationen. Gertrud Eysoldts unbändiger Elementargeist ist, nicht zum Schaden des Gesamtbildes, etwas abgeschliffener. Hans Waßmanns Zettel kann sich, auch nach des seligen Georg Engels unvergeßlicher Gestaltung [in der Inszenierung vom 31.01.05 am Neuen Theater (vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 11.02.05, Nr. 42)], in Ehren behaupten. Nur Alexander Moissi als Oberon schwelgt in tenoralen Stimmreizen: bald schmettert er bravourös sein hohes C heraus, bald säuselt er im verführerischesten Pianissimo, und das Gesetz, nach dem er antritt, heißt – Willkür. – Die Neueinstudierung von Viel Lärm um nichts liegt erst anderthalb Jahre zurück, so daß man die Vorstellung noch in guter Erinnerung hat [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 28.02.12, Nr. 59]. Sie war in den wichtigsten Besetzungen – nur das farblose Liebespaar Claudio-Hero hatte neue, nüchterne Vertreter erhalten – und in allen Einzelheiten unangetastet geblieben. Da also die Dekorationen in ihrer bekannten Pracht den Blick nicht mehr ablenkten, konnte man den schauspielerischen Leistungen und der geistigen Arbeit des Regisseurs mit intensiverer Aufmerksamkeit folgen. Schon im Februar 1912 konnte ich mich nicht für bedingungslos entzückt erklären; jetzt traten die Gebrechen noch deutlicher hervor. Am schmerzlichsten berührte der Benedikt des Herrn Bassermann, der allzu geflissentlich mit Drückerchen nachhalf, ohne verbergen zu können, daß ihm eigentlich der Humor für diese dankbare Rolle fehlt. Die Art, wie er sich gewaltsam in Szene setzt, ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr für seine im modernen Drama auf alles Mätzchentum verzichtende Künstlerschaft. Er kann sich jetzt nicht genug tun, Brimborium zu machen. Hütet ihn, hütet ihn wohl! Es wäre ewig schade, wenn seine Troppo-Manier überwucherte. Else Heims dagegen, die lieblich anzuschauende Beatrice, weiß sich, auch wenn sie ihrem Übermut beherzt die Zügel schießen läßt, künstlerisch klug zu mäßigen. Was sie sich einmal erobert hat, gehört ihr unverrückbar zu eigen. Der wahre Glanzpunkt der Vorstellung ist der in seiner maßlosen Verblödung köstliche Gerichtsdiener Holzapfel des Herrn Waßmann, dem der Schlehwein des Herrn Arnold trefflich sekundiert: selbst ihre Extempores nimmt man lachend hin, weil die Figuren von saftigem Leben strotzen. Wenn man sich mit Herrn Biensfeldts Auffassung des Don Juan als eines selbstironischen, in die bewußte Karikatur umschlagenden Intriganten abgefunden hat, darf man seiner konsequenten Durchführung alles Lob spenden. Aber es bleibt doch fraglich, ob das Werk zu solcher Ausdeutung die geringste Unterlage bietet. – Indem Reinhardt den Bösewicht so ins Parodistische hinüberzerren läßt, will er dem ernsten Handlungszweig seine drückende Schwere nehmen. Tragik und Komik, die sich in dieser Komödie wie Öl und Wasser scheiden, sollen wenigstens einander näher gebracht werden. Ich kann nicht finden, daß man der Dichtung damit einen Gefallen erweist. Das Liebesgeplänkel zwischen Beatrice und Benedikt ist eigentlich doch nur die weit ausgesponnene Nebenhandlung, mag sie uns heute auch reicher und poesiereicher erscheinen als das hölzerne Hauptgerüst. Das Lustspiel stammt aber aus einer Schaffensperiode des Dichters, in der sich eine tiefe Menschenverachtung und Bitterkeit vorzubereiten anfingen. Einfach eine polierte Wiederholung der Bezähmten Widerspenstigen zu geben entsprach damals kaum seiner mißmutigen Stimmung. So hat er diese heitere Schale um den verteufelt ernsten Kern gelegt, wie sich Neid und Bosheit an ein unschuldiges Mädchen heranschleichen, wie die bloße Verleumdung ein Lebensglück trübt. Davon ist in Max Reinhardts Lesart gar nichts zu spüren. Er interpretiert: Kinder, das ist ja alles nur Mummenschanz und Firlefanz – seid doch vergnügt! Mir scheint, er faßt den Titel allzu wörtlich und stutzt danach das entlastete, nur noch lustige Spiel zu. – Der Sommernachtstraum ließ die Vermutung entstehen, Reinhardt werde seine Shakespeare-Vorstellungen von Grund auf revidieren; nach Viel Lärm um nichts dürfen wir mit dieser Hoffnung wohl nur teilweise rechnen. Sollte er mit weiland Pilatus denken: ‚Quod scripsi, scripsi’? Er hat gewiß berechtigten Grund, sich des Geleisteten zu freuen; aber die Kritik leistet ihm, der schon bei Lebzeiten als Olympier des Thespiskarrens gefeiert wird, einen zweifelhaften Dienst, wenn sie einfach in ein Triumphgeheul ausbricht.“

Berliner Theater. NZZ, 4. Dezember 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 336 (Nr. 1699).
Ludwig Thoma, Die Sippe (Kleines Theater, 29.11.13). – „Ludwig Thoma, dem köstlichen Geißelschwinger des Simplizissimus, genügt offenbar nicht der Ruhm, ein paar sehr amüsante Komödien geschrieben zu haben; es gelüstet ihn auch nach dem Lorbeer des ernsten Dramatikers. In dem Volksstück Magdalena, seiner vorletzten Arbeit [uraufgeführt am Kleinen Theater am 12.10.12], suchte er das Schicksal einer Dorfschönen zu zeichnen, die von dem Pharisäertum ihrer beschränkten Umwelt zur Strecke gebracht wird. In dem Schauspiel Die Sippe, das jetzt im Kleinen Theater zur ersten Aufführung gelangte, reitet er eine schneidige Attacke gegen die zärtlichen Verwandten, denen es mit dem Übermaß ihrer taktlosen Liebe gegeben ist, ein Ehepaar systematisch zu entfremden und auseinanderzureißen. – Was sich in dem neuen Werk als Satire gibt, ist überaus lustig, wenn auch keineswegs neu. Oscar Wilde hat die Verwandten einmal als eine Gesellschaft schlecht erzogener Menschen bezeichnet, die nie im richtigen Augenblick  zu sterben wissen. Noch schlagender ist jenes deutsche Scherzwort, das die Tante auf dem Sofa sitzen und beleidigt sein läßt. In dem einen Satz liegt eigentlich alle Bosheit eingekapselt, die sich der Satiriker Thoma ein wenig weitläufig von der Leber redet. Seine Erfindungsgabe hat sich nicht in besondere Unkosten gestürzt; sie verweilt bei etlichen schon recht abgebrauchten Zügen, die allerdings meisterhaft verwertet sind, obwohl sie durch Wiederholungen schwerlich gewinnen. Da gibt es eine liebende Schwester, der der oben mitgeteilte Steckbrief der Tante auf den Leib geschrieben scheint. Ihre Pietät gegen Tote ist nichts anderes als Pietätlosigkeit gegen die Lebenden. Sie trägt die Erinnerung an ‚Mutterchen selig’ auf der Zunge, wie gewisse Damen das Reismehl auf der Wange. Sie betrachtet jede Veränderung in ihrem Elternhaus als einen ihr persönlich zugefügten Schimpf. Sie horcht die Dienstboten aus, platzt vor Neugier und scheint ihre einzige Befriedigung darin zu finden, unter dem Deckmantel der Liebe zu hetzen und Zwietracht zu säen. Ihr Eheherr, ein vom Dünkel der Unfehlbarkeit geschwellter Schuldirektor (Marke: Röllchen und gestickte Reisetasche), hat die Männerbrust mit dem dreifachen Erz des Gemeinplatzes gewappnet. Dieses liebe Paar von lauteren Sitten mutet an wie der glänzende Text zu den besten Bildern Th. Th. Heines aus dem deutschen Familienleben. Das Typische in Reinkultur! – Daneben stehen nun auch – leider, muß man sagen – einige Individuen. So ergötzlich die Thomaschen Typen ausgefallen sind, unvergeßliche Zwerchfellkitzler, so dünn, so blaß, so wesenlos sind ihm seine ernsten Figuren geraten. Ohne die Spur einer Sonderphysiognomie. […] – Die Darstellung des Kleinen Theaters konnte nichts aus eigener Kraft tun, den embryonalen Individuen einen Geburtsschein auszustellen. Dagegen wirkten die Typen – namentlich der in jedem Wort, in jeder Bewegung und selbst in der Ruhe erschütternd komische Gymnasialprofessor des Herrn Max Adalbert – so echt, als ob man einen Jahrgang des Simplizissimus durchblätterte. Das Publikum quietschte vor Wonne. Aber es ging ihm gegen den Strich, daß sich das Daheim zum Schluß in diese Nachbarschaft einschlich, und die ungleiche Verbindung trübte den bis dahin ganz freundlichen Erfolg Ludwig Thomas, dessen Ehrgeiz sich hoffentlich nicht mehr von einem Gebiet ablenken läßt, auf dem er unerreicht dasteht. Ludwig kehre zurück (zu deiner komischen Domäne); alles soll dir vergeben sein.“

Berliner Theater. NZZ, 16. Dezember 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 348 (Nr. 1772).
August Strindberg, Wetterleuchten (Kammerspiele, 10.12.13). – „Gründlichkeit galt den Ausländern bis vor kurzem als deutsche Nationaltugend. Ehe wir vom zunehmenden Wohlstand an die Oberfläche getrieben wurden, durften wir auf diesen Ruf der Gründlichkeit stolz sein – wenn ihm auch gelegentlich ein leiser Beigeschmack von Pedanterie anhaftete. Selbst in der Kunst galten wir als gründlich. – Mit deutscher Gründlichkeit sind die Berliner Theaterdirektoren jetzt beflissen, uns das dramatische Lebenswerk des Schweden August Strindberg vorzuführen. Vollständigkeit, nicht die Auswahl des Tüchtigsten, scheint ihnen als Ideal vorzuschweben. Es könnte als Sünde wider den heiligen Geist ausgelegt werden, wenn – was Gott verhüte! – ein schwächeres Werk auf seine unbeachtetere Buchexistenz beschränkt bliebe, statt zu vollem Bühnendasein erweckt zu werden. Von der augenblicklich in Deutschland oder zum mindesten in Berlin grassierenden Strindberg-Hausse, die pünktlich mit dem Tode des Dichters einsetzte, profitiert noch ein bläßliches Märchenspiel, das alle Anzeichen der Arterienverkalkung an sich trägt, derart, daß es zu einer Heilsbotschaft aufgebauscht wird. Im wirtschaftlichen Leben der Völker nennt man das gemeinhin Konjunktur. – Gleichwohl: wenn Strindberg schläft, ist er dem göttlichen Homer noch ähnlicher als mancher dramatische Zeitgenosse, der ganz wach zu sein prätendiert. – In dem Kammerspiel Wetterleuchten schläft Strindberg nicht, aber er ist müde, sehr müde, manchmal zum Einschlafen müde. Ein Desillusionierter in all seiner Enttäuschtheit, Bitterkeit und Müdigkeit hat es geschrieben, einer, der das Hauptbuch des Lebens zugeklappt hat. Dieser Zustand wird mit wollüstig quälender Echtheit wiedergegeben. – […] Wie gesagt, die Zustandsschilderung ist für die geringen Konsequenzen zu gründlich wiedergegeben. Kein Gähnen des Mannes bleibt uns geschenkt. Aber daß die Darstellung der Langeweile in keinem Augenblick langweilig wirkt, beweist die Hand eines Meisters. – Gründlichkeit war auch die Parole des Regisseurs Max Reinhardt. Er schwelgte in Hemmungen, Stockungen, Pausen. Mit ihm sein Hauptdarsteller Albert Bassermann, der nach Herzenslust Ritardandi anbringen konnte. Es war eine Freude, diesen Menschenbildner sich wieder an einem ihm konformen modernen Stoffe betätigen zu sehen. Hier ist seine Gründlichkeit ein Nervenstimulans, während sie im klassischen Drama mit seinem raschern Handlungsschritt bisweilen auf die Nerven geht.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Dezember 1913, Zweites Abendblatt, Nr. 350 (Nr. 1790).
Otto Hinnerk, Graf Ehrenfried (Kgl. Schauspielhaus, 11.12.13); Ernst Hardt, Schirin und Gertraude (Deutsches Künstler-Theater, 11.12.13). – Zu Hinnerks Lustspiel: „[…] Ich finde dieses Werk in der Anlage durchaus liebenswert, weil es nur im Kopfe eines weltfremden deutschen Poeten sprossen konnte. Finde es aber in der Ausführung (leider, leider!) dürr und frostig ungestaltet. Das Märchenspiel verschiebt sich zu einem Intrigenspiel. Ein Dichter von Gottes Gnaden hätte hier alle Bronnen der Phantasie rauschen lassen können; Otto Hinnerk verfügt nur im ersten Akt über den Mosesstab, der aus taubem Gestein Wasser hervorlockt. Das dünne Bächlein wird dann vom Geröll der Hofkabale zugeschüttet. Ein Phantasiemensch solchen Schlages hätte mit leuchtendem Überschwang, mit allem Gefunkel und Geflunker der Dichtung, nicht nur mit den landläufigen lyrischen Requisiten wie Linde, Grillen, Himmelsplafond und dergleichen ausgestattet werden müssen. […] – Doch, was alles gegen das Werk gesagt ist: die poetische Goldader der Idee soll man seinem Verfasser nicht absprechen. War es nicht, als ob aus lauwarmen Worten eine menschliche Stimme, eine menschliche Seele tönte? – Im Kgl. Schauspielhaus wurde die traditionelle Hoftheatervorstellung geboten. Man sollte es kaum für möglich halten, daß in der Stadt, wo Max Reinhardt wirkt, noch so vorsintflutliche Dekorationen geduldet werden. Und das Gros der Darsteller steht immer noch mit einem Fuß in Meiningen. […]“ ● Zu Hardts Komödie: „Ernst Hardts Komödie Schirin und Gertraude behandelt den Stoff des aus dem Morgenlande mit einer ihm angetrauten Türkin zu seinem Weibe heimkehrenden Grafen von Gleichen auf parodistische Art. […] Daß hier komische Wirkungen mühelos zu erzielen sind, kann ein Backfisch ahnen. Nur darf man, wenn das Thema der Polygamie einmal zur Diskussion steht, vor den äußersten Konsequenzen nicht auskneifen. Darf nicht im Bereich des Backfisches verharren. Ernst Hardt läßt das, worauf es ankommt, beherzt unter den Tisch (man müßte hier eigentlich sagen: unter den Nachttisch) fallen und gewinnt damit den Vorteil, daß sich sein Scherzspiel ohne weiteres zur Lektüre für höhere Töchterschulen empfiehlt. […] Sein mit zwei Frauen gesegneter Graf von Gleichen ist ein Pfannkuchen ohne Füllung – nicht einmal das: eine Pfannkuchenattrappe. – Doch dem Publikum schien der arglose Scherz zu munden (in der für den Lyzeum-Klub veranstalteten Generalprobe, der ich beiwohnte, blieben die intellektuellen Frauen Berlins freilich reserviert bis ans Herz hinan). Hoffentlich hat das schwer ringende Deutsche Künstlertheater damit seinen ersten breiten Erfolg eingeheimst, so daß es endlich, der Sorgen enthoben, zu vollgültigen Taten ausholen kann.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Dezember 1913, Drittes Blatt, Nr. 353 (Nr. 1809).
Georg Büchner, Wozzeck / Leonce und Lena (Lessing-Theater, 17.12.13). - „An der mit Verständnis, Fleiß und Liebe vorbereiteten Aufführung des Lessing-Theaters lag es gewiß nicht, daß Georg Büchner, der mit dem Torso Wozzeck und dem romantischen Lustspiel Leonce und Lena aus Anlaß seines (an andern Orten schon gefeierten) hundertsten Geburtstages zu uns sprach, von der Bühne herab uns nur bedingt ansprach. Diese unbefangene Feststellung soll weder der Festvorstellung noch der literarhistorischen Bedeutung des mit vierundzwanzig Jahren Dahingerafften und als Vorläufer zeitgenössischer Ziele Gepriesenen mindesten Abbruch tun; doch warum aus Pietät corriger l’amertume? – Der Dramaturg des Lessing-Theaters […] erklärt allerdings in einer Programmbeilage mit unerschütterlicher Sicherheit: ‚Das tragische Fragment Wozzeck, das romantische Spiel Leonce und Lena, das sind nicht nur hinterlassene Schriften, die in die Literaturgeschichte eingesperrt werden, das sind zwei ganz gegenwärtige, frische, beherzte Schöpfungen, die auf die heutige Bühne gehören und den notleidenden Bestand ihres Repertoires als herrliche Geschenke vermehren.’ Ganz gegenwärtig? Das glaubt Arthur Eloesser wohl im Traume nicht. – Was gegenwärtig an beiden Werken berührte, ging zum größten Teile von gegenwärtigen Menschen aus. In der Tragödie von der packend echten Verkörperung Albert Steinrücks, der den unterdrückten, getretenen Soldaten Wozzeck zu einem Sinnbild der dumpfen, rein triebhaften Kreatur erhob, der kein Gott zu sagen gab, was sie leidet. […] Es verschlug nicht viel, daß die Worte, die der Dichter dem Heloten der Menschheit in den Mund legt, nicht immer zum Wesen der Figur stimmen; Steinrück glitt über das Oratorische seiner Aufgabe ziemlich sorglos hinweg und schuf durch stumme Zutaten der Haltung, Bewegung und Mimik eine erschütternde Gestalt. – In der Komödie waren es ebenso die heutigen Menschen, die den Staub eines ganz im Traditionellen wurzelnden literarischen Spiels frisch und beherzt hinwegbliesen. […] – Die ungleich wertvollere Gabe des Büchner-Abends war entschieden Wozzeck. Dieser wuchtige, roh behauene Block hat so viel Qualitäten, daß ihm auch dann noch das Interesse sicher ist, wenn man von den beiden Tatsachen abstrahiert, daß ihn ein Zwanzigjähriger hinterlassen und wie stark er moderne Dichter angeregt hat. […] – Leonce und Lena zeigt Georg Büchner als romantischen Anempfinder, der ein bißchen Lebensunmut, etliche verliebte Laune, ein Quentchen höfischer Satire und ein Übermaß oft fader Wortwitze oder an den Haaren herbeigezogener Concetti zu einer die Langeweile persiflierenden, doch nicht immer überwindenden Spielerei anrührt. Arthur Eloesser hebt sie freilich in den Himmel: ‚Kein deutscher Dichter hat uns graziöser, melodischer angesprochen als Büchner mit dieser Komödie’; aber es scheint das Los des Dramaturgen, selbst wenn er noch vor kurzem ein besonnen wägender, sich vor Überschwenglichkeiten hütender Kritiker war, in die Hyperbeln hemmungsloser Superlative zu verfallen.“

Berliner Theater. NZZ, 30. Dezember 1913, Zweites Morgenblatt, Nr. 361 (Nr. 1845).
Georg Hermann, Jettchen Gebert (Kleines Theater, 23.12.13). – „[…] Auch Georg Hermann konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen viel gelesenen und viel gelobten Alt-Berliner Roman Jettchen Gebert auf die Bretter zu schleifen. Ein so kluger, der Kritik zugewandter Kopf war sich natürlich von vornherein darüber klar, daß aus einem weitläufigen epischen Werke, dessen Hauptstärke weder in der Konstruktion noch in den geschilderten Menschen, sondern in der liebevollen, mit innigstem Behagen karessierenden Zeichnung des Milieus lag, nun und nimmer ein handfestes Theaterstück zu zimmern war. Doch sei ihm gerne eingeräumt, daß er sich einer dornenreichen Aufgabe mit künstlerischem Geschmack und Takt entledigt hat. […] – Das Kleine Theater bot eine sehr saubere, nur zu gleichmäßig gedämpfte und gewaltsam auf ein perpetuierliches Piano abgestimmte Aufführung. Einige Darsteller trafen den Ton vorzüglich und ließen dadurch um so schmerzlicher erkennen, daß er andern völlig wesensfremd war. […] Doch das Publikum ließ sich durch nichts in dem Vergnügen beeinträchtigen, das ihm seine lieben Romanfreunde gewährten, und nahm mehr oder minder alle Jargonwendungen mit unverhohlener Dankbarkeit auf. Es gab am Abend vor Weihnachten einen Erfolg, in den nachträglich kein Tropfen Wermut einfließen soll.“

Der Bogen des Odysseus. Dramatische Dichtung in fünf Akten von Gerhart Hauptmann. (Erste Aufführung im Deutschen Künstlertheater zu Berlin am 17. Januar 1914.) NZZ, 21. Januar 1914, Erstes Morgenblatt, Nr. 92.
„Äußerlich war es unbedingt ein starker Bühnenerfolg. Seit vielen, vielen Jahren ist kein Werk Gerhart Hauptmanns so mit Beifall überschüttet worden oder doch von hörbaren Zeichen des Mißfallens verschont geblieben. Das Hausgesetz des Deutschen Künstler-Theaters sollte, an Brahmsche Traditionen anknüpfend, der einheitlichen Wirkung wegen dem Dichter das Erscheinen erst zum Schluß der Vorstellung gestatten, wurde aber auf allgemeines Verlangen schon nach dem dritten Akt überschritten. […] Vielleicht klang in der nicht abzuleugnenden Anerkennung für dieses Werk noch ein anderes Moment mit: die liberalste Gemeinde Berlins wollte dem Dichter nach dem unwürdigen Kesseltreiben, dem sein Jahrhundertfestspiel durch das Eingreifen höherer Mächte ausgeliefert wurde, erneut ihr Vertrauen und ihren Glauben an seine Mission bekunden. – Ich konstatiere bereitwilligst den Erfolg, aber ich vermag in das Hosiannageschrei nicht miteinzustimmen. Schließlich ist der Kritiker nicht dazu da, über die Lustempfindungen der Menge Rechenschaft zu geben, sondern er hat seine eigene Ansicht zu begründen, seine eigenen Eindrücke aufzuzeichnen. Unbeeinflußt von Massensuggestionen, von Rassenvorurteilen, von Kassenerwägungen. Und da ich die Pflicht habe, von meinen höchst persönlichen Gefühlen und Gedanken aus zu einer unbefangenen Würdigung des Gedichts vorzudringen, so muß ich der Wahrheit gemäß bekennen: selten oder nie hab’ ich einem Hauptmannschen Bühnenwerke so durchaus kühl gegenübergesessen. Dieser Odysseus rührt mich nicht. Er berührt mich nicht. Er geht mich nichts an. […] – Was sucht der Dichter des schlesischen Fuhrmann Henschel in der Heroenwelt griechischer Vorzeit? […] Stände nicht der Name Gerhart Hauptmanns über dieser Dichtung, ich würde mich nicht scheuen, sie als Epigonendrama zu bezeichnen. Ein böses Wort – ich weiß; doch nicht ganz unberechtigt. Was ist das Merkmal, das Wundmal des Epigonendramas? Für mich nicht so sehr die herkömmliche Bearbeitung, wie die Wahl herkömmlicher Stoffe aus der Geschichte oder Sage. Es bleibt letzten Endes eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, statt ‚der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters’ zu sein. Der Dichter zeugt nicht Helden aus seinem Fleisch und Blut, er adoptiert sie bloß. […] – Was […] die Sprache betrifft, so hält sie sich auf einem mittleren Niveau, das für ein Epigonendrama ruhmvoller ist als für Gerhart Hauptmann. Es fehlt den Versen vielfach an schlagendem Ausdruck, an letzter Durchbildung, an Plastik; dafür gefallen sie sich in Umständlichkeit und Redseligkeit. Etliche Entgleisungen und Anleihen bei der modernen Umgangssprache (lügen, bis sich die Balken biegen; danke, es macht sich u. dgl.) müßten in der Buchausgabe getilgt werden.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Januar 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 129.
Frank Wedekind, Simson (Lessing-Theater, 24.01.14). – „Während die Bibel den Höhepunkt der Scherung, die den Helden seiner Kraft beraubt, immer wieder künstlich (ich hätte fast gesagt: raffiniert) hinausschiebt, läßt Wedekind seinen Übermenschen der Sinnlichkeit schon auf den ersten Anhieb den Lockungen des verruchten Weibes erliegen und ihr sein Geheimnis preisgeben. Technisch scheint mir das nicht sehr ersprießlich: Simson decouvriert sich zu früh und setzt der Versucherin gar keinen Widerstand entgegen. […] – Sonst hat sich der Dramatiker Wedekind hier einer Straffheit befleißigt, die seinen früheren Werken häufig abging, und krause Quersprünge der Phantasie, sinnverwirrende Episoden gemieden. Dagegen wollte oder konnte er der bei ihm so beliebten Mischung von tragischen und burlesken Elementen nicht entraten. Die sechs Philisterfürsten, die dem hebräischen Herkules nach dem Leben trachten, könnten einen Offenbachschen Verschwörerchor anstimmen, so sehr rutschen sie beständig ins komisch Niedrige aus und sind wie in der erstbesten Jambenexpektoration eines schreibwütigen Commis als gemeine Feiglinge vom unreinsten Wasser charakterisiert. […] – Es spricht für den Dichter Wedekind, daß er nach so bedenklich grotesken Auftakten überhaupt noch die Höhe des Versdramas zu erklimmen vermochte. […] Nur tritt hier zu sehr das Wedekindsche Erbübel des Moralisierens in den Vordergrund. Aus dem einzelnen Fall sucht er eine allgemeine Weisheit herauszudestillieren, ganz so wie seine Philister, ihren Namen Lügen strafend, auf der Stelle bereit sind, die Schamlosigkeit als Gesetz auszurufen, weil sie die Schamlosigkeit der Dirne Delila von Erfolg gekrönt sahen. Der lehrhafte Zug ist trotz scheinbar amoralischer Verpackung das Leit- und Leidmotiv der Kunst Frank Wedekinds. – So weit er nicht Lieblingsthemen seiner früheren Werke vom Erdgeist bis zur Franziska anschlägt, wo schon Simsons Schatten in Gestalt eines stämmigen Komödianten spukte, zieht Wedekind ein wenig an Strindbergs Strange. Er predigt die Geschlechtshörigkeit des Mannes: der Stärkste noch ist dem Weibe verfallen, ist ihr vielleicht am stärksten verfallen. Daneben die seit Erschaffung der Welt verbuhlte Natur des Weibes. […] Im letzten Akt erfährt leider die tragische Stimmung und die tragische Situation – Simson soll vor seinen Todfeinden tanzen – wieder einen jähen Absturz, dadurch, daß sich die Leichen lächerlich häufen. Mitten während des lärmenden Hochzeitsschmauses murkst der König Og von Basan seine Gemahlin Delila ab, nachdem er vorher zwei händelsüchtigen Großen seines Reiches den Garaus gemacht. Da bleibe ernst, wer kann. In solchem Schlachten führt des blinden Propheten Gebet, Jahve möge ihm noch einmal die alte Kraft schenken, nicht zur weihevollen Coda einer Tragödie, und der Einsturz des Tempels, der alle Anwesenden unter seinen Trümmern begräbt, wirkt wie ein Operneffekt mit gar nicht grausigem Donnergepolter. – Im Zuschauerraum setzte sich das Gepolter fort. Nachdem das Publikum während des ganzen Abends eine musterhafte Ruhe noch in den verfänglichsten Lagen bewahrt hatte, wäre es klüger gewesen, seine verhaltenen Gefühle zu schonen. Aber der Dramaturg des Lessing-Theaters, der plötzlich sein Temperament entdeckt hat, glaubte Öl ins Feuer gießen zu müssen, indem er ironisch für die ‚enthusiastische’ Aufnahme der Dichtung dankte. Das entfachte nicht ohne Grund die Wut der Mißvergnügten, die sich bis dahin gemäßigt hatten, und nun kam es zur üblichen Katzenmusik.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Februar 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 174.
Carl Sternheim, Der Snob (Kammerspiele, 02.02.14). – „Reinhardts Ausdauer sieht man belohnt. Karl Sternheim, den er mit zäher Anhänglichkeit pflegt, entwickelt sich immer mehr zum keimkräftigen Bildner einer künftigen Charakterkomödie. Sein op. 4 des bourgeoisen Komödienzyklus heißt Der Snob und zeigt den Verfasser im steilen Anstieg zum Gelingen. […] Was Karl Sternheim hoch über die meisten seiner Zeitgenossen erhebt und ihm heute schon die Anwartschaft auf den Ruhmestitel eines Komödiendichters verleiht, ist sein Mut, das Äußerste zu wagen und zu sagen. Er schreckt vor nichts zurück. Nicht einmal vor dem Peinlichen. […] Die Sucht, bis ans Ende der Dinge zu gehen, einen Typus bis in die letzten Konsequenzen hinein auszubeuten, verleitet den Dichter zu wenig geschmackvollen Exzessen. Niemand wird diesem Abgebrühten Herz, Empfindungstiefe oder gar die verpönte Sentimentalität vorwerfen können; in den Verdacht wird Sternheim nie kommen. […] – Soll ich den Gesamteindruck des Werkes aufzeichnen, so würde ich sagen: man wird diesen Sternheim nicht lieben, aber ihm die Bewunderung schwerlich vorenthalten können. Man mag ihn unangenehm finden, aber man wird einräumen müssen, daß er beinahe unangenehm begabt ist. Man wird ihn hundeschnäuzig und gefühllos schelten, ihm Verstand und Witz und Satire und Ironie und sogar tiefere Bedeutung aber nicht absprechen können. An Zielbewußtsein übertrifft er heute schon Frank Wedekind, der freilich mit ungleich stärkerer Besessenheit arbeitet. – […] Auch der deutsche Kronprinz wohnte der Vorstellung bei. Was mag er vor dieser ihm siriusfernen Welt empfunden haben? Sollte ihm am Ende Die lustige Witwe nicht doch besser gefallen?“

Berliner Theater. NZZ, 10. Februar 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 201.
Hermann Bahr, Das Phantom (Deutsches Künstler-Theater, 07.02.14). – „[Auch darin ist die Komödie] echtester Bahr, daß sie wunderhübsch anfängt und ihr vorzeitig der Atem ausgeht. Die reizende Grundidee reicht, wie immer bei ihm, für ein ‚abendfüllendes’ Bühnenstück nicht aus und muß daher im Prokrustesbett einer hemmungslosen Plauderkunst gereckt werden, bis sie an Haupt und Gliedern zermürbt ist. Das Plaudern versteht Hermann Bahr allerdings meisterhaft; nur verfällt er in den naheliegenden Fehler, daß er die eigene Stimme zu gerne hört und die Vorzüge seines famosen Fabuliertalents mit genießerischer Zunge auskostet. Der Feuilletonist macht sich so selbstgefällig breit, daß er den Gestalter immer mehr an die Wand drückt. Seine Puppen sagen häufig sehr charmante Dinge; nur dürften diese, solange der Schleier der Menschlichkeit gewahrt werden soll, nicht gar so charmant, so feuilletonistisch aufgeputzt oder antithetisch zugespitzt und oft nicht an der Stelle gesagt werden, die ihnen der Autor anweist. Er hat das Gehör dafür verloren, daß er in überreichem Pedalgebrauch schwelgt, daß ihn die Lust, paradox zu plauschen, mitunter verführt, den guten Geschmack preiszugeben und daß ihn die Pointensucht vom Boden der Wirklichkeit entfernt.“

Kleine Chronik. NZZ, 17. Februar 1914, Erstes Morgenblatt, Nr. 236.
Buchausgabe von Gerhart Hauptmanns Der Bogen des Odysseus. – „Stichproben zeigen, daß es sich um einen wortwörtlichen Abdruck des zuerst in der Neuen Rundschau [Jan. 1914] veröffentlichten Textes handelt. Die Aufführung hat also (leider!) den Dichter nicht zu überzeugen vermocht, daß es einen Gewinn für sein Werk bedeutet hätte, kleine Schönheitsfehler der sprachlichen Form auszumerzen. Noch immer stehen in einem aus dem griechischen Mythos geschöpften Drama so modern-kolloquiale Wendungen wie ‚seid friedlich’ oder ‚danke, es macht sich’. Warum gibt man sich die Mühe, auf derlei Entgleisungen des Ausdrucks besonders aufmerksam zu machen [s.o. NZZ vom 21.01.14, Nr. 92], wenn sich die zuständige Stelle dafür so wenig empfänglich erweist?“

Berliner Theater. NZZ, 18. Februar 1914, Erstes Abendblatt, Nr. 246.
Ferenč Molnár, Liliom (Lessing-Theater, 14.02.14). – „Franz Molnar. Brahm schmuggelte, vor sechs Jahren, den Ungarn in den numerus clausus seiner Hausdichter am Lessing-Theater ein. Damals nannte ich ihn einen im Budapester Volksbad verunreinigten Oscar Wilde. Mittlerweile hat er deutsche Bühnen mit Kassenstücken versorgt. Man darf also jetzt ungestraft auf seine Anfänge zurückgreifen. – […] Ein merkwürdiges Gemisch von Kino, Kitsch und kastalischem Quell, dieser Liliom. Der Kaffeehausliterat Molnar scheint sich tatsächlich, wenn nicht im Budapester Volksbad, so doch auf den Rummelplätzen vor den Toren der Hauptstadt gesund gebadet zu haben. Da war er noch frei von der fingerdicken Schminke gesuchter Geistreichelei, von dem outrierten Witz des Salonlöwen. Da schloß er sich ganz an unverbildete Volksgestalten an, schloß sie in sein Herz und wußte sie mit wenigen Strichen überzeugend zu treffen. – Gleich das erste Bild seiner Legende ist von einem Dichter, jawohl: von einem Dichter entworfen. […] In den mittleren Bildern wird allerdings die poetische Erfindung zu sehr von genrehaftem Beiwerk umrankt. […] Doch das Schönste, etwas unvergeßlich Schönes begegnet im Schlußbild. Man mag es getrost kitschig nennen; es treibt einem trotzdem Tränen ins Auge. Nachdem Liliom vierzehn Jahre lang zur Läuterung seiner Seele im Fegefeuer geschmachtet, darf er einen Tag auf Erden weilen. Er hat einen Stern vom Himmel gestohlen, um ihn seinem Töchterchen mitzubringen. Der Büßer steht am Zaun des dürftigen Häuschens, in dem jetzt seine Frau mit ihrem Kinde wohnt, und dieses reicht dem bettelnden fremden Manne einen Teller Suppe. Nichts hat sich in den vierzehn Jahren mit Liliom geändert. Er muß noch immer schlagen, wenn er am meisten liebt. Er haut das Kind derb auf die Hand, statt ihm den Stern zu schenken. Doch die Mutter weiß dafür Trost. Es gibt Schläge, sagt sie, die nicht weh tun. Sie hat es am eigenen Leibe erfahren. Ihr findet das billig: ich finde es herrlich. Das gehört zum Stärksten, was wir seit Jahren auf der Bühne gesehen haben. – Mit Freuden wird man inne, daß auch Franz Molnar einmal am reinen Quell der Phantasie saß. Mag er seine Unschuld längst eingebüßt haben: auch er ist einmal naiv, er ist ein Dichter gewesen. Aus alten Märchen winkt [?] es, und die köstlichen Klänge finden den Weg zum Herzen. Vielleicht findet auch Molnar, wenn er vierzehn Jahre in der Hölle gewesen, den Weg zur Erde zurück und bringt uns einen Stern mit. Wir wollen in dankbarem Gemüte nicht aufhören, an seinen Stern zu glauben … – Die Aufführung des Lessing-Theaters setzte sich mit überwiegendem Gelingen für das Werk ein. Den Preis verdient diesmal Tilla Durieux, die fast jeden Rest von Bewußtheit abgestreift hatte, und als tumbes Dienstmädchen zu Beginn wie später als abgehärmte Fabrikarbeiterin, ernst und schlicht wie aus einer Radierung von Käthe Kollwitz hervorgestiegen, inniger ergriff, als es ihrer wissenden Kunst im allgemeinen beschieden ist.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Februar 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 276.
Henrik Ibsen, Peer Gynt (Kgl. Schauspielhaus, 18./19.02.14). – „Wo in aller Welt gibt es noch einmal eine Stadt, die ein so schwieriges Werk wie Henrik Ibsens bisher nur vereinzelt in Deutschland gespielten Peer Gynt im Laufe eines Winters an zwei verschiedenen Bühnen zur Darstellung bringt? Wo sonst ist es möglich, daß dieser Peer Gynt an einer Stätte mehr als sechzigmal aufgeführt wird und daß sich knapp fünf Monate später eine andere Stelle an die Bewältigung des ungefügen Gedichtes wagt? Nur in Berlin. […] – Als Viktor Barnowsky im September mit Peer Gynt begann, schrieb ich hier, der neue Herr des Lessing-Theaters dürfe sich den Ruhmestitel beilegen, Peer Gynt als erster auf einer öffentlichen Bühne Berlins zur Geltung gebracht zu haben [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 19.09.13, Nr. 260]. Die Eröffnungsvorstellung hatte eigentlich nur einen halben Erfolg. […] Erst bei den Wiederholungen, die beherzten Ballast auswarfen, scheint das Publikum mehr empfunden zu haben als eine (durch keinen Kunstgenuß der Welt zu rechtfertigende) körperliche Strapaze. – Die wollte das Kgl. Schauspielhaus seinen braven Stammgästen nicht bereiten und verteilte daher den immer noch beträchtlich gekürzten Peer Gynt auf zwei Abende. […] Man könnte über das wagemutige Unternehmen mit freudiger Anerkennung sprechen, wenn nicht etwas Unbegreifliches geschehen wäre, das man geradezu eine Sünde wider den heiligen Geist nennen muß. Verhülle dein Haupt, o Muse: ein Herr Dietrich Eckart übte seine gewandten, doch seichten Reimkünste an Henrik Ibsen und glaubte, ihn für die deutsche Bühne ‚gestalten’ zu sollen. Ein literarisch nicht zu entschuldigender Frevel; die Stempelschändung [sic] eines Genies. Gegen eine rein dramaturgische Bearbeitung des Gedichts wäre nichts einzuwenden; daß aber irgendwer dem Henrik Ibsen mit Versen eigener Mache auf die Beine zu helfen sucht, ist – gelinde gesagt – eine nicht zu überbietende Verwegenheit. […] Es wird einiger Zeit bedürfen, bis man sich von dem Verbesserer Ibsens befreit hat, um eine in vieler Hinsicht denkwürdige Aufführung des Peer Gynt in dankbarer Erinnerung zu behalten.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Februar 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 301.
Erwin Rosen, Cafard (Deutsches Künstler-Theater, 24.02.14). – „… Am nächsten Morgen reibt man sich die Augen und schüttelt die schauerlichen Vorgänge, deren Zeuge man am Abend vorher geworden, wie einen bösen Traum ab. Sie betrafen das Schicksal der Fremdenlegion, in einem Drama Cafard von Erwin Rosen enthüllt, vom Deutschen Künstler-Theater aufgeführt. – Ein Alpdrücken mehr als ein Drama; ein Kinostück, aber gewiß kein Kunstwerk. Ein Folterkammerspiel, das dem mitleidigen Herzen des Verfassers alle Ehre macht, dem Zuschauer jedoch öfter an die Nieren als zu Herzen geht. Turmhoch gehäufte Greuel lassen eben nur ein Gefühl der Beklommenheit und Benommenheit zurück. […] – Immerhin, auch dem Furioso dieses Filmfabrikats fehlt es nicht an etlichen ergreifenden Momenten: wenn die Briefe aus der Heimat an die Soldaten verteilt werden oder wenn ein alter marokkanischer Jude einen Glaubensgenossen vor der Flucht segnet und zum Herrn Zebaoth betet (Emanuel Reicher machte daraus ein Kabinettsstück). Auch technisch ist manches, wiewohl vielleicht unbewußt, überraschend gelungen. – Kein Wort des Vorwurfs treffe die Leitung des Deutschen Künstler-Theaters dafür, daß ihre Wahl auf ein solches Stück fiel. Wer um seine Existenz kämpft, darf in der äußersten Verzweiflung etwas tun, was ihm sonst schwerlich verziehen würde. Und wenn der Zweck erfüllt wird, das Publikum anzulocken, will ich die Mittel nicht schelten. Auch deshalb nicht, weil Else Lehmann Gelegenheit zu einer außerordentlichen schauspielerischen Leistung fand. Wie sie im letzten Akt aus ihrer Dumpfheit aufwacht und, ein angejahrtes Klärchen, die Rebellion schürt, das war von erschütternder Menschlichkeit. Sie hatte in ihrem Schmerz Augenblicke, daß einem das Herz bis in den Hals hinauf schlug. Und noch jetzt, am andern Morgen, da der Spuk des Stückes verschwunden ist, fühle ich in der unauslöschlichen Erinnerung an diese Künstlerin ein tiefes Mitleiden in mir aufsteigen. Auch für das Deutsche Künstler-Theater, das seinen letzten Trumpf ausgespielt hat; doch ich fürchte, es war nicht Treff.“

Berliner Theater. NZZ, 10. März 1914, Zweites Morgenblatt. Nr. 356.
Knut Hamsun, Vom Teufel geholt (Kammerspiele, 06.03.14). – „Wie man sich auch drehen und wenden mag, man kommt nicht um das Wort diffus herum, wenn man Knut Hamsuns vieraktiges Schauspiel Vom Teufel geholt ebenso knapp charakterisieren möchte, wie es lang und breit geraten ist. Man muß an verschüttetes Wasser denken, das nach allen Seiten auseinanderfließt. Und lechzt förmlich nach einer Hand, der sich die bewegte Welle zu kristallner Kugel ballt. Man fühlt sich auch versucht, an ein stimmendes Orchester zu denken, dessen Mitglieder sich zu keinem andern Zwecke vereinigt zu haben scheinen als zu dem, daß jeder eigenmächtig sein Instrument zum Tönen bringe. Wenn nur endlich der Kapellmeister kommen wollte, der einem höhern Willen Geltung verschaffte! Man denkt auch ein wenig an Max Liebermanns Definition vom Zeichnen, die als den wichtigeren Bestandteil des Komponierens das Fortlassen (von Unwichtigem nämlich) in Anspruch nimmt. Und man wiederholt, was man nicht oft genug sagen kann, daß selbst das dilettantischste Dichten, sofern es zur Kunst zählen will, ein Sichten und Verdichten sein muß. […] – Ich kann auch nicht finden, daß sich irgendwelche tieferen Lebensaspekte ergeben. Der Titel Vom Teufel geholt will besagen, daß der Teufel Leben alle unterkriegt und zermürbt. Nicht nur die nimmermüde Männerjägerin, die schließlich bei einem Neger landet. Daneben tritt als eine Art von Leitmotiv die grausame Verspottung des Alters hervor, dem vor der Entthronung durch eine unbotmäßige Jugend bangt. Viel stärker als in dem, was ausgesprochen wird, spürt man die Nähe eines Dichters gelegentlich in dem, was mitschwingt. Doch wird mich der Respekt vor dem Romandichter Knut Hamsun niemals verleiten, diesem in allem Technischen heillos dilettantischen Drama meine Reverenz zu erweisen.“

Berliner Theater. NZZ, 13. März 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 375.
Karl Schönherr, Die Trenkwalder (Theater in der Königgrätzer Straße, 07.03.14). – „Karl Schönherrs in Wien, München und Leipzig bereits mit wechselndem Erfolg aufgeführte Komödie Die Trenkwalder vermochte auch die zweifelsüchtigen Herzen der Berliner nicht recht zu erwärmen. Sie saßen vor der tirolischen Gebirgswelt, die der vielseitige Maler Svend Gade in prachtvollen Prospekten festgehalten hatte, etwa mit dem gleichen ethnographischen Interesse, das ein Tiroler bekunden würde, wenn er – was Gott verhüte! – sich zufällig auf den Alpenball [?] in Berlin verirren sollte. Das ‚Völkische’ wurde halb belustigt, halb befremdet hingenommen, beinahe so wie die Vorführung eines exotischen Stammes. Kann man es den aufgeklärten Berlinern, die der Austritt aus der Landeskirche zurzeit weit stärker bewegt, ernstlich verargen, daß sie vor diesem verbohrten Wallfahrtsdörfchen die Empfindung nicht ganz los wurden, hier sei die schöne, freie Welt mit Brettern zugenagelt? – […] Schönherr nimmt, in wohltätigem Gegensatz zu der heute verbreiteten Mißachtung des Technischen, das Theaterhandwerk keineswegs auf die leichte Schulter. Man spürt in seinen Stücken den sorgsamen Arbeiter, ob er nun sein Material aus eigener Beobachtung schöpft oder aus der reichen Literatur der Dorfgeschichten zusammenträgt. Dem Theatralischen weicht er nicht aus schwächlicher Scheu in weitem Bogen aus, wobei es mitunter nicht ohne Gewaltsamkeiten abgeht, und er hält es sogar für kein Kapitalverbrechen, dankbare Rollen zu schreiben. Ich möchte ihm nur wünschen, daß er einmal den Weg aus seinem Heimatgebiet herausfände. Wie er dessen Bewohner auf zwei kräftige Beine stellt, ist gewiß aller Achtung wert; aber diese einfachen und einfältigen Menschen haben uns künstlerisch nichts mehr zu sagen. Sie arbeiten und beten, essen, trinken und schlafen; sie suchen sich mit dem Herrgott gut zu stellen, paktieren mit der Muttergottes und sind allzumal Sünder; die am scheinheiligsten tun, sind natürlich die schlimmsten. Viel mehr kommt wirklich nicht bei noch so liebevoller Schilderung dieser unkomplizierten Gestalten heraus. Sie bilden Schönherrs Welt; aber er vergesse nicht, daß seine Welt nicht die Welt ist.“

Berliner Theater. NZZ, 20. März 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 416.
Lothar Schmidt u. Emil Schäffer, Die Venus mit dem Papagei (Kgl. Schauspielhaus, 14.03.14). – „Wie jemand ein unechtes Bild von van Dyck für eine halbe Million Mark gekauft hat; es aus patriotischer Opferfreudigkeit, nachdem die Echtheit fraglich geworden, dem Landesmuseum schenkt; als Ersatz dafür von dem Galeriedirektor einen alten Schinken erhält, unter dessen Übermalung ein echter van Dyck zum Vorschein kommt: das ist der wesentliche Inhalt einer Komödie Die Venus mit dem Papagei von Lothar Schmidt und Emil Schäffer, die sich (ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen) schon auf dem Zettel als ‚keine erotische Komödie’ ausgibt. – Scherzhafterweise fand sie in Berlin ihre erste Aufführung just an demselben Tage, an dem die Zeitungen von der Neuordnung der Nationalgalerie berichteten. Und es ist nicht ohne eine gewisse Pikanterie, für die man auch fern vom Schuß vielleicht Verständnis hat, daß die Satire auf den Kunstsnobismus der Käufer und die Fehlbarkeit der Kunstpäpste im Kgl. Schauspielhaus gespielt wurde. Wenn der Kaiser zufällig dagewesen wäre! Zittre, Byzanz! Es hätte einen skurrilen Skandal, aber auch ein homerisches Hallo geben können. – […] Das große Publikum allerdings wird nicht so ganz auf seine Kosten kommen; denn drei Akte, in denen von nichts anderem als von Kunst geredet wird und in die auch nicht die kleinste Liebesszene eingeschmuggelt ist, sind schwerlich nach seinem Geschmack. (Selbst Geheimrätinnen lechzen nach erotischer Abwechslung.) Dafür haben die Auguren um so mehr Anlaß, zu lächeln. Sie wissen, daß sie sich in der Gesellschaft eines gewiegten Kenners befinden, und sie zwinkern sich vergnügt mit den Äuglein zu. Was hindert sie, an die Stelle van Dycks und einer fiktiven Venus mit dem Papagei Leonardo und die Flora-Büste zu setzen? Nirgends ist eine Inschrift zu lesen, die in Karlchens Frankfurter Mundart lauten würde: Nutzanwendungen sind verbode. – Ein etliche Jahre zurückliegendes Florentiner Erlebnis taucht in der Erinnerung auf. Mit einem bekannten Maler besuchte ich damals das Atelier eines Restaurateurs, dessen Spezialität es ist, alte Bilder täuschend ähnlich herzustellen. Wir waren sprachlos vor Erstaunen, bis zu welchem Grade die Nachahmung gelang. Mein Begleiter, der Maler, der wirklich etwas von dem Rummel versteht und nicht leicht hinters Licht zu führen ist, ließ sich haarklein auseinandersetzen, mit welchen technischen Mitteln der Betrug ausgeführt wird. Und nachdem er eingehendste Belehrung erfahren hatte, war er nicht imstande, als die Bilder vertauscht wurden, die Kopie vom Original zu unterscheiden. So vollendet werden heute Fälschungen angefertigt; besonders in Amerika, wo die Nachfrage am stärksten ist, finden sie willige und kaufkräftige Abnehmer. – Es ist darum nicht übertrieben, wenn ein amerikanischer Kunsthändler in der Komödie den Satz ausspricht, in dem Jahrhundert nach van Dycks Tode seien mehr Bilder von ihm entstanden, als er bei Lebzeiten gemalt habe. Wissen wir doch, daß in Amerika mehr echte Corots existieren, als er je gemalt hat. Auch sonst fehlt es nicht an boshaften Bemerkungen, die den Kunstmarkt und die vielgepriesene Kunstkennerschaft witzig aufs Korn nehmen. […] – Das vielfach amüsante Kunst-Stück bleibt ein prächtiges Festspiel für jeden Kunsthistorikertag. Da würden sich die Auguren vor Lachen ausschütten.“

Berliner Theater. NZZ, 26. März 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 453.
Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie (Lessing-Theater, 20.03.14). – „Herr Victor Barnowsky, Brahms Nachfolger am Lessing-Theater, ist auf Gebietserweiterung bedacht. Er will sich nicht, wie sein bis zur Zaghaftigkeit enthaltsamer Vorgänger, auf das beschränken, was er kann; strebt nach Höherem und muß sich einstweilen auf die Trostsprüche des Properz und Ovid verlassen, die schon das Wollen prämieren. […] Sein erster Vorstoß in klassisches Revier galt Goethes Iphigenie, die sich empfohlen haben mag, weil sie nur fünf Schauspieler benötigt. Allein je geringer die Anzahl, desto sorgfältiger die Auslese der Künstler; läßt sich höchste Kultur des Geistes von ihnen nicht fordern, so muß man doch höchste Kultur der Sprache verlangen. – […] Es ist bezeichnend für neuberlinische Bühnenverhältnisse, daß das Lessing-Theater nicht einmal fünf Schauspieler aus seinen eigenen Reihen stellen kann. Es muß sich einen Orest aus Stuttgart, einen Arkas aus Leipzig verschreiben. Niemand zwingt Herrn Barnowsky, nach klassischen Kränzen zu greifen; aber wenn ihn sein Betätigungsdrang auf diese Bahn treibt, sollte ihn wenigstens die Klugheit davor bewahren, der Vollständigkeit seines Personals ein solches Armutszeugnis auszustellen. – Ein ganz Schlauer mag für die Aufführung der Iphigenie im Lessing-Theater die Richtschnur gezogen haben: es gab schon Kammerspiele vor dem Kammerspielhaus. Iphigenie und Tasso sind dramatische Kammermusik von edelstem Geblüt. Wir wollen also dämpfen und noch einmal dämpfen und noch einmal dämpfen. Das schien die Parole. Vor lauter Dämpfern vergaß man nur eins: den Dampf. Statt die dramatischen Funken aus der Asche hervorzuholen und anzublasen, streute man Asche auf die Häupter und schuf eine Atmosphäre der Beklommenheit, als wäre der Aschermittwoch schon Hellenen und Skythen bekannt gewesen. Wo die Sordine in Permanenz herrschte, konnte die Monotonie nicht ausbleiben, und allmählich, aber unausweichlich verbreitete sich eine durch nichts getrübte larmoyante Stimmung. War es denn durchaus nötig, den alten Goethe als langweilig abzustempeln? […] – Doch als schlimmstes Gebrechen enthüllte sich die mangelnde Sprachtechnik der Darsteller. Man sollte denken, es könne nicht allzu schwer sein, ein Quintett menschlicher Stimmen so abzustimmen, daß es einen Klang ergibt. Was müssen das für unmusikalische Naturen sein, die auf den Proben nicht merkten, wie wenig die fünf Instrumente zusammengingen! Ließ man schon die dramatischen Werte des Gedichts in der Asche stecken, so hätte man zum mindesten seine musikalischen Werte heben müssen. Aber wie kann Musik über die Rampe quillen, wenn den Schauspielern die Worte nicht aus dem Gehege der Zähne dringen? […] – Nach diesem recht mißglückten Versuch wird es dem Direktor des Lessing-Theaters einleuchten, daß es leichter ist, eine Bauernkomödie von Ludwig Ganghofer im Palais des Kronprinzen zu inszenieren, als im Reiche des Stildramas mit Ehren zu bestehen.“

Berliner Theater. NZZ, 2. April 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 496.
George Cochrane Hazelton u. J. Harry Benrimo, Die gelbe Jacke (Kammerspiele, 30.03.14). – „Im Sommer des vorigen Jahres sah ich in London ein Schauspiel aus dem Chinesischen Die gelbe Jacke von George Hazelton und Benrimo. Mein erster Gedanke war: Reinhardt; mein zweiter: lieber nicht. Folgendes war mir durch den Kopf gegangen: die exotische Aufmachung, das groteske Drum und Dran, die Primitivität der Szene verbunden mit äußerster Pracht der Gewänder – das alles mag farbenfrohen, rerum novarum cupidissimum Bühnenpotentaten an der Spree locken; aber es ist nicht zu fürchten, daß er seine bessere Einsicht von diesem optischen Klimbim hinters Licht führen lassen wird. Ethnographische Spielereien gehören vielleicht in das hurtig aufgeschlagene Bretterhaus einer kunstgewerblichen Ausstellung, aber nimmermehr in ein ständiges Bühnenhaus, das der vorgeschrittensten dramatischen Kunst dient oder zu dienen geschaffen wurde und berufen ist. So überlegte ich… – Doch der Mensch denkt, und von Reinhardt wird ihm nichts geschenkt, was sich irgendwie anspruchsvoll, neuartig, verblüffend im Äußern gibt. Das Schwerbegreifliche ist tatsächlich eingetroffen: Die gelbe Jacke kam nach Berlin – nicht etwa zu Ferdinand Bonn oder seines Geistes Nachfolger, sondern die Kammerspiele, in deren Vorraum die Büsten Ibsens und Strindbergs stehen, gewährten ihr eine Heimstätte, und Max Reinhardt selbst, der sonst mit Vorliebe bei Shakespeare weilt, glaubte sich dafür einsetzen zu müssen. – […] Bei Reinhardt dauerte der Firlefanz drei und eine halbe Stunde. Wie immer konnte man des Guten nicht genug tun. Mit dem einzigen Effekt, daß die Zuschauer, die anfangs willig auf die befremdlichen Reize des Milieus eingingen, übersättigt und übermüdet wurden. Ein Witz wird bekanntlich nicht besser, wenn man ihn dreimal hintereinander erzählt, und Tricks, die sich beständig wiederholen, haben nur die eine Wirkung, daß sie verstimmen.“

Berliner Theater. NZZ, 6. April 1914, Drittes Mittagblatt, Nr. 522.
Hans Kyser, Erziehung zur Liebe (Deutsches Künstler-Theater, 31.03.14). – „Bisher schien an Hans Kyser der Wille zur Kunst stärker als das Können; die Sehnsucht greifbarer als die Erfüllung; das Gären ausgesprochener als das Bescheren. Er reckte in schmerzlicher Verzückung die Hand zum Himmel empor und griff ein Blatt von Hebbels Ruhmeskranze. Er wollte die höchsten Gipfel der Tragödie erstürmen und drang keuchend bis zu mittleren Spitzen vor. Nun ist er mit seinem ernsten Spiel Erziehung zur Liebe ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg zum Ziele, das er sich gewiß nicht niedrig setzt. Noch sind auch hier nicht alle Blütenträume gereift. Aber es bleibt nicht bei der krampfhaften Gebärde; man spürt durch den brausenden Wortschwall hindurch, in dem seltsam verworrenen Gemisch von Leben und Literatur den Dichter. Einen Dichter mit Theaterblut in den Adern. – Von der Liebe eines (einundzwanzigjährigen) Primaners zur (achtunddreißigjährigen) Frau seines Lehrers und Pensionsvaters handelt das Stück. […] Starkes, warmes Leben pulst durch die Leidenschaft, die über der reifen Frau und dem unreifen Jüngling zusammenschlägt. Wer da mit den gesetzlich fixierten Normalempfindungen kommen wollte und von Begriffen wie ‚Schuld’ und ‚Ehebruch’ nicht abstrahieren kann, der bliebe besser dieser Dichtung fern. Die überströmende Seligkeit holden Jugendglückes ist köstlich eingefangen. Doch Kyser steckt noch mit einem Fuße in der Literatur. […] Und viel Literatur macht sich in der oft blumigen Sprache breit. Da steht unmittelbar Empfundenes neben ganz papiernen Wendungen. […] – Aber wer dieses immerhin heikle Thema mit so kräftigem Griff zu zwingen weiß, vor dessen dichterischen Fähigkeiten muß jeder billige Spott verstummen. Die Zensur, die anfänglich der öffentlichen Aufführung des Werkes Bedenken entgegenbrachte, war klug genug, das Verbot zurückzuziehen. Wir sind ihr doppelt dafür dankbar, denn das Deutsche Künstlertheater erhob sich in einer teilweise wundervollen, von Rudolf Rittner inszenierten Vorstellung zu dem Range, den Brahms Diadochen leider nicht immer behauptet haben. […] – Das Werk fand einen vollen Erfolg, und Hans Kyser durfte zum Schluß für stürmischen Beifall mehrmals danken.“

Berliner Theater. NZZ, 16. April 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 575.
August Strindberg, Der Scheiterhaufen (Deutsches Theater, 09.04.14); Harry M. Vernon u. Harold Owen, Mr Wu (Theater in der Königgrätzer Straße, 11.04.14); Carl Rößler, Rösselsprung (Lessing-Theater, 12.04.14). – Zu Strindberg: „Über August Strindbergs Kammerspiel Der Scheiterhaufen habe ich mit fröstelnder Bewunderung in der Nummer vom 26. Dezember 1911 hier gesprochen. Nur über die seltsamen Umstände, unter denen dieses Drama gehäufter Scheusäligkeiten wieder auftauchte, bleiben noch einige Worte zu sagen. Reinhardt spielte es ‚vor geladenem Publikum’ im Deutschen Theater, teilweise sogar in derselben Besetzung (mit Frau Bertens und Herrn Abel), die wir in einer öffentlichen Vorstellung, unter der Regie des mittlerweile unrühmlich verschollenen Herrn Lantz, vor mehr als zwei Jahren im Lessing-Theater gesehen hatten. Es wurde nicht recht verständlich, was mit diesem befremdlichen Ausschluß der Öffentlichkeit bezweckt werden sollte, sofern es keine ungewöhnliche Art der Reklame war. Um so weniger, als das Werk nun, für jedermann zugänglich, in die Kammerspiele übersiedelt. Die auffallende Flucht in die Unöffentlichkeit wird nicht einmal durch den noch auffallenderen Protest des Strindberg-Übersetzers erklärt. Herr Emil Schering wollte nämlich nicht, daß der Scheiterhaufen an einer so weithin sichtbaren, exponierten Stelle in Szene ging […]. Die ganze Sache ist recht ungeklärt, überdies unbeträchtlich und als Lockmittel von zweifelhaftem Wert, da der Geschmack des übersättigten Großstadtpublikums an der Schwelle des Frühlings so ‚ekle, schaudervolle Speise’ [Goethe, Iphigenie] gründlichst perhorresziert.“ – Zu dem Melodrama Mr Wu: „So etwas von grober Spannung hat man hierzulande schon lange nicht erlebt. Nach einem ranzig-lyrischen Einleitungsakt, der das Schicksal der Geisha auf China überträgt, regnet es Handlungseffekte knüppeldick, nervenzerrend, ohne Pardon. Ein wenig Rassenhaß und west-östliche Gegensätzlichkeit fließt auch mit ein. – […] Eine gütige Fügung hat uns bis jetzt vor so knalligem Import von Jenseits des Kanals bewahrt. Dabei soll durchaus nicht verkannt werden, daß es einer gewissen technischen Geschicklichkeit bedarf, die Spannung zwei Akte lang wach zu halten. Aber rohe Filmwirkungen haben mit Kunst nicht das Geringste zu tun. Man macht sie uns auch durch die vollendetste Aufführung (und sie war in diesem Falle fast stilwidrig gut) kaum erträglicher; im Gegenteil: echte Künstler sind für solches Zeug wirklich zu schade. Schwamm drüber!“ – Zu Rößlers Lustspiel: „Das ist ein dritter Aufguß von Bemerkungen zum Thema Liebe und Spiel. Schon den Titel hat die Verlegenheit geboren. Weil zufällig ein Schachbrett auf dem Tisch steht und die junge Frau sich in einem Zickzackkurs der Herzensneigungen bewegt, wird das Gleichnis vom Rösselsprung gewählt. Mit ebenso viel Berechtigung könnte man ‚Gardez!’ vorschlagen. […] Rößler dachte offenbar, er könne auf den Lorbeeren einer Rothschildiade gemächlich ausruhen und von den Zinsen seines Riesenkapitals an Beliebtheit zehren; aber es zeigt sich auch hier wieder, daß der Dramatiker seinen Platz jedesmal aufs neue erobern muß, wenn er ihn behaupten will. Es gab einen flauen Erfolg […].“

Berliner Theater. NZZ, 22. April 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 610.
August Strindberg, Nach Damaskus. Teil I (Lessing-Theater, 17.04.14). – „Nachdem man vor August Strindberg tief den Hut gezogen und ihn als stärkste geistige Potenz, als einen intellektuellen Goliath willig anerkannt; nachdem man den uneigennützigen Bestrebungen der Berliner Bühnenleiter, ihn einzubürgern, sein Kompliment nicht versagt hat, braucht man mit einem ceterum censeo nicht zurückzuhalten: es ist jetzt an der Zeit, ihn abzulehnen. Solange er lebte und im Schatten Ibsens um eine Stellung rang, mußte man ihn fördern; nun, da er ausgerungen und eine Macht zu werden droht, darf man ihn bekämpfen. Nicht aus Philistrosität; nicht aus der dem satten Bürger eigenen Scheu vor der Berührung mit Unerquicklichem; nicht aus lauer Schönfärberei, sondern aus geistigem Antagonismus. – Wenn alles für Strindberg gesagt ist, muß man immer wieder hervorheben, daß sein dramatisches Lebenswerk, das als eine große Beichte anzusprechen ist, keine Botschaft an die Menschheit, an eine künftige Menschheit hat. Trotzdem er zum Schluß mit wahrhaft frommem Augenaufschlag beim Evangelium landet, ist seines Gesamtschaffens Generalbaß ein Dysangelion. Zwei Perioden sondern sich scharf voneinander ab: die erste, in der er Ideale zertrümmert, Tafeln zerbricht, Illusionen zertritt – mit einem Wort: die negative. Fast ohne Übergang, unvermittelt, abrupt schließt sich daran jene zweite an, in der er alles Heil vom Glauben erwartete, zum Christentum flüchtete und mit Hilfe des Erlösers selbst ein Erlöser, weil ein Erlöster, zu werden hoffte. […] – Doch diese entschlossene Umkehr, diese durchgreifende Reaktion enthüllt letzten Endes nichts anderes als das Bild eines aufrührerischen Geistes im Zustand des Verfalls. Wenn ein aufrechter Mensch wie Strindberg, dessen Riesengeist weit über Menschliches hinausragte, sich als Schiffbrüchiger in den Hafen der Religion rettet und winselnd zu Kreuze, zum Kreuze kriecht, so erfüllt dieser Anblick mit unsäglicher Trauer. Die auf den geistigen Fortschritt bedachte Menschheit, die aus Religion sich der Religionen zu erwehren sucht, wird durch einen solchen Apostaten zurückgeschleudert. Darum aller erbitterter Kampf, aller prometheischer Trotz, aller titanischer Haß, alles blinde Wüten und besessene Einreißen, um schließlich bei einer zweifelhaften Übereinkunft zu landen, um von dem Glauben die irdische Seligkeit zu heischen! Nein, solange wir noch intakt sind, wollen wir uns mit Händen und Füßen, mit Leib und Seele dagegen sträuben. – Strindbergs beide Seelen, die nivellierend irdische und die verstiegen himmlische, spiegeln sich in dem Werke Nach Damaskus, dessen ersten Teil das Lessing-Theater mit außerordentlichem Gelingen aufführte. […] – Die Aufführung des Lessing-Theaters gehörte zum Allerbesten, was Direktor Barnowsky früher im Kleinen Theater gezeigt hat, und erhob sich weit über das, was er an der neuen Stelle bisher unternahm. Einige Bilder, etwa das visionäre Asyl, werden in ihrer diskreten Eindringlichkeit unvergeßlich bleiben. Für den ‚Unbekannten’ hatte man Friedrich Kayßler zur Verfügung. Es wird wenig Schauspieler geben, die diese faustische Rolle mit so starkem Intellekt zu umspannen und dialektisch zu bewältigen vermögen. Lina Lossen wirkte wie immer durch ihre bis zur Verklärtheit abgeklärte Weiblichkeit. Daneben boten Ilka Grüning als zelotische Mutter und Herr Schroth als der unheimliche Arzt Gestalten von schärfster Prägung, und namentlich Herr Kurt Götz stellte einen Irren mit erschütternder Wahrheit dar. – Vielleicht war es, trotzdem man sich der Dichtung gegenüber völlig ablehnend verhalten konnte, der interessanteste Theaterabend dieser Spielzeit. Und trotzdem dramatisch, wie meistens bei Strindberg, kaum etwas gestaltet und die Handlung durch eine Wandlung ersetzt ist, erlahmte die Anteilnahme, von Ideen geschürt, keinen Augenblick. Man wird sich nicht gerne, doch lange dieser denkwürdigen Vorstellung erinnern.“

Berliner Theater. NZZ, 28. April 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 645.
Hans Müller-Schlösser, Schneider Wibbel (Deutsches Künstler-Theater, 24.04.14). – „Wenn es Frühling wird, liegt es den Theatern näher, nach Köln zu gehen, wo Karneval und Kasperle zu Hause sind, als – nach Damaskus [s.o. NZZ vom 22.04.14, Nr. 610]. – Auch das Deutsche Künstlertheater wollte uns einmal mit rheinischer Faschingslaune kommen und holte sich zu diesem Zwecke den Schneider Wibbel von Hans Müller-Schlösser – eine Komödie, die in Westdeutschland harmlos-heitere Gemüter weidlich ergötzt hat. In Berlin sind die Geister anspruchsvoller und skeptischer; der schallende Erfolg, den das Stück am Rhein überall eingeheimst hat, war an der Spree, dem Temperament und der Einsicht der Bevölkerung entsprechend, wesentlich kühler, doch immer noch wohlwollend genug.“

Berliner Theater. NZZ, 30. April 1914, Zweites Morgenblatt, Nr. 655.
Korfiz Holm, Marys großes Herz (Kleines Theater, 25.04.14). – „Ursprünglich war Agnes Sorma, die lange und schmerzlich Entbehrte, in den Kammerspielen für Marys großes Herz von Korfiz Holm ausersehen. Das hätte ein Fest werden können. Ein Augenaufschlag von ihr hätte die Komödie adeln, ein Lächeln von ihr Glanz verbreiten, der Klang ihrer Stimme wie Musik nachhallen können. Es hat nicht sollen sein. […] – Für München war es seinerzeit ein lokales Ereignis, weil man das Modell der alternden Frau mit den zahllosen jugendlichen Liebhabern zu kennen glaubte. Berlin war genötigt, auf so pikante Nebenumstände zu verzichten. Man verwischte sogar – la recherche de la localité est interdite – die Spuren des süddeutschen Schauplatzes, indem man die Herren Offiziere in österreichische Uniformen steckte. Es wäre sonst nicht auszudenken, welche Komplikationen hätten entstehen können. Am Ende wäre gar eine Berlinerin auf den Gedanken verfallen, als das Urbild des weiblichen Casanova in Anspruch genommen zu werden. – Was sonach übrig blieb, war schal – eine bürgerliche Frivolität ohne französischen Witz, ohne Pariser Grazie, ohne gallischen Zynismus, ohne Boulevard-Blague. […] Für Frau Mary hatte man sich die Schauspielerin Marietta Olly aus München verschrieben, die der Rolle mit robuster, rescher Routine zuleibe rückte, unendliche Sehnsucht nach Agnes Sorma erweckend.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Mai 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 663.
Max Halbe, Freiheit (Kammerspiele, 28.04.14). – „Auf dem Zettel stand als Verfasser des Schauspiels von 1812 Freiheit – Max Halbe. War er es auch wirklich? Ist jeder Irrtum ausgeschlossen, jede Namensverwechslung unmöglich? Das handfeste Theaterstück könnte aus dem Nachlaß weiland Wildenbruchs sein. Doch der hätte in seinem teutonischen furor mit ganz anderm Schwung und Überschwang gegen das korsische Ungeheuer gewettert. Man fühlt sich versucht, an Gustav Nieritz zu denken, den beliebten Erzähler für das Volk und die Jugend. Es ist Geist von seinem Geiste, den der beliebte Dichter der Jugend und der Mutter Erde recht jugendlich, doch gar nicht erdhaft dramatisiert hat. – Welch eine Wendung durch Gottes Führung! Max Halbe, der einst in der Avantgarde der Naturalisten wacker mitmarschierte, begibt sich freiwillig in die Nachhut der Säkulardichterlinge, die aus großen politischen Geschehnissen ihre kleinen poetischen Geschichten machen. Schraubt sich zum Duodezformat des Epigonen herab. […] – Ginge es nicht um Germaniens Befreiung von dem Joche des ‚fränkischen Attila’, man genierte sich nicht, auf der Bank der Spötter Platz zu nehmen. Doch die edle Begeisterung des Poeten weist so ruchloses Beginnen in die Schranken zurück. Kein Haar soll ihm gekrümmt werden. Er hat sich an einer heiligen Sache inspiriert. Schade nur, daß die Inspiration so einseitig geblieben ist und nicht auch die Zuhörer ergreift.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Mai 1914, Erstes Abendblatt, Nr. 688.
Karl Vollmoeller (Musik Engelbert Humperdinck), Das Mirakel (Zirkus Busch, 30.04.14). – „Zehn Jahre sind es her, da führte Max Reinhardt, noch von keinem Weltruhm beschwert, im Neuen Theater Maeterlincks Legende Schwester Beatrix auf. Von dem vielen Unvergeßlichen, das er damals in seines Könnens Maienblüte bot, ist es vielleicht das Unvergeßlichste. […] In Reinhardts Inszenierung bekam dies hohe, holde Wunder etwas von religiöser Weihe; das profane Theater wandelte sich in einen Tempel, aus dem man erhobenen Herzens, selig durch die Kunst davonging. Das war ein Bühnenweihfestspiel (fern von Bayreuth), und wir streuten willig Weihrauch … [s.o. NZZ vom 23.02.04, Nr. 54]. – Zehn Jahre sind es her – wie ein Tag, der gestern gewesen. Unvergessen; unvergeßlich. Inzwischen ist der junge Bühnenleiter, der damals auf der zweiten Sprosse der Ruhmesleiter stand, zu einem Barnum des Welttheaters geworden. Sein Name hat in Europa Geltung; Amerika sogar läßt sich von diesem Napoleon der Bretter imponieren. Der Schöpfer der Kammerspiele trägt die Sehnsucht nach einem Theater der Fünftausend (riesengroß – hoffnungslos!) im Herzen. Das Intime und das Gigantische sind ihm gleich vertraut. So mag es ihn gelockt haben, das Rosenwunder, das vor einem Jahrzehnt wenige Auserwählte bezwang, in den Riesenraum des Zirkus zu verlegen und die Massen damit zur Andacht zu stimmen. – Auf diese Weise entstand Das Mirakel. Nicht aus poetischer Inspiration geboren, sondern im Auftrag eines Unternehmers geschaffen. Mehr ein Werk des Geschäftskalküls als künstlerischer Intuition. […] Aber wie man von dem Dichter gesagt hat, er werde geboren, lasse sich jedoch nicht künstlich hervorbringen, so darf man kühn behaupten: miraculum nascitur, non fit. Darin liegt alle Kritik an der Zirkus-Pantomime beschlossen. […] Die Skeptiker konnten ein Gefühl nicht unterdrücken, daß es sich hier um einen grandiosen Humbug handelte, wobei man, je nach Veranlagung, den Ton entweder auf grandios oder auf Humbug legen kann.“

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1914 / 1915

Berliner Brief. NZZ, 14. September 1914, Morgenblatt, Nr. 1313.
Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (Deutsches Theater, 28.08.14); Otto Ludwig, Die Torgauer Heide (Lessing-Theater, 02.09.14). - „Nichts von Kunstschwatz. Die Zeiten sind schlecht dazu angetan. Wenn die Kanonen donnern, daß der Erdball erdröhnt, sind die Kamöen im Exil, und aus den Chariten werden Samariterinnen. - Jetzt handelt es sich nicht um die ästhetische Würdigung neuer Bühnenwerke, sondern um die wirtschaftliche Existenz der Theater. Um Sein oder Nichtsein. Werden sie im Daseinskampf mit dem Kriege sich behaupten können? Hunderte von Schauspielern sollen versorgt werden. Bleibt das Publikum aus, so würden sie bald brotlos sein. Und zu dem Heere von Arbeitslosen, das an allen Enden der Großstadt emporschießt, käme eine neue Genietruppe hinzu. - Soll man ins Theater gehen? Die Frage wird jetzt eifrig erörtert. Zweierlei gehört dazu: Geld und Stimmung. Die Eintrittspreise sind, mit Rücksicht auf die allgemeine Lage, beträchtlich ermäßigt (auf die Hälfte etwa). Trotzdem: drei Mark für einen Kunstgenuß bedeuten im Bewußtsein vieler Bürger heutzutage eine respektable Ausgabe; sie mag manchen fast eine Verschwendung scheinen, wenn die Vorstellung daran haftet, daß dreißig darbende Menschen sich für diesen Beitrag satt essen könnten. Auch das wird ihr Gewissen kaum beruhigen, daß zehn Prozent der Einnahme an das Rote Kreuz gegeben werden. - Nicht minder wichtig ist die Stimmung. Man geht nicht ins Theater, wenn man sich nicht dazu aufgelegt fühlt. Sollte es wenigstens heute nicht. Wie lange noch, und Tausende von Familien, die um das Wohl eines teuren Mitgliedes zittern, haben seinen Verlust zu beklagen. - Soll man ins Theater gehen? Die Frage wird entschieden bejaht. Mit Hinweis auf die edle Mission der Kunst […]. Die Menschen brauchen in diesen schweren Zeiten Zerstreuung und Erhebung; von der Kunst erwartet man solche Dienste. Kriegsjahre seien immer gute Theaterjahre gewesen, liest man in den Zeitungen. An 1806 und 1870 wird erinnert, wie da die Siege von der Bühne herab verkündet wurden. Hoffen wir zuversichtlich, daß 1914 keine Ausnahme sein möge. Wissen kann es freilich vorläufig niemand. […] - Wie rückt jetzt alles in andere Beleuchtung! Eine seltsame Umwertung der dichterischen Werte findet statt. Der Begriff ,literarisch’ hat kein Daseinsrecht mehr. Gut ist, was packt, was die Stimmung des Augenblicks erfaßt. Der beste und der gelesenste deutsche Schriftsteller ist zurzeit der Generalquartiermeister von Stein. Sein Stil hat allerdings unbestreitbare Vorzüge und ist von einer Knappheit des Ausdrucks, um die ihn mancher Berufsschriftsteller beneiden dürfte. - Jeder kann nur von sich aus beobachten und seine Eindrücke möglichst unverfälscht wiedergeben. Ich will hier einige Erfahrungen aufzeichnen, die ich letzthin gemacht habe. In der Eröffnungsvorstellung des Deutschen Theaters, wo Prinz Friedrich von Homburg, und in der Eröffnungsvorstellung des Lessing-Theaters, wo Otto Ludwigs belangloses Fragment Die Torgauer Heide gegeben wurde. - Kleists vaterländisches Schauspiel, das uns den menschlichsten Helden vorführt, ist mir in normalen Zeiten ans Herz gewachsen. Jetzt mußte ich schmerzlich gewahren, daß es mich vielfach fremd berührte. Der romantische Nachtwandler, so liebenswert er sonst ist, erregte mitunter ein Kopfschütteln. […] Und eine so wundervolle Erfindung des Dichters es ist, den Sieger von Fehrbellin im Angesicht seines Grabes schaudern zu lassen: sie wird wunderlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Millionen gemeiner Soldaten den sicheren Tod vor Augen haben und nicht mit der Wimper zucken dürfen. Unnötig zu sagen, daß dagegen alle Stellen, die eine Beziehung zur Gegenwart hatten, mächtig einschlugen. Wenn die Prinzessin Natalie die herrliche Zukunft Brandenburgs ausmalt, so muß diese Prophezeiung - kein billiges vaticinium post eventum - jubelnden Beifall wecken. Und wenn zum Schluß der Ruf ‚In Staub mit allen Feinden Brandenburgs’ erschallt, so fallen im Nu die Schranken zwischen Bühne und Zuschauerraum. Am meisten erschüttert hat mich aber doch der Kanonendonner hinter der Szene - so pocht das Schicksal an die Pforte. - Im Lessing-Theater, wo es ein gemischtes Programm gab, wurden zu Beginn patriotische Gedichte vorgetragen. Dabei stellte sich heraus, daß Theodor Fontane mit seinem Einschlag von weltmännischer Ironie und seiner sorgsam gehüteten Gefühlsdistanz keine zündende Gewalt besitzt. Goethes rein epische Schilderung der Flüchtlinge im ersten Gesang von Hermann und Dorothea war ein Fehlgriff: wir sind zu nervös erregt, um das gemächliche Andante solcher Detailmalerei zu ertragen. […] Klassisch ist jetzt, was zündet; die Klassiker mögen, wenn sie der bewegten Stunde nicht dienen, für bessere Tage aufbewahrt bleiben. - Auch der klassische Nachzügler Otto Ludwig vermochte sich nicht recht durchzusetzen. Seinem friederizianischen Lagerbild gebricht es zu sehr am volkstümlichen Schwung und ungebrochenen Pathos seines Schillerschen Vorbilds. Von unmittelbarer Wirkung war nur der Schluß, als die Soldaten den Choral ,Nun danket alle Gott’ anstimmen. Da fiel das Publikum tief ergriffen ein. - Aber was will das alles gegen den Jubel besagen, der wie ein Naturereignis losbrach, als der Schauspieler Friedrich Kayßler von der Bühne herab einen neuen Sieg unserer Truppen in den ureigenen Worten des Herrn von Stein vorlas! Das miterlebt zu haben, war eine Lust; es wäre kein Verlust gewesen, hätte man alles andere versäumt.“

Berliner Brief. NZZ, 27. September 1914, Erstes Sonntagblatt, Nr. 1354.
Adolf L'Arronge, Mein Leopold (Lessing-Theater, 19.09.14). - „Wir alle sind jetzt Monomanen. Von einem Gedanken beherrscht, bezwungen, besessen; von einem Gefühl erfüllt. Unser ganzes Wesen rotiert um die eine Vorstellung, die eine Empfindung: Krieg. Sonderinteressen und Privatneigungen haben fürder kein Daseinsrecht. Alle Handlungen, Wünsche, Pläne, Hoffnungen sind von der eigenen Person losgelöst und dem gemeinsamen Wohl untergeordnet. - […] Während draußen im Felde Ungezählte verbluten, für uns verbluten, lassen wir uns etwas vorgaukeln auf den Brettern, die weniger denn je die Welt bedeuten, solange sie von Mars regiert wird. Wie ein Alp senkt sich dieser Widerspruch auf die Brust. - Am fühlbarsten wird er, wenn die Ereignisse der allerjüngsten Vergangenheit von fixen Fingern in die Bühnenhäuser gezerrt werden. Marodeure der Aktualität sind tätig und stutzen die Erlebnisse der letzten Wochen, an die wir ehrfurchtsvoll denken, zum tristen Amüsement eines Abends zurecht. Die Mobilmachung als Volksbelustigung - schade, daß sich derlei nicht durch den Paragraphen vom groben Unfug treffen läßt. Zwei solcher Machwerke wurden in all ihrer Peinlichkeit dargestellt oder vielmehr bloßgestellt. Wenn es danach überhaupt noch eine Steigerung gab, wurde sie im Lessing-Theater erzielt, als man L'Arronges abgestandenem Volksstück Mein Leopold, das aus dem Jahre 1873 stammt, durch zeitgemäße Einlagen auf die wackligen Beine zu helfen suchte. Nein, wirklich, das geht über den Spaß. Man sitzt da, hält sich die Augen zu und schämt sich. Man schämt sich, wenn eine verehrte Künstlerin ein Couplet über die neusten Siegesmeldungen zum besten geben muß.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Oktober 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 1384.
Die Verunsicherung bei der Spielplangestaltung; Wilhelm Schmidtbonn, 1914 und Friedrich von Schiller, Wallensteins Lager (Deutsches Theater, 25.09.14). - „Welche seltsamen Verwirrungen und Verirrungen der Krieg auch in künstlerischen Köpfen anrichtet, dafür sind jetzt Beispiele in Hülle und Fülle zu finden. Napoleons Ausspruch, daß vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt sei, erfährt fast täglich seine ästhetische Bestätigung. So wurde kürzlich Richard Wagner, der stärkste Kassenmagnet der populären Konzerte in London, von einem Programm in Queens Hall abgesetzt. Einige intakte englische Geister machten allerdings geltend, daß man nicht gegen die deutsche Musik Krieg führe, zumal nicht gegen die Werke eines toten Meisters. - Auch in Deutschland gibt es jetzt unversöhnliche Heißsporne, denen alles Fremdländische, besonders alles Englische, tabu ist. Selbst Shakespeare war vorübergehend auf den Index gesetzt. Jetzt wendet sich das Deutsche Theater in Berlin, das während der ganzen letzten Spielzeit fast ausschließlich von Shakespeare lebte, an eine Reihe bekannter Zeitgenossen mit der Rundfrage: ,Darf ein Theater, das sich in diesen Tagen der allgemeinen nationalen Erhebung seiner ernsten nationalen Aufgabe im tiefsten Sinne bewußt ist, Shakespeare spielen oder nicht?’ Einstimmig waren die Befragten (darunter der Reichskanzler, der Berliner Bürgermeister Georg Reicke, Gelehrte wie Harnack, Wilamowitz, Roethe, ein Künstler wie Max Liebermann und ein Publizist wie Maximilian Harden) der Ansicht, Shakespeare solle nach wie vor auf deutschen Bühnen gegeben werden, da er Gemeingut der Menschheit sei. Die beste Antwort auf diese Anfrage hat aber längst ein gewisser Friedrich Hebbel gegeben, der in seinen Tagebüchern (III, 39) notiert: ‚Man sollte so wenig von dem Engländer Shakespeare sprechen, als man von dem Juden Christus spricht.’ Ganz ähnlich hat sich auch Heinrich Heine im Vorwort zu seiner Abhandlung über Shakespeares Mädchen und Frauen ausgesprochen. - Einstweilen läßt man noch im Deutschen Theater Schiller zu seinem Rechte kommen. Die Wallenstein-Trilogie, vielleicht das großzügigste Kriegsbild unserer Literatur, befindet sich in Vorbereitung, und der farbige Prolog Wallensteins Lager machte in Max Reinhardts ungemein lebendiger Inszenierung den verheißungsvollen Anfang. - Da sich damit aber kein Abend füllen läßt, rief man einen zeitgenössischen Dichter zur Mitwirkung auf. Dem Schillerschen Prolog ging ein szenischer Prolog von Wilhelm Schmidtbonn voraus: 1914. Was wir eben klopfenden Herzens erlebt haben, tritt uns schon in poetischer Form entgegen; was noch in uns allen nachzittert, hat schon seinen dramatischen Niederschlag gefunden. […] Das wird in knapper, nirgends verwaschener, doch auch nicht durch besondere Eigenheit hervorstechender Sprache einfach und innerlich gesagt, muß aber natürlich hinter der myriadenhaften Wirklichkeit zurückbleiben, wie der Rauch einer Zigarette hinter der Feuersbrunst eines Dorfes. Wenn man vom Dichter heute nicht Distanz erwarten darf, so scheint sie beim Zuschauer unentbehrlich. Schmidtbonn ist zum Glück geschmackvoll genug, mit der brutalen Aktualität nicht wetteifern zu wollen; er symbolisiert vielmehr auf schlichte Weise welthistorische Vorgänge. So steht der Arbeiter für die Sozialdemokratie, der Fabrikherr für den Kapitalismus. Ganz einheitlich vermochte er diesen Ton nicht durchzuhalten: wenn zum Schluß der Rütlischwur erschallt, so wird aus einer Zeitstimmung bereitwillig Kapital geschlagen. Immerhin werden nicht mit unredlichen Mitteln billige Wirkungen angestrebt; und man muß heute schon zufrieden, ja dankbar sein, wenn das schwerste Geschütz der Völkerverhetzung nicht aufgefahren wird.“

Die Marketenderin. NZZ, 7. Oktober 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 1391.
Engelbert Humperdinck (Libretto Robert Misch), Die Marketenderin (Deutsches Opernhaus Charlottenburg, 28.09.14). - „Humperdinck hat zu dieser zweiaktigen Harmlosigkeit nur einige Nummern beigesteuert. Bekannte Soldatenlieder wie Hauffs ‚Morgenrot, Morgenrot’ und Körners ‚Du Schwert an meiner Linken’ liefern den kriegerischen Rahmen oder, wenn man will, das Zeitkolorit. Unter all diesen Mannschaften und vertrauten Klängen bewegt sich, bald neckisch, bald sinnig, die Marketenderin. Sie wirft die Beine flott in Marschrhythmus, nähert sich dem Walzertakt der Operette und wird in einem Liebeslied mit Glockenbegleitung gefühlvoll. Das alles kann ein gewiegter Musiker aus dem Ärmel schütteln. Mehr zu geben war diesmal Humperdinck nicht gegeben. Sollte ihn am Ende die Vorlage, in der so viel gesprochen wird und die so nichtssagend ist, eher inhibiert als inspiriert haben?“

Berliner Brief. NZZ, 13. Oktober 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 1413.
Hugo Müller (Neubearbeitung Fritz Friedmann-Frederich u. Walter Turszinsky), Gewonnene Herzen (Deutsches Künstler-Theater, 03.10.14). - „So geht es nicht! rief ich neulich an dieser Stelle [s.o. NZZ vom 27.09.14, Nr. 1354] aus den Tiefen meiner Seele, als das Lessing-Theater, wo früher Ibsen und Strindberg, der nie ernst zu nehmende Shaw und die ernst zu nehmenden deutschen Dramatiker ihre Heimstätte hatten, ein berlinisches Volksstück - keineswegs das schlechteste seiner Gattung - durch zeitgemäße Einlagen, Anspielungen, Couplets, Witzworte aufzufrischen suchte. Dem besseren, mitfühlenden, mitleidenden Hörer mußte sich das Herz im Leibe herumdrehen, als einige forsche Strophen auf den Landwehrmann, der jetzt draußen im Felde, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, furchtbaren Entbehrungen preisgegeben, sein Blut für die Heimat verspritzt, mit Musik und Tanz exekutiert wurden. Wahrhaftig, es ist eine Exekution. Eine grausame Hinrichtung. Eine schamlose Anrempelung unserer Gefühle. Merkt ihr denn nicht, daß unsere Empfindungen Spießruten laufen, wenn ihr das, was wir eben mit hämmernden Pulsen, zuckenden Herzen, zusammengekrampften Seelen durchlebt und durchbebt haben - wenn ihr das zum rohesten Amüsement herrichtet! Eine beklagenswerte Verirrung, nicht einmal durch die Not der Zeit entschuldigt. Man will den Schauspielern helfen, auf daß sie nicht brotlos werden, und glaubt, diesen Zweck durch möglichst engen Anschluß an die Ereignisse des Tages zu erreichen. Greift darum nicht zu so verwerflichen Mitteln. Schändet das Deutschtum nicht. Werdet nicht zu Verrätern an unserer künstlerischen Kultur, indem ihr auf die tiefste, auf die allertiefste Stufe herabsteigt. - Man wähnte arglos, es werde bei dieser einen Entgleisung sein Bewenden haben. Schließlich kann es den Bühnenleitern doch nicht verborgen bleiben, daß anständige Menschen - Menschen, die auf das Bedürfnis nach künstlerischer Erhebung auch in diesen Zeiten der Entartung nicht verzichten mögen -, durch eine unwürdige, von fixen Fingern vorgenommene Ausschlachtung des Aktuellen angewidert werden. - Und nun geht es an allen Ecken und Enden los. Wußte man anfangs nicht, was man spielen solle, so scheint man sich jetzt geeinigt zu haben, überall das gleiche zu spielen. Ein halbes Dutzend Theater greift mit einemmale zum Volksstück älteren oder neueren Datums, dem durch höchst moderne Zutaten ein gleißend frischer Anstrich gegeben wird. Es ist tief, tief bedauerlich. Was ist aus der mit Recht so bewunderten deutschen Theaterkultur, um die uns alle Völker beneiden, über Nacht geworden? Wohin hat sie sich verkrümelt? Statt die besten Dichter heranzuziehen, holt man elende Skribenten herbei, die die Pandorabüchse ihrer Geschmacklosigkeiten ohne Erbarmen über uns ausgießen. - Den Gipfel des Unerträglichen erstieg das Deutsche Künstlertheater, als es einen alten Schmarrn von Hugo Müller, Gewonnene Herzen, durch zwei Zeitgenossen (ihr Name sei in ewige Nacht getaucht) unter das Maschinengewehrfeuer der blutigsten Kalauer nehmen ließ. Hatte Hugo Müller bald nach dem Kriege 1870 die Verbrüderung von Nord und Süd melodramatisch ausgemünzt, so entdeckte jetzt ein Elsässer sein deutsches Herz. Selbstverständlich verfügt man heute über eine ganz andere Geschwindigkeit in der szenischen Bearbeitung: da bringt man schon die Schlacht von Tannenberg auf die Bühne. Zwei Akte habe ich, die Seekrankheit nach Kräften niederkämpfend, ertragen; dann suchte ich mein Heil in der Flucht. Wenn die Marodeure der Aktualität (so nannte ich sie kürzlich) ihr grauenvolles Handwerk fortsetzen, muß man auf Mittel sinnen, sich ihrer zu entledigen. Wie wäre es, wenn man sie in die vorderste Schlachtreihe stellte? Da verginge ihnen bald die Lust, das entsetzliche Blutbad der Weltgeschichte mit eklen Witzen zu begleiten. - So darf es nicht weiter gehen. Käme jetzt ein Ausländer nach Berlin und sähe sich diese verbotenen Machwerke an, er müßte an unserer vielgerühmten Theaterkultur irre werden. Müßte auf den frevlerischen Gedanken verfallen, was wir in Friedenszeiten geboten hätten, sei nur Tünche, literarische Heuchelei gewesen; der wahre Geschmack eines Volkes enthülle sich unter der Geißel des Kriegsgottes. Doch zum Glück könnten wir sein Urteil umstimmen: durch den Hinweis auf die Konzertsäle. Da wird Bach und Beethoven und Brahms gespielt. Da ist wirklich das Beste gerade gut genug, uns über den Ernst der Zeit für wenige Stunden hinwegzutragen. Da sitzt ein andächtiges Publikum und läßt sich von erhabenen Tönen die Seele durchschauern. Da wird ihm gereicht, wonach es lechzt: süßestes Vergessen, und keiner braucht, wie von den Furien gehetzt, mit brennender Scham zu flüchten. - Wie lange noch, Bühnenleiter, wollt ihr unsere Geduld mißbrauchen? Laßt es des grausamen Humors genug sein und besinnt euch endlich auf die Würde eurer künstlerischen Pflichten. Max Reinhardt geht mit leuchtendem Beispiel voraus. Und das Deutsche Theater ist im echtesten Sinne deutsch, wenn es auch jetzt, von keiner blöden völkischen Abgrenzung beirrt, nach wie vor seinen Shakespeare gibt.“

Berliner Theater. NZZ, 17. Oktober 1914, Morgenblatt, Nr. 1427.
Friedrich von Schiller, Die Piccolomini (Deutsches Theater, 09.10.14). - „Er kam aus Zürich, ward gesehen und siegte auf der ganzen Linie - Herr Paul Hartmann, der als Max Piccolomini in Reinhardts Neueinstudierung des Schillerschen Schauspiels einen außergewöhnlichen, durchaus verdienten Erfolg davontrug. […] Kurz, der Ankömmling bestand in Ehren neben den bewährten Künstlern des Deutschen Theaters und reihte sich auf den ersten Anhieb würdig in die Garde ein. Selten hat sich, wie übrigens einstimmig von der Kritik anerkannt wird, die Begabung eines jungen Darstellers so schnell in Berlin Bahn gebrochen. Man darf nach dieser rühmlichen Feuerprobe gespannt sein, ihn in weiteren Aufgaben kennen zu lernen.“

Der junge Medardus. Dramatische Historie von Arthur Schnitzler. (Erste Aufführung im Lessing-Theater zu Berlin am 24. Oktober.). NZZ, 4. November 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 1493.
„Arthur Schnitzler, der feinste Poet der Liebe in all ihren Variationen, hatte, wie die Kenner seiner Werke wissen, von jeher eine Vorliebe für den Krieg. Vielleicht ist es der Arzt in ihm, der sich für das Problem des Massensterbens wie des unfreiwilligen Sterbens interessiert. Aber er wird, den Kennern gleichfalls nicht unbekannt, merkwürdig geschwollen, unnatürlich theaterhaft, sobald er auf den Krieg kommt. In seinem szenisch stärksten, menschlich schwächsten Schauspiel Der Ruf des Lebens ist er wirklich mehr Sudermann als sein besseres Selbst; mehr auf Coups aus als auf Seelendeutung, die sonst seine Domäne. Dann vertauscht er den Silberstift, den seine zarte Hand delikat zu führen weiß, mit einem recht dicken Pinsel. Von dieser fatalen Neigung macht er sich hier nicht los. […] - Leider vermag uns Medardus Klär in keiner Beziehung tiefere Teilnahme abzuringen. Als er zum Schluß die Lüge wie ein echter deutscher Jüngling entrüstet von sich weist und dem sichern Verderben entgegenschreitet, sagt der General Rapp von ihm, als habe Fortinbras dem Dänenprinzen einen Nachruf zu widmen: ‚Gott wollte ihn zum Helden schaffen, der Lauf der Dinge machte einen Narren aus ihm.’ Damit wird ein Lieblingsthema der dramatischen Stoffwelt Arthur Schnitzlers angeschlagen und Medardus in die Galerie der halben Helden eingereiht. In Friedenszeiten hätte uns vielleicht der Entschluß zu einer großen Tat (Napoleons Ermordung) imponiert; heute, da alles auf die Tat gestellt ist, lassen wir uns mit dem guten Willen allein nicht abspeisen. Der Krieg übt eben auch an Kunstwerken eine grausame Korrektur. Der ‚Held’ Medardus von Hamletschem Geblüt bleibt ein Schwächling, selbst dann noch, wenn er seine private Racheaktion an der hochnäsigen Aristokratensippe mit einer weltgeschichtlichen Mission vertauscht, weil ihn die Verzweiflung über das Fehlschlagen seiner Pläne packt. Schnitzler selbst hat uns oft genug gelehrt, daß der Mut eines Desperado an sich nichts Bewunderungswürdiges ist. Mit Anstand leben scheint auf alle Fälle höhere sittliche Genugtuung zu gewähren als mit Anstand sterben. - Wie man sie auch betrachten mag, die Hauptfiguren dieser weitschichtigen Historie sind nicht zu retten. Dagegen steckt in dem Drum und Dran, dem Auf und Ab der Volksmenge, den Genreszenen und der Ausmalung des Alt-Wiener Milieus mancher reizvolle Zug. Am tiefsten prägt sich die Gestalt eines ‚uralten Herrn’ ein, der alles um sich herum ins Grab sinken sieht, schon jenseits der persönlichen Erlebnisse steht, von den Schrecken der Zeit nicht mehr gestreift wird und mit dem gesteigerten Selbsterhaltungstrieb des Greisenalters sich an das Dasein klammert. Daneben huscht ein phantastischer Arzt, wie aus E. T. A. Hoffmanns ‚Gespensterwelt', vorüber. Der Silberstift des Dichters Schnitzler schuf ein anmutig gemütvolles Kulturbild aus dem Wien der Basteien und der Bürgerwehr mit fein konturierten Volkstypen; der dicke Pinsel des Theatralikers Schnitzler suchte Anschluß an moderne Filmhandlungen und irrte von den ihm vertrauten Wegen weit ab.“

Berliner Theater. NZZ, 9. November 1914, Morgenblatt, Nr. 1512.
Gustaf av Geijerstam, Der große und der kleine Klaus (Deutsches Künstler-Theater, 29.10.14); August von Kotzebue, Die deutschen Kleinstädter (Kammerspiele, 30.10.14); Louis Angely, Das Fest der Handwerker / Familie Rüstig oder Der hundertjährige Greis (Kleines Theater, 31.10.14). - „Seltsam, welche Überraschungen man in dieser seltsamen Zeit erlebt! Nichts steht fest. Alle Maßstäbe schwanken. Ist schon für gewöhnlich die Bühnenwirksamkeit einer Dichtung ein unerforschbares Land, so scheint es jetzt von kimmerischer Finsternis erfüllt. - Da gibt das Deutsche Künstlertheater ein Märchenspiel von Gustaf af Geijerstam Der große und der kleine Klaus, den Kleinen wie den Großen durch Hans Christian Andersen vertraut, und man fühlt sich zwei Stunden angenehm unterhalten. Das ganz Unwirkliche vermag uns die Wirklichkeit vergessen zu lassen. […] Und es gefiel. Zumal in dem saubern Gewand des Deutschen Künstlertheaters, das selten einen glücklichern Abend hatte. […] Ich hatte vor diesem Märchenspiel die Empfindung, als habe ein höchst begabter Dilettant ganz kunstlos phantasiert, und fühlte mich entrückt. Es gibt größere Techniker, denen das jetzt nicht gelingt. - Ein Techniker, von den Zeitgenossen als Pyrotechniker angestaunt, war August von Kotzebue. Selbst der Groll unserer Klassiker vermochte seine Beliebtheit beim Publikum nicht zu erschüttern, und der Theaterdirektor Goethe mußte der Produktion des Vielgeschmähten einen breiten Raum in seinem Spielplan gönnen. Konnte ihn der Olympier nicht entbehren, so durfte Reinhardt einmal zu ihm herniedersteigen. Seine Wahl fiel auf die Deutschen Kleinstädter, und das innige Behagen, mit dem er der für uns zum Kostümscherz erstarrten Satire auf Titelsucht und Umstandskrämerei zu Leibe ging, war aus der quicken Aufführung der Kammerspiele deutlich zu spüren. Als besondere Würze mochte man es empfunden haben, daß die Rollen der alten Muhmen und Klatschbasen drei jugendlichen Liebhaberinnen übergeben waren. Die drei Gretchen als Hexen sozusagen. Else Heims mit Großmutterhaube und Brille; Lucie Höflich umfangreich wie eine Riesendame und keuchend vor Asthma; Leopoldine Konstantin mit runzligem Hals und angeblakten Zähnen: das war für die Stammgäste des Hauses ein überwältigend komischer Anblick. Ich halte es aber mit der Frau Untersteuereinnehmerin Staar bei Kotzebue: ‚Man muß dem lieben Gott nicht vorgreifen', und das die Zukunft vorwegnehmende ‚Eritis sicut -' soll man ruhig der Zeit überlassen. Auch sonst hatte Reinhardt manches getan, den abgestandenen Spaß aufzufrischen, wobei es nicht ohne Impromptus und Intermezzi, sogar zeitgemäße Anspielungen abging. - Gilt Kotzebue als der Ahnherr des deutschen Lustspiels, so darf man Louis Angely als den Ältervater des Berliner Volksstückes ansprechen. Sein Fest der Handwerker, eine wahre Fundgrube schlagkräftiger Berliner Redensarten, ist heute noch an urwüchsiger Volkstümlichkeit den zum einträglichen Industrieartikel herabgesunkenen modernen Possen weit überlegen, und in einem Liederspiel Familie Rüstig oder der hundertjährige Greis, worin vier Soldatengenerationen nebeneinander auf der Bühne stehen und ein Veteran aus der Hand eines Urenkels den verdienten Orden empfängt, verrät Angely neben seinem behenden Witz auch echtes Gemüt.“

Berliner Theater. NZZ, 24. November 1914, Morgenblatt, Nr. 1570.
Friedrich von Schiller, Wallensteins Tod (Deutsches Theater, 13.11.14); Emil Rosenow, Kater Lampe (Kgl. Schauspielhaus, 14.11.14). - „Als ich etwa vor Monatsfrist über die Neueinstudierung der Piccolomini im Deutschen Theater schrieb [s.o. NZZ vom 17.10.14, Nr. 1427], ward es ein kleiner Triumphbogen für Herrn Paul Hartmann, den Darsteller des Max. Der Bericht über Wallensteins Tod - das Schlußstück der Trilogie, das jetzt unter den üblichen Beifallssalven im Deutschen Theater folgte - sollte eine Siegessäule für Herrn Albert Bassermann werden. Er hatte die Gestalt des Kriegshelden mit solcher Schärfe des geistigen Ausdrucks angelegt, daß man in ihm einen idealen Wallenstein vermuten durfte. Zur vollen Höhe des Schillerschen Charakters ist er freilich infolge einer gewissen Gefühlssprödigkeit nicht emporgewachsen; doch braucht er schon jetzt den Vergleich mit keinem früheren Vertreter der Rolle zu scheuen. - Befremdlich wirkte an diesem böhmischen Condottiere zunächst die jugendliche Maske. […] Auch im Wesen war er reichlich um zehn Jahre zu jung. Die Lebhaftigkeit und die Nervosität der Bewegungen ließen eher an einen aufgeregten Herrn vom grünen Tisch denken als an einen Heerführer, der sich im Kugelregen eine unerschütterliche Ruhe angeeignet. […] - Doch das sind Äußerlichkeiten, zwar von dem Gesamtbilde unzertrennlich, aber im Grunde belanglos und leicht zu korrigieren. Schwerer ins Gewicht fällt Bassermanns konsequent beibehaltener süddeutscher Tonfall und seine leidige Angewohnheit, die Silben zu zerren. Im modernen Stück ist seine prononcierte Mannheimer Sprechmelodie gelegentlich ein Reiz; in der klassischen Dichtung wird sie auf die Dauer eine Plage. Was würde man zu einem Musiker sagen, dessen Instrument mit Absicht unrein gestimmt ist? Welches geschulte Ohr vermöchte das einen ganzen Abend lang zu ertragen? Kaum anders wirkt Bassermann, wenn er seine Soloverse  mit Pfälzer Heimatklängen vorträgt. Bei einem Künstler seines Kalibers gewöhnt sich der Hörer schließlich an alles, aber ein Ohrenschmaus ist es wahrhaftig nicht. […] - Zum Glück kann das Pluskonto des Künstlers mit gewichtigeren Posten aufwarten. Die geistige Energie, mit der er alle seine Rollen durchdringt, kam dem Friedländer in reichem Maße zugute. Es gibt keine toten Strecken bei ihm; noch in winzigen Einzelheiten vibriert Leben, und die Vehemenz, mit der er plötzlich einen Satz hervorschleudert, wirft gleichsam ein Blitzlicht in entlegene Winkel. So ersteht in Bassermanns ungemein plastischer Modellierung die Gestalt eines seine Umgebung überragenden Menschen - ich hätte beinahe gesagt: eines homme supérieure, der in jedem Augenblick die Situation beherrscht. Man fühlt sich im Banne einer Persönlichkeit, an deren intellektueller Überlegenheit kein Zweifel aufkommt. Dagegen tritt das Gefühlsmäßige stark zurück. Selbst in dem bewegten Abschied von dem geliebten Freunde bricht die Empfindung nicht wie ein warmer Quell hervor, sondern wagt sich nur stockend an die Oberfläche. Aus dem Charakter mag sich das begründen lassen, aus Schillers Absichten schwerlich. Überhaupt ist eine gewisse Schiller-Scheu für Bassermanns Wallenstein kennzeichnend. Um die Zitate macht er einen weiten Bogen, als fürchte er, sich dadurch zu banalisieren. Doch die Art, wie er seine Monologe und Erzählungen nie als epische Paradestücke behandelt, sie vielmehr seinen Zwecken unterordnet, ohne ihnen auf eine üble naturalistische Manier Gewalt anzutun, ist bewundernswert. Da kein Wallenstein vom Himmel fällt, darf man zuversichtlich hoffen, daß Bassermann seinem Herzog von Friedland die letzte Feile nicht schuldig bleiben wird.“ - Zur Inszenierung der Komödie Kater Lampe von Emil Rosenow im Kgl. Schauspielhaus: „Damit dürfte der erste Sozialdemokrat in die heiligen Hallen am Gendarmenmarkt eingezogen sein. Doch das Werk war bereits zur Aufführung erworben, ehe der Krieg die Parteiunterschiede aufhob; sein Verfasser [gest. 1904] hat es allerdings nicht mehr erlebt, daß er hoftheaterfähig wurde. Mors ist ein noch gewaltigerer Gleichmacher als Mars.“

Berliner Theater. NZZ, 29. November 1914, Viertes Sonntagblatt, Nr. 1592.
Hermann Bahr, Der Querulant (Lessing-Theater, 21.11.14). - „Es ist entschieden die wertvollste Arbeit, die Bahr in den letzten Jahren geliefert hat. Ich gebrauche absichtlich das an geschäftliche Praktiken anklingende Wort, weil er das Lustspielschreiben nach dem breiten Publikumserfolg des Konzerts ein wenig als Geschäft betrieb und seine laxe Produktion zu sehr in den Dienst der Nachfrage stellte. Jetzt hat er sich wieder auf den edlern Antrieb der Inspiration besonnen, und man wird ihm gerne einräumen, daß die beiden ersten Akte, die zum Besten seines gesamten Schaffens gehören, voll dichterischer Einfälle und Emotionen sind. Wer hätte in dem wandlungsreichen Manne, der alle literarischen Moden gierig aufgegriffen und prompt gespiegelt hat, auch noch ein Stück Anzengruber vermutet, wer von ihm ein Stück Anzengrubers erwartet? Daneben haben ihm allerdings auch noch Ibsen, Galsworthy (mit der Justiz), Dickens (mit Uriah Heep) und andere mit einem heitern, einem nassen Auge über die Schulter geblickt, doch es bleibt ein ungeschminkter Bahr. Hatte er immer ein warmes Empfinden für die Schwächen menschlicher Einrichtungen, so hat er nun sein Herz für die Schwachen entdeckt, und er leiht ihnen nicht nur advokatorische, sondern auch poetische Beredsamkeit. - […] In diesem echten Komödienstoff steckt wirklich viel Dichterisches. Leider hat er nur für die Hälfte des Weges ausgereicht. […] Schade, jammerschade, daß Hermann Bahr, der meistens einen glänzenden Akt zu schreiben weiß, auch hier nicht mit dem Atem reicht und zugleich langatmig in den Episoden wird. Sonst wäre ihm diesmal (vielleicht) ein Werk von Ewigkeitsgehalt und nicht nur von einer Spielzeit Dauer gelungen. Immerhin freut man sich des fruchtbaren Themas, wie der reichlich ausgestreuten Goldkörner und gibt die Hoffnung nicht auf, daß er doch noch ein vollgültiges deutsches Lustspiel zur Welt bringen wird. Er sollte die ewige Anwartschaft auf diesen Ruhmestitel nun endlich durch die Tat einlösen.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Dezember 1914, Erstes Abendblatt, Nr. 1627.
Fritz Grünbaum u. Wilhelm Sterk, Sturmidyll (Theater in der Königgrätzer Straße, 28.11.14). - „Etwas Widerlicheres als das dreiaktige Lustspiel Sturmidyll der Herren Fritz Grünbaum und Wilhelm Sterk hat man lange nicht gesehen. Selbst die Waffenbrüderschaft mit Österreich kann uns nimmermehr veranlassen, den abschreckend betriebsamen Wiener Verfassern Generalpardon zu erteilen. Denn die Art, wie hier aus der Zeitstimmung unverfroren Kapital geschlagen (im ursprünglichen, unbildlichen Sinne des Wortes), wie auf edlere Regungen und vaterländische Wallungen spekuliert wird - diese Art ist von einer kaum zu überbietenden Skrupellosigkeit. […] Das Niederträchtige ist nur, daß man diesem mit unverhohlenem Geschäftskalkül angerührten Teig nicht immer widerstehen kann. Wenn der jüdische Wirt erzählt, daß er bei einem Pogrom in Kiew sein ganzes Vermögen eingebüßt habe, wird man seltsam bewegt. Wenn die Gräfin nach dem Abschied von dem Oberleutnant ein paar Mal in die leere Luft greift, fühlt man sich ergriffen. Die Verfasser mögen sich ja nicht einbilden, daß das ihr Verdienst sei; es ist einfach der Niederschlag dieser irrationalen Zeit, die alle Gefühle aus den Fugen hebt, alle Empfindungen lockert. So kommt es, daß man zugleich (künstlerisch) angewidert und (menschlich) berührt, ja fast gerührt ist. Es geht halt nichts über die Wiener Geschicklichkeit und Fixigkeit.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Dezember 1914, Erstes Abendblatt, Nr. 1646.
Ludwig Fulda, Der Seeräuber (Schiller-Theater, 02.12.14). - „Man hat jetzt so seine Abende - und wer wollte es einem verargen? -, an denen man für die Kunst nicht besonders empfänglich ist. - Auf dem Wege zum Theater begegnet man Verwundeten, die den Arm in der Binde tragen oder am Stock humpeln; bisweilen werden sie in Trupps von einer Pflegerin ausgeführt. Auf mancher Brust sieht man ein eisernes Kreuz, und man hat ein Gefühl, als müsse man vor dem Träger den Hut ziehen, müsse an ihn herantreten und ihm die Hand schütteln wie einem, dem man persönlich zu Dank verpflichtet ist. Was mag der Brave vor dem Feinde geleistet haben! Wer weiß, mit wie knapper Not er dem Verderben entronnen ist! Doch welche Tat er auch ausgeführt haben mag, ob sie der Tapferkeit oder der List zuzuschreiben war: er hat sein Leben eingesetzt und dem Tod ins schaurige Angesicht geblickt. In allen diesen Augen, die das Grauen der Hölle geschaut haben, scheint ein Nachtschatten der furchtbaren Erlebnisse zu liegen. Sie sind gezeichnet, diese Augen. Wie die Florentiner auf Dante deuteten und von ihm sagten, er sei in der Hölle gewesen, so läßt es sich jedem gemeinen Soldaten anmerken. Das Medusenhaupt, dessen Blick versteinert, gehört nicht nur der Sage an; Hunderttausende hat es angestarrt. (Wunderbar, wie die Griechen, diese wahrhaft schöpferischen Phantasiemenschen, alle Naturkräfte und Phänomene zu personifizieren wußten.) - Auf dem Wege zum Theater - es ist ein frühlinghaft milder Dezemberabend, der einen an Schneeglöckchen und die ersten Veilchen denken läßt - beginnt man darüber nachzusinnen, ob es jetzt etwas Überflüssigeres gibt, als ein flaues Bühnenwerk zu kritisieren. Wie ein prähistorisches Luxusgeschöpf kommt man sich vor. Alles Überflüssige und Überschüssige, die holde Zugabe holder Friedenszeiten, scheint kein Daseinsrecht mehr zu haben. Der nackte, krasseste Utilitarismus herrscht. Wenn du deinem um seine Existenz ringenden Lande gegenwärtig nicht nützen kannst, ist deine Existenz Schimäre. Der Satz des Descartes: ‚Ich denke, also bin ich' hat die zeitgemäße Umwandlung erfahren: ‚Ich handle, also bin ich'. Freilich, das sind nur Stimmungen, trübe Anwandlungen, Momente der Melancholie, die jetzt kaum einem geistigen Arbeiter erspart bleiben. Auch für diese Bataillone, die mit den Waffen des Hirns kämpfen, heißt es: ausharren, durchhalten. Jeder verteidige bis zum Äußersten den Platz, auf den ihn das Schicksal gestellt hat. Goethe! - . Vor dem Theater steht ein Zeitungsverkäufer, der den ersten Bericht über die Reichstagssitzung ausruft. Man reißt ihm das Blatt aus der Hand. Der denkwürdige 4. August hat am 2. Dezember seine glorreiche Wiederholung gefunden. Mit einer stillen Größe, von Phrase und Pathetik gleich weit entfernt, sprach der Kanzler. Fünf Milliarden glatt bewilligt. Nur einer blieb sitzen. Über den Geschmack läßt sich nicht streiten; aber so auf die Nachwelt zu kommen - auch dazu gehört Mut. Doch vielleicht wäre es ein höherer Mut gewesen, seine Überzeugung zum Opfer zu bringen, als seine Überzeugung ostentativ zu zeigen. Hier stand einer am Pranger, weil er als einziger sitzen blieb. - Von solchen Stimmungen und Gedanken erfüllt, betritt man das Charlottenburger Schiller-Theater, das Ludwig Fuldas Lustspiel Der Seeräuber zum erstenmal aufführt. Hätten mich die Klänge der Beethovenschen Eroica empfangen, nicht zwei Minuten hätte es gedauert, und alles Irdische wäre von mir abgeglitten. Die Kunst hätte mich wieder gehabt. Aber Fulda ist kein solcher Zauberer, das gesprochene Wort keine solche Beschwörungsformel wie die Musik. Es wird ihm schwer, aus der brandenden, brausenden Gegenwart in ein imaginäres Andalusien des 17. Jahrhunderts zu versetzen. Daß ich's nur gestehe: Hispanien blieb mir weltenfern. Trotz Alkaide und Corregidor (heiliger Hugo Wolf!), trotz Pedro, Manuela und Serafin. Ich sah einen bald anmutig, bald derb behandelten Kostümscherz; sah einen asthmatischen Korsaren, der seine Vergangenheit abgestreift, und einen windigen Gaukler, der zu Reklamezwecken sich für ihn ausgibt; sah ein flatterhaftes Weibchen der Romantik des vermeintlichen Heldentums zufliegen; sah, wie ein technisch erfahrener Bühnenschriftsteller Puppen am Drahte seiner Idee tanzen ließ, wie er sie gleich Schachfiguren mit der Freude an überraschenden Zügen hin und herschob. Ich hörte meistens glatte, mitunter auch platte Trochäen, denen ich für etliche anachronistische Wendungen dankbar war, weil sie mich aus dem imaginären Andalusien in eine sehr reale Gegenwart trugen. - Den Dichter, dem es nicht an Beifall fehlte, soll kein Vorwurf treffen. Nicht immer ist man zu Mummenschanz aufgelegt. Man hat jetzt so seine Abende - und wer wollte es einem verargen? -, an denen man für die Kunst nicht besonders empfänglich ist.“

Strindbergs Luther-Drama. (Uraufführung im Deutschen Künstler-Theater zu Berlin.). NZZ, 15. Dezember 1914, Zweites Mittagblatt, Nr. 1664.
August Strindberg, Luther: Die Nachtigall von Wittenberg (Deutsches Künstler-Theater, 05.12.14). - „Über den künstlerischen Wert dieser ebenso gestaltenreichen wie gestaltungsarmen Historie kann es wohl nur eine Ansicht geben. […] Zwölf Jahre blieb Strindbergs Wittenbergische Nachtigall unbeachtet. Wenn sich das Deutsche Künstlertheater jetzt des Werkes annahm und einen vollen Erfolg damit erzielte, muß man die Zeitstimmung gebührend in Anschlag bringen. In den Tagen eines hochgestimmten Nationalgefühls erwachen die Heroen der Vergangenheit zu neuem Leben. Friedrich Kayßler war Martin Luther. Wer die Art dieses Künstlers kennt, weiß, daß er zu solchen Gestalten prädestiniert ist.“

Berliner Theater. NZZ, 4. Januar 1915, Morgenblatt, Nr. 10.
Fedor von Zobeltitz, Die deutsche Marke (Theater an der Weidendammer Brücke, 23.12.14). - „Ich habe an dieser Stelle wiederholt gesagt, daß ich es nicht für das Zeichen eines guten Geschmacks halte, schon jetzt dramatisches Kapital aus dem Krieg zu schlagen. Man wird Herrn von Zobeltitz gerne zugestehen, daß er sich im einzelnen vor Geschmacksentgleisungen gehütet hat, und gleichwohl keine zwingende Notwendigkeit erkennen, den Weltkrieg in Anspruch zu nehmen, damit der Hans zu seiner Liese kommt. Mir widerstrebt es gründlich, den Kanonendonner vor Reims als Begleitmusik zu einer alltäglichen Umarmung auf der Bühne zu hören; und ich hoffe, ich stehe mit dieser Abneigung nicht allein da. Warum wollen die Dramatiker sich durchaus der Einsicht verschließen, daß man nicht mit Kanonen nach Spatzen schießt? Müssen die aufgewandten Mittel den winzigen Effekt lächerlich machen?“

Berliner Theater. NZZ, 14. Januar 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 49.
Eröffnung des Theaters der Volksbühne am Bülowplatz am 30.12.14; William Shakespeare, Das Wintermärchen (Deutsches Theater, 30.12.14). - „Ein denkwürdiger Tag, dieser 30. Dezember 1914. Nicht nur im Theaterleben Berlins; nicht nur in der Bühnengeschichte Deutschlands. Vernehmt es alle, die ihr Ohren habt zu hören! Während Deutschland den furchtbarsten, opferreichsten Krieg der Weltgeschichte gegen drei europäische Großstaaten, asiatische Horden, afrikanische Wildlinge zu führen hat; während jetzt, feindlicher Berechnung nach, die Kosaken als edle Vertreter der wahren Zivilisation in des deutschen Reiches Hauptstadt sein sollten; während unsere Widersacher, zahlreich wie der Sand am Meer, die deutsche Kultur schmähen und das der Kunst unbeirrbar treue deutsche Volk als Barbaren bezeichnen, als Hunnen zeichnen, daß ihm das Stigma unauslöschlich auf der Stirn brenne: mitten in diesem gewaltigen, alle Kulturwerte untergrabenden Völkerringen eröffnet die Volksbühne ihr eigenes, mit des Volkes Spargroschen erbautes Haus. Und es ist nicht ein x-beliebiges Haus geworden, das da im Herzen des arbeitsamen Berlin aufragt, nach bewährter, seit der italienischen Oper für Theaterbauten maßgebender Schablone errichtet: sondern es ist der modernste, größte und und schönste Theaterraum Berlins; ja, es wird kaum eine Stadt im Ausland geben, die etwas Ähnliches aufzuweisen hat. Wenn das nicht eine kulturelle Tat ist, dann hat die Kultur auf diesem bis zur Unkenntlichkeit verwandelten, mißhandelten Erdball aufgehört zu sein. - […] Über der Eröffnungsvorstellung schwebte ein Unstern, da die Drehbühne in letzter Stunde ihre maschinellen Mucken hatte. Infolgedessen konnte nicht Goethe das erste Wort an geweihter Stätte haben, konnte nicht, wie geplant, Götz von Berlichingen durch Krieg und Sieg schreiten und sterbend ‚Freiheit! Freiheit!’ in die himmlische Luft hauchen. […] Björnsons Schwanengesang Wenn der junge Wein blüht wurde als Lückenbüßer eingelegt - ein Konversationsstück ohne alle Beziehung zur Gegenwart, noch dazu von einem Skandinavier. Auch das kein schlechtes Zeichen für den Kosmopolitismus unserer künstlerischen Bestrebungen, der uns trotz allem vaterländischen Hochgefühl nicht verloren gehen soll. Welche andere Nation hätte zur Weihe eines Volksspielhauses das Werk eines Ausländers gewählt? So geschah es in des deutschen Reiches Hauptstadt, und kein zelotischer Patriot hat dagegen protestiert. Vernehmt es alle, die ihr Ohren habt zu hören, und tragt es in alle Winde hinaus! ◊◊◊ Noch in anderm Betracht war der 30. Dezember ein denkwürdiger Tag: Reinhardt vollendete seinen Shakespeare-Zyklus mit einer Aufführung des Wintermärchen. […] Das Deutsche Theater hat nun zwölf Werke Shakespeares in dauerndem Besitz auf dem Spielplan. Das ist mehr, als sämtliche Theater Englands für ihren größten Dramatiker tun. Und frei von jedem Chauvinismus darf hinzugesetzt werden: es ist nicht allein quantitativ mehr. - Laßt uns flehen, daß der grimmige Krieg (mit eben diesem Shakespeare zu reden) bald seine Stirn entrunzle, damit wir in doppelt gesegneter Friedensarbeit weiter das Kulturwerk der Welt fördern.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Januar 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 76.
Die Auswirkungen des Weltkrieges auf das Theaterleben; Ernst Rosmer [i.e. Elsa Bernstein] u. Engelbert Humperdinck, Königskinder (Lessing-Theater, 09.01.15). - „Seitdem das Metropoltheater am ersten Weihnachtstag mit einer Bilderfolge Woran wir denken sich seinen Brüdern in Apoll und Merkur zugesellt hat, ist der Betrieb bei allen Berliner Bühnen (etwa zwei Dutzend) wieder aufgenommen. In vollem Umfang? Ganz wie in Friedenszeiten? Der flüchtige Beobachter wird kaum einen Unterschied merken. Nicht einmal im Bestand des Personals. Die geringe Anzahl der zum Heeresdienst Einberufenen ist verblüffend. Von bekanntern Namen fehlen eigentlich nur Moissi, Wegener und Clewing. Daß die Gagen der Schauspieler, zum Teil beträchtlich, reduziert sind, ist ihre Privatangelegenheit. (Unter uns: die Herrschaften des Kulissenreiches waren immer überzahlt, und es kann ihnen gar nicht schaden, daß ihr Krösusverbrauch und ihre Luxusgewohnheiten auf ein etwas bescheideneres Maß zurückgeführt werden.) - Dem Kenner allerdings wird der tiefgreifende Wandel in der Zusammensetzung des Spielplans nicht entgehen. Wir sind auf der ganzen Linie national geworden; daneben werden einzig die neutralen Skandinavier geduldet. Sonst fiel alles Fremdländische einem eisernen Kehrbesen zum Opfer. War Berlin früher nicht nur die Hauptniederlage, sondern vielfach das Hauptgeschäft der ausländischen Bühnenware, so ist jetzt - ein drakonisches Gebot der veränderten Zeiten - das Heimische Trumpf. Diese selbstverständliche Forderung der Stunde brachte im Anfang teils ergötzliche, teils ärgerliche Auswüchse hervor. Es schien, als müsse die Dichtung nach der Pfeife der Wirklichkeit tanzen. Zum Glück war solchen Mißgeburten ein erfreulich kurzes Dasein beschieden. Sie sanken in ihrer Sünden Septemberblüte dahin. Das Publikum in seiner jähen Unberechenbarkeit wandte sich von dieser Verwechslung des Aktuellen mit dem Künstlerischen plötzlich und hoffentlich dauernd ab. Nun sind wir in ruhigere Bahnen eingelenkt. ‚Was deutsch und echt’ sei uns willkommen. Auch ohne Einfuhr brauchen wir so nicht zu verhungern. - Das schließt nicht aus, daß wir dem die Treue wahren, was deutscher Kulturbesitz geworden ist, ohne seiner Herkunft nach deutsch zu sein, oder eine Adoptivheimat bei uns gefunden hat. Shakespeare konnte nur in den ersten Wochen der Verblendung (oder darf man sagen: Verblödung?) beanstandet werden. […] - Daß der fremde Schund von deutschen Bühnen verschwunden ist, wird kein Einsichtiger beklagen. Nur hätte es zu solcher Reinigung nicht gerade eines Krieges nach drei Fronten bedurft. Ursache und Wirkung stehen da wohl doch in einem zu krassen Mißverhältnis. Auch ich bin Optimist genug, zu glauben, daß der unterschiedslose Kampf gegen die Ausländerei, der jetzt eine natürliche Erscheinung ist, später von selbst weniger extreme Formen annehmen und sich mit Goethes idealem Streben nach Weltliteratur vertragen wird. Wir sind so beharrlich international gewesen, daß uns ein kleiner Kursus in nationaler Kunst, schon der Abwechslung wegen reizvoll, nur gut bekommen kann.“ - Zu den Königskindern: „Ich habe für dieses Werk etwas übrig. Vielleicht, weil es zu meinen frühsten Berliner Theatereindrücken gehört. Gott, war man damals beneidenswert jung! Man saß irgendwo in höheren Regionen, und man schwebte in höheren Regionen, als das triste Lied von der Seligkeit des Königssohns und der Gänsemagd erklang. ‚Das war eine köstliche Zeit.’ Wiederbegegnungen enden meist mit einer gelinden Enttäuschung. Darum soll man nicht zweimal dasselbe erleben wollen. Jetzt saß ich in der dritten Parkettreihe, doch ohne tiefere Teilnahme vor dem Märchenzauber des Lessingtheaters und durfte, da das Herz leer ausging, wenigstens das Auge am Anblick der jungen, schönen Irmgard v. Hansen laben. […]“

Berliner Theater. NZZ, 26. Januar 1915, Erstes Abendblatt, Nr. 97.
Ferdinand Raimund, Rappelkopf [Alpenkönig und Menschenfeind] (Deutsches Theater, 18.01.15). - „Einen Beethoven-Kopf gab Pallenberg dem Raimundschen Rappelkopf. Nicht viele Rollen wird dieser Künstler finden, die seiner Sonderart so entgegenkommen. Er ist vielleicht der letzte Improvisator der deutschen Bühne. Springt mit dem Text ganz willkürlich um. Dichtet beständig hinzu. Jeden Satz wiederholt er zwei-, dreimal, bis ihm der Souffleur das nächste Stichwort heraufgereicht hat. Ein Manko des Gedächtnisses macht er so auf virtuose Weise zu einem persönlichen Vorzug. Nur ist er leider in seine Besonderheit zu sehr verliebt. Infolgedessen unterwirft er sich nicht mit selbstloser Bescheidenheit einer Rolle, sondern er unterwirft sich mit selbstherrlicher Keckheit jede Rolle, bis sie ihm auf den Leib paßt. Reckt und streckt sie so lange, bis sie ihm wie angegossen sitzt. Wer ihn in einer Rolle gesehen hat, hat ihn eigentlich in allen Rollen gesehen. Er ist unter den verschiedensten Namen, Masken, Perücken immer derselbe: Max Pallenberg. Ein Komiker ohne jede Verwandlungsfähigkeit, von einer starren Individualität wie ein Protagonist. Doch ein Komiker, der stets von einem tragischen Schatten begleitet ist. Im Nu wird dieser Kasperl, der etwas von der Knockabout-Technik des Exzentriks hat, zu einem rührenden Geschöpf. Plötzlich verstummt das Lachen; man fühlt sich beklommen, umklammert. Das macht ihm heute kein anderer mit solcher Vollendung nach, wie er mitten in derbsten Späßen ohne jeden Übergang tief ergreift. Ein erschütternder Bajazzo. - Wenn Pallenberg mit Vorsicht beschäftigt wird, wenn er einen rücksichtslosen Zuchtmeister findet, könnte er für das Deutsche Theater einen nicht zu unterschätzenden Gewinn bedeuten. Er wäre dazu berufen, den verwaisten Platz des trefflichen Viktor Arnold auszufüllen. […]“

Berliner Theater. NZZ, 3. Februar 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 129.
Albert Bassermanns Wechsel vom Deutschen Theater zum Lessing-Theater; Henrik Ibsen, Ein Volksfeind (Lessing-Theater, 26.01.15). - „Albert Bassermann hat dem Deutschen Theater den Rücken gekehrt und ist zu Barnowsky ans Lessing-Theater gegangen, wo er bereits unter der Direktion Brahm gewirkt hatte. Das ist zweifellos für das Deutsche Theater ein beträchtlicher Verlust, wie es für die Konkurrenzbühne ein Gewinn ist. Was schwerer ins Gewicht fällt: es ist für Bassermann selbst ein Gewinn. Denn im klassischen Repertoire, das dort gepflegt wird, blieb er ein Fremdling, so beherzte und energische Anläufe er nahm, es sich zu erobern, indem er namentlich an der Vervollkommnung seiner Dialektik und der Ausmerzung seines Dialekts arbeitete. […] Man mußte sich fast wundern, daß ihn Reinhardt hartnäckig oder der Not gehorchend so falsch beschäftigte. Sah man ihn nämlich nebenan in den Kammerspielen, zur Abwechslung einmal wieder in einer Strindbergschen Rolle, so wurde die Überzeugung bestärkt, daß die wahren Wurzeln seiner Kraft im Modernen lagen. Da strömte ihm von selbst zu, was er auf klassischem Boden nicht ohne Anstrengung heraufpumpen mußte. Da störte vor allem nicht oder lange nicht so sehr seine eigensinnig festgehaltene Mundart, mit der sich nur ein unmusikalisches Ohr auf die Dauer abzufinden vermochte. Erst kürzlich, bei der Besprechung seines Wallenstein, war das hier hervorgehoben [s.o. NZZ vom 24.11.14, Nr. 1570]. - Nun ist also Bassermann an die Stätte seiner früheren Tätigkeit zurückgekehrt und kann sich fortan im Modernen ganz ausgeben. Seine Antrittsrolle war der Dr. Stockmann in Ibsens Volksfeind, den er schon vordem unter Brahm gespielt hatte. Die Konsequenz, mit der er seine Auffassung des Charakters durchführt, ist das Wertvollste an dieser Schöpfung; aber sie täuscht uns keinen Augenblick darüber hinweg, daß er den Ibsenschen Stockmann zu einem Gertenmanne macht, ihn durch übermäßige Betonung lächerlicher Züge umbiegt, wenn nicht gar verfälscht.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Februar 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 144.
Dietrich Eckart, Heinrich der Hohenstaufe (Kgl. Schauspielhaus, 30.01.15). - „Hohenstaufendramen stehen, wie jeder Primaner aus eigener Erfahrung bestätigen wird, nicht sonderlich hoch im Kurs. Zumal Konradin ist eine beliebte Zielscheibe reimender Rekruten, wenn auch ihre Fingerübungen am Schreibtisch häufiger im Papierkorb als auf den Brettern enden. Kaum besser ist es den Erzeugnissen der Veteranen ergangen: sie sind samt und sonders in die Rumpelkammer gewandert. […] Dadurch hat sich Herr Dietrich Eckart in seinem poetischen Drange nicht schrecken lassen. […] So sahen wir die deutsche Historie in vier Vorgängen Heinrich der Hohenstaufe. - ‚In vier Vorgängen'. Es geht nichts vor. (Lucus a non lucendo.) Wenn die Personen eine Weile gesprochen haben, meldet jemand einen Vorgang, worauf sie abermals eine Weile sprechen. […] Von einer festgefügten Handlung, von einer Entwicklung oder Begründung kann nicht die Rede sein. […] - Man hat uns mitgeteilt, das Drama sei bereits vor Ausbruch des Krieges angenommen gewesen und nur das Schlußgebet, in dem Heinrich VI. Gott um Beistand für seine künftigen Kämpfe anfleht, sei hinzugekommen. Dem Dichtersmann geschähe also bitteres Unrecht, wollte man ihm andichten, er habe seinem Jambenrößlein einen aktuellen Sattel aufgelegt. Trotzdem bleibt die merkwürdige Tatsache festzustellen, daß man den ganzen Abend mit gespitztem Ohr dasaß und beständig die Frage zu hören glaubte: ‚Merkste was?’ Ohne diesen Appell an unsere Aufmerksamkeit wären wir sanft eingeschlummert. Man mag sich danach vorstellen, mit welcher Enttäuschung wir heimwärts zogen. Vier Vorgänge hindurch auf der Lauer liegen und unbefriedigt von dannen schleichen - nein, das hatte man nicht erwartet.“

Berliner Theater. NZZ, 17. Februar 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 187.
Eduard von Bauernfeld, Der kategorische Imperativ (Kleines Theater, 06.02.15). - „Einen glücklichen Griff tat das Kleine Theater mit Eduard von Bauernfelds harmlosem Lustspiel Der kategorische Imperativ. Erinnerte sich das Deutsche Theater neulich Ferdinand Raimunds, der auf Wiener Vorstadtbühnen seine Heimat hatte und seine Heimstätte fand [s.o. NZZ vom 26.01.15, Nr. 97], so kam in Bauernfeld der verwöhnte Liebling des Burgtheaters aus der guten alten Zeit und der Glanzzeit einer auf dem Parkett heimischen Schauspielkunst zu Worte. - […] Bauernfeld besitzt auch heute noch Vorzüge, deren sich kein Zeitgenosse zu schämen brauchte. Innere und äußere Sauberkeit sind ihm gleichermaßen eigen. Er schreibt einen blanken Dialog, nicht blendend durch die Fülle des Witzes, der sich zum Selbstzweck wird, nicht mit Geist gespickt, nicht überladen mit Bonmots und (den heute so beliebten) Paradoxen, dafür aber durch Verstand und Gemüt angenehm erwärmt. Man hat bei ihm stets das Gefühl, in der Gesellschaft eines feingebildeten Mannes zu sein, der wirklich weiß, wie es in der Welt und besonders in seiner Welt: im Salon zugeht. Er bewegt sich zwar gern in den ausgetretenen Bahnen der alten Rollenfächer, versteht es aber, diesen manchen reizvollen Aufputz zu geben. Haftet ihm auch fraglos heute Staub an, so ist es sozusagen ein stilgemäßer Staub. Einer alten Dame steht ihr Häubchen gut zu Gesicht; eine Pleureuse wäre bei ihr geschmackswidrig. - Durchaus nicht verstaubt, sondern für die Gegenwart eher pikant wirkt das Lustspiel Der kategorische Imperativ durch seinen historischen Hintergrund. Wir hören viel vom Wiener Kongreß, von den Reibereien der Diplomaten (wobei wir im Geiste vorwegnehmen, welche Zusammenstöße es geben wird, wenn jetzt der Friede in greifbare Nähe rückt), von Napoleons Flucht aus Elba, sehen einen Mitkämpfer der Schlacht bei Waterloo und lassen uns von sinkenden Kursen, der ständigen Begleitmusik zu kriegerischen Geschehnissen, erheitern. […] - Da auch sonst die Aufführung des Kleinen Theaters, abgesehen von dem Wiener Parfüm, dem Werkchen nichts schuldig blieb, fühlte man sich zwei Stunden von einem zarten Lavendelduft umschwebt. Soll man seinen Eindruck in ein Wort zusammenfassen, so müßte es unweigerlich heißen: man schmunzelt.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Februar 1915, Abendblatt, Nr. 222.
Gustav Frenssen, Sönke Erichsen (Volksbühne, 16.02.15). - „Gustav Frenssens (zuerst in Hamburg vor zwei Jahren aufgeführtes) Schauspiel Sönke Erichsen landete an der Freien Volksbühne. Mußte es sein? Vielleicht empfahl sich das Werk - abgesehen von der auf epischem Gebiete feststehenden Berühmtheit seines Verfassers - dadurch, daß unentwegt vom Kriege 1870 gesprochen wird. Die Bewohner der kleinen Stadt an der Nordseeküste Schleswigs reden noch nach vierzig Jahren (das Stück spielt im Herbst 1910) beständig vom deutsch-französischen Krieg, von den tapfern Jünglingen, die freudig ihr Blut fürs Vaterland hergaben, von dem schönen Denkmal auf dem Marktplatz, das ihre Namen verewigt. So ganz in der ruhmreichen Vergangenheit lebten damals wohl selbst die meerumschlungenen Schleswiger nicht, wenn sie auch noch so wenig in der unrühmlichen Gegenwart erlebten. Aber man hört es in diesen Tagen gerne. Doch der Held des Dramas, Sönke Erichsen, denkt anders. ‚Sich fürs Vaterland totschießen lassen? Daß ich ein Narr wäre!’ Als Schreiber des Bürgermeisters hatte er zuerst Einsicht in den Mobilmachungsbefehl gewonnen und war in derselben Nacht noch auf und davon gegangen. Er wollte lieber drüben in Amerika sein Glück versuchen, als sich mit zwanzig Jahren niederknallen lassen. Ein Deserteur als Held. Den sieht man in diesen Tagen ungerne. Für den bringt das Volk jetzt wenig Sympathie mit, mag der Dichter auch manches getan haben, Sönkes unpatriotische Gesinnung aus seinem hochfahrenden Trotz, aus seinem egoistischen Rechtsgefühl zu erklären. Verklären konnte er sie nicht. Es lag gewiß auch nicht in seiner Absicht. Er wollte nicht sagen: es ist gut, daß es das gibt; sondern nur: das gibt es auch. Kein Wunder also, daß die Hörer nicht recht warm wurden und dem Werke eine laue Aufnahme bereiteten.“

Berliner Theater. NZZ, 9. März 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 276.
Carl Sternheim, Der Scharmante (Kammerspiele, 26.02.15); Johann Wolfgang von Goethe, Egmont (Deutsches Künstler-Theater, 27.02.15). - „Bislang war das erotische Getändel oder Geplänkel von unsern Bühnen verbannt. Es paßt nicht in den Ernst der Zeit; auch hätte die Zensur nicht mit sich spaßen lassen. Um so mehr überraschte es deshalb, als die Kammerspiele die Uraufführung des dreiaktigen Lustspiels Der Scharmante von Carl Sternheim anzeigten. Darin treten nur drei Personen auf: der Graf, die Gräfin und deren Liebhaber. Das konnte nichts anderes sein als ein amoureuses Scherzo. Wurde ihm der Passierschein ausgestellt, weil Herr Sternheim als der einzige Komödiendichter unserer Tage pompös ausposaunt wird und weil Herr Professor Reinhardt segnend seine Hände darüber breitete? Ein Scherzo war es nicht. Aber wenn Ausnahmen gemacht werden, muß es sich wenigstens um ausnehmend wertvolle Werke handeln. - Auch im Drama sind wir jetzt, vom skandinavischen Import abgesehen, durchaus auf die Erzeugnisse des eigenen Landes angewiesen. Mit der Aushungerung hat es gute Weile. Doch hatten wir nie Überfluß an heimischem Liebesschnickschnack. Den bezogen wir immer, die gallische Überlegenheit willig anerkennend, von den Boulevards. Carl Sternheim fühlte sich offenbar bewogen, Ersatz zu schaffen. Selbst ist der Mann! sprach er in nie mangelndem Selbstvertrauen. Nachdem er für seine bürgerlichen Komödien von übereifrigen Bewunderern als Molière der Gegenwart gefeiert worden war, schien es Jean Baptiste Sternheim zu gelüsten, mit den Franzosen auf ihrem Sondergebiet des sexuellen Unterseebootkrieges in Wettbewerb zu treten. Wie ihm das Experiment gelang? Ich sage nur so viel: sollte der Scharmante, dessen Orthographie ich übrigens schauderhaft finde, jemals nach Paris gelangen (was man sich zurzeit kaum vorstellen kann), er fände dort sicher den Lacherfolg, der ihm hier versagt blieb. Allerdings einen unfreiwilligen - einen Auslacherfolg. Die Pariser würden nicht mit Unrecht auf dieses Stück ein Wort anwenden, das sie sehr zu Unrecht jetzt auf uns anwenden. […] - Wenn durchaus ein Übergang vom Scharmanten zum Egmont, womit das Deutsche Künstlertheater unter der Direktion Barnowskys eröffnete, gefunden werden muß, so kann es nur der sein: daß Herr Bassermann als Egmont leider nicht genug Scharmantes besaß. Ihm fehlte der Tropfen Champagner im Blute. Der Liebhaber blieb die bestechende Liebenswürdigkeit des Wesens schuldig. Dafür entschädigte der Staatsmann durch hohe politische Klugheit, und der Held von Gravelingen wußte wirklich mit Anstand nach einem bewegenden Abschied vom fröhlich ausgekosteten Leben in den Tod zu gehen. Hier hatte Herr Bassermann unvergeßliche Momente. Wenn er dem Freunde die Geliebte empfiehlt, bricht er in Tränen aus, und er weint so meisterhaft, wie es außer ihm auf deutschen Bühnen nur Else Lehmann vermag. Vielleicht hat man ihn nie, sicher nie in einer klassischen Rolle menschlich so ergreifend gesehen wie in der Kerkerszene. Als der Künstler neulich seinen Übertritt zu Barnowskys Fahnen vollzog, durfte man darin eine Rückkehr zu modernen Aufgaben begrüßen, für die seine Natur weit mehr mitbringt [s.o. NZZ vom 03.02.15, Nr. 129]. Es ist schade, daß er so schnell wieder klassische Pfade wandelt; hoffentlich nicht für lange.“

Berliner Theater. NZZ, 16. März 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 308.
Sophokles, Antigone (Kgl. Schauspielhaus, 06.03.15). - „Fast auf den Tag neun Jahre sind es her, daß wir zuletzt im Kleinen Theater die Antigone des Sophokles mit Rosa Bertens sahen [s.o. NZZ vom 22.03.06, Nr. 81]. Es ist aufschlußreich, seine Eindrücke gegenüber der Antike von Zeit zu Zeit nachzuprüfen. - Während die zyklopisch gefügte Orestie des Äschylos und der mit unerbittlicher Logik wie ein Kriminalfall aufgebaute König Ödipus des Sophokles auch heute noch (nach mehr als zweitausend Jahren), anderer Vorzüge zu geschweigen, rein durch ihre dramatische Wucht von unverbildeten Gemütern Besitz ergreifen, übt die stillere, in edler Harmonie einherschreitende Antigone von der Schaubühne herab kaum noch solche Gewalt auf moderne Hörer aus. Die Orestie wirkt wie eine brausende Orgelfuge Bachs; der Ödipus hat etwas von der strengen Architektonik eines Gluckschen Orchesterwerks; bei der Antigone mag man an Mendelssohn denken, der ihr ja auch eine Begleitmusik mitgegeben hat. - Im letzten Phiharmonischen Konzert sprach Ludwig Wüllner den Schlußgesang der Ilias, der Hektors Loskaufung und Verbrennung erzählt, zu einer (von Wagner stark angeregten) melodramatischen Untermalung Botho Sigwarts. Nicht einmal, sondern fast überall konnte man lesen, Homer stünde uns heute weltenfern; der die Leiche seines Sohnes vom Peliden erbittende Priamos sei uns - Hekuba. Dieses Urteil, dessen Aufrichtigkeit unzweifelhafter ist als seine Richtigkeit, muß um so mehr erstaunen, als wir heute inmitten einer Zeit leben, die manchen Berührungspunkt mit Homerischen Heroen hat. Ein in der männermordenden Feldschlacht gefallener Held, der mit allen Ehren bestattet wird - wer dächte da heute nicht an irgendein teures Opfer des Krieges? Und doch fanden seltsamerweise einige Berliner Musikkritiker, Homer habe der Gegenwart nichts mehr zu sagen. - Ich muß offen bekennen, daß mir die Ilias im allgemeinen und ihr letzter Gesang insbesondere näher stehen als die unendlich gesittetere Antigone des Sophokles. Zwar ist manches beim Homer, was mir gegen den Strich geht. So kann es kaum etwas Roheres, Kaffrigeres geben, als daß der göttergleiche Achilleus den Leichnam Hektors erst ausliefert, nachdem ihm der steinalte, gramgebeugte Mann ein reiches Lösegeld geboten hat. Aber daneben finden sich so erschütternde, in ihrer Ungeniertheit rührende Züge (wie die Krieger trotz allem seelischen Schmerz sich dem Genuß von Speis’ und Trank mit unvermindertem Appetit hingeben, wie Achilleus trotz der Anwesenheit des Greises im Nebengemach bei seinem Liebchen ruht), daß man über die erwähnte Gefühlskluft rasch hinwegkommt. Und wenn gar Ludwig Wüllner die Vorgänge mit grandioser Plastik des geistigen Erlebens herausmeißelt, so scheint uns die Sonne Homers hell wie je auf der Schulbank. - Auch in der Antigone handelt es sich um die Bestattung eines im Kampfe Gefallenen. Kreon, der verblendete Autokrat, der alles beherrscht, nur sich selbst nicht, weist noch in eine rauhere, barbarische Vorzeit zurück; Antigone, ganz pietäterfüllt, ist schon ein veredeltes Kulturgeschöpf. Die Vertreter zweier Gefühlszonen geraten aneinander. Haß und Liebe befehden sich. Die Liebe ist nicht nur stärker als der Haß, sondern auch stärker als der Tod. Unerschütterliche Schwesternliebe leiht Antigonen die Kraft zum Handeln und läßt sie ohne Wehleidigkeit aus dem Leben scheiden; ihr Verlobter folgt ihr freiwillig in den Tod. - Der Konflikt in seiner konkreten Zuspitzung (daneben prallen auch noch Prinzipien wie Staatsmoral und Herzensrecht zusammen) hat eigentlich für uns seine Geltung verloren. Kreon gehört einer überwundenen Vergangenheit an, ist in seiner Einseitigkeit ein Popanz, ein Kinderschreck, so sehr ihn auch der Dichter durch die Mitgift politischer Klugheit herauszustreichen, auf ein höheres Niveau zu stellen bemüht war. Aber Antigone, die ihre irdische Mission in die ewig unvergängliche Zeile preßt: ‚Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da', hat eine in die Zukunft weisende Bedeutung. Sie nimmt die schönste Lehre des Christentums vorweg, das in diesen Tagen mitsamt dem Völkerrecht einen ewig irreparablen Bankrott erlitten hat. Das Recht des Herzens triumphiert; die ungeschriebenen Gesetze dauern (die andern dauern einen). Wenn die Menschheit in ihren Urzustand zurückgeschleudert wird, steht sie mit Kreon auf einer Stufe; wenn die Menschheit sich wieder auf sich selbst, auf ihr Menschentum besinnen sollte, wird sie sich den Spruch Antigones hoffentlich als unverlierbaren Besitz einprägen. - Zu solchen und ähnlichen Gedanken wurde man durch die Aufführung der Antigone im Kgl. Schauspielhaus angeregt. Es ist kein gutes Zeichen für die sinnliche Schlagkraft einer Vorstellung, wenn man sich derart in abstrakten Vorstellungen ergeht. Das lag wohl zum Teil an der Darstellerin der Antigone, die gar zu weit von Winckelmanns hellenischem Ideal entfernt blieb. Helene Thimig war für das Auge ein Aschenputtel, für das Ohr bisweilen larmoyant wie das aus dem Wasser gezogene Hannele; dem Hirn suggerierte sie eine Bearbeitung der Antigone durch Hugo v. Hofmannsthal (quod di omen avertant). Doch hatte sie etliche starke menschliche Momente.“

Berliner Theater. NZZ, 22. März 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 337.
Johann Sigurjonsson, Berg Eyvind und sein Weib (Volksbühne, 12.03.15); Ernst Legal, Lätare (Kleines Theater, 13.03.15). - Zu Sigurjonsson: „Mit Johann Sigurjonsson kommt zum erstenmal wohl ein Isländer im europäischen Bühnenkonzert zu Gehör. Ein Heimatdichter, dem die Rampenwelt kein Buch mit sieben Siegeln mehr ist; bei aller ethnographischen Färbung von universeller Geltung. Er geht von den Sagas aus. Daher dürfte die stark reflektierende Art seiner Menschen stammen. Sie neigen zu Betrachtungen und schwelgen in Sinnsprüchen, was eine Einförmigkeit der Sprache zur Folge hat. Neben dieser unverkennbar nordischen Mitgift hat Sigurjonsson doch schon reichlich am dramatischen Allgemeingut Europas genascht. Es wird sich bald erweisen, ob der Schöpfer oder der Macher in ihm überwiegt.“ - Zu Ernst Legals Bauerndrama Lätare: „Als recht verspäteter Nachzügler des Naturalismus erschien es im denkbar ungeeignetsten Zeitpunkt. Wer vermöchte heute tiefere Teilnahme für das Liebesleben eines alternden Mädchens aufzubringen? Das soll uns jedoch nicht hindern, in den Exzessen eines ungeduldigen und unduldsamen Publikums eine ärgere Entgleisung zu sehen als in dem Erstlingswerk eines zweifellos begabten Autors. […] Legal hat den Mut, das Äußerste zu wagen, auch zu sagen. Er geht wirklich aufs Ganze. Das Liebesleben einer alten Jungfer mag an sich kein Vorwurf sein, der zu dichterischer Behandlung reizt, oder vielmehr kein dankbarer Vorwurf, weil er die Grenze des Komischen streift; die rückhaltlose Energie, mit der er angegriffen wird, zeigt, wie ernst es Legal um sein Thema zu tun war. Ganz ohne poetische Vorbilder kam er noch nicht aus. Die Aussprache der beiden Frauen erinnert an die Unterredung der Frau Flamm mit Rose Bernd bei Gerhart Hauptmann, wie auch der Bauer Bischeber Züge von Flamm abbekommen hat. Nachhaltiger noch hat Wilhelm Schmidtbonns Mutter Landstraße auf Legal eingewirkt. Trotzdem bleibt es eine ungewöhnliche Talentprobe, die den Groll des Publikums nicht verdient hat.“

Berliner Theater. NZZ, 26. März 1915, Erstes Abendblatt, Nr. 358.
Gerhart Hauptmann, Schluck und Jau (Deutsches Theater, 18.03.15). - „Aus der Hinterlassenschaft Otto Brahms, die nun längst in alle Winde verweht ist, hat sich der Leiter des Deutschen Theaters das Gesamtwerk Gerhart Hauptmanns gesichert. Bei Lebzeiten Brahms wurde nur das Friedensfest von Reinhardt gespielt. Jetzt will er einen Zyklus der Hauptmannschen Dramen vorführen. Schluck und Jau machte den Beginn. Der Erfolg, vor fünfzehn Jahren bestritten [am 03.02.1900], war überraschend groß. - O quae mutatio rerum! - […] Brahm genügte die Eroberung Hauptmanns; Reinhardt scheint auf dem Wege zur Veroperung Hauptmanns. […] Brahms Dürftigkeit im Dekorativen hatte etwas von altpreußischer Kargheit; Reinhardts Üppigkeit hat etwas von neuberlinischem Prunkbedürfnis. Das Schloß Jon Rands gemahnt mehr an phantastische Märchenherrlichkeit als an einen schlesischen Magnatensitz. […] Durch all dies Drum und Dran wird aber der Kern des Werkes nicht im mindesten verändert. Brahm, ein (dem Dichter gegenüber) erbarmungsloser, doch (dem Publikum gegenüber) höchst wohltätiger Streicher, hatte vor fünfzehn Jahren einen ganzen Akt kurzerhand geopfert. Reinhardt bringt innerhalb der einzelnen ,Vorgänge’ Striche an und dämmt so die weitläufige Handlung ein. Das Ergebnis bleibt das gleiche. […] - Auf dem Zettel der Uraufführung liest man noch die Namen: Else Lehmann (Frau Adeluz - zum erstenmal hatte die größte naturalistische Menschenbildnerin Verse zu sprechen), Else Heims (Sidselill), Max Reinhardt (Malmstein), Carl Meinhard (ein Jäger). Aus den beiden Episodisten von damals sind zwei Theaterleiter geworden, die jeder über drei Berliner Bühnen verfügen. Das hätte schwerlich jemand vor fünfzehn Jahren prophezeien mögen; auch nicht, daß Schluck und Jau noch einmal im Deutschen Theater rückhaltlos gefallen werde. Der Geist Otto Brahms, aus seligen Höhen herniederschwebend, flüstert: o quae mutatio rerum!

Berliner Theater. NZZ, 14. April 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 439.
Karl Schönherr, Der Weibsteufel (Kammerspiele, 06.04.15). - „Äußerlich ist das neue Drama Der Weibsteufel von Karl Schönherr ein Unikum der Weltliteratur: fünf Akte und drei Personen. Keine Nebenfigur; keine Episode; kein Wechsel des Schauplatzes. Die Vorgänge spielen sich in einer Bauernstube ab. Zwischen dem Mann, der Frau und einem Grenzjäger. Fünf Akte zwischen drei Menschen. Fünf Akte - obwohl man bei der Dreizahl der Handelnden von vornherein weiß, wie sich die Sache entwickeln muß. (Nur über das Ende kann man im Zweifel sein.) Wird noch erwähnt, daß es in diesen fünf Akten keine tote Strecke, kaum einen toten Punkt, ganz selten nur eine technische Gewaltsamkeit gibt, so mag man einen Begriff erhalten von dem unbestreitbaren Geschick des Dichters. Wahrlich, die Anerkennung, ja die Bewunderung läßt sich ihm nicht versagen. Das macht in Deutschland, wo man die Technik des Dramas meist auf die leichte Achsel nimmt, - und nicht nur in Deutschland - so bald keiner nach. - Innerlich allerdings geht man ziemlich leer aus. Nichts regt sich in einem. Weder Haß noch Liebe, weder Furcht noch Mitleid. Man denkt, halb wissend, halb skeptisch: von allen Wundern dieser Welt ist die Liebe halt doch das wunderbarste. So warm, so heiß, so leidenschaftlich, so stürmisch es auf der Bühne vielfach hergeht, so seltsam unberührt sitzt man davor. Freut sich, einen Meister des Baus an der Arbeit zu sehen, und entdeckt zugleich, daß das Fundament auf herkömmlichen Trägern ruht, mitunter geradezu Klischee ist. […] So spannend (im guten Sinne) die Handlung ist, so wenig ist man seelisch gespannt, weil die Schönherrschen Bauern letzten Endes, teilweise auch mit ihrer Sprache, nicht aus dem Leben, sondern aus der Literatur stammen.“

Berliner Theater. NZZ, 2. Mai 1915, Erstes Sonntagblatt, Nr. 527.
Hans Sachs, Frau Wahrheyt will niemand beherbergen / Andreas Gryphius, Die Geliebte Dornrose (Kgl. Schauspielhaus, 06.04.15); Ludvig Holberg, Der politische Kannengießer (Kleines Theater, 04.04.15); Ernst Elias Niebergall, Datterich (Lessing-Theater, 22.04.15); Christian Dietrich Grabbe, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (Kleines Theater, 23.04.15). - „Ausgrabungen sind zurzeit im Schwange. Es ist schon fast eine Epidemie geworden. Wohl dem, der von seinem künstlerischen Kapital zehren kann! Wenn schwache Nachfrage nach dem Neuen vorhanden ist, bekommt das Alte wieder Marktwert. - Zu Beginn des Krieges bemühten sich die im Irrgarten der Verlegenheit taumelnden Theaterleiter, möglichst zeitgemäß zu sein, mit den Ereignissen des Tages gleichen Schritt zu halten. Was der Bürger erlebt oder in der Zeitung gelesen hatte, das sah er alsbald von dreisten Dramatikern für die Bretter ausgeschlachtet. Ein Schlachten war's, ein Dichten nicht zu nennen. Lange freilich blieb die Gunst der Menge solchen Fixigkeitsarbeiten nicht gewogen. Es schien ihr zu dämmern, daß die Kunst im allgemeinen nicht von der Hand in den Schlund der Zeit lebt. - Auf die Periode der Aktualität folgt nun eine retrospektive. Die bekehrten Direktoren sind mit einem Male rerum antiquarum cupidi geworden. Sie steigen in das Erdreich der Literaturgeschichte hinab und fahnden eifrig nach Schätzen. Jahrhunderte werden wie ein Tag, der gestern gewesen, kühn übersprungen, als ob kein Stacheldraht sie von der bewegten Gegenwart trenne. Was zutage gefördert wird, hat für heutige Menschen, sofern sie nicht Privatdozenten des Chaldäischen sind, vielfach nur ein archivalisches Interesse, den Kuriositätsreiz der Vergangenheit. […] - Ungefähr mit solchen Empfindungen sah man einen ‚Altdeutschen Abend’ im Kgl. Schauspielhaus. […] Auch der Freiherr Ludwig v. Holberg, mag man ihm schon den Ehrennamen eines dänischen Molière beilegen, hat uns nichts mehr zu sagen. […] Mit mehr Glück griff das Lessing-Theater auf die Lokalposse Datterich von Ernst Elias Niebergall zurück. […] Man wollte den verschollenen Niebergall in Norddeutschland zu späten Ehren bringen, und den Erfolg entschied das, was nicht von Niebergall herrührt. Er wird sich im Massengrab der Literaturgeschichte wohl nur auf die andere Seite gedreht haben. - Wie ein Adler neben einem Spatz im Leben und in der Dichtung, nimmt sich neben Niebergall Christian Dietrich Grabbe aus. Beide sind früh an alkoholischen Ausschweifungen zugrunde gegangen […]; aber wenn der Hesse über ein artiges Talentchen verfügte, so besaß der Detmolder eine höchst unartige genialische Begabung. Niebergall kitzelte die Philisterwelt mit seinem sanften Spott und verulkte auch sich selbst; Grabbe geißelt Gott und die Welt, streckt dem Himmel und der Hölle die Zunge heraus und findet Gefallen daran, die eigene Fratze mit Dreck zu bewerfen. […] - Niebergall und Grabbe an zwei aufeinanderfolgenden Abenden - jetzt, wo die Grenzen des deutschen Reiches von Feinden umlagert sind: das sollen sie den Berliner Bühnenleuten einmal nachmachen! Und wenn sie noch einen Funken Gerechtigkeitsgefühl haben, so müssen sie zugeben, daß man eine zweite Stadt, in der unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen eine solche künstlerische Regsamkeit entfaltet wird, dum fractus illabatur orbis, auf dem Erdball und andern Planeten mit der Laterne suchen kann.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Mai 1915, Erstes Morgenblatt, Nr. 602.
Gastspiel von Exls Tiroler Bühne im Deutschen Künstler-Theater mit Ludwig Anzengruber, Der ledige Hof (01.05.15); Ludwig Ganghofer, Der heilige Rat (04.05.15); Rudolf Hawel, Der reiche Ähnl (07.05.15). - „Galt früher für Bauernstücke das Rezept: ‚A bisserl Liab, a bisserl Treu’ und a bisserl Falschheit is allweil dabei', so hat in diesen neueren Erzeugnissen die Falschheit bedenklich zugenommen. Doch darauf beschränkt sich ihr Anspruch auf modernen Zuschnitt; in der Psychologie, so knallig wie je, sind sie durchaus alte Schule geblieben. […] Wenn auch die Berliner kaum einen Gewinn von dem Gastspiel der Tiroler haben, so sei doch den Tirolern Gewinn von ihrem Berliner Gastspiel gewünscht.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Mai 1915, Fünftes Sonntagblatt, Nr. 632.
Paul Quensel, Das Alter (Kgl. Schauspielhaus, 15.05.15). - „Zu weisem Verzicht fordert die Komödie auf. Der Lauf der Welt will, daß ältere Kräfte jüngeren nicht den Weg versperren; sie sollen, wenn ihre Zeit gekommen ist, sich zurückziehen und ihren Feierabend haben. Das wird am Beispiel eines thüringischen Stadtmusikus gezeigt. […] Daneben redet die Komödie der Treue im kleinen das Wort. Sie webt einen Glorienschein um das Haupt jener ungezählten Existenzen, die im verborgenen bescheiden wirken, die ihre einzige Befriedigung und ihren einzigen Lohn in stiller Pflichterfüllung finden, ohne nach der Anerkennung weiterer Schichten zu verlangen. Nichts davon klingt an, daß sich im engen Kreis der Sinn verengert, sondern die Kleinstadt wird aus voller Brust gepriesen. […] - Im allgemeinen schwärme ich nicht für Verherrlichungen der Kleinstadtatmosphäre. Neid und Niedertracht sind hier doch ebenso zu Hause und sogar noch fühlbarer als in der Großstadt, wo sie einem körperlich nicht so nahe auf den Leib rücken. Aber es sei dem im Schatten Jean Pauls wandelnden Dichter gerne zugestanden, daß er das Traute, das Heimliche, das Innige dieser eng umgrenzten Welt mit Verständnis und Liebe herausgearbeitet hat. Auch für die Komik, sogar für die unfreiwillige, seiner Gestalten hat er ein Organ. Die Zeichnung des Milieus ist trefflich gelungen; schade, daß die Handlung von so abgebrauchten Mitteln zehrt. - Altväterische Stücke dieser Art sind im Kgl. Schauspielhaus wohlgeborgen; neben dem Heroischen hatte das Kleinbürgerliche dort von jeher eine Pflegestätte und ausgezeichnete Darsteller. Herr Leffler, der Leiter der Stadtmusikantenkapelle, war im Dialekt so echt, daß er eine durchaus glaubhafte Figur schuf, und Arthur Vollmer hat für die Resignation einer frommen Künstlerseele heute noch bewundernswert schlichte Töne. Das Berliner Publikum ging nicht nur amüsiert mit, sondern bereitete dem Werk, in dem die Großstadt so schlecht abschneidet, eine überraschend warme Aufnahme, für die im Namen des abwesenden Verfassers zum Schluß der Oberregisseur Patry dankte. Man war für diese ‚grüne Insel im tiefen, weiten Meer des Wehs’ wirklich dankbar.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Juni 1915, Morgenblatt, Nr. 702.
Rückblick auf die vergangene Theatersaison; August von Kotzebue, Die deutschen Kleinstädter (Kammerspiele, 30.10.14); Johann Wolfgang von Goethe, Die Mitschuldigen und Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (Deutsches Theater, 21.05.15); Franz Grillparzer, Ein treuer Diener seines Herrn (Kgl. Schauspielhaus, 29.05.15). - „Ein paar Worte noch zum Beschluß. Die Jahreszeit ist dem bunten Bühnenkram nicht mehr günstig. Die Zeit ist denkbar ungünstig. Gerade weil die Theater unter so schwierigen Verhältnissen bis zuletzt unverdrossen ausgeharrt haben, verdient ihre Arbeit besondere Anerkennung. Keineswegs ist nur der gute Wille zu loben. - Sie haben es wahrhaftig nicht leicht gehabt in den abgelaufenen Monaten. Bei Kriegsbeginn wurden alle ihre Pläne über den Haufen gerannt, wie Kartenhäuser umgeblasen. Den veränderten Umständen sollte durch eine entsprechende Auswahl der Stücke Rechnung getragen werden. Anfangs konnten diese nicht zeitgemäß genug sein. Bald stellte sich jedoch heraus, daß der Geschmack des Publikums nicht so schlimm war wie die Geschmacklosigkeit etlicher Autoren, die ihm brühwarme Bettelsuppen vorsetzen zu müssen meinten. Zeitlose Kunstwerke kamen rasch wieder zu ihrem Rechte. ‚Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie’ [Schiller: ‚An die Freunde'] - die Richtigkeit des Dichterwortes erwies sich aufs neue. - Mit fortschreitender Spielzeit traten andere Schwierigkeiten hinzu. Die männlichen Bühnenmitglieder wurden von der Militärbehörde in Anspruch genommen, die jüngeren unter ihnen, bis dahin beurlaubt, mußten dem Ruf zur Fahne folgen. Namentlich von dem technischen Personal blieben immer weniger Kräfte zur Verfügung. Am schwersten wurde davon das klassische Drama mit seinem reicheren Apparat betroffen. Nicht alle Stücke sind so gefällig, nur einen Schauplatz und drei Darsteller zu verlangen, wie Schönherrs Weibsteufel [s.o. NZZ vom 14.04.15, Nr. 439], oder sich auf die Frauen und einen Chor von Greisen zu beschränken, wie die Lysistrata des Aristophanes. Trotzdem haben die Berliner Bühnenleiter (und auch die meisten im Reiche) neun Kriegsmonate hindurch tapfer ausgehalten. Erst mit Beginn des zehnten fangen sie an, die Pforten zu schließen. - Natürlich darf man an das, was sie geleistet haben, nicht den gewöhnlichen Maßstab legen. Die Zahl der Uraufführungen und Erstaufführungen, durch die Berlin sonst jede andere Theaterstadt übertrifft, war selbstverständlich geringer als in normalen Zeiten. Einmal fiel die ausländische Produktion, von der skandinavischen abgesehen, ganz fort; und dann ist das mit einem neuen Stück verbundene finanzielle Risiko ungleich größer als das mit einem auf seine Wirkung schon erprobten. Infolgedessen herrschte die ‚Neueinstudierung' vor. Überall griff man auf das bewährte Alte zurück. Doch fehlte es hier nicht völlig an Experimenten. So wurde der in Norddeutschland unbekannte Niebergall ausgegraben [s.o. NZZ vom 02.05.15, Nr. 527]. Grabbes fratzenhafte Komödie mit dem endlos langen Titel brachte es, dank der eigenartigen Inszenierung, auf eine überraschend große Zahl von Wiederholungen [s.o., ebd.]. Die größte erzielte leider Kotzebues schales Lustspiel Die deutschen Kleinstädter [s.o. NZZ vom 09.11.14, Nr. 1512], das in den Kammerspielen mehr als 150 Mal gegeben wurde. Selbst der Weltkrieg rechtfertigt nicht diesen Rekord des unbeschreiblich Mittelmäßigen. […] - Kurz vor Torschluß zog das Deutsche Theater noch zwei belanglose Jugendarbeiten Goethes aus dem Halbschlummer des Buches hervor: das kesse, gepfefferte Lustspiel Die Mitschuldigen, darin der Leipziger Student, seine Welterfahrung mit einem Stich ins Frivole äußernd, sich gar altklug gebärdet, und das mit Hieben gegen Zeitgenossen gespickte Schönbartspiel Das Jahrmarktsfest der Plundersweiler, das ohne literarischen Kommentar kaum mehr ist als Jahrmarkttreiben und Plunder, trotzdem ihm Beethoven die Ehre widerfahren ließ, das Marmottenlied zu komponieren. Hier konnte Reinhardt alle Künste seiner Inszenierung (im wahren Sinne des Wortes) springen lassen. Eine musikalische Nummer löste die andere ab, die Drehbühne schuf die volle Illusion einer schiebenden und geschobenen Menge, die eingelegte Esther-Tragödie wurde täuschend echt von pathetischen, an Drähten zappelnden Puppen travestiert, und so blieb der Erfolg für die philologische Kuriosität nicht aus. - Weniger Glück hatte im Kgl. Schauspielhaus das selten gegebene Drama Grillparzers Ein treuer Diener seines Herrn. Bei aller Bewunderung für die fast rhythmische Vasallentreue des ungarischen Reichsverwesers, der auf jede persönliche Rachehandlung, ja Racheregung verzichtet […], möchte man ihm doch etwas von Michael Kohlhaas wünschen. Die hier verherrlichte starre Auffassung der Pflicht, die erlittenes Unrecht lautlos einsteckt, fand bei der erregten Gegenwart nur schwachen Widerhall. Die Jahreszeit und die Zeit sind so edlen Jambentragödien nicht günstig. - Im wirtschaftlichen Leben Deuschlands spürt man nichts von tief einschneidenden Veränderungen; im künstlerischen hat man ebenso wenig Not gelitten. Alles geht ruhig seinen Gang weiter. Hoffentlich wird es so bleiben, obschon inzwischen ein neuer Feind hinzugekommen ist [Italien Ende Mai 1915]. Max Reinhardt erklärt in den Zeitungen, daß er entschlossen sei, seine drei Theater (er hat bekanntlich auch noch die Volksbühne übernommen) am 1. September wieder zu öffnen, selbst für den Fall, daß der Krieg bis dahin nicht beendet sein sollte. Wir haben also guten Grund, auf das Geleistete mit Genugtuung zurück- und dem Kommenden mit Zuversicht entgegenzublicken.“

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1915 / 1916

Berliner Theater. NZZ, 9. September 1915, Abendblatt, Nr. 1185.
Die Übernahme der Volksbühne durch Max Reinhardt; Friedrich von Schiller, Die Räuber (Volksbühne, 01.09.15). – „Als wichtigstes Ereignis der verflossenen Spielzeit war die Eröffnung der Volksbühne am Bülowplatz zu buchen. Mitten in den Kriegswirren, die Deutschlands Existenz bedrohten (heute steht es, fester denn je, als ein Fels im Meere da, an dem die Wogen abprallen), zu einer Zeit, als der östliche Feind im Anmarsch ad portas – sich zu befinden wähnte, wurde das herrliche Haus seiner Bestimmung übergeben. Wenn man ihm eine Inschrift gesucht hätte, sie hätte nur lauten dürfen: dem arbeitenden Berliner Volke. – Leider standen die Vorstellungen, bei allem redlichen Willen, zu Beginn nicht auf der Höhe, die man erträumt und gewünscht hatte. In diesem weihevollen Raume, dessen Schönheit verpflichtete, für diese kunsthungrige Hörerschaft wäre das Beste eben gut genug gewesen. Doch was geboten wurde, blieb weit hinter solchen idealen Forderungen zurück. Am Schönhauser Tor fing die Provinz an. Auch wenn man die Schwierigkeiten, die sich dem neuen Unternehmen naturgemäß im Kriegsjahr entgegenstellten, gebührend berücksichtigte, mußte man seine Ansprüche noch beträchtlich herabschrauben. Die Leitung versagte. Wirtschaftliche Sorgen ließen nicht lange auf sich warten. Das Fortbestehen der Volksbühne war ernstlich in Frage gestellt. – In dieser Not der schweren Zeit sprang Max Reinhardt als Retter ein. Schon lange war er auf der Suche nach einer Bühne, die ihm die Verwirklichung seiner ins Kolossalische strebenden Pläne ermöglichte. Das Theater der Fünftausend war (den Göttern sei Dank) nicht zustande gekommen. Seine Verhandlungen mit Zirkusbesitzern hatten sich zerschlagen. Da mochte er einen willkommenen Ersatz in diesem modernsten Bühnenhaus erblicken, das mit allen Errungenschaften der Technik ausgestattet ist. Die Tatkraft und der Mut, unter widrigen Verhältnissen noch ein drittes Theater zu übernehmen, müssen von Freund und Gegner gleichermaßen anerkannt werden. […] – So viel mir bekannt, ist folgendes Abkommen getroffen: Reinhardt spielt an zwei Abenden in der Woche und an den Sonntag-Nachmittagen für die Mitglieder der Volksbühne zu deren gewöhnlichen Eintrittspreisen; an den übrigen Abenden ist ihm völlig freie Hand gelassen. Sie hat sich ab ovo in einer Erhöhung der Preise bekundet. Während früher der teuerste Platz in diesem Hause 3 Mark kostete, ist man jetzt auf 7 Mark in die Höhe geschnellt; das ist nur eine Mark weniger, als man im Königlichen Opernhaus für einen Sitz im Parkett bezahlt. Auch die Gebühren für Garderobe und Zettel, die früher durch das Eintrittsgeld gedeckt waren, wurden prompt wiederhergestellt. Wenn die von Reinhardt geleiteten Aufführungen auch gar nichts anderes mit der (weiland) Volksbühne gemein haben, als daß sie deren Haus benutzen, so sträubt sich doch irgend etwas in manchem Besucher dagegen, daß diese Stätte jetzt kapitalistisch ausgebeutet wird und daß der genius loci eine solche Umwandlung erfährt. Kein Mensch wird natürlich Reinhardts gutes Recht bestreiten, sich so viel für seinen klangvollen Namen bezahlen zu lassen, wie ihm Schwärmer und Narren geben. Nur daß es just da geschehen soll, wo früher andere Grundsätze herrschten und hoffentlich wieder herrschen werden, will mir nicht recht in den Sinn. Ich halte den jetzt geschaffenen Zustand für keine sehr erfreuliche Zwischenstufe. – Dieser Notbehelf wird allerdings den Mitgliedern der Volksbühne voraussichtlich einwandfreiere Theatergenüsse bescheren, als sie ihnen unter eigener Verwaltung zuteil werden. Einen Begriff davon gab die Eröffnungsvorstellung, zu der man Schillers Räuber gewählt hatte. Man kennt vom Deutschen Theater her diese glänzende, höchst selbstherrliche Regieleistung Reinhardts [s.o. NZZ vom 17.01.08, Nr. 17]. Er wiederholt sie nach sieben Jahren mit der gleichen Verve. Noch immer ist ihm der Wald das Wichtigste – sein eigentlicher Held. Er läßt ihn zu geheimnisvollem Leben erwachen, weckt hundert Stimmen, gibt ihnen ein hundertfältiges Echo. […] Noch immer macht Reinhardt aus der Rettung Rollers eine Bravoureinlage ohnegleichen, die mehr in die Manege, als auf das Brettergerüst zu gehören scheint. Auch fehlt es nicht an einem virtuosen Pfeifintermezzo. Diese Reinhardtschen Solokadenzen verfehlen auf den Neuling niemals ihren Eindruck; erlebt man sie aber zum zweitenmal, so können sie ihre Überflüssigkeit nicht überzeugend dartun. Man hat ein Gefühl, als ob es, für die Dichtung zum mindesten, kein Verlust wäre, wenn der Regisseur aus der Überfülle seiner Einfälle heraus etwas weniger dichten wollte. In ihrer Art sind sie sicher das Vollendetste, was Europa dem staunenden Amerika zu bieten hat; doch sag’ ich nicht, daß die Art vollendet sei. […] – Der Beifall war stark, ohne begeistert zu sein. Bis Mitternacht hielt ich aus. Das nächstemal werde ich nicht versäumen, meine Pyjamas mitzubringen.“

König Salomo. Drama in drei Akten von Ernst Hardt. (Uraufführung im Deutschen Künstler-Theater zu Berlin am 11. September). NZZ, 18. September 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1227.
„Gerhart Hauptmann hat zuletzt, in Kaiser Karls Geisel, die Liebe eines Greises zu einem blutjungen Ding dramatisch behandelt. Es war kein Erfolg. Ernst Hardt, bisher im Heldenepos und in ritterlichen Sagen zu Hause, lenkte nun zum Urquell aller Dichtung zurück und ließ sich von der Bibel zu einem Jambenstück ähnlichen Vorwurfs anregen. Es war … – Bei Hauptmann handelte es sich um ein frühreifes, früh verdorbenes, vom höchsten Herrscher wie vom niedrigsten Knecht begehrtes Geschöpf, dem nichts Sinnliches mehr fremd war. Hardts Abisag ist eine Blüte der Keuschheit, von keinem Sinnensturm noch gerüttelt. Der Fall wird dadurch – man wird es ohne weiteres einräumen – nicht eben angenehmer. […] – Man hat Respekt vor der Dichtung, wenn sie aus eigener Kraft etwas zu gestalten, glaubhaft zu machen vermag; man hat wenig Respekt vor dem Alten Testament, wenn es einem Theaterstück Kraft borgt, den Odem einhaucht, überhaupt erst die Existenzmöglichkeit schafft; man hat gar keinen Respekt (und braucht ihn nicht zu haben) vor einem Theaterstück, das solchermaßen von gegebenen Größen zehrt und sie kurz und klein kaut. – […] Von einer Charakteristik der Figuren kann nicht gut die Rede sein, weil nur Rede ist und keine Gestaltung, weil sie fix und fertig aus der Bibel sprangen, während die Nebenpersonen ganz im Schemenhaften stecken bleiben. Die vielbegehrte Jungfrau ist wohl mit etlichen poetischen Floskeln geziert, doch eine einzige bloß haftet im Gedächtnis, wenn es von Abisag heißt, sie weine mit offenen Augen. Für drei Akte scheint das keine allzu reiche Ausbeute, selbst in Anbetracht der dem Dichter wenig förderlichen Zeitläufte. – Es wäre wohl des Wissens wert, wann Ernst Hardt dieses Drama geschrieben hat. Sollte es im ersten Kriegsjahr entstanden sein, so läge hier ein erschreckendes Beispiel dafür vor, wie verheerend, wie kraftlähmend der Krieg auch im apollinischen Reiche wirkt. Ich möchte kein Prognostikon stellen, aber ich fürchte, ich fürchte: der Krieg hat auf lange hinaus auch das Drama geknickt, sofern es sich nicht, was Gott verhüte, von der amusischen Gegenwart inspirieren läßt. Menschenopfer unerhört sinken nicht allein dahin; auch geistige Werte sind wie Strohhalme zertreten. Wahnbetörtes Europa, quousque tandem … – Schauspielerische Möglichkeiten bietet König Salomo nicht. […] Der Beifall, der sich in mäßigen Grenzen hielt, galt wohl mehr der Vergangenheit des Verfassers.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Oktober 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 1395.
Sil-Vara [d.i. Geza Silberer], Die Frau von vierzig Jahren (Komödienhaus, 25.09.15). – „Man denkt an Grillparzers Sappho, denkt an Hans Kysers Erziehung zur Liebe und muß sich gestehen, daß psychologisch nicht das mindeste für die Frau in mittleren Jahren gewonnen ist. Herr Sil-Vara wird, wenn ihn weiter nach Bühnenlorbeer gelüsten sollte, mehr zu vergessen als zu lernen haben. Dann wird er es sich abgewöhnen müssen, eine Liebesszene, die alle Stadien des Schmollens durchläuft, um mit der obligaten stürmischen Umarmung zu enden, im ältesten Geschmack aufzubauen. – Das Stück von der begehrenswerten Frau im Schwabenalter hat insofern […] keinen leichten Stand, als die geeigneten Darstellerinnen an den Fingern einer Hand herzustellen sind. Helene Fehdmer ist an Innigkeit, an Keuschheit der Empfindung, an Schlichtheit des Ausdrucks kaum zu übertreffen; doch ihr fehlt die Mädchenhaftigkeit der Erscheinung, die sich schwer entbehren läßt, weil sonst das heikle Thema einen komischen Beigeschmack erhält. Die einzige Künstlerin, die vielleicht das Schauspiel […] möglich machen könnte, wäre Agnes Sorma. Doch selbst sie hätte es am Ende nicht vermocht, die Zuschauer im Komödienhaus vor einer höchst unzeitgemäßen Heiterkeit zu bewahren, die gelegentlich einer Katastrophe nahe kam.“

Molières Don Juan. (Zur Aufführung im Berliner Lessing-Theater.) NZZ, 22. Oktober 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1410.
Molière, Don Juan (Lessing-Theater, 29.09.15). – „In der Pause sagte ein rumänischer Klaviervirtuose zu mir: es sei doch schön, daß man gegenwärtig Molière in Berlin spiele; ob die Franzosen wohl etwas von Schiller jetzt in Paris aufführten? Der Neutrale (wie lange noch?) mag recht haben; aber es ist nicht nötig, das immer wieder hervorzuheben. So wenig wie es Gerhart Hauptmann nötig gehabt hätte, im letzten Bande des Shakespeare-Jahrbuchs sich programmatisch darüber zu äußern, daß der Stratforder, wiewohl von einer englischen Mutter geboren, deutscher Nationalbesitz geworden sei. Wir haben es tausendmal vorher gehört – mille e tre, würde Leporello sagen –, und Selbstverständlichkeiten werden weder durch törichte Umfragen noch durch pathetischen Vortrag schmackhafter. Wer der Kunst nationale Schranken ziehen will, mag ein ernster Patriot sein; als Künstler wird man ihn weniger ernst nehmen. Ein Kunstrichter gar, der mit vaterländischen Scheuklappen herumlaufen wollte, täte gut daran, Unteroffizier zu werden … – Warum soll man also nicht Molière in Berlin spielen? Der einzige Grund, weswegen sein Don Juan bisher so selten in Deutschland auftauchte, ist der: daß für uns der Stoff seine ewige, dauernde, unumstößliche Prägung durch Mozart erhalten hat. Jean Baptiste schlug Tausende, Wolfgang Amadeus Hunderttausende. Alles, was vor seinem musikalischen Meisterwerk allererster Ordnung liegt, hat nur Kuriositätsreiz, interessiert mehr den Fachmann, der sich mit der Genesis eines künstlerischen Gebildes beschäftigt, als den Laien, der nichts als genießen will. Der Dr. Faustus des Engländers Marlowe hat unbestreitbare poetische Qualitäten; aber neben Goethes Gedicht nimmt er sich etwa so aus, wie ein Embryo im dritten Monat neben einem ausgewachsenen Menschenkind. Marlowes genialisches Drama wäre ohne Goethes gigantischen Schatten heute kaum noch erträglich. – Auch dem Molièreschen Don Juan steht ein solcher Riese im Wege. Eine Arie von Mozart weckt, offen gestanden, weit stärkere Lustgefühle in mir als die fünf Akte der französischen Komödie. Vermag man es jedoch, sich literarhistorisch einzustellen, den Gipfel zu vergessen und die Zwischenstufe aus ihrer Zeit heraus unbefangen zu würdigen, so muß man bekennen, daß sich bei Molière erstaunlich frische Züge finden.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Oktober 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 1418.
Kristian Elster, Meine rechte Hand (Komödienhaus, 16.10.15). – „Mit Vornamen heißt er Kristian. Bitte, mit K. Er muß also ein Nordländer sein, der Lustspielverfasser Kristian Elster, der mit einem unsagbar faden Machwerk Meine rechte Hand am Komödienhaus in dieser Zeit gesteigerten Vaterlandsgefühls zu Worte kam. Die Schreibung seines Vornamens (im Englischen Christian name) wird sich als seine Sondernote dem Gedächtnis einprägen. Wie jeder Philologe darauf hält, den Kunsthistoriker Herman Grimm mit einem n, jeder Musikagent, den Pianisten Artur Schnabel ohne h zu schreiben, so ist es Pflicht, wenn auch nicht Ruhm zugleich, diesem Kristian seine phonetische, doch etymologisch nicht einwandfreie Schreibung angedeihen zu lassen. Von ihm darf man füglich sagen: wenn der Leib in Staub zerfallen, lebt der bloße Vorname noch. – Es ist das einzige, wodurch er auffällt. Von seinem Lustspiel läßt sich nicht einmal behaupten, daß es durch eine so winzige Kleinigkeit auffiel.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Oktober 1915, Zweites Mittagblatt, Nr. 1432.
Rudolf Presber u. Leo Walther Stein, Die Selige Exzellenz (Deutsches Künstler-Theater, 21.10.15). – „Rudolf Presber, Liebling der Grazien, der Musen, der Backfische und der Lustigen Blätter, buhlt seit Jahren um die Gunst der Bühne. Zum erstenmal scheint sie ihn jetzt erhören zu wollen, da er sich mit dem Praktikus Leo Walther Stein zu dem Lustspiel Die selige Exzellenz zusammengetan hat. Es gab einen herzhaften Erfolg, den man freilich an anderer Stätte als an dem zu Höherem berufenen Deutschen Künstler-Theater gewünscht hätte. O Dr. Arthur Eloesser, ehedem kanonischer und katonischer Kritiker der Vossischen Zeitung, jetzt Dramaturg des Direktors Barnowsky: offenbar ist es das Schicksal der in die Praxis verschlagenen Rezensenten, daß sie zu andern Göttern beten lernen als denen, für die sie mit der Feder eingetreten sind. Mit einem nassen, einem heitern Auge blicken sie auf ihre selige Existenz zurück, die diese Selige Exzellenz verleugnet hätte.“

Berliner Theater. NZZ, 2. November 1915, Erstes Morgenblatt, Nr. 1465.
William Shakespeare, Antonius und Kleopatra (Kgl. Schauspielhaus, 02.10.15); ders., Der Sturm (Volksbühne, 08.10.15). – „Im Laufe einer Woche sahen wir zwei seltener gespielte Werke Shakespeares. So macht die Tat wieder gut, was das Wort verbrochen hat. – Wohl aus dem Grunde, weil man in Frau Tilla Durieux eine prädisponierte Darstellerin der ägyptischen ‚Weltkebse’ zu besitzen glaubte, nahm sich das Kgl. Schauspielhaus des schwer zu bewältigenden Römerdramas Antonius und Kleopatra an. Die Rechnung hatte ein Loch. Selbst die Duse vermochte, so viel Glanz sie über die Höhepunkte ausgoß, die schwächeren Partien nicht zu beleben. Beerbohm Tree, der sich und die schöne Constance Collier als Liebespaar herausstellte, versuchte es mit prunkvollen Bühnenbildern zu machen. Auch das mißlang. Vielerlei verband sich, das rühmliche Beginnen des Hoftheaters zu lähmen. Von der dramaturgischen Erkenntnis ausgehend, daß die historischen Begebenheiten – in engem Anschluß an Plutarch vom Dichter nicht verdichtet, sondern mit lässiger Hand hingesetzt – für uns Hekuba sind, während sein und unser ganzes Interesse den beiden Titelfiguren gehört, hätte man in der Bearbeitung statt einer zur Langeweile führenden Pietät eine herzerfrischende Rücksichtslosigkeit walten lassen sollen. Die politischen Schiebungen der Herren Römer waren auf ein Mindestmaß zu beschränken; so hätte man für das Hin und Her der Herzen mehr Teilnahme voraussetzen dürfen. Freilich auch dann ist der wankelmütige, von der Schaukel der Leidenschaft auf und ab geschwungene Antonius kaum zu retten. Eigentlich bleibt, wenn wir ehrlich sein wollen, von dieser ganzen weit ausgesponnenen Historie nicht mehr übrig als eine dankbare und eine undankbare Rolle. Leider konnten die Vertreter der beiden Rollen im Stil nicht zusammenkommen; der Unterschied war gar zu groß. […] Es kam ein Kompromiß zustande, unter dem die Wirkung stark zu leiden hatte. Sie wurde ferner beeinträchtigt durch eine Bühne älteren Systems, die den häufigen Wechsel des Schauplatzes entweder nicht leisten konnte oder ungebührlich viel Zeit dazu brauchte. Hier lag einmal das Bedürfnis nach der Drehbühne vor. An Hingabe hatte es der Spielleiter Dr. Bruck wahrlich nicht fehlen lassen; er möge dadurch nicht entmutigt werden, daß der Erfolg den Bemühungen so wenig entsprach. – Bei dem Spielleiter Professor Reinhardt, der in der Gunst des Haufens unerschütterlich fest sitzt, wird die Hingabe schon für die Tat genommen. So bescherte ihm auch das Zaubermärchen Der Sturm, das den Besuchern der Volksbühne als erste neue Spende vorgeführt wurde, einen äußern Erfolg, trotzdem die Seelen völlig leer ausgingen. […] Von allen Inszenierungen Reinhardts scheint mir diese bei weitem die äußerlichste. Sie mündet schon ganz in die Feerie, die Oper ein. Gerade weil die Vorlage dazu verlockt, hätte man der Verlockung widerstehen sollen. Ich sehe nicht die geringste Verschiedenheit mehr von Beerbohm Trees vielgescholtenen Ausstattungskünsten. Die Beleuchtungseffekte folgen errötend (im koloristischen Sinne des Wortes) englischen Spuren. Die Art, wie die Köpfe grell vom Scheinwerfer bestrahlt werden und ein Lichtstreif den Gestalten nachläuft, wurde vor zehn Jahren in Berlin weidlich verspottet; heute wird sie an maßgebenden Stellen kopiert. Der Reflektor gar, der plötzlich aus der Seitenloge arbeitet, stammt aus der music-hall. Unbestreitbar lassen sich so höchst malerische Sinfonien komponieren (bitte nicht an Mahlerische zu denken, deren allem Oberflächlichen abholder, tiefernster Gehalt das strikte Gegenteil davon ist). Ha, wie Reinhardt in Farbenräuschen schwelgt, wie virtuos er die Skala des Spektrums handhabt! Daneben huldigt er einer nie ganz unterdrückten Vorliebe für das lebende Bild. Oh, how beautiful are these tableaux vivants! werden Amerikanerinnen wonnegrunzend ausrufen. Wenn der Zauberer Prospero sich mit seinem Töchterlein niederlegt, bildet sich eine Gruppe wie der Vater Rhein und die Tochter Mosel am Niederwald-Denkmal. Am nachhaltigsten scheint den Zauberer Reinhardt diesmal das Problem beschäftigt zu haben, wie man Wolken wirklichkeitsgetreu am Fortuny-Himmel entstehen und vergehen lassen kann. Wundervolle Wirkungen – wer wollte es leugnen? – werden jetzt schon erzielt; aber manchmal fühlt man sich auch an dicke Wattebäusche erinnert. Hier ist noch ein weites Feld, des Schweißes der Edlen wert. Auch das Problem harrt noch der Lösung, wie man einen Schiffsuntergang äußerst realistisch auf die Szene bringen kann, ohne daß die menschlichen Stimmen von dem brüllenden Orkan verschlungen werden. Man ist einstweilen noch so altmodisch, das Wort für wichtiger zu halten, aber zum Glück nicht so alt, daß man nicht umlernen könnte. Ob gerade Shakespeare hierfür das geeignete Objekt ist?“

Komödie der Worte. Drei Einakter von Arthur Schnitzler. (Zur Aufführung im Berliner Lessing-Theater.) NZZ, 5. November 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1483.
Arthur Schnitzler, Stunde des Erkennens, Große Szene, Das Bacchusfest (Lessing-Theater, 23.10.15). – „Wie soll man den Titel auffassen? Er läßt zwei Deutungen zu. Der Schöpfer rückt ein wenig von seinen Geschöpfen ab und gibt zu verstehen, daß sie an einen geringfügigen Gegenstand viel Worte und große Worte verschwenden. Kinder, scheint er mit mildem Lächeln, mit der Einsicht des Weisen zu sagen, macht doch nicht solchen Aufwand von einem alltäglichen Vorgang; ihr bauscht und plauscht ihn auf. Oder aber die Einsicht bezieht sich auf ihn selbst, und der Weise spricht zum Dichter: Arthur, du hast dein Steckenpferd, die Eheirrung, wieder einmal nach Herzenslust getummelt und bist, des Gottes voll, mehr ins Schwatzen geraten, als es sich jetzt mit deiner gereiften Lebensanschauung verträgt. Brich den Variationen über dein Lieblingsthema die Spitze ab und lasse durchblicken, daß du sie nicht so heiß gegessen haben willst, wie du sie gekocht hast. Man hat also die Wahl zwischen Ironie und Selbstironie. – […] Nach allem Plunder und Zunder, der einem im Laufe der letzten Zeit vorgesetzt wurde, ist es eine Erquickung, sich an Schnitzlers erlesenem Geiste zu laben. Mag es sich hier auch nicht um ein Werk von ewiger Prägung, mehr um Atelierkunststücke als um ein Stück Kunst handeln, so gibt es doch keinen in deutschen Landen (kaum einen in andern), der einen Dialog von so feinem Schliff, von so beschwingter Grazie zu schreiben versteht. Lassen wir in dieser Komödie der Worte die Worte getrost als Hauptsache gelten! – Den Gestalten half Albert Bassermanns außerordentliche Bildnerkraft und Wandlungsfähigkeit nach. Was man auch gegen ihn in klassischen Rollen vorbringen mag, auf modernem Gebiet ist er eine Klasse für sich. Er läuft eher Gefahr, zu viel als zu wenig zu geben. Diese durchaus virtuosen Leistungen wurden freilich noch überboten von der schlichten Menschendarstellerin Lina Lossen, die durch äußerste Einfachheit ein Stück Leben vortäuschte.“

Ein Theaterstreit. NZZ, 6. November 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1489.
Hermine Körners vertragswidriger Wechsel vom Dresdener Hoftheater an Max Reinhardts Deutsches Theater und ihr erstes Auftreten dort in Schillers Maria Stuart (29.10.15). – „Um Frau Hermine Körner vom Dresdener Hoftheater tobt ein Kampf, gegen den der Weltkrieg ein reines Kinderspiel ist. Mit einemmal haben die Zeitungen wieder für etwas anderes Raum als für die Kartoffelpreise und dafür, daß weit hinten in der Türkei (und auch sonst noch) die Völker aufeinander schlagen. […] – Inzwischen haben die Berliner Frau Hermine Körner in der Neueinstudierung der Schillerschen Maria Stuart am Deutschen Theater als Königin Elisabeth kennen gelernt. Man kann nach dieser außergewöhnlichen Leistung verstehen, daß Dresden und Berlin sich um die Künstlerin reißen. Es lohnt. Jedenfalls überragte die Dresdenerin ihre Berliner Kollegen um Haupteslänge.“

Berliner Theater. NZZ, 19. November 1915, Zweites Abendblatt, Nr. 1562.
Plautus, Der Prahlhans [Miles gloriosus] (Kleines Theater, 12.11.15). – „Mit dem gegenwärtigen Krieg hat die dramatische Literatur glücklicherweise nichts mehr zu schaffen. Nur im Anfang schien sie allzu beflissen, ihm ihre Stoffe zu entlehnen. Es war ein übler Auftakt, der zum Heil der Kunst rasch und spurlos verklang. – Freilich, nicht für alle Themen ist der Boden jetzt gleich geeignet. Mancher Stoff widerstreitet dem zur Monomanie eingeengten Zeitempfinden. Wie man die Gemüter auch ablenken mag, irgendwo bricht doch die alle und alles beherrschende Idee des Krieges durch. Darum empfiehlt es sich für die Bühnenleiter, schon aus dem einfachen Grunde, um Zusammenstöße mit der in dieser pervertierten Zeit doppelt gestrengen Zensur zu vermeiden, eine besonders vorsichtige Auswahl zu treffen. Von neuen Stücken hält sie das gesteigerte Risiko zurück. Was wäre natürlicher, als daß sie, rebus sic stantibus, uns retrospektiv kommen? – Bei den mehr oder minder erfolgreichen Streifzügen durch die klassische Bühnenliteratur ist man jetzt bis zur antiken Komödie vorgedrungen. Das Kleine Theater, das einen verdienstvollen Lustspielzyklus durch alle Länder und Jahrhunderte veranstaltet, ist bei dem Miles gloriosus des Plautus angelangt. Er hieß in der flüssig gereimten Übersetzung des Altphilologen Carl Bardt, die auch einem Ludwig Fulda nicht Unehre machen würde, Der Prahlhans. (Wobei das Soldatische allerdings unter den Tisch fällt.) – […] Die Wiederbelebung der altrömischen Komödie bedeutet natürlich keinen Gewinn für die Bühne der Gegenwart, aber man darf sich diese zwei Stunden Anschauungsunterricht in versunkener Literatur gerne gefallen lassen. Das Kleine Theater spielte sie ein wenig auf den von Studentenkneipen gepflegten Bierulk hinaus. Anachronismen wurden im einzelnen nicht verschmäht. Das war vielleicht nicht stilecht, aber wirksam. Und die Zuschauer fühlten sich am angenehmsten berührt, als ein Terzett von Bogumil Zepler die Rhythmen Offenbachs beschwor. In diesem Zeichen wirst du besiegt, klassisches Altertum!“

Berliner Theater. NZZ, 25. November 1915, Erstes Morgenblatt, Nr. 1590.
Friedrich von Schiller, Maria Stuart (Deutsches Theater, 29.10.15; Theater in der Königgrätzer Straße, 13.11.15). – „Vierzehn Tage nach dem Deutschen Theater [vgl. NZZ vom 06.11.15, Nr. 1489] brachte das Theater in der Königgrätzer Straße seine Lesart der Schillerschen Maria Stuart heraus. Kurz hintereinander hatte man so Gelegenheit, zweimal dasselbe Werk zu sehen. Es war ein edler Wettstreit der schauspielerischen Kräfte und wohl auch der Regisseure. Ich halte die Waage in gerechten Händen, lege das Gute beider Aufführungen in die eine, das minder Gelungene in die andere Schale, entschlage mich aller Vorurteile und fälle, ohne nach Gunst oder Geifer zu fragen, meinen Urteilsspruch. […] – Im Deutschen Theater hätte Schillers Drama nicht Maria Stuart heißen dürfen, sondern Elisabeth von England. Hermine Körner, die aus Dresden kommt, schafft solchen Wandel. Sie rückt die ‚gleisnerische’ Königin, die komplizierteste von sämtlichen Frauenfiguren Schillers, in den Brennpunkt. Da sind männlicher Verstand und weibliches Empfinden unlöslich gepaart. Hinter der Larve, die Elisabeth tragen soll, gewahrt man das Antlitz der geängstigten Herrscherin, des für ihr Glück zitternden Weibes. Bei allem schneidenden Hohn, bei aller simulierten Kälte spürt man das nach Liebe lechzende Herz. Diese Elisabeth duldet wirklich keine andern Götter neben sich. Sie spielt an ihrem Hofe die erste Rolle – die Dresdnerin spielte sie in Berlin. […] Sie hatte es unverhältnismäßig leicht, weil ihr in Maria Fein, die gleichfalls aus Dresden kommt, eine nicht ebenbürtige Feindin gegenüberstand. Diese Maria durfte nicht mit der Maria des Stückes sagen, daß sie besser als ihr Ruf sei. Denn sie gibt schlechtes, überwundenes Theater. Eine späte Nachzüglerin der Heroinen vom alten Schlag. […] – Zum Glück war in der andern Aufführung das der Dichtung entsprechende Kräfteverhältnis hergestellt. Hier prädominiert durchaus die Maria Irene Trieschs. Im ersten Augenblick mag sich eine Diskrepanz zwischen dem Phantasiebild und der äußeren Erscheinung der königlichen Frau, der alle Männer verfallen sind, fühlbar machen (ich bin nun einmal so äußerlich, solche Abweichungen zu bemerken); aber es dauert nicht fünf Minuten, und die seelische Glut der Triesch erstickt jeden Zweifel. Man sieht wirklich das leidende, mißhandelte, getretene Weib. Und das Bewußtsein der ihr zugefügten Schmach leiht der Dulderin Riesenkräfte. […] In der großen Aussprache mit der Gegnerin bricht aller Ingrimm, aller Haß, alle Wut wie ein Naturereignis aus der Triesch hervor. Den letzten tränenseligen Akt spielt sie mit einer Gefaßtheit, die man ja wohl antike Seelengröße nennt. Bewundernd und tief ergriffen neigt man sich vor dieser außergewöhnlichen schauspielerischen Schöpfung. Die Ristori, die einst als beste Maria Stuart galt, kann unmöglich besser gewesen sein; wahrscheinlich lag das Schwergewicht ihres Könnens nicht auf dem Menschlichen, sondern auf dem Rhetorischen. – Leider wuchs die Elisabeth der sonst vielfach so ausgezeichneten Helene Fehdmer, am Maße der Frau Triesch gemessen, nicht zu voller Plastik empor. Vielleicht hatte sie auch gegen die noch ganz lebendige Erinnerung an Hermine Körner zu kämpfen. Frau Fehdmer, deren Milde und Innigkeit sonst das Liebenswerteste an ihr sind, muß sich den herben, harten, heuchlerischen Ton der Elisabeth künstlich abringen. Man spürt zu sehr die Anstrengung, und der Effekt hält dem Effort nicht gleichen Schritt. […] – Wenn ich das Fazit ziehe, überlege ich nicht eine Minute, welche der beiden Aufführungen ich als die interessantere und die wertvollere zu bezeichnen habe: nicht die des Deutschen Theaters. Das zu bekennen ist Pflicht, weil die Leute außerhalb Berlins noch immer denken: Reinhardt, Reinhardt über alles, über alles in Berlin.“

Berliner Theater. NZZ, 26. November 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1597.
Robert Reinert, Die rätselhafte Frau (Komödienhaus, 19.11.15). – „Wenn ein Lustspiel Die rätselhafte Frau, seine Heldin Eva, noch dazu Blond heißt, weiß der Hörer ungefähr, was er zu erwarten hat: ein ungezogenes, ungezügeltes Kind jenseits der sexuellen Aufklärung. Die Rätsel dieser ‚Sphinx ohne Geheimnis’ sind nichts als Launen, die sämtlich aus einem Punkte fließen und aus einem Punkte zu kurieren sind. Frau Eva trennt sich von ihrem ersten Mann, weil sie den Anblick seiner Cyrano-Nase nicht länger ertragen kann, und heiratet fix ihren Rechtsbeistand im Ehescheidungsprozeß. Daneben hat sie noch einen Dritten: den rührend standhaften Hausfreund Rudi, der mit unwandelbarer Ergebenheit auf die Stunde wartet, in der seine märchenhafte Treue belohnt wird. – Zwei Akte läßt man sich diesen bis zur äußersten Farblosigkeit verdünnten Aufguß gefallen oder vielmehr: man läßt sich ihn nicht gefallen, sondern knurrt, weil einem ein gänzlich abgenagter Knochen vorgeworfen wird. Das tausendmal Dagewesene ergötzt keinen Hund mehr. Man wundert sich nicht, von einer indignierten Nachbarin den Ausspruch zu hören, sie möchte endlich einmal eine halbwegs vernünftige Frau auf der Bühne sehen. In der Pause tauschen die Hörer ihre Vermutungen aus. Wird Frau Eva zu ihrem ersten Mann zurückkehren, oder wird sie Nummer drei erhören? Niemand weiß es. Das Lustspiel bietet so viel Möglichkeiten des Ausgangs wie ein Pferderennen. Nächstens wird man einen Totalisator im Theater aufstellen. […] – Die unbegrenzten Möglichkeiten der donna mobile werden nach Kräften ausgenutzt. Was Herr Reinert als das Rätselhafte an der Frau bezeichnet, ist das Triebhafte. Ihr Beilager nur erkläret ihr Verbrechen. Die psychologische Voraussetzung des weiblichen Charakters ist seine Voraussetzungslosigkeit, die logische Laune. Immerhin hat die Konsequenz in der Sprunghaftigkeit etwas Versöhnendes: der Schlußakt mit seiner gut ineinander greifenden Kette von Überraschungen entschädigt für die Dürre und die Dürftigkeit des Vorausgegangenen.“

Berliner Theater. NZZ, 2. Dezember 1915, Zweites Abendblatt, Nr. 1636.
Georg Hermann, Henriette Jacoby (Kleines Theater, 27.11.15). – „… Und Georg Hermann zeugte die Erzählung Jettchen Gebert. Und siehe! sie fand Wohlgefallen in den Augen der Menschen. Da ging er hin und zeugte der Erzählung andern Teil und benamsete ihn Henriette Jacoby. Und abermals fand sie Wohlgefallen in den Augen der Leser. Da beutete er die Beliebtheit seiner Geschöpfe aus und versammelte sie aufs neue in seinem Schauspiel Jettchen Gebert. Und obwohl dieses in den Augen kunstverständiger Mitbürger weniger Gnade fand, konnte er sich nicht enthalten, des Schauspiels zweiten Teil zu verfassen, und er benamsete ihn Henriette Jacoby. – Damit wäre (vorläufig) der tiefste Punkt der absteigenden Linie erreicht. So liebenswerte Glieder die Familie Gebert auch haben mag, mein Bedarf ist nun reichlich gedeckt. Das braucht freilich für den Dichter Georg Hermann nicht das Ende zu bedeuten: ihm bietet sich noch die Möglichkeit, seine beiden weitschweifigen, redseligen Schauspiele zu einem handfesten Theaterstück zusammenzuziehen. Was Jehovah in seiner Allgüte abwenden möge. – Jettchen Gebert, das Schauspiel, war immerhin auch ohne die Kenntnis des Romans genießbar. Henriette Jacoby, das Schauspiel, schwebt ohne die Kenntnis des Romans in der Luft. Die Heldin ging in der Fortsetzung des Buches an einer Gefühlsverwirrung zugrunde: sie erkannte die Wertlosigkeit ihres christlichen Liebhabers, gab sich ihm hin, trotzdem sie eine tiefe Liebe zu ihrem Israelitenonkel Jason Gebert im Herzen trug, und nahm sich mit einer Haarnadel das Leben. Von diesem Zwiespalt der Empfindungen ist im Theaterstück blutwenig übrig geblieben. (Wenig Blut floß schon in den Hauptgestalten des Romans.) […] – Aber man darf von Georg Hermanns Dramatisierung alles andere eher verlangen als Kausalität. Er arbeitet höchst unbekümmert ohne Kontrapunkt. Jede seiner Personen bringt ihre fertige, vom Roman her vertraute Melodie mit und schnurrt sie behaglich ab. Der Liebesroman der gebornen Gebert, vermählten Jacoby schmilzt zu einer Reihe von Familienszenen im Biedermeierrahmen ein. Onkel Eli, der seine ‚Mürbekuchen’ noch verzehrt, als der Leichenwagen schon vor der Türe steht, und sanft im Lehnstuhl entschlummert, ist dem szenischen Bearbeiter wichtiger geworden und kurzweiliger geraten als seine Heldin. Die lose Bilderfolge bleibt vorbildlich für die Art, wie eine Dramatisierung nicht gemacht werden darf. – […] Hoffentlich hat es sich nun ausgegebert.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Dezember 1915, Drittes Mittagblatt, Nr. 1665.
Walter Harlan, Das Nürnbergisch Ei (Deutsches Theater, 02.12.15). – „Henlein, Peter, ein Nürnberger, soll um 1500 die ersten Taschenuhren (Nürnberger Eier) verfertigt haben. So steht es im Konversationslexikon. Trotzdem – ‚vergraben ist in ewige Nacht der Erfinder großer Name zu oft. Was ihr Geist grübelnd entdeckt, nutzen wir: aber belohnt Ehre sie auch?’ So heißt es in Klopstocks Ode vom Eislauf. – Solche Ehre sollte besagtem Schlossermeister Peter Henlein durch Walter Harlans Schauspiel Das Nürnbergisch Ei erwiesen werden. […] Harlan wollte in seinem Drama die Tragik des kranken Genies geben. […] Man mag an Mozart denken, den noch auf dem Sterbebette sein Requiem beschäftigte und mit tiefster Wehmut erfüllte, weil er nicht die letzte Hand daran legen konnte. Auch an den schwindsüchtigen Beardsley mag man denken, der seinen Zustand kannte und in den knapp bemessenen Jahren seines Wirkens von ungestümem Schaffensdrang angespornt wurde. Harlans Held hat wenigstens die Genugtuung, sein Werk auszuführen und die Bewunderung der Welt an der Zahl der einlaufenden Bestellungen zu ermessen. Er ist kein Moses, der das gelobte Land nur von ferne sieht, selbst aber nicht den Fuß darauf setzen darf. Er ist kein Johannes, der, fast am Ziele angelangt, in den Schmerzensruf ausbricht: ‚Nach mir wird einer kommen …’ Ihm gelingt der große Wurf, wenn er auch mit seinem Leben dafür bezahlen muß. Im übrigen scheint mir die Erfindung der Taschenuhr, so unentbehrlich sie uns geworden sein mag, als Uhrständer für ein solches Problem nicht wichtig genug. – Auch der Dichter hat das offenbar empfunden, weil er bestrebt war, künstlich nachzuhelfen. Er läßt von Hans Sachs, von Albrecht Dürer reden, sogar von der Mutter Dürers, die achtzehn Kinder in die Welt setzte, und rückt seinen Meister damit in die Nachbarschaft größerer Meister. Etwas seltsam mag es uns ja berühren, daß im Laden eines Uhrmachers der damaligen Zeit so viel von Kunst und Literatur die Rede war. Wenn ich mir vorstelle, daß ich beim Einkauf einer Taschenuhr heute mit dem Ladeninhaber von Max Liebermann und Gerhart Hauptmann sprechen wollte, er würde mich wahrscheinlich, wenn nicht für ein Genie, so doch für krank halten. Nehmen wir an, daß damals noch bessere Zeiten waren. […] – Solche nicolaitischen Einwände würden vor einer Dichtung natürlich ohne weiteres verstummen. Sie wagen sich nur gegenüber einem mittelmäßigen Theaterstück mit dichterischer Geste hervor. Mehr ist das Schauspiel Harlans auf keinen Fall. Er hat mit der Wahl seines Stoffes einen überraschend guten Griff getan. Er bekundet in der Ausmalung des Zeitkolorits und in etlichen komischen Zügen entschiedene Bühnenbegabung. Er hat wenigstens einen dramatischen Moment aufblitzen lassen: wenn die lebensgierige Frau des Künstlers seine Erfindung aus Eifersucht auf das Werk zerstört. Was er aber nicht im entferntesten zu geben vermochte, ist die Belichtung und Erleuchtung des künstlerischen Genius. Mit der Heiterkeit allein ist es nicht zu machen; da muß etwas von gleichem Geblüt überströmen. Wo aber keine Funken sind, lassen sich auch keine Funken aus dem Stein herausschlagen.“

Kaiser und Galiläer. Ein weltgeschichtliches Schauspiel von Henrik Ibsen. (Zur Aufführung im Berliner Lessing-Theater am 17. Dezember.) NZZ, 28. Dezember 1915, Zweites Morgenblatt, Nr. 1801.
„Wollte man sich einen Augenblick vorstellen, das gesamte Lebenswerk Henrik Ibsens sei, durch einen unbegreiflichen Zufall, verloren gegangen und nur das ‚weltgeschichtliche’ Schauspiel Kaiser und Galiläer übrig geblieben – man vermöchte daraus niemals auf den künftigen Zertrümmerer der bestehenden Gesellschaftsordnung, niemals auf den spätern Meister der dramatischen Technik zu schließen. Der hat seinen Gedanken die knappste Form, seinen Gestalten die schärfste Prägung gegeben. Der hat vor allem Gedanken, eigene, gehabt, und nicht bloß Legenden fortgepflanzt. Der hat wacker mitgeholfen, den größten Schwindel der Weltgeschichte: die Weltgeschichte, aufzudecken, zu entlarven, abzubauen. – Hier aber macht er mit, übernimmt Gegebenes, legt ihm übertriebene Bedeutung bei. Hier braucht er zwei Teile, zehn Akte und innerhalb der einzelnen Akte noch mehrere Verwandlungen, braucht also den weitläufigsten Apparat für eine im Grunde nicht überragende Bildnerkraft. […] Eine große Leinwand mit sehr vielen Figuren, die Zünftler sprechen unehrerbietig von einem großen Schinken – das ist dieses weltgeschichtliche Schauspiel, das den Untergang der Antike und den nicht mehr zu hemmenden Siegeslauf des Christentums vorführt. […] – Daß das Lessing-Theater just im siebzehnten Kriegsmonat sich an eines der langwierigsten und schwierigsten dramatischen Werke heranwagte, stellt deutscher Unternehmungslust und Leistungsfähigkeit jedenfalls ein glänzendes Zeugnis aus. Melpomene und Thalia brauchen hierzulande vor Bellona samt den Furien nicht das Haupt zu verhüllen. Immerhin bleibt die Frage offen, ob ein solcher Aufwand an einen lohnenden Gegenstand verwendet wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Januar 1916, Zweites Blatt, Nr. 2.
Otto Falckenberg, Der Stern von Bethlehem (Deutsches Theater, 27.12.15). – „Post festum, am sogenannten dritten Weihnachtstag, der recht eigentlich eine Erfindung für Gevatter Schneider und Handschuhmacher ist, gab es im Deutschen Theater ein deutsches Krippenspiel zu sehen […]. Ihrer dramatischen Wirksamkeit nach sind die Weihnachtsspiele natürlich nicht im entferntesten mit den Passionsspielen zu vergleichen. Neben derem tragischem Gehalt verschwimmen sie völlig in den veilchenblauen Farben der Idylle. Die einzige ernstere Episode bringt der Mordauftrag des Königs Herodes hinein, den man nicht so als mauschelndes Jüdchen hätte darstellen sollen, wie es allzu grotesk und anachronistisch geschah. Sonst herrschen Naivität und Primitivität in dem Krippenspiel vor. – Sie sollten es tun. Der Herr des Deutschen Theaters [Max Reinhardt] tauchte sie aber in alle Künste des modernen Ausstattungszaubers. […] Goß reich und überreich alle Effekte des elektrischen Lichtes über die Szene. Stellte die schönsten lebenden Bilder: mit Rossettis Ecce ancilla domini anhebend, mit Rembrandt schließend, zwischendurch bei van der Goes verweilend und das übrige seinem erprobten alten Meister Ernst Stern überlassend. Es war, als ob man in einem Bilderatlas blätterte. So wurde das schlichte Spiel, das kindlichen Herzen von der Geburt des Heilands erzählt, mit allem Raffinement der Rampen gespickt. Das ‚Mirakel’, das im Zirkus zur Welt kam, ward auf das Theater verpflanzt. Holdseligster Kitsch breitete sich vor den entzückten Blicken von Hinz und Kunz aus, eine wahre Orgie des Kitsches. Und siehe! Reinhardt war den Menschen ein Wohlgefallen… – Doch die andere Heilsbotschaft ‚Friede auf Erden!’ – wo blieb sie? Ein gar seltsames Bild war es für das von der Gegenwart düster beschattete Auge, als die drei Könige des Morgenlandes vor der Wiege, die den Weltenerlöser barg, demutsvoll das Knie neigten und ihm ihre goldenen Kronen zu Füßen legten. Irdische Macht dem Evangelium der Liebe huldigend – wahrlich, man müßte werden wie die Kindlein, um so frommen Wahn einer besseren Vergangenheit zu glauben. Selbst die Kunst vermochte nicht die ungeheure Kluft zwischen Märchen und Wirklichkeit zu überbrücken; die Kunst ließ sie doppelt schmerzlich fühlen.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Januar 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 96.
Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz (Deutsches Theater, 12.01.16). – „Dank diesen beiden Künstlern [Else Lehmann als Wolffen und Oscar Sauer als Wehrhahn] wuchs sich der Biberpelz mit der Zeit zu einem Kassenstück aus und dürfte heute das am meisten gespielte Werk Hauptmanns sein, das Schicksal von Grillparzers anfänglich abgelehnter Komödie Weh dem, der lügt wiederholend. […] Max Reinhardt riskierte darum wenig, als er der zyklischen Vorführung der dramatischen Lebensarbeit Gerhart Hauptmanns nach Schluck und Jau und dem Kollegen Crampton jetzt die beliebte Diebskomödie einfügte. Er riskierte um so weniger, als er die unvergleichliche Else Lehmann, die seit dem Zusammenbruch des Deutschen Künstlertheaters obdachlos geworden war, zur Wiederbelebung ihrer meisterhaften Schöpfung heranzog. Sie steht in unverwelklicher Frische da, ist herrlich wie am ersten Tage; vielleicht noch herrlicher, weil die Bildnerin sich mittlerweile dem Alter des Gebildes angenähert hat. Sie ist wirklich ein Stück Leben, sie ist ein Stück Wirklichkeit, wie es leibt und lebt. Nirgends spürt man einen Aufwand von Mitteln, in keinem Augenblick läßt sie den Begriff Theater aufkommen. Gerade dadurch wird sie eine Art Kontrolle und Kritik der Mitspieler. Eine markante Stilverschiedenheit enthüllt sich. Die Reinhardt-Leute geben noch in ihren besten Leistungen Theater; die besten Leistungen geben es vielleicht am sichtbarsten. Da ist der ungemein temperamentvolle Pallenberg als der bestohlene Rentier Krüger: er kann es sich nicht versagen, die dichterische Gestalt auf seine Weise auszugestalten und umzudichten, setzt Schnörkel an, übertreibt, unterstreicht, extemporiert alles höchst amüsant, aber doch mit einem Überschuß von zwanzig Prozent. Das ist der Unterschied zwischen den Schauspielern bei Brahm und Reinhardt: jene waren, was sie verkörperten; diese machen es. Jenen galt die Sache höher, diesen die eigene Person. – Aber die Menge hat dafür offenbar wenig Sinn und Gefühl. Sie tat so, als ob der Biberpelz erst jetzt seinen Erwecker gefunden habe, und bereitete allen Beteiligten, ohne sich um Stilfragen zu kümmern, einen überschwenglich lärmenden Triumph.“

Die gutgeschnittene Ecke. Tragikomödie in fünf Akten von Hermann Sudermann (aus der Trilogie Die entgötterte Welt). Uraufführung im Lessing-Theater zu Berlin am 28. Januar. NZZ, 3. Februar 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 176.
„Nichts, gar nichts hat sich geändert. Wenig, sehr wenig wird sich ändern. Wer die letzten achtzehn Monate schaudernd miterlebt hat, läßt sich, sofern er nicht ganz verblendet und verblödet ist, diese Überzeugung nicht mehr rauben. Der Krieg hat – herrlichster Gewinn! – den Krieg ad absurdum geführt. Wenn etwas mit seiner ungeahnten Länge versöhnen kann, so ist es dies: daß sie die falsche Gefühlsrechnung, die zuerst mit dem ‚Naturereignis’ verbunden wurde, gründlichst und für alle Zeiten aufgedeckt hat. Von der gepriesenen Generalreinigung, von der Läuterung der Geister und der Erhebung der Seelen – du lieber Himmel, was ist denn davon übrig geblieben? Das Allheilmittel, das sämtliche Schäden und Gebrechen der im Frieden angeblich rastenden und rostenden menschlichen Gesellschaft mit Sturmesmacht hinwegfegen sollte, hat ihr eine Pandorabüchse neuer Übel gebracht. Oder sind es gar dieselben? Hat man am Ende nicht den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben? Die Wertvollen brauchten nicht durch den Krieg sich ihres Wertes erst bewußt, die Gemeinen durch ihn nicht noch gemeiner zu werden. Kaff bleibt Kaff; Kaffer bleibt Kaffer. Niemals werden die Letzten die Ersten sein. Nur die Steuerklasse vieler Mitbürger hat sich geändert. Nichts, gar nichts hat sich geändert… – Hermann Sudermann, der Dichter, weiß es anders. Als das Gewitter losbrach, schlug er, von seiner Größe überwältigt, hinreißend in die Saiten: ‚So, ihr Freunde, fiel der Plunder, / Der uns Kleid und Schmuckstück war, / Freunde, uns geschah ein Wunder, / Und das schuf uns die Gefahr. / Denket daran immer, immer! / Sagt es Kind und Kindeskind! / Was wir waren, sank in Trümmer, / Ewig blühe, was wir sind!’ – Diese Verse stellt Hermann Sudermann, der Verfasser gangbarer Theaterstücke, als eine Art Prolog an die Spitze seines Dramenzyklus Die entgötterte Welt. Bedeutet er eine Hedschra aus dieser ‚entgötterten’ Welt? […] Er wird seine alten Götter – seid unbesorgt! – in der kommenden Zeit wiederfinden. So wenig die Katze das Mausen läßt, wird sich Sudermann enthalten können, von den Früchten, die an seines Schaffens goldnem Baume hingen, auch künftig zu naschen. Noch lebt der alte Sudermann. Nur die Aufmachung ist neu. […] Seid unbesorgt: der alte Sudermann, der Sodoms Ende geschrieben und Sodoms Ende verkündet hat, wird weiter leben, weil er seine Natur nicht mit dem Knüppel austreiben kann. – […] Mit Kunst, der heiligen Himmelstochter, hat diese Tragikomödie wenig zu tun. Sie ist gute Konfektion. Marke Sudermann mit allen ihren Vorzügen, die sie Theaterleitern empfehlen, aber auch mit jenen Defekten, die ihrer Effektsucht entspringen. So echt der Ton der Schieberkreise geraten sein mag, so unecht wird der Ton, wenn feinere Schwingungen in Frage kommen. Blumig, knallig, ölig – anders läßt sich die mitunter unerträglich pomadisierte Ausdrucksweise nicht kennzeichnen. Man lechzt nach einem Handtuch.“

Berliner Theater. NZZ, 8. Februar 1916, Zweites Morgenblatt, Nr. 204.
Gabriel Drégely, Der Gatte des Fräuleins (Lustspielhaus, 28.01.16). – „Herr Gabriel Drégely, Verfasser einer Komödie Der gutsitzende Frack, die an vielen Orten, auch in Zürich, gefallen hat, war mir eine neue Erscheinung. Er ist meines Wissens Ungar; von einer neuen Erscheinung läßt sich daher nicht so uneingeschränkt sprechen. Denn die modernen Ungarn, die wir auf deutschen Bühnen gesehen haben, empfahlen sich mehr durch ihren internationalen als ihren nationalen Ton, im Gegensatz zu der stark national gefärbten Musik des Landes. Sie waren Mitläufer, geschickte Anpasser, Herrichter, Zuschneider. Die Nachfrage schien für sie enscheidender als der schöpferische Drang, die Handelsmarke ‚Le public le veut’ bestimmender als das Schibboleth ‚Dieu le veut’. Von sämtlichen dramatischen Erzeugnissen der jungungarischen Schule, soweit sie den Weg über die Grenze gefunden haben, konnte einzig das Volksstück Liliom von Franz Molnár, der seine Kollegen mindestens um Haupteslänge überragt, dichterischen Wert beanspruchen. Alles andere war Spekulation, und nicht immer auf edle Regungen oder Neigungen der Menge.“

Berliner Theater. NZZ, 14. Februar 1916, Zweites Mittagblatt, Nr. 240.
Maria von Hobe, Macbuleh (Zirkus Schumann, 07.02.16). – „Macbulehs Schicksal erinnert, wie jeder Backfisch gern bestätigen wird, augenfällig an das einer gewissen Johanna d’Arc bei einem gewissen Schiller. (‚Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder’ darf es fürderhin nicht heißen; sie ist wiedergekehrt.) […] Diese Jungfrau von Türkisch-Orleans spricht Carmen Sylva in einem dem Programm vorgedruckten Geleitwort als die Iphigenie des Orients an (nebenbei redet sie auch von dem ewigen Werk der großen Dichterin Maria von Hobe). Man kann nicht umhin, mit der fürstlichen Frau wenigstens die eine Ähnlichkeit zu betonen, daß beide Heldinnen Priesterinnen sind und sich für ihre Spruchweisheit des Blankverses bedienen. Im übrigen ist der Abstand zwischen Agamemnons Tochter und Macbuleh etwa so groß wie der zwischen Karoline Schlegel und Friederike Kempner. Als Karoline im Kreise der Romantiker Schillers Lied von der Glocke vorlas, sollen die Anwesenden vor Lachen unter dem Tisch gelegen haben. Wenn sie diese Base der Schillerschen Johanna mit Musik von Victor Hollaender, der für süße Mägdelein vom Metropoltheater her prädestiniert ist, im Zirkus erlebt hätte – nein, es wäre nicht auszudenken…“

Berliner Theater. NZZ, 24. Februar 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 298.
Rokoko: Goethes Singspiel Die Fischerin mit der Musik von Corona Schröter und Mozarts komische Oper Die Gärtnerin aus Liebe in der Neubearbeitung von Oscar Bie, beides zusammen eingebettet in ein Rahmenspiel von Rudolf Presber (Kgl. Schauspielhaus, 17.02.16). – „Zwei Miniaturbilder zweier Menschheitsbeglücker vom Versgeplätscher eines betriebsamen Zeitgenossen benetzt. Wessen Haupte die Idee einer solchen Einrahmung auch entsprungen sein mag, sie wäre besser unausgeführt, noch besser: ungeboren geblieben. Der Dreibund Goethe – Mozart – Presber erscheint empfindlicheren Naturen vielleicht doch etwas zu ungleichwertig. Es könnte sie mit Recht verdrießen, daß ein Juwel von seltener Art wie die Buffo-Oper des ewig jungen Mozart sich die à jour-Fassung eines modernen Goldschmieds oder doch Reimschmieds gefallen lassen mußte. […] – Ein einziges Entzücken geht von dem holden Werk [Die Gärtnerin aus Liebe] des Achtzehnjährigen aus. Man schwelgt, man badet, man versinkt in Wonne. Von dieser Melodienfülle könnten bequem sechs moderne Komponisten ihre Opern speisen; für die übrigen fiele auch noch etwas ab. Der Reichtum der Erfindung hat etwas selig Selbstverständliches. Arien und Ensemblesätze wechseln in bunter Folge. Wie ist das alles aus dem Handgelenk geschüttelt! Mit welcher unversieglichen Anmut wird das spielend hingeworfen! Welche kleinen allerliebsten Scherze huschen im Orchester vorüber! Es gibt nur ein Wort zur Kennzeichnung eines so schöpferischen Überquellens: Genie! Genie! Genie! Mag dieses Genie uns in spätern Werken auch noch andere, tiefere Seiten seines Wesens erschlossen, uns menschlich stärker ergriffen haben: gerade die Erinnerung an sie kommt als Reiz hinzu. Es ist überaus köstlich, bald an eine Melodie, bald an eine Gestalt aus einer Oper seiner Reifezeit zu denken. Im Keime hat man hier schon den ganzen Mozart. Und wenn man sich auch gelegentlich vielleicht nach etwas Schatten sehnt, so saugt man doch dieses wohlige Licht mit allen Sinnen ein. Dank dem Schatzgräber.“

Berliner Theater. NZZ, 2. März 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 339.
Gerhart Hauptmann, Fuhrmann Henschel (Volksbühne, 21.02.16). – „Mein Herz zog mich ins Königliche Opernhaus. Zu Verdis Maskenball. Nicht als ob ich eine besondere Schwärmerei für dieses Werk des Italieners hegte und keine Vorstellung zu versäumen entschlossen wäre. Sondern weil wir seit kurzem in den Herren Jadlowker und Joseph Schwarz zwei Vertreter des bel canto besitzen, um die uns Amerika beneiden könnte. Jedes gemeinsame Auftreten der beiden Künstler wird zu einem edlen Stimmenwettstreit und zu einer musikalischen Schlemmerei ersten Ranges. Berlin treibt mit ihnen eine Heldenverehrung, wie sie üppiger auch nicht in Wien, der Zentrale des Personenkults, gedeihen kann. Als sie vor wenigen Monaten zum erstenmal im Troubadour zusammen sangen und miteinander rangen, geriet das Publikum in einen Taumel der Verzückung, wie man ihn bei zurückhaltenden nordischen Naturen eigentlich nur an Caruso-Abenden erlebt hat. Solche seltenen Gelegenheiten, die einen für viele mäßige Vergnügungen des Schauspiels entschädigen, darf man sich nicht entgehen lassen. Also auf ins Opernhaus! Der Montag ist bekanntermaßen der schlechteste Theatertag, der dies ater des Kassierers; vielleicht ergattert man noch eine Eintrittskarte. Leider waren an der Abendkasse nur noch ungünstige Logenplätze für teures Geld zu haben. Um einen Kunstgenuß ärmer, um eine Enttäuschung reicher, mußte ich unverrichteter Dinge abziehen. So geschehen an der Schwelle des zwanzigsten Kriegsmonats! Das ist der wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands, wie er sich in des Reiches Hauptstadt äußert. Und da sich schwerlich annehmen läßt, daß nur Kriegslieferanten die Oper besuchen und für einen Parkettsitz zehn Mark zu opfern bereit sind, kann es um die Finanzen des Herrn Michel nicht gar so traurig bestellt sein. Das sei mit besonderer Genugtuung in einem neutralen Blatte verkündet, auf daß es überall gehört werde. – Die Pflicht rief mich in die Volksbühne am Bülowplatz, wo Gerhart Hauptmanns Fuhrmann Henschel zum erstenmal aufgeführt wurde. Als ich dort anlangte, war überhaupt kein Platz mehr an der Abendkasse käuflich. Nicht ein einziger Platz frei in einem Riesenraum, der mindestens zweitausend Menschen faßt. Noch dazu an einem Montagabend (s. oben!). Und da sich schwerlich annehmen läßt, daß nur Kriegslieferanten die Volksbühne besuchen und für einen vordern Parkettsitz sieben Mark zu opfern bereit sind, müssen sich auch die Herren Hinz und Kunz noch beträchtliche Nebenausgaben leisten können. Jedenfalls scheint der Kunsthunger in Berlin unerschöpflich groß zu sein. (Nur durch einen Zufall erlangte ich noch im letzten Augenblick ein Billett.) – Offen gestanden, trug ich kein sonderliches Verlangen, die Bekanntschaft mit diesem Hauptmannschen Werke zu erneuern. Was man in höchster Vollendung gesehen und was sich den Sinnen unverlöschlich eingeprägt hat, das soll man so wenig wie eine Jugendliebe auffrischen wollen; denn es muß mit einer Enttäuschung enden. Besser machen als Brahm konnte es Reinhardt unmöglich, kann es niemand; es ließ sich also nur ein Maßstab gewinnen, wie weit er hinter seinem Vorgänger zurückblieb. Nun denn: die Brahmsche Aufführung des Jahres 1898 wuchs zu einem Mythos empor. Damit soll nichts gegen Reinhardt, alles für Brahm gesagt sein. Was vergangen, kehrt nicht wieder …“

Berliner Theater. NZZ, 8. März 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 367.
Herbert Eulenberg, Münchhausen (Kleines Theater, 23.02.16). – „In meiner ebenso reichhaltigen wie – man verzeihe das Selbstlob! – übersichtlichen und der Benutzung in jedem Augenblick dienstbaren Theaterzettel-Sammlung, die nun schon fast zwei Jahrzehnte umspannt und dereinst, wenn mein Astralleib auf der Asphodeloswiese wandeln wird, eine Zierde des Märkischen Museums zu bilden verdiente, findet sich manches Unikum. Damit soll nicht in vermessener Überhebung gesagt sein, daß ich der einzige stolze Besitzer solcher unschätzbarer Dokumente bin; sondern das Wort ist hier in dem Sinne aufzufassen, daß es sich um Programme von Theatervorstellungen handelt, die keine Wiederholung erlebten, deren Premiere also ihre Derniere geblieben ist. […] Man könnte diese Unika auch die totgebornen oder während des Geburtsaktes verstorbenen Kinder der dramatischen Muse nennen […]. Dazu gehörte, aller menschlichen Voraussicht nach, auch folgender Zettel: Berliner Theater. Mittwoch, den 19. Februar 1902 nachmittags 3 Uhr Eröffnungs-Vorstellung der ‚Neuen Bühne’: Münchhausen. Deutsches Schauspiel in 5 Akten von Herbert Eulenberg. – Fast auf den Tag sind das vierzehn Jahre her. – […] Hätte meine Erinnerung gar nichts festgehalten – und vierzehn Jahre sind letzten Endes nicht ‚wie ein Tag, der gestern gewesen’ –, so wär’ ich doch mühelos in der Lage, sie aufzufrischen. Ich brauchte nur Nr. 72 der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. März 1902 nachzuschlagen. (Wer außer mir und dem Archiv des Blattes mag wohl noch jene Nummer besitzen?) Da steht zwar keine ausführliche Besprechung des Eulenbergschen Erstlings, sondern er wurde als dramatischer Unglücksfall verzeichnet und mit wohltätigem Schweigen zugedeckt. […] – Hat sich der Kritiker einen Vorwurf zu machen? Steht er als der Blamierte da? Dem Kurzsichtigen könnte es so scheinen. Denn nun kommt nach vierzehn Jahren ein Bühnenleiter, George Altman vom Kleinen Theater, das für Eulenberg sein möchte, was das Theater in der Königgrätzer Straße für Strindberg ist, und gräbt das dramatische op. 1 seines Hauspoeten unerschrocken aus. – Soll man den Wagemut rühmen? Ach nein, es handelt sich hier nicht um die Rehabilitierung eines unschuldig Verurteilten, nicht um die Revision eines Prozesses, die notwendigerweise zu einem andern Ergebnis als die erste Instanz gelangen muß, nicht um einen Durchfall des Publikums, wie die Geschichte der Künste deren eine ganze Reihe bucht. Der Urteilsspruch von 1902 besteht zu Recht.“

Berliner Theater. NZZ, 11. März 1916, Zweites Mittagblatt, Nr. 388.
William Shakespeare, Macbeth (Deutsches Theater, 29.02.16). – „Für seine jetzige Neueinstudierung im Deutschen Theater hat Reinhardt den Macbeth ganz und gar schottisch eingekleidet. Die Krieger laufen mit nackten Knien im Kilt herum und haben großgewürfelte Plaids malerisch umgeschlungen. Geradezu urkomisch nehmen sich in solchem Aufputz die Mörder aus. Auch die Frauen – in diesem Männerstück kommen nur zwei vor – erscheinen in Nationaltracht; schade, daß sie nicht den Baedeker in der Hand hatten. […] Um das schottische Kolorit konsequent durchzuführen, hatte man auch noch die Musik herangezogen: zwischen den einzelnen Verwandlungen ertönte ein Schlachtmotiv, in dem das schottische Nationalinstrument, der Dudelsack, vorherrschte. […] – Die zweite Besonderheit der Reinhardtschen Inszenierung lag in dem Verzicht auf Dekorationen und in der Verwendung von Vorhängen. Mag das an sich löbliche Prinzip im einzelnen auch virtuos durchgeführt sein, so regen sich doch Bedenken, es just für Macbeth zu gebrauchen. […] – Doch die Vorhänge und Schleier gaben dem Regisseur die willkommene Gelegenheit, alle Register seiner Beleuchtungskünste zu ziehen. Ich habe mir den ganzen Abend den Kopf zerbrochen, woher die verschiedenen Lichtquellen stammten, und bin schließlich zu der Annahme gelangt, daß sie irgendwie geheimnisvoll im Kronleuchter untergebracht waren. Solche Ablenkungen sind schwerlich dazu angetan, die Teilnahme ungeschmälert der Dichtung zuzuwenden. Es ist nicht meine Schuld, daß meine Gedanken so abschweiften. An neuen Einfällen leidet Reinhardt wahrlich keinen Mangel; aber sie gefallen sich allmählich darin, ausschweifend zu werden, und steuern mit vollen Segeln dem Kitsch zu. Wenn er in der Ermordungsszene des Königs Duncan mit blutig rotem Licht arbeitet, so gewahrt man Effekte, die bisher dem Melodram und dem Kino vorbehalten waren und es hoffentlich bleiben werden. – Wie immer bei Reinhardt, seitdem ihm die Beleuchtung über die Belichtung eines Werkes geht, fiel ein eigener Glanz nur auf zwei Nebenszenen. Das unschuldsvolle Geplauder der Lady Macduff mit ihrem (wie alle Shakespeareschen Kinder) altklugen Knäblein kam zu eindringlicher Wirkung, und die Szene, in welcher der Königssohn den noch zaudernden Macduff auf seine Seite zieht, schlug kräftig ein – dank der flammenden Beredsamkeit des Herrn Paul Hartmann. Anderes, wie der Auftritt des Pförtners, war übertrieben, weil dem Dichter zu bewußt nachgeholfen und der Kontrast äußerlich unterstrichen wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 14. März 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 400.
Max Bernstein u. Ludwig Heller, Das Mädchen aus der Fremde (Komödienhaus, 29.02.16). – „Ein gallischer Verwechslungsschwank für eine biedere Bürgerhörerschaft ohne dessen Nationalgewürz: Esprit und Verve, dafür aber auch ohne Frivolitäten und Laszivitäten. An Haupt und Gliedern hübsch harmlos hergerichtet für den Familiengebrauch.“

Karinta von Orrelanden. Drama in drei Akten von Franz Dülberg. (Zur Aufführung im Kgl. Schauspielhaus zu Berlin [am 11.03.16].) NZZ, 17. März 1916, Erstes Abendblatt, Nr. 424.
„Er [Dülberg] hatte schon vor etlichen Jahren einen Fuß im Steigbügel, als sein Erstlingswerk Korallenkettlin hier die Feuerprobe bestehen sollte; da glaubte eine hyperängstliche Zensur das Staatswohl ernstlich bedroht, weil – es ist nicht auszudenken! – ein Prinz in einem Freudenhaus einkehrt, und Roß und Reiter sah man niemals wieder. Nun half ihm die Hofbühne in den Sattel, und wenn der Dichter auch gewiß nicht lange reiten wird, so ist doch ein früher Gezeichneter jetzt ein Ausgezeichneter geworden. – Für das große Publikum ist die Woiwodentochter Karinta von Orrelanden, die sich durch zwei getrennte Akte ihrer beiden Kinder entledigt, während die Zauberin Medea ihre beiden Kleinen auf einmal abschlachtet, natürlich eine Unmöglichkeit. Umso gebieterischer erwächst der Kritik die Pflicht, die Besonderheiten des Werkes aufzuzeigen. Bei der Lektüre hat es mich stark gefesselt, bei der Aufführung ziemlich unberührt gelassen. Also ein Buchdrama? wird man zu schließen geneigt sein. Keineswegs. Hier liegt der nicht alltägliche Fall vor, daß ein bis zum Rande mit Handlung gefülltes Drama, dessen Vorgänge sich fieberhaft jagen, durch die Darstellung nicht gewonnen hat. Das kommt wohl daher, daß die verborgenen Triebkräfte der Personen nicht in helleres Licht gerückt werden, weil sie zu sehr mit Reflexionen belastet sind. Wir bewegen uns in einer ausgesprochen pathologischen Gefühlszone, deren dunkle Zusammenhänge aus dem Sinnlichen ins Übersinnliche hinüberspielen. – Der Stoff ist so balladenhaft wie möglich (oder auch: unmöglich). Er entstammt der Fibel der Romantiker, Des Knaben Wunderhorn; aber die Art, wie er bei aller Glut der Leidenschaft mit eisiger Verstandeskälte behandelt ist, erinnert doch wohl an Hebbel. Wie bei dem Dithmarschen werden die Flammen des Blutes unter den prasselnden Wasserstrahl der Gedankenblässe gesetzt, Affekte zwischen den Mühlsteinen eines grübelnden, bohrenden Hirns zerrissen, so daß etwas mehr Überspitztes als Überhitztes entsteht. Darum kommt keine Teilnahme für die Menschen auf, und das Ganze erfüllt einen im besten Falle mit frierender Hochachtung.“

Zwei Spiele. – Mechtild Lichnowsky: Ein Spiel vom Tod. Dramatische Dichtung in 8 Bildern. (Uraufführung im Lessing-Theater zu Berlin am 16. März.) – August Strindberg: Ein Traumspiel. Phantastisches Drama in einem Vorspiel und 3 Akten. (Uraufführung im Theater in der Königgrätzer Straße am 17. März.) NZZ, 24. März 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 468.
„Zwei besondere Abende. Ausgezeichnet durch den hohen Stimmungsgehalt der von magischer Musik erfüllten Werke wie durch ihre allen Wirrsalen der Gegenwart entrückte Luftschicht. Sie verweilen wohl bei irdischen Leiden, und doch, sie sind von dieser Erde nicht. Während der Wahn der Welt unablässig weiter zum Himmel schreit, senkt sich die Himmelstochter Poesie hernieder und reicht den gefolterten Seelen für kurze Stunden das Manna holden Vergessens. Du hehre Kunst, ich danke dir.“ – Zu Lichnowskys Spiel vom Tod: „Erlesene Bilder und Vorbilder sind nicht spurlos an der Fürstin Lichnowsky vorübergegangen. Den fühlbarsten Anstoß scheint Hofmannsthals Gedicht vom Tod und dem Toren gegeben zu haben, nicht so sehr in konkreten Einzelheiten wie in der Grundmelodie, der weichen Trauer, die das Ganze umfließt. […] – Kein Ende finden können – das ist ein untrügliches Zeichen des Dilettantismus, und davon läßt sich Mechtild Lichnowsky nicht freisprechen. In der Hand eines resoluten Könners wären ihre acht Bilder leicht auf die Hälfte zu verdichten gewesen. Hier hätte der Rotstift des Regisseurs noch beherzter nachhelfen sollen. Sonst blieb die Aufführung des Lessing-Theaters der durchaus undramatischen, aus Lyrik und Lallen gemischten Träumerei nichts schuldig.“ – Zu Strindbergs Drama: „Strindbergs Traumspiel, das bisher auch in seiner Heimat ein ungehobener Schatz war, wurde durch die Mitarbeit des Malers Svend Gade und des Komponisten E.N. von Reznicek zum Ereignis des Theaterwinters und ist wirklich eine Sehenswürdigkeit, wie sie alle Schaltjahre nur einmal gelingt. Auf Gades hervorragende Leistungen wurde hier öfters hingewiesen; diesmal hat er, wie es in der herkömmlichen Wendung heißt, sich selbst übertroffen. Ob er nun vom Alltag beschattete Innenräume oder überaus phantastische Örtlichkeiten wie die Fingalsgrotte mit der auf sturmgepeitschtem Meer schwebenden Erscheinung des Heilands zu veranschaulichen hatte: die herrlichen Bühnenbilder lösen sich glaubhaft aus der Natur des Traumspiels mit allen seinen Ungereimtheiten und werden, von wunderbaren Beleuchtungseffekten unterstützt, zu einem Gipfel zeitgenössischer Ausstattungskunst. – Dazu schrieb ein geistreicher Komponist wie Reznicek die verbindende Musik. Auch er hat sämtliche Farben auf seiner Palette und mischt sie virtuos. Ganz wenige Klänge genügen ihm, die jeweils geforderte Stimmung hervorzuzaubern. Bald arbeitet er wie Wagner leitmotivisch, bald illustrierend wie Debussy. Aber immer trifft er mit sparsamen Mitteln den Ton. Wie weiß die nie versagende Solovioline menschliches Leid zu schluchzen, wie schwelgt das Cello in Liebeswehmut! Auch der krause Humor des Werkes kommt durch moderne Kakophonien überzeugend zur Geltung. Reznicek und Gade dürfen mit dem Regisseur Bernauer den Hauptanteil an einer unendlich mühevollen, von rauschendem Erfolg gekrönten Darbietung beanspruchen. Sie haben Strindberg kräftigst unter die Arme gegriffen. – Für die Dichtung selbst vermag ich nicht dieselbe Bewunderung aufzubringen. Sie ist sein altes Lied in neuer Form. Auch hier hat ihm seine Besessenheit ein Bein gestellt. Die Erdenwanderung seiner Göttertochter wird zur Höllenfahrt. […] – Genauso, wie sich der Gottentsprossenen die Erkenntnis bemächtigt: es ist schade um die Menschen, werden die Menschen die Einsicht nicht los: es ist schade um den Dichter August Strindberg. Jammerschade, daß schmerzliche oder auch nur peinliche Erlebnisse seine grandiosen Visionen vergällten und fälschten, seinen auf den Grund der Dinge schauenden Blick trübten und ihn mit Vorliebe auf der Schattenseite des Lebens verweilen ließen. Sein heilloser Pessimismus verscheucht die zu kurzer Rast Einkehrende; die zu dauerndem Aufenthalt in diesem Bezirk Verdammten werden aber nicht von der Vorurteilslosigkeit eines poète maudit überzeugt, sondern gewahren, daß ihn sein Zerrspiegel auch im Traume nicht verließ.“

Berliner Theater. NZZ, 22. April 1916, Drittes Mittagblatt, Nr. 641.
„Nach einer Pause von vier Wochen ist nichts Neues zu berichten. Nichts Neues von Belang wenigstens oder, wie es in den amtlichen Kundgebungen vom Kriegsschauplatz heißt: keine besonderen Ereignisse. – Auch der leidenschaftlichste Theaterbummler wird es nicht als besonderes Ereignis bezeichnen wollen, daß Meyerbeers Afrikanerin in der Kgl. Oper eine strahlende Wiederbelebung erfuhr [01.04.16]. Und doch wurde diese Aufführung zu einer Sensation (das Fremdwort läßt sich nicht vermeiden). Durch rein äußere Umstände: vier Sänger von herrlichem Können – die Damen Dux und Kemp, die Herren Jadlowker und Schwarz – stellten ihre hohe Kunst in den Dienst dieser verrufenen Sache, und siehe da! Meyerbeer, den man nach Richard Wagners gegen ihn geführten Todesstoß überwunden, ein für allemal erledigt wähnte, wirkte das Wunder, seine frühere Gewalt über die Hörer auszuüben, fast wie in den Tagen seines europäischen Glanzes. […] – Unbeträchtliche Aktionen darf man, ohne die Wißbegier der Leser schmälern zu wollen, ruhig unter den Tisch fallen lassen. So etwa, wenn das Kleine Theater einen Schwank Logierbesuch von Fritz Friedmann-Frederich spielt [18.03.16]. – […] Ein Shakespeare-Zyklus rollt zurzeit im Deutschen Theater ab [XIII: Macbeth (s.o. NZZ vom 11.03.16, Nr. 388)]; gilt es doch, den Schwan vom Avon, dessen Sterbetag sich demnächst zum dreihundertstenmale jährt, nach Gebühr zu ehren. Man glaubte, das wagen zu dürfen, ohne sich vorher von allerlei mehr oder minder anfechtbaren Autoritäten einen Erlaubnisschein ausstellen zu lassen. Es geht also auch ohne Reklame, und man erspart ihnen eine denkwürdige – Überflüssigkeit. – Nebenan in den Kammerspielen regiert Molière mit dem Eingebildet Kranken die Stunde [10.03.16]. Ein Engländer und ein Franzose seit Wochen bei Reinhardt, Verdi und Bizet ständig in der Oper: wir greifen nicht zu Ausländern, weil wir unsern Bedarf nicht im eigenen Lande zu decken vermöchten – wir sind ja so beneidenswert reich –, sondern weil wir ihre durch keinen Grenzpfahl zu hemmende Mission an die Menschheit vorurteilslos anerkennen. Mögen es andere Völker in diesem Punkte halten, wie es ihnen beliebt: in Deutschland gibt es keinen vernünftigen Menschen, der nicht aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüt an die völkerverbindende Macht der Kunst glaubt.“

Die Troerinnen des Euripides. In deutscher Bearbeitung von Franz Werfel. (Zur Aufführung im Berliner Lessing-Theater am 22. April.) NZZ, 28. April 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 670.
„‚Und alles das um nichts! Um Hekuba! Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, daß er um sie soll weinen?’ mag manch einer mit Hamlet gedacht haben, als ihm das furchtbar grausige Klagelied der Troerinnen in die Ohren gellte und an seiner Seele abprallte, weil sie von den myriadenhaft grausigeren Zeitgeschehnissen bis zum Rande gefüllt ist. – War es ratsam, das auf der Weh-Saite wühlende Werk des Euripides jetzt auszuwählen? Nie schien die Stimmung einem Gedicht günstiger, der Boden empfänglicher, die Saat der Tränen aufzunehmen. Und doch stand solcher Bereitwilligkeit die Erfahrungstatsache gegenüber, daß das leidbeschwerte Herz nach Erleichterung lechzt, sich nach einem Becher Lethe sehnt, mag er auch aus einer weniger reinen Quelle geschöpft sein. […] – Man könnte aus dieser maßlosen Klage, aus dieser Anhäufung unendlichen Grams herauszulesen versuchen, was ein Moderner in dem viel angefochtenen Satz zu äußern wagte: ‚Lieber Sklav’ als tot’. (Millionen Menschen bestätigen heute seine Richtigkeit.) Denn schließlich tut sich Hekabe kein Leid an, mag auch das Maß des Leidens, das ihr aufgebürdet ist, weit über Menschliches hinausgehen. Sie trägt ihr Leben bis ans bittere Ende, weil die höchste Bitternis des Lebens sie vielleicht doch erwünschter dünkt als das unvermeidliche Sterben, zu dem sie immer noch früh genug kommt. Bewußt ausgesprochen ist es nicht; aber man könnte es ohne Sophisterei als tieferen Sinn in die unsinnig grausigen Begebenheiten hineindeuten. Euripides als Vorgänger Alfred Kerrs. – Dagegen ist kein Zweifel, daß Euripides die Blödheit des Schicksals empfunden hat. ‚Besessen ist das Schicksal. An Verrücktheit gleicht’s nur dem Menschen selbst.’ Und es wird in seiner Verrücktheit durch den Krieg tausendfach vermehrt; denn ‚Krieg ist Wahnwitz’. Lebte Euripides heute – er lebt mit vielen fortschrittlichen Meinungen –, der Pazifistenbund müßte ihm die Ehrenmitgliedschaft antragen. – Auch darin mutet uns dieser alte Grieche durchaus modern an, daß er die Götter nicht mehr für den Widersinn des Schicksals verantwortlich machen will. Er entlastet sie und kam in den Ruf des Atheisten. In der glänzenden Abfuhr, die Hekabe der gleißnerisch verlogenen Helena erteilt, gibt es die Greisin nicht zu, daß das unbegreifliche Walten der Unsterblichen angeschwärzt werde, damit sich eine Sterbliche herausrede. Euripides erscheint hier religiös aus Religionslosigkeit, als aufgeklärter Mensch, der reichlich mit dem Wasser des Rationalismus gewaschen ist und die Gottesgabe des gesunden Menschenverstandes besitzt. – Immerhin hätten ihn diese schätzenswerten Eigenschaften allein schwerlich gerade jetzt aus dem Halbschlummer erweckt, wenn nicht ein ganz moderner Dichter wie Franz Werfel, der Benjamin des deutschen Parnasses, durch die Gewalt seiner Sprache für ihn geworben hätte. Weder mit Übersetzung noch mit Bearbeitung ist das bezeichnet, was er an den Troerinnen getan; er hat vielmehr klanglich im Deutschen etwas geschaffen, was sich dem griechischen Original an die Seite stellen darf. […] Wir besitzen keine Übersetzung eines klassischen Dichtwerks, die neben dieser von Franz Werfel in sprachschöpferischer Hinsicht bestehen könnte. Ich grüße den jungen Meister ehrfurchtsvoll… – Daß diese Eurhythmie von der Bühne herab nicht restlos vermittelt werden konnte, braucht kaum gesagt zu werden. Was die Aufführung des Lessing-Theaters, davon abgesehen, an Gliederung und Beseelung des Verses leistete, war aller Achtung wert. […] Unvergeßlich, ein Bild religiöser Weihe, wie von überirdischem Glanz umströmt war die Andromache Lina Lossens. Solange sie auf der Bühne stand, versanken Euripides und Hellenentum und eine uns gottlob doch ferne liegende Welt; von ihrem Schmerz wurden wir im tiefsten erschüttert. Man fühlte sich geneigt, ihr mit dem deutschen Dichter zuzurufen: ‚Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.’ [Faust, Szene im Kerker]. Alle den Tod ihrer Söhne beweinenden Mütter waren Seel’ und Stimme geworden in der einen: Lina Lossen.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Mai 1916, Erstes Abendblatt, Nr. 691.
Rudolph Schanzer und Ernst Welisch, Der siebente Tag (Komödienhaus, 23.04.16). – „Die Herren Autoren verstehen sich aus dem FF darauf, den Gaumen ihres Publikums zu kitzeln. Doch nicht nur den Gaumen, sintemal so viel von Hymen die Rede ist. Sie verstehen sich nicht minder auf den wirksamen Aktschluß, der durch das rote Glühlämpchen eines Witzes angezeigt wird. (Etwa der zweite durch die Worte der Wittib zur annoch jungfräulichen jungen Frau: ‚Ich wasch’ in deiner Unschuld meine Hände.’) Die Reimgewandtheit der Verfasser grenzt so nah an Poesie wie überzuckerte Veilchen an Botanik. Noch braucht Oskar Blumenthal nicht um seinen festgegründeten Ruhm zu zittern. Ihre Aphorismen über Lieb’ und Ehe sind so sehr mit Presberschem Tiefsinn gespickt, daß eine ältere Dame hinter mir über diese Gemeinplätze in Patschuli-Verpackung wonnegrunzend äußerte: Shakespeare! Es war für mich der beste Witz des Abends.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Mai 1916, Zweites Mittagblatt, Nr. 740.
R. Geßner u. M. Bendiner, Brauchbar & Fix (Lustspielhaus, 01.05.16). – „Sumer is icumen in, lhude sing cuccu. Kalenderwidriger Sommerbeginn. Uhren verrückt – Zeit verrückt – Menschen verrückt. Es ist ein wehmütig schnurriger Abschnitt, in dem wir zu leben bestimmt sind. Selbst einem Ulrich von Hutten verginge jetzt vielleicht die Lust zu seinem überschäumenden Ausruf: ‚Es ist eine Lust zu leben’. – In so beklommener Stimmung sollte man eigentlich jede harmlose Heiterkeitspille dankbar hinnehmen. Mehr will der Schwank Brauchbar u. Fix, der im Lustspielhaus seine erfolgreiche Uraufführung fand, durchaus nicht sein.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Mai 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 753.
Georg Hermann, Kubinke (Theater des Westens, 01.05.16). – „Es ist schade um Georg Hermann. Dieser kunstsinnige Mensch, Kenner und Liebhaber verflossener Kulturen, Darsteller von hohem Persönlichkeitsreiz, Verfasser etlicher Romane, die nicht so sehr durch großzügige Handlung wie durch köstliche Einzelzüge, nicht so sehr durch Tiefen der Charakteristik wie durch Echtheit und Oberflächenanmut des Milieus bemerkenswert sind, scheint, seitdem er mit Jettchen Gebert zu verdienter Anerkennung gelangt ist, den Händlern nichts mehr abschlagen zu können. Er industrialisiert sich. Wird eine Aktiengesellschaft. Macht alles oder duldet wenigstens, daß alles mit ihm gemacht wird. Schlachtet seinen Ruhm aus oder läßt ihn von andern unbekümmert ausschlachten. Sieht den Marodeuren seines Erfolgs schmunzelnd zu. Hilft das Kapitäl des Kapitalismus mit seinem Namen umkränzen. Es ist schade, daß Georg Hermann zu solchen Praktiken seine Hand oder doch seine Zustimmung gibt. – Im Grunde ist er ein völlig undramatischer Schriftsteller. So undramatisch wie George Moore, mit dem er in manchem Betracht Ähnlichkeit hat. Redselig, behaglich schwatzend, von epischer Breite, von offensichtlicher Freude am Fabulieren, mit Plaudern nie fertig werdend, schier unerschöpflich an Anekdoten. Trotzdem lockt ihn mit Gewalt die Bühne, wo seine Vorzüge und Eigenheiten brach liegen. […] – Mit Jettchen Gebert fing es an. […] Es folgte Henriette Jacoby. […] Wirklich nur vorläufig. Denn jetzt sind wir wieder mehrere Stufen gesunken mit der Dramatisierung des Neu-Berliner Barbierromans Kubinke, in dem sonst der Operette dienenden Theater des Westens gespielt. Auf dem Zettel heißt es verschämt: 8 tragikomische Bilder nach Georg Hermann. Regt sich bei dem bessern Mitteleuropäer noch ein Rest von Gewissen? Will er mit diesem ‚nach’ besagen, daß er seine Hände in Unschuld wasche, daß er die Verantwortung für diese Transformation seinen ungenannten, amerikanisch skrupellosen Bearbeitern überlassen müsse? Wie dem auch sei: Georg Hermann hat zu solchem Tun, wenn nicht seine Hand, so doch seine Zustimmung gegeben. – Kubinke – der Leser erinnert sich; sonst kann ihm die Lektüre des Buches nur wärmstens empfohlen werden – ist die Geschichte eines aus der Provinz nach Berlin eingewanderten Barbiergehilfen, der für die Großstadt nicht stark, nicht roh genug ist. Er bandelt mit drei Dienstmädchen zu gleicher Zeit an und hat das Mißgeschick, von allen dreien als Vater ihrer Sprößlinge in Anspruch genommen zu werden. Der weltunkundige Junge ist solchem Martyrium nicht gewachsen und hängt sich, da er keinen Ausweg aus seiner Gefühlsverwirrung weiß, in seiner Dachkammer auf. – Also wirklich ein tragikomisches Schicksal. Ein armes Hascherl, das der Gerissenheit verderbter Liebesspenderinnen unterliegt. Im Roman wird überzeugend ausgeführt, wie ein gehetztes Menschenkind in so komischer Trübsal den Kopf verlieren kann. Was wird daraus? Eine Posse. Eine Posse mit Gesang. (Die Musiknummern stammen von dem bewährten, bei früheren Gelegenheiten oft erfindungsreichern Bogumil Zepler.) Eine Posse für den Vorstadtgeschmack. Nur dieser vermag sich daran zu erbauen, wenn Emil Kubinke in einem Duett mit seiner Dulcinea von sich singt: ‚Berlin, was hast du mir angetan mit deinem Liebesleben? Die Unschuld, die ich dir mitgebracht, ich hab’ sie dir hingegeben.’ Schaudervoll, höchst schaudervoll. Und gar nichts Versöhnliches liegt darin, daß die üblen Gesangstexte von dem ubiquitären, wahllos reimenden Rudolf Presber herrühren. Heute rahmt er Goethe und Mozart ein, morgen gießt er Rahm und Schlagsahne über Georg Hermann. Alle Töne vom patriotischen Hochgesang bis zur Leichenkastenweise stehen seiner Leier gleichmäßig zu Gebote.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Juni 1916, Drittes Blatt, Nr. 874.
Hjalmar Bergström u. Anker Larsen, Schwarzer Peter (Lessing-Theater, 27.05.16). – „Die beiden Dänen verstehen sich auf die neutrale Mache und die internationale Aufmachung. Sie nehmen, obwohl es ihnen an eigenem Witz keineswegs gebricht, das Bewährte, wo es tausendunddrei Vorgänger aller Zungen gefunden haben. […] An die dänische Marke erinnert nur der Bildhauer Thorkild Pjetturson, das große Kind aus Island. Für ein Kopenhagener Publikum, dem schon sein Name komisch klingt, muß es reizvoll sein, diesen von Skandinaviens Kultur noch recht mangelhaft beleckten Hypernordländer radebrechen zu hören – ein Reiz, der sich nicht übertragen läßt. Der bessere Wilde darf freie Ansichten über die Liebe und sogar Ansichten über die freie Liebe äußern; daneben bringt er ganz gescheite Dinge über die Kunst vor, über das Verhältnis des Künstlers zu seinem Verhältnis, über die seltsame Verquickung von Körperlichem und Seelischem während der Arbeit. Mag er zimperliche Ohren gelegentlich schockieren, so tut er ihnen doch den Gefallen, sich schnell bürgerlich umbiegen zu lassen. – Diesen Bildhauer spielte Albert Bassermann in flachsblonder Perücke und ungarischem Kauderwelsch mit sprühender Verve und unleugbarer Liebenswürdigkeit, doch, wie es neuerdings nicht selten bei ihm der Fall ist, im Stile eines berühmten Gasts. Wohltätiger wäre seines Feuers Macht, wenn sie der Regisseur bezähmt, bewacht.“

Festwiese und Kriegslager. NZZ, 28. Juni 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1031.
Szenen aus Wagners Meistersingern von Nürnberg und Schillers Wallensteins Lager (Stadion, 19.06.16). – „Welch ein Anblick! Ich weiß nicht, wieviele Menschen das Stadion faßt; ich weiß nur, daß kein Plätzchen unbesetzt blieb. Es mögen 50.000 gewesen sein, vielleicht auch nur 30.000 (mir fehlt für solche Ansammlungen jedes Schätzungsvermögen). Das größte Theater der alten Welt, das in Megalopolis, soll 40.000 Zuschauer aufgenommen haben. So bekam man einen Begriff, wie sich eine solche griechische Kultstätte ausnahm. – Und eine Vorstellung. Leo Blech, der Generalmusikdirektor der Kgl. Oper, klopft auf. Im Nu verstummt myriadenhaftes Gesumm. Das bestimmte, zuversichtliche, lebensbejahende C-Dur des Meistersinger-Vorspiels ertönt. Etwa dreihundert Musiker (ich zählte allein acht Harfen) mögen im Orchester mitgetan haben; sehr viele Feldgraue darunter. Aber der Klang hat nichts Graues, sondern etwas vom tief leuchtenden Rot. […] Herrlich schwellen die Tonfluten wieder gegen den Schluß hin an, und die gehobene Stimmung, die aus diesem Musikstück so ‚deutsch und echt’ spricht, hat sich längst auf die Hörer übertragen. […] – Danach konnte Wallensteins Lager unmöglich noch eine Steigerung bringen. Das gesprochene Wort kommt gegen das gesungene in freier Luft nicht auf. War das Ohr auch auf Kriegsration gesetzt, so wurde dafür dem Auge eine verwirrende Fülle der Bilder geboten. Hier durfte Viktor Barnowsky, dem für die Gesamtleistung der Meistersinger nicht minder zu danken ist, einmal in allergrößtem Maßstab arbeiten. […] So empfing man einen Abglanz von der Soldateska des Friedländers, wie ihn der realistischste Regisseur, und wär’ er vom Rang eines Reinhardt, nicht entfernt im geschlossenen Raum hervorzuzaubern imstande ist. […] – Wir wollen als Gewinn des unvergeßlichen Nachmittags die über alles Erwarten geglückte Festwiese buchen und wenigstens den optischen Eindruck des Kriegslagers festhalten, mag es auch mit der Akustik auf Kriegsfuß gestanden haben. Eine unermeßliche Arbeit im einzelnen ist hier geleistet worden; aber man spürte die Mühe nicht mehr und freute sich des Gelingens. Das ist Kunst.“

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1916 / 1917

Berliner Theater-Capriccio. NZZ, 26. August 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1346.
Reinhard Bruck [Musik Robert Winterberg], Die Blumen der Maintenon [nach Alexandre Dumas] (Kgl. Schauspielhaus, 19.08.16). – „Soll man schon anfangen? Wem steht der Sinn, wenn die Erde bebt, wenn die Welt wankt, nach Theater? […] – Einen süßen Trost trägt man von dannen: es war danach. Wer es nicht miterlebt hat, glaubt es nicht. Schwer, einen Begriff davon zu geben. Als man die entweihte Stätte verließ, sah man den genius loci sich schweigend in seine Toga hüllen. Schämte er sich? Oder fürchtete er eine Palastrevolution? In die heiligen Hallen, die sonst das Hauptquartier eines Sophokles, Shakespeare, Schiller und ihrer Genossen sind, war die Operette eingezogen – die Operette, wie sie nicht sein soll. Die Reinkultur einer Operette. Ein Kubikkitsch von Operette unter dem Deckmantel eines Spieles mit Musik. – […] Wenn es Lebensklugheit ist, jedem Geschehnis seine gute Seite abzugewinnen, so hat auch dieser denkwürdige Anfang der Theaterspielzeit entschieden sein Gutes gehabt: er hat uns die Überzeugung eingegeben, daß es nicht viel schlimmer werden kann. Mag kommen, was da wolle – wir sind gerüstet, gefaßt, gefeit.“

Berliner Theater. NZZ, 8. September 1916, Erstes Abendblatt, Nr. 1421.
Lothar Schmidt, Perlen (Deutsches Künstler-Theater, 01.09.16). – „‚Also spielen wir Theater’ [Hofmannsthal] … Vor wenigen Tagen noch erschien es uns als schnöder Eingriff in die geheiligten Freiluftrechte des Sommers, die wir ungestüm verteidigen zu müssen glaubten. Inzwischen ist der 1. September heraufgestiegen und damit der herkömmliche Anfang der Vorherrschaft des geschlossenen Raumes. Nun hilft kein Sträuben mehr. Resigniert schreiten wir über die Schwelle: tretet ein, denn auch hier sind Götter. – Ach, die Unlust gegen Mummenschanz und Schönbartspiel hat im Grunde nichts mit dem Kalender zu schaffen. Daß der September angebrochen, berührt uns kaum; daß der 26. Kriegsmonat die Welt durchrast, erschüttert jeden Lebenden – sofern er nicht rast. – ‚Merkt auf, merkt auf! Die Zeit ist sonderbar’ [Hofmannsthal, Zu einem Buch ähnlicher Art] … Die Zeit ist kunstfremd, mehr: kunstfeindlich. Kunst verlangt Beschaulichkeit, Sammlung, Andacht. Kunst ist Gottesdienst. Du kannst vielleicht deinem Gotte dienen, während dich der Schlachtendonner umbrüllt. Du kannst nur mit unsäglicher Mühe der Kunst dienen, wenn das Unglück des Erdballs an deinen gemarterten Nerven zerrt.“ – Zu Schmidts Lustspiel: „Der Teig ist gut und schmackhaft, die Zutaten mager. Es wurde mehr ein Strudel als ein Kuchen. Einem spannenden, durch die glückliche Fabel einnehmenden Auftakt folgt ein matter Mittelakt; der Schluß schnellt dann wieder erfreulich empor und macht den Erfolg des Verfassers. Hier ist ihm vor allem in dem von Schmähungen strotzenden Schreiben des bitter enttäuschten Diebs ein Volltreffer gelungen. Sind auch die Bestandteile des Lustspiels etwas ungleich gemischt, so überwiegen doch die erquicklichen, und man versagt einer saubern Arbeit (wie immer bei Lothar Schmidt) nicht die Anerkennung.“

Berliner Theater. NZZ, 15. September 1916, Zweites Mittagblatt, Nr. 1462.
Henrik Ibsen, Die Wildente (Lessing-Theater, 02.09.16); Gerhart Hauptmann, Rose Bernd (Deutsches Theater, 09.09.16). – „Wenn man neutrale Beobachter zur Erforschung des Berliner Theatermarkts ausersähe, wie man sie zur Darstellung unserer Wirtschaftslage entsendet – sie müßten der Wahrheit gemäß feststellen, daß keine europäische Hauptstadt einen Vergleich mit der deutschen im Punkte der Rührigkeit auch nur entfernt aushält. Nein, das bliebe allzu weit hinter der Wirklichkeit zurück. Sie müßten berichten, daß keine europäische Hauptstadt im Frieden je so viel geboten hat, wie Berlin im sechsundzwanzigsten Kriegsmonat. – Eine irgendwie wesentliche Wandlung gegen früher hat sich überhaupt nicht vollzogen. Kein Berliner Bühnenleiter war durch die Ungunst der Verhältnisse gezwungen, die Pforten seines Spielhauses zu schließen (auch nur vorübergehend). Die Einnahmen hielten sich im abgelaufenen Jahre nicht bloß auf überraschender Höhe, sondern wiesen womöglich noch eine Steigerung gegenüber normalen Zeiten auf, wenn man die aus Opportunitätsrücksichten ein wenig verminderten Eintrittspreise gebührend in Anschlag bringt. – Auch künstlerisch hat sich so gut wie nichts geändert. Die notwendige Beschränkung auf die Dramatiker des Inlands und der neutralen Staaten fällt nicht sonderlich ins Gewicht. Dem aufmerksamen Betrachter wird es kaum entgangen sein, daß schon etliche Jahre vor Ausbruch des Kriegs der deutsche Import fremdländischer Bühnenerzeugnisse stark nachgelassen hatte. Mit einziger Ausnahme Bernard Shaws hat in der jüngsten Vergangenheit kein lebender Ausländer mehr literarisch eine nennenswerte Rolle auf deutschen Brettern gespielt. Als Ersatz haben wir, sollten uns die Autochthonen nicht genügen, die grenzenlosen großen Toten. Künstlerisch wiegen die skandinavischen Dramatiker mindestens ebenso schwer wie die fehlenden Franzosen, Engländer, Russen, Montenegriner e tutti quanti, die Italiener eingeschlossen. – Ihre Abwesenheit ist vor allem August Strindberg zugute gekommen. Sein Kult hat sich während des Krieges bei uns so sehr ausgebreitet, daß er an die erste Stelle gerückt ist und sogar Henrik Ibsen zu überstrahlen vermochte. Wir besitzen jetzt am Theater in der Königgrätzer Straße eine eigene Strindberg-Bühne, so wie Otto Brahm sein Theater zeitweilig fast ausschließlich in den Dienst Ibsens gestellt hatte.“ – Zur Inszenierung der Wildente am Lessing-Theater: „An dieser seiner letzten Wirkungsstätte lebt der Geist Otto Brahms am stärksten und reinsten fort. Es ist daher schon Lobes genug, wenn man seinem Nachfolger bescheinigt, daß er die Tradition des Hauses pietätvoll hütete. Als einzige Säule der frühern Vorstellung ragte noch Bassermanns Hjalmar empor – ungemein lebendig, bis in die Fingerspitzen vibrierend, in mannigfachen Farben schillernd, aber um etliche Schwingungen zu grell und nicht ohne Spuren von Selbstgefälligkeit, mag sie sich hier auch mit dem Wesen der verkörperten Gestalt decken. Im Brahmschen Ensemble war Bassermann eigentlich stets ein fremder Tropfen Blutes; jetzt, da sich der Künstler hemmungsloser entfalten kann, droht ihm die Gefahr, seine Rollen zu überspielen. Er bestreitet ihren Gehalt nicht nur aus den vom Dichter vorgezeichneten Richtlinien, sondern aus dem Überschuß der eigenen Vollnatur, wodurch er dem Stich in die Manier nicht immer entgeht.“ – Zur Rose Bernd-Inszenierung: „Was ich an dieser Stelle über Reinhardts Wiederaufnahme des Fuhrmann Henschel schrieb (s.o. NZZ vom 02.03.16, Nr. 339), kann ich nur Wort für Wort wiederholen: ‚Offen gestanden, trug ich kein sonderliches Verlangen, die Bekanntschaft mit diesem Hauptmannschen Werke zu erneuern. Was man in höchster Vollendung gesehen und was sich den Sinnen unverlöschlich eingeprägt hat, das soll man so wenig wie eine Jugendliebe auffrischen wollen; denn es muß mit einer Enttäuschung enden. […]’“

Berliner Theater. NZZ, 28. September 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1535.
Otto Ludwig, Der Goldschmied [Bühnenbearbeitung von E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi] (Kleines Theater, 16.09.16). – „Er [Otto Ludwig] rückte den unheimlichen Schmuckhändler in den Brennpunkt und schob damit die Kriminalnovelle auf psychologisches Gebiet. (Mit gutem Grund wird sein Werk jetzt im Kleinen Theater Der Goldschmied genannt.) Sein Held führt eine Doppelexistenz: am Tag der fromme Handwerker, geht er bei Nacht wie ein Tiger auf Raub aus. Der Kunstgewerbler mit der unseligen Liebe zu seinem Material wird zum Künstler erhoben. Es ist ergreifend, wie ihm Otto Ludwig etwas von den eigenen Schmerzen mitgibt; so, wenn er ihn äußern läßt: ‚Das Schöne wird nie fertig; immer könnt’ es noch schöner sein.’ Solche Selbstbekenntnisse dünken uns heute fast interessanter als das Drama, das im übrigen recht nach der Regel gearbeitet ist.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Oktober 1916, Erstes Sonntagblatt, Nr. 1554.
Carl Rößler u. Ludwig Heller, Der Jüngling mit den Ellenbogen (Deutsches Künstler-Theater, 22.09.16); August von Kotzebue, Die beiden Klingsberg (Lessing-Theater, 23.09.16). – Zu Rößlers und Hellers Volksstück: „Im Mittelpunkt des vielfach widerlichen Machwerks steht ein kleiner Hebräer aus dem sattsam bekannten Benschen, das sich immer wieder als Reimwort auf Menschen empfiehlt. Der Zugewanderte, anfänglich von seinem Schlemihltum durchdrungen, tut sich mit einem elternlosen Straßenmädchen und einem eben aus der Strafanstalt Entlassenen zusammen. Sie finden gemeinsam Anstellung im Warenhaus Zur Dame, was Veranlassung zu einer ausgedehnten Modeschau im verflossenen Stile der Metropoltheater-Revuen bietet. (Der indiskrete Zettel glaubte sogar, nach verwerflichem amerikanisch-englischem Muster, den Namen der Firma ausplaudern zu müssen, die die Kleider geliehen hatte. Ich mißbillige diesen Brauch auf das allerentschiedenste.) Der israelitische Liftjunge, der Stenographie und Maschinenschreiben lernt, während seine Kollegen bummeln, entpuppt sich als gewitztes Kerlchen, wird von seinem Chef zu verantwortungsvollen Aufgaben herangezogen und haut diesen abgekochten Bruder bald nach allen Regeln der Kunst, Geld zu machen, übers Ohr. Zum Lohn für solche Tüchtigkeit kriegt er sein Straßenmädchen. – Die in jedem Betracht herkömmliche Handlung wird von der in jeder Note herkömmlichen Musik Ernst Steffans umrankt. Was zu dumm ist, gesprochen zu werden, wird in ranzige Reime gebracht, zu denen die Melodien auf der Straße liegen.“ – Zu Kotzebues Lustspiel: „Es ist erstaunlich, wie der am meisten verrissene und noch immer nicht verschlissene Kotzebue das Bühnenhandwerkliche beherrscht. Ein Meister. Auf diesem Gebiete vielleicht der größte Meister. Jedenfalls hat er kaum einen ebenbürtigen Nachfolger hier zu Lande gehabt. Wenn Goethe ihm nachrühmte, er habe ‚sich im Leben umgetan und die Augen offen gehabt’, so erklärt das seine heutige Wirkung nicht mehr. Sie ruht für uns in der technischen Vollendung. Er gab der Bühne mit nie versagender Hand, was der Bühne ist. Noch heute darf man rückhaltlos bewundern, wie das Thema des Vaters und des Sohnes, die mit ihren Liebschaften einander ins Gehege kommen, köstlich variiert und künstlich gesteigert wird. Die lustigen Teile wecken noch immer vergnügtestes Lachen; die verstaubten Abschnitte nimmt man lächelnd hin, zumal wenn sie, wie im Lessing-Theater, geschickt ins Parodistische gezogen werden.“

Meister Olaf. Historie in sieben Bildern von August Strindberg. (Zur deutschen Uraufführung an der Berliner Volksbühne [am 22.09.16].) NZZ, 6. Oktober 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1584.
„Bei der Gründlichkeit, mit der zurzeit das dramatische Lebenswerk August Strindbergs hierzulande durchgenommen wird, konnte es nicht ausbleiben, daß man auch seine Anfänge pietätvoll hervorholte. Meister Olaf ist, wenn nicht sein op. 1, so doch sein Bühnenerstling von Bedeutung – die Arbeit eines Dreiundzwanzigjährigen, die nicht bloß hierin, sondern auch in der Struktur und dem genialischen Wurf an Goethes Götz erinnert. – Was Luther für Deutschland, war Olaf Pedersen (Olaus Petri) für Schweden. Er hatte zu Füßen des Wittenberger Reformators gesessen, sich an seiner Lehre entzündet, und war in die Heimat zurückgekehrt mit dem Vorsatz, Luthers Befreiungstat in seinem eigenen Vaterland zu vollenden. […] Strindberg hat an den historischen Umrissen der Gestalt wenig geändert und auch den Geist der Zeit treu zu spiegeln gesucht. Aber er hat den Träger der Handlung seinen persönlichen Absichten dienstbar gemacht, indem er ihm den vor nichts zurückschreckenden Wahrheitsmut und den ungebändigten Bekennerdrang einhauchte, also ihn nach seinem Bilde schuf. Manche Züge des Schöpfers sind auf diese Weise in sein Geschöpf übergeflossen, wodurch das Werk die Teilnahme des Biographen noch stärker herausfordert als die des Dramaturgen. […] – Der Volksbühne muß es als Verdienst angerechnet werden, uns die Bekanntschaft mit Strindbergs Jugendhistorie vermittelt zu haben. Klingenden Erfolg konnte sie sich um so weniger davon versprechen, als die Menge – zumal jetzt – für Haupt- und Staatsaktionen nicht viel übrig hat.“

Berliner Theater. NZZ, 12. Oktober 1916, Zweites Morgenblatt, Nr. 1621.
Paul Frank, Der Mandarin (Residenz-Theater, 30.09.16). – „Wäre das Stück, das eigentlich ein abendfüllender Film ist, nicht von einem Wiener, der kaffeehaushaft oberflächlich plauscht und überall, wo man ihn beklopft, eine Rabitzwand hören läßt – man wäre geneigt, auf einen ungarischen Verfasser vom Schlage der Molnár und Lengyel zu schließen. Immerhin hat die Szenenfolge etliche Theatertalmiwerte, die gewiß ihr Glück in den Vereinigten Staaten machen werden, vielleicht auch in England, sofern der Stoff dort nicht als heikel empfunden wird. – Offenbar hat sich auch Dr. Eugen Robert, der nach seiner unvergessenen Tätigkeit am früheren Hebbel-Theater jetzt die Leitung des Residenz-Theaters übernommen hat, ein wenig von Äußerlichkeiten blenden lassen. Im dritten Kriegswinter findet er den Mut, eine bisher von seichtester Amüsierware zehrende Bühne auf ernste Grundlage zu stellen. Schon um dieses bewundernswerten Unternehmungsgeistes willen soll man ihn fördern. Es ist ihm außerdem für eine in jeder Hinsicht vortreffliche Aufführung zu danken, die in unserer Schätzung noch steigt, wenn man die schier unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten berücksichtigt.“

Berliner Theater. NZZ, 13. Oktober 1916, Erstes Abendblatt, Nr. 1630.
Langdon Mitchell, Jonathans Töchter [The New York Idea] (Kammerspiele, 30.09.16). – „Zeitungsnachricht vom 30. September: 1. An der Somme ist die Anwesenheit eines amerikanischen Fliegergeschwaders festgestellt; einer der erfolgreichsten Amerikaner ist kürzlich im Luftkampf abgestürzt. – 2. Schweizer Blätter vom 3. Oktober melden, daß an der Somme viertausend 38 Zentimeter-Geschütze stehen. – 3. Der Corriere della Sera läßt sich aus New York berichten, in Kanada würden zwanzigtausend Amerikaner zum Kampf für die Entente ausgebildet; dies bedeute ein weiteres ‚Verdammungsurteil der Kulturwelt gegen die deutsche Wildheit’. – All das hindert Herrn Prof. Reinhardt nicht, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ein Lustspiel aus der New Yorker Gesellschaft Jonathans Töchter von Langdon Mitchell gegenwärtig aufzuführen. Da die Wahl dieses geistigen Munitionsartikels made in U.S.A. immerhin auf deutschen Widerstand stoßen konnte, wurde mit Bulletins zur Beruhigung der öffentlichen Meinung von der Theaterkanzlei nicht gekargt. Erste Reklamenotiz: Langdon Mitchell ist zurzeit der gefeiertste amerikanische Lustspieldichter. (Hand aufs Herz: wieviele Einwohner dieses Landes hatten auch nur seinen Namen gekannt? Ich, offen gestanden, nicht, obgleich ich bis vor Kriegsausbruch den amerikanischen Theatermarkt wahrscheinlich aufmerksamer verfolgt habe als die meisten Europäer.) Zweite Reklamenotiz: Langdon Mitchell hat in Deutschland studiert (welcher Amerikaner von Ruf hat es nicht getan?) und ist deutschfreundlich gesinnt. (Wie ließ sich dies, bei gestörten oder beträchtlich erschwerten Verbindungen, nur so schnell ermitteln?) Dritte Reklamenotiz: Langdon Mitchell hat auf seine Tantiemen zugunsten der deutschen Kriegsfürsorge verzichtet. Mit dieser Wohltätigkeitsmarke allerdings werden mißbilligende Stimmen leicht oder doch vielleicht zum Schweigen gebracht. – Trotzdem: ich mißbillige die Aufführung dieses Lustspiels. Nicht, weil es von einem Amerikaner stammt; sondern weil dieser gefeierte Amerikaner so nichtssagend ist. Meine Ablehnung wird also keineswegs von politischen, sondern einzig von künstlerischen Erwägungen bestimmt – worüber ich mich vor den Lesern dieses Blattes nicht auszuweisen brauche. […] – Daß Reinhardt ohne Not ein solches Stück spielt, mißbillige ich; wie er es spielen läßt, mißbillige ich mehr. Er hatte von jeher eine unglückliche Liebe zur Gesellschaftskomödie, für die seine Darsteller so ungeeignet wie nur möglich sind. Da sie die fremden Gestalten nicht aus eigenen Mitteln glaubhaft machen können, helfen sie sich mit einem billigen karikaturistischen Einschlag. Alle wirksame Karikatur fließt aus einer tiefen Kenntnis, aus einem Reichtum an Einzelheiten, während sie hier der oberflächlichsten Kenntnis, der Armut entstammte.“

Soldaten. Komödie in fünf Akten von Jakob Michael Reinhold Lenz. (Uraufführung im Deutschen Theater zu Berlin am 13. Oktober). NZZ, 19. Oktober 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1660.
„Nie zuvor sind die im Jahre 1776 entstandenen Soldaten auf die Bretter gelangt. Die Drehbühne mußte erst erfunden werden, ehe man daran denken konnte, die Komödie mit ihren kinohaft zahlreichen und plötzlich wechselnden Bildchen technisch zu bewältigen; manche Szene, darunter eine von acht Worten, dauert bei weitem nicht so lange wie die schnellste Verwandlung. […] – Seine [Lenzens] ‚Komödie’ (Goethe spricht gar von einem Lustspiel) ist in vieler Hinsicht das herkömmliche bürgerliche Trauerspiel. Dem Inhalt nach lehrhaft und moralisch wie eine englische Wochenschrift; der Form nach abgerissen, zerstückelt, auseinanderbröckelnd wie alle Erzeugnisse der sogenannten Geniezeit. Eine direkte Linie führt von ihr über Grabbe und Büchner zum Naturalismus der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. […] – Goethe betont das Bilderstürmerische an Lenz. Es deckt sich mit unserm Begriff von Sturm und Drang. Davon hätte man in der Aufführung etwas spüren müssen. Aber es liegt nun einmal in der Natur der Drehbühne, daß sie alles ins Nette, Niedliche, Nuttige verkehrt. So trat das Bildhafte ungleich stärker in die Erscheinung als das Bilderstürmerische. […] Reinhardts Inszenierung war mit ersichtlicher Wollust am Werke. Er schwelgte darin, den knappen Andeutungen des Dichters nachzuhelfen, legte ganze Lacharien und Weinkoloraturen ein, hob die unbedeutendsten Auftritte übergebührlich hervor, verlängerte so die Dauer der Vorstellung reichlich um eine halbe Stunde und zeigte aufs neue, eine wie sichere Hand er für alles Spielerische besitzt. Er ist der Pachmann, nicht der d’Albert der Regisseure; der karessierende Fingersatz, nicht die Pranke bleibt seine Erkennungsmarke.“

Berliner Theater. NZZ, 25. Oktober 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1697.
Rudolf Presber u. Leo Walter Stein, Salamander (Deutsches Künstler-Theater, 19.10.16). – „Hat ein Favorit je zweimal hintereinander das Derby gewonnen? Die Rennkalender werden wohl darüber Auskunft geben. Doch ist kein Fall bekannt, daß Lustspiel-Favoriten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren das Rennen ‚gemacht’ hätten. – […] Besagter Salamander ist eine illustrierte Zeitschrift für Kunst und Satire mit 72.000 Abonnenten, die, nach der Tüchtigkeit der Redakteure zu urteilen, offenbar an Verkalkung leiden. Da Rudolf Presber dem Stabe eines lustigen Blattes [Lustige Blätter] angehört, war ein Schlüsselstück ausgeschlossen; doch durfte man, der gemäßigten Tonart seiner Frohnatur entsprechend erwarten, daß er seine dichtenden und pinselnden Kollegen so gutgelaunt und gemütvoll auf die Bühne stellen werde, wie dies Frank Wedekind in der Satire der Satiren Oaha für seine verflossenen Mitarbeiter am Simplizissimus von Galle und Galgenhumor getan hat. Das Milieu des neuen Lustspiels war also vorweggenommen, wobei man nicht an Gustav Freytags Journalisten zu denken braucht. Eigene Erfindung konnte sich demnach nur in der Ausgestaltung der Typen bewähren. Presber ist viel zu diskret, als daß er nach lebenden Modellen gezeichnet hätte. Er zog die Schablone vor. Wenigstens für die schreibenden Herren. Sein Chefredakteur, der den eingebildet Kranken spielt, der unwiderstehliche Lyriker, dem die Blumen auf den Tisch regnen, selbst der streberische Verleger, der seine geschäftlichen Beziehungen zur Verbesserung seines Privatverkehrs ausnützt, haben kein eigenes Gesicht. Dagegen ist ein verbummelter Maler von individuellerer Prägung ergötzlich gelungen. Er verfügt über eine waschechte berlinische Schnoddrigkeit. Wenn er sich von seiner Freundin in der Redaktion anrufen läßt und sich am Telephon als ‚Schnucki’ vorstellt, so ist das ein erheiternder Einfall. – […] Das Publikum hatte im Deutschen Künstlertheater ersichtlich auf Sieg gewettet. Im ersten Drittel des Abends machte Salamander, da der Schauspieler Max Adalbert mit einer wundervollen Kaltschnäuzigkeit für einen befriedigenden Start sorgte, durchaus den Eindruck, als ob er alle Erwartungen erfüllte. Doch schon in der Mitte der Bahn erwies er sich als ausgepumpt. Und als er keuchend die Tribüne passierte, sahen die erfolgreichsten Stallbesitzer des letzten Jahres auch bei ihren getreuen Anhängern nur enttäuschte Gesichter.“

Berliner Theater. NZZ, 30. Oktober 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1728.
August Strindberg, Gespenstersonate (Kammerspiele, 20.10.16); Lion Feuchtwanger, Warren Hastings, Gouverneur von Indien (Kleines Theater, 21.10.16). – „Strindbergs Kammerspiel (sollte es nicht eher Jammerspiel heißen?) ist der Schlußpunkt, wenn auch nicht der Höhepunkt seiner Beichte, als welche sein gesamtes dichterisches Schaffen zu gelten hat. Ihm gab kein Gott, wohl aber ein gefallener Engel, Satanas selbst zu sagen, was er an der Menschheit litt. Noch einmal – zum wievielten Male? – erscheint sie ihm als eine Höllenbrut, neben der sich die Schwerverbrecherrotte in Dantes Inferno wie eine Schar blütenweißer Neugeborner ausnimmt. Im engen Bezirk eines unheimlichen Hauses sind alle Missetaten des verworfenen Packs zusammengedrängt, wie sämtliche erdenkbaren Frevel auf den wenigen Seiten des Strafgesetzbuches. Wo blieb die Überlegung, daß eine solche gewaltsame Anhäufung von Greueln, Monstrositäten und Schändlichkeiten leicht ins unfreiwillig Komische umschlägt? Eine allgemeine Entlarvung findet statt; letzte Masken sinken; die Flitter werden erbarmungslos von den mit Lug und Trug übersäten Leibern heruntergerissen. Ein Folterkammerspiel. Furchtbarer Gerichtstag wird abgehalten. Der alles wissende, allen ins Gewissen redende Großinquisitor selbst wird von einer als Papagei dahinvegetierenden ‚Mumie’ als das verruchteste Scheusal bloßgestellt und in die Bußzelle getrieben, wo der Strick seiner harrt. Der gerichtete Richter. – So weit kann man der irrationalen Dichtung mit dem Verstand beikommen. Nun strebt sie aber auch danach, den Un-sinn mit Tiefsinn zu verbrämen, hinter der grausen Wirklichkeit ein mystisches Dämmerreich aufsteigen zu lassen, die Welt der Gespenster, Fratzen und des Spukhaften mit einer religiösen Deutung zu durchleuchten oder zu verdunkeln. Auf den Misthaufen menschlicher Lemuren gerät ein Sonntagskind, dessen reiner Blick sogar das Unsichtbare schaut. Der Jüngling liebt ein schuldloses Mädchen; doch sie geht am rohen Leben (durch eine ungemein gemeine Köchin personifiziert) zugrunde. Ihm bleibt als letzte Zuflucht nur der Glaube. ‚Sursum corda!’ ringt es sich ihm aus wunder Brust. Der Erlöser Jesus Christus wird angerufen, vermehrt um einen Zusatz Buddha. Christliche Entsühnung und indische Willensverneinung gehen bei Harfenklang einen seltsamen Bund ein. – […] Woher kommt es, daß man gegenüber diesem verstiegenen Gebilde, das letzte Aufschlüsse verspricht, sehr geteilte Empfindungen hegt und sich auf parodistischen Nebenwegen leider zu häufig ertappt? Weil es dem Bildner nicht gelungen ist, für Vorgänge von anscheinend höchster Bedeutung die entsprechenden Symbole zu finden. Zu oft vergißt er, oder wird sich nicht bewußt, wie dünn die Scheidewand zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen ist. So wird es jeden Aufrichtigen grotesk anmuten, daß die Brutalität des Lebens durch einen wüst schimpfenden Hausdrachen versinnbildlicht werden soll. Strindberg hatte – andere Dichtungen von ihm bezeugen es – für solche Diskrepanzen offenbar wenig Gefühl; um so mehr für die Nadelstiche des häuslichen Elends. In keinem Augenblick spürt man vor der Gespenstersonate, die das Gruselige nicht so folgerichtig wie Edgar Allan Poe, das Symbolische nicht so schlackenfrei wie Maeterlinck darstellt, etwas von tragischer Erhebung, sondern nur Beklommenheit. Schon diese Wirkung müßte verblendete Beurteiler in ihren übertriebenen Lobesergüssen herabstimmen.“ – Zu Feuchtwangers Warren Hastings: „Man könnte auf den Gedanken verfallen, daß es dem Verfasser darum zu tun war, an seinem indischen Generalgouverneur zu zeigen, welcher Politik England seine Kolonialerfolge dankt. Er besorgte dies frei von Verzerrung und Verhetzung, was in den heutigen Läuften als Aktivposten gebucht zu werden verdient. Aber er besitzt wohl kaum die Kraft, uns an den überragenden Wuchs seines Hastings glauben zu lassen, uns für seine Pläne zu erwärmen, zu begeistern, fortzureißen. […] Man möchte ihm etliche Tropfen von Hebbels Blute einspritzen und einen Eimer von den weißen Blutkörperchen des Oberlehrers abzapfen. Bei dieser Operation wäre gleichzeitig ein Überschuß von Bildung zu beseitigen, ein Manko von Bildnerfähigkeit aufzufüllen. Nur daraus erklärt es sich, daß die Szene, in der Hastings seiner Geliebten den Abschied gibt, kein Frauenauge feuchtete.“

Die toten Augen. (Zur Berliner Aufführung). NZZ, 2. November 1916, Erstes Morgenblatt, Nr. 1746.
Eugen d’Albert, Die toten Augen (Deutsches Opernhaus Charlottenburg, 26.10.16). – „Auf ihrer Rundfahrt durch Germaniens Gaue ist Eugen d’Alberts jüngstes Werk nun auch in das Charlottenburger Deutsche Opernhaus gelangt und hat hier, wie überall, eine jubelnde Aufnahme gefunden. Das Publikum war zwei Stunden lang vollständig im Banne der Schöpfung und befreite sich mit elementarer Gewalt von seinem Eindruck. Volkes Stimme zollte dieser Musik freudig Anerkennung. – Zu dem ungewöhnlichen Erfolg hat das überaus theatergerechte, wiewohl innerlich anfechtbare Textbuch von Hanns Heinz Ewers und Marc Henry wesentlich beigetragen. Trotzdem schon mehrfach – auch hier – von der Bühnendichtung die Rede war, möchte ich noch einige Worte darüber sagen, weil ich der zugrunde liegenden Idee vor Jahren einmal meine Reverenz erwiesen habe und noch heute von ihr gefesselt bin… – An einem verregneten Maitag des Jahres 1905 las ich in London das April-Heft der irischen Zeitschrift Dana. Darin stand der Aufsatz eines Franzosen, der sich ‚A Lover of the West’ unterzeichnete. Er berichtete in seiner Muttersprache über die merkwürdige Aufführung eines merkwürdigen Stückes, der er kürzlich in Dublin beigewohnt hatte. Obwohl er kaum ein Wort der Vorstellung verstand, suchte er sich den Sinn der Dichtung – es war The Well of the Saints von dem damals auch in London noch gänzlich unbekannten John M. Synge –, so gut es ging, zusammenzureimen. Die bloße Inhaltsangabe nahm mich so gefangen, daß ich rasch entschlossen an den Verfasser schrieb. Nach Überwindung mancher Schwierigkeiten, von denen das seltsame Idiom der Dichtung, eine höchst kühne, nie zuvor gewagte Mischung englischer Worte und keltischer Syntax, nicht die geringste war, versuchte ich das Werk ins Deutsche zu übersetzen. Unter dem Titel Der heilige Brunnen (Buchausgabe bei S. Fischer, Berlin) wurde es, nachdem sich Max Reinhardt zuerst widerstrebend verhalten hatte, im Deutschen Theater am 12. Januar 1906 aufgeführt. Ohne Erfolg, trotzdem die schauspielerischen Leistungen Rudolf Schildkrauts und der unvergessenen Hedwig Wangel in den Rollen des häßlichen Paares einen kaum je wieder erreichten Gipfel phantastischer Menschendarstellung bedeuteten. – In vereinzelten Besprechungen wurde auf ein dem Sinn nach ähnliches, in ostasiatisches Gewand gehülltes Theaterstück Le Voile du Bonheur des als Politiker weithin bekannten Clemenceau verwiesen. Auch bei ihm löste sich aus der exotischen Schale als Kern die Erkenntnis heraus, daß die Illusionen der Blinden oft ersprießlicher sind als die Wahrheiten der Sehenden. Synge, der leider so früh Verstorbene, den man in angelsächsischen Ländern jetzt als Bühnenbegabung allererster Ordnung geradezu überschwenglich feiert und gleich hinter Shakespeare einreiht, als könne ihn der Nachruhm für die ungerechte Vernachlässigung bei Lebzeiten entschädigen – Synge hat mir später in London erzählt, daß er nie von Clemenceaus Chinoiserie gehört habe. Und da er in allen seinen Dichtungen immer aus dem Born des heimatlichen Mythos und der Volkslegende schöpfte, ist ihm ohne weiteres aufs Wort zu glauben. – Zwischen dem Heiligen Brunnen und der Idee des Librettos von Ewers und Marc Henry besteht eine unleugbare Verwandtschaft. Nun versichert der auf das gefundene Goldkorn besonders stolze Hanns Heinz allerdings in einem Geleitspruch, sein Mitarbeiter habe schon im Jahre 1897 einen Einakter Les Yeux Morts geschrieben, dessen Manuskript bedauerlicherweise verloren ging. Dadurch wird die Frage der Prioritätsrechte einigermaßen verdunkelt. Es ist sehr gut möglich (dergleichen Fälle sind in der Literatur nicht unerhört), daß beide Werke völlig unabhängig voneinander entstanden. Aber es ist meiner festen Überzeugung nach ausgeschlossen, daß Marc Henry seine im Grundgedanken reizvolle Dichtung zu konzipieren vermochte, ohne irgendwie Kenntnis (es braucht keine direkte gewesen zu sein) von Edward Bulwers Erzählung The Pilgrims of the Rhine zu besitzen. […] – Von all dem braucht man gar nichts zu wissen, wenn man sich den verführerischen Reizen der Tonsprache Eugen d’Alberts hingibt. Er hat einen wirkungsvollen, spannenden Text gefunden und dessen Möglichkeiten mit sicherer, nie versagender Hand ausgeschöpft. […] Dabei überschreitet er nirgends die Schönheitslinie. Immer ist das Orchester von üppigstem Wohllaut, die Gesangstimme rücksichtsvoll behandelt. Ein Meister des Satzes war an der Arbeit, der bei aller neuen Färbung nie das oberste Gesetz der Melodik außer acht läßt. Ein gewiegter Bühnenkenner überdies, der göttliche Längen nicht duldet. […] In jedem Augenblick hat man das Gefühl: wie glänzend ist das alles gemacht! Steht der Pianist d’Albert als Prometheus vor uns, der den Himmel stürmt, so der Komponist als Ganymed, der dem Olymp mit Nektar und Ambrosia dient. Mag seine Oper auch keinen Markstein in der Entwicklung der Musikgeschichte bedeuten, so werden sich die Toten Augen doch, wie Tiefland, zweifellos lange in der Gunst des Publikums behaupten.“

Berliner Theater. NZZ, 6. November 1916, Zweites Morgenblatt, Nr. 1771.
Carl Sternheim (nach Friedrich Maximilian Klinger), Das leidende Weib (Deutsches Theater, 30.10.16). – „Vor eingeladener Hörerschaft hatte der Leiter des Deutschen Theaters eine Aufführung des Dramas Das leidende Weib nach Friedrich Maximilian Klinger von Carl Sternheim schon in der vorigen Spielzeit veranstaltet [am 30.03.16]. Da ihm die Zensur damals eine öffentliche Vorstellung nicht erlaubte, flüchtete er hinter verschlossene Türen, worin eine Art Protestkundgebung gesehen werden konnte. Jetzt war das Verbot, obwohl die Zeitumstände sich mittlerweile nicht im geringsten geändert haben, von der Präventivbehörde zurückgenommen, und Klinger plus Sternheim durften dem Deutschen Zyklus eingefügt werden, der mit Lenz begonnen hatte [s.o. NZZ vom 19.10.16, Nr. 1660] und nun den eigentlichen Paten der Sturm und Drang-Bewegung an zweiter Stelle folgen ließ. Nach den Soldaten das Schicksal von fünf Offiziersbrüdern. – In diesem Falle (es hat häufig genug auch andere gegeben) kann ich das ursprüngliche Veto nicht nur verstehen – ich billige es sogar durchaus und beklage seine Aufhebung. Einer nähern Begründung möchte ich mich enthalten; so viel genüge: es gilt allgemeinem Herkommen nach nicht für taktvoll, im Hause des Gehenkten vom Strick zu sprechen. Ein Glück, daß etliche aufreizende Bemerkungen nur bis zur Einwohnerin des Souffleurkastens drangen; sonst hätte das friedliebende Publikum, das seiner Ablehnung zum Schluß vernehmbaren Ausdruck gab, vielleicht nicht so lange seine Strafjustiz aufgeschoben. Umso peinlicher empfand man es, daß sich Reinhardt von seinen kritiklosen Mitgängern rufen ließ. Hätte der eiserne Vorhang dem eklen Gelärme nicht ein vorzeitiges Ende bereitet, so hätte der Widerspruch mit Recht noch weit schrillere Formen angenommen.“

Ariadne auf Naxos. Oper von Hugo v. Hofmannsthal. Neue Bearbeitung. Musik von Richard Strauß. (Zur Aufführung im Berliner Kgl. Opernhaus [am 01.11.16]). NZZ, 7. November 1916, Zweites Morgenblatt, Nr. 1777.
„‚Straußens Ariadne wird an dem Tage auferstehen, wo sie die von Hofmannsthal eingesegnete Ehe mit einem vertrockneten Molière beherzt sprengt.’ Am 24. Februar 1916 stand es hier gedruckt. O mein prophetisches Gemüt! Ich habe die Trennung geahnt; ich habe sie gewünscht; ich bin stolz darauf, es vorausgesagt zu haben. – Nun ist es eingetroffen. Der Bruch ist vollzogen. Molières Bourgeois mag der Schaubühne erhalten bleiben, aber seine antiquierten Reize stören nicht länger am falschen Orte. […] – Ich werfe meine kritische Feder weg; verwandle sie in einen Palmwedel; streue Weihrauch. Der Welt ist ein Wunder geschenkt. (Mitten in der Kriegszeit. Das erste und einzige Kunstwerk, das bisher aus rauchender Trümmerstätte emporgestiegen ist.) Ich weiß: es wird nur zu den Wenigen sprechen, denn es ist, wie Schluck sagen würde, ein ‚kinstliches’ Gebilde von erlesenstem Zauber, keine Angelegenheit für die Vielen. Aber wie es ist, ist es vollendet. Von einem Könner höchster Potenz geschaffen. Mit weichen Händen gestreichelt, geliebkost; von der starken Hand eines technischen Meisters zielbewußt gebildet. – Er ist am Ziel. Das Auge weilt auf dem zurückgelegten Weg. Der Komponist schritt durch alle Möglichkeiten des modernen Orchesters. Vermehrte seine Ausdruckskraft. Schwelgte scheinbar in seinen Dissonanzen. Badete sich in seinen Kakophonien gesund. Wie Schlangenhäute streift er das Vergangene ab. Es mußte sein – um seiner Entwicklung willen. Nun hat er es nicht mehr nötig. Der Umfang seiner Sprache hat erstaunlich zugenommen, die Skala seiner Töne ist bereichert, die Kühnheit seiner Farbenmischung gesteigert. Er hat heimgefunden zu dem Urquell aller Musik: der Melodik. Die schönste Tochter der schönsten Kunst tritt auf der eigenen Spur einher, schüttet das Füllhorn ihrer Klangseligkeiten aus, umwogt verschwenderisch die Sinne. – Strauß und Molière – das war eine Vernunftehe, leicht zu schließen, leicht zu lösen. Nun schwebt ein leuchtenderer Stern über der Bahn unseres vor allen begnadeten Zeitgenossen: Mozart. Dieser teure Name taucht wie eine Zwangsvorstellung auf, wenn man von der spielenden Leichtigkeit der Erfindung, ihrer Anmut, ihrer Grazie den schwächsten Begriff erwecken will. Doch darf man nicht denken, daß hier ein Echo des göttlichen Amadeus widerhallt. Es ist ein Notbehelf nur, der andeuten soll, wie fruchtbar der Schatz seiner Harmonien wurde. Strauß greift zu alten Edelsteinen, gibt ihnen die nur ihm eigene Fassung, umrahmt sie mit moderner Goldschmiedekunst, daß ihr Glanz ein einziges Entzücken wird. Er schreibt bewußt Nummern, geschlossene Gesangsstücke, Koloraturarien wie in der Oper einer überwundenen Stilart, aber überall sind sie mit seiner Handschrift gezeichnet, durch sie ausgezeichnet. Autogramme du temps passé. […] – Auch der von Leo Blech geleiteten Berliner Aufführung muß ein blühender Zweig aus dem Ruhmeskranz gereicht werden. […] Die von so viel Herrlichkeit hingerissenen Hörer ehrten nur sich selbst, indem sie ihren deutschen Meister Richard Strauß ehrten. – Horcht auf, Verblendete: eine Meisterweise ist gelungen – während ihr euch im blutigen Wahnwitz zerfleischt. Wenn die Nationalgrößen aller Heerführer vor der nivellierenden Zeit zu Lokalberühmtheiten zusammengeschrumpft sind, wird noch der Ruhm eines Richard Strauß die Welt erfüllen. Die Kunst muß die grauenvolle Besesssenheit schmelzen. Die Kunst muß, frei wie der Vogel in der Luft, über Länder und Meere fliegen. Die Kunst muß Brücken bauen helfen. Betretet sie, denn hier sind Götter. In diesem Zeichen werdet ihr euch selbst besiegen.“

Berliner Theater. NZZ, 16. November 1916, Zweites Abendblatt, Nr. 1837.
Gabriela Zapolska, Die Warschauer Zitadelle (Residenz-Theater, 09.11.16). – „Kein dichterisches Werk; gewiß nicht. Aber auch nicht nur ein grelles Tendenzstück. Etwa die Mitte zwischen beiden Polen einhaltend, wiewohl sichtbarer der zweiten Gattung zuneigend. Man denkt an den Franzosen Brieux, der die Absichtlichkeit seiner Dramen so geschickt zu retouchieren und zu vertuschen weiß, daß ein gewiegter Kenner, wie Bernard Shaw, sich hinters Licht führen läßt oder, von der Wohltätigkeit des Zweckes bestochen, verführen lassen will, und seinen wahlverwandten Kollegen allen Ernstes ins Dichterische hinaufschraubt. (Die Ähnlichkeit mit Brieux wird dadurch noch besonders betont, daß auch in der Roten Robe ein von menschlichen Regungen geschüttelter Untersuchungsrichter im Mittelpunkt steht.) Shaw würde auch hier den edlen Zweck gutheißen. – […] Gleichviel, wie man über den künstlerischen Wert des Werkes urteilen mag: an seinen hervorragenden Theaterqualitäten ist nicht zu zweifeln. Gabryela Zapolska war nicht umsonst Schauspielerin bei Antoine in Paris. Da hat sie die Kniffe des Handwerks von Grund auf gelernt. Sie weiß, daß das Verhör zu den wirksamsten dramatischen Fermenten gehört, weshalb sie zwei Akte damit anfüllt. Immer ist sie als Bühnenpraktikerin darauf bedacht, dankbare Rollen zu schreiben; so gibt es bei ihr kaum eine leere Episodenfigur. In der Führung der Handlung dagegen scheint sich die bisher mehr dem Epischen zugewandte Tätigkeit der Dichterin auszuprägen. Ein wenig umständlich werden die Fäden von ihr bloßgelegt, und das Gewebe hat nicht die selbstverständliche Dichtigkeit, die dem geborenen Dramatiker eignet. Aber wieviel Frauen haben denn die Bühne erobert? Mich dünkt: keine. – Dieses, von ungewöhnlich starker und kundiger Frauenhand gefügte, Theaterstück wurde durch eine nicht genug zu preisende Darstellung zum Erlebnis. […] Und diese unvergeßliche Leistung wurde nicht von einem durch jahrelange Übung aufeinander abgestimmten Ensemble erzielt, sondern von einer gleichsam aus dem Boden gestampften Truppe. Ruhm und Ehre ihrem Leiter Eugen Robert! Das bewundernswerte Kunststück macht ihm so bald keiner nach.“

Berliner Theater. NZZ, 18. November 1916, Zweites Morgenblatt, Nr. 1846.
Karl Sloboda, Am Teetisch (Kleines Theater, 11.11.16). – „Da ihm [Sloboda] vorläufig kaum etwas Substantielles einfällt, füllt er drei Akte fast ausschließlich mit Aphorismen, Sentenzen, Maximen, Aperçus – lauter Fremdworte für eine dem Deutschen wohl fremde Sache – über Liebe und Ehe. Es regnet in Strippen, in Mulden, in Kübeln Geist oder vielmehr Geistreichigkeiten. Und will sich nimmer erschöpfen und leeren. – […] Plaudern ist gewiß eine gute Gabe Gottes. Mag geistreiches Geplauder auch nicht der Güter höchstes sein, so wird doch, wer es besitzt, sich vor nichts mehr in acht nehmen müssen als vor Gemeinplätzen, denn sie sind der Übel größtes. Karl Sloboda kennt einstweilen noch keine Hemmungen. Er schmust seelenvergnügt darauf los und gibt sich den weltmännischen Anschein, als habe er für seine abgestandenen Weisheiten, die gelegentlich bis zur Tiefe Oskar Blumenthals reichen, eine neue Fassung gefunden. Doch das Publikum fragt wenig danach, aus wievielter Hand ihm Geist geboten wird; es freut sich des sanften Geplätschers und beklatscht genügsam den Geist von seinem Geiste.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Dezember 1916, Zweites Mittagblatt, Nr. 1961.
Ludwig Thoma, Die kleinen Verwandten; Brautschau; Dichters Ehrentag (Kgl. Schauspielhaus, 28.11.16). – „Ludwig Thoma im Kgl. Schauspielhaus – ein bißchen mag man sich das wie den Empfang eines Sozialisten bei Hofe vorstellen. Der Lokalreporter spräche gewiß von einem ‚pikanten’ Ereignis; er käme um dieses Wort bei der Schilderung des Vorganges einfach nicht herum. Selbst dann könnte er es sich unmöglich verkneifen, wenn der Geladene den besten Frack trüge, die zwanglos sicherste Haltung auf dem gewichsten Parkett und im Gespräch mit dem gekrönten Herrn nicht die leiseste Spur einer anstößigen Gesinnung verriete. – Er war gar nicht pikant, der Ludwig Thoma-Abend, den nach dem Münchner Residenztheater die Berliner Hofbühne bot. Von den drei ohne innere Einheit zusammengestellten Einaktern können zwei keinen Anspruch auf künstlerische Bewertung erheben. – Der erste, Die kleinen Verwandten, mutet im besten Falle wie der Text zu einem Familienbilde von Th. Th. Heine an. Wie ein weitschweifiger, durch Wiederholungen ermüdender, nicht in treffsicherer Kürze die Würze des Witzes erblickender Text. […] – Ungleich saftiger ist ihm [Thoma] das ländliche Gegenstück, Brautschau, geraten. Vor dieser liebevollen Ausmalung oberbayrischer Bauerngestalten darf man sich an Leibl erinnert fühlen. Das Ganze ist nur eine Schnurre, doch mit innigem Behagen zu einem Stückchen Volksleben vertieft. […] – Wenn er [Thoma] seinem Spott die Zügel schießen läßt, wie in Dichters Ehrentag, schießt er leider recht kläglich daneben. Die kleine Satire richtet sich gegen die üble Gepflogenheit, den fünfzigsten Geburtstag hervorragender Zeitgenossen überschwenglich zu feiern. Sie knüpft unverkennbar an den also gefeierten Ehrentag eines berühmten Dramatikers [Hauptmann?] an, glaubt die Auswüchse des Berliner Theaterbetriebs zu geißeln, nimmt die selbstgefällige Gemeinde des Angeschwärmten, der ein Gassenhauer lieber ist als die hohe Kunst, aufs Korn und läßt den Dichter im Kreise seiner Getreuen die traurigste Rolle spielen. […] Soweit es sich um Berliner Verhältnisse handelt, darf nicht verschwiegen werden, daß diese gröbliche Karikatur von einem Außenseiter herrührt. […] – Der ärgerliche salzlose Spaß hätte gewinnen können, wenn er nicht ebenso dilettantisch gespielt wie gedichtet worden wäre.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Dezember 1916, Achtes Sonntagblatt, Nr. 2002.
William Shakespeare, Julius Cäsar (Lessing-Theater, 01.12.16). – „Die dankbarste [Rolle] für den Zuschauer ist Portia, die nach Heines Wort den weiblichsten Sinn und die sinnigste Weiblichkeit offenbart. Wer vermöchte diese edelste Frauengestalt Shakespeares überzeugender zu verkörpern als Lina Lossen? Sie braucht nur aufzutreten, und man glaubt ihr ohne Vorlegung des Geburtsscheins die Tochter Catos. Man glaubt ihr die wundervolle Mischung von Herbem und Zartem. Man glaubt ihr sogar das furchtbare Ende. […] – Die dankbarste Rolle vom Standpunkt des Schauspielers aus ist natürlich Marc Anton. Sie war im Lessing-Theater Herrn Theodor Loos anvertraut. In den ersten Auftritten blieb er merkwürdig farblos, also des Merkens gar nicht würdig. Wie wußte Josef Kainz hier aus den wenigen Andeutungen des Dichters Kapital zu schlagen! […] – Der Brutus Albert Bassermanns wird es schwerer haben, sich in dem fremden Seelengehäuse heimisch zu fühlen. Der Edelmut des Römers, die Geradlinigkeit und Starrheit des Wesens kommen seiner gern in seelische Zwischenreiche schweifenden Natur wenig entgegen. […] Herr Bassermann überzeugt eher, wenn er bohrt, als wenn er verbohrt ist. Hier muß er sich ganz auf eine Wesensseite einstellen; und da er sie nicht, wie etwa Friedrich Kayßler, der ideale Brutus, von sich aus mitbringt, sucht er durch ein schwerflüssiges Tempo nachzuhelfen, was die Gefahr der Verschleppung einschließt. […] – Die schwerste Rolle bleibt Cäsar. Noch keinen sah ich damit glücklich werden. Der Grund dürfte darin liegen, daß wir die überragende Persönlichkeit des Geistesgewaltigen auf Treu’ und Glauben hinnehmen müssen, während der Dichter uns die Beweise vorenthält. Eigentlich ist er bei Shakespeare ein mit allerhand menschlichen Schwächen behafteter Popanz, eine mit dem Nachruhm stark liebäugelnde Bildhauerfigur. […] Im Lessing-Theater mochte der Schauspieler Kurt Götz in der äußeren Erscheinung, die an die verwitterten Züge gewisser Cäsar-Statuen erinnerte, der Illusion entsprechen; als er den Mund auftat, ward er ein Opfer seines Größenwahns.“

Berliner Theater. NZZ, 15. Dezember 1916, Drittes Mittagblatt, Nr. 2039.
Hans Müller, Könige (Kgl. Schauspielhaus, 08.12.16). – „Fünfundvierzig deutsche Bühnen (eine Rekordziffer!) hatten das Schauspiel Könige des Wiener Schriftstellers Hans Müller vor der Feuerprobe zur Aufführung erworben. Es braucht ihnen nicht leid zu tun, daß sie die dramatische Katz’ im Sack gekauft haben; denn diese Katze wird überall, von der Etsch bis an den Belt, Dukaten speien. Sie weiß sich dem Publikum ins Herz zu schmeicheln und wird von den Schauspielern geliebt. Da die Theater in dieser schweren Zeit leben wollen, wird ihnen die Kritik keinen Knüppel in den Weg werfen. Ihr Standpunkt gegenüber diesem zeitgemäßen Werk wird kein überzeugtes ‚Ja’ sein, sondern eher ein resignierendes ‚Warum nicht?’“

Berliner Theater. NZZ, 9. Januar 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 43.
Thaddäus Rittner, Wölfe in der Nacht (Deutsches Künstlertheater, 25.12.16). – „Vielleicht hat der wandlungsfähige Thaddäus Rittner, von Geburt ein Deutschpole, nach etwas vagen, tastenden Anfängen mit den Wölfen in der Nacht seine Melodie, seinen eigenen Stil gefunden. Er pflege ihn zielbewußt weiter; dann werden die Leute allmählich mit ihm heulen lernen, und die Gefolgschaft, die jetzt noch nicht hinter das Geheimnis seines Schaffens gekommen ist, wird nicht ausbleiben. Wir haben so wenig echte Komödiendichter, daß schon die Hoffnung, einen neuen Mann heranwachsen zu sehen, einen Gewinn bedeutet.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Januar 1917, Zweites Abendblatt, Nr. 58.
Ludwig Fulda, Die verlorene Tochter (Komödienhaus, 30.12.16). – „Von Ludwig Fuldas neuem Lustspiel Die verlorene Tochter wäre zu berichten, daß es hier im Komödienhaus denselben starken Publikumserfolg erzielte wie in Dresden und sich auch vor der zweiten Prüfungsstelle als reines Unterhaltungsstück auswies. – (Eine bemerkenswerte Erscheinung ist festzustellen: Berlin hat sich in der Kriegszeit das ius primae noctis immer mehr von andern Städten entwinden lassen. Während früher die Uraufführung in Berlin die Regel war, ist sie jetzt eine sehr seltene Ausnahme geworden. Das Reich, das vordem in ungesunder Abhängigkeit vom Markte der Hauptstadt verharrte, hat sich erfreulicherweise auf seine Pflichten gegen lebende dramatische Schriftsteller besonnen, indes Berlin es sich genügen läßt, die Toten auszugraben.)“

Berliner Theater. NZZ, 15. Januar 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 76.
Anton Wildgans, Armut (Kammerspiele, 29.12.16); Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, Figaros Hochzeit (Deutsches Theater, 31.12.16). – Zu Wildgans’ Trauerspiel: „In der Schilderung des Jammers wühlt Wildgans schier erbarmungslos. Es ist immer dieselbe Litanei, ein Air auf einer Saite. […] ‚Misery is the greatest mystery.’ Das Geheimnisvolle fehlt dem Bilde der Wildgansschen Armut. Ich vermag überhaupt nicht zu finden, daß die Armut dieser Familie etwas Bezwingendes hat, wie etwa das Elend der Hauptmannschen Weber. […] – Trotzdem man sich in der Auslese und der Anordnung des Stoffes manches anders denken könnte, vielleicht auch anders wünschen möchte – das eine muß dem Dichter zugestanden werden: wie er ihn angreift, ergreift er streckenweise. Ihm gab ein Gott zu sagen, was die andern leiden. Der wärmste Advokat tritt für die Enterbten des Lebens ein. Mit einer Glut des Gefühls, die noch über häßlichere Regungen den Purpurteppich der schönen Sprache zu breiten vermag. Dann schlummert doch etwas wie Sternenglanz über menschlichem Weh und Ungemach. Diese Verse haben freilich nur musikalischen Wert, ohne den Ausblick zu erweitern oder die Dynamik des Dramas zu verschieben. Sie sind mehr ein Ventil für den Dichter als für seine Gestalten und hängen wie ein schweres Gewicht am dünnen Handlungsstrang. Wildgans ist ein guter Mensch und – seltene Personalunion – ein guter Musikant, vorläufig aber noch mehr ein lyrischer als dramatischer Künstler.“ – Zu Figaros Hochzeit: „Hier konnte er [Reinhardt] alle Geister des Übermuts durcheinander wirbeln, die Frohlaune sich austollen lassen, seiner Freude an Verkleidung und Verwechslung frönen. Hier drohte allerdings auch die gefährliche Nachbarschaft eines von ewiger Anmut umflossenen Genius, der diesem Stoff die für alle Zeiten gültige, unauslöschliche Prägung verliehen hat. Auch die vollendetste Vorführung der Komödie vermöchte von der Magie der Oper nicht mehr einzufangen als ein trockener Klavierauszug vom Farbenglanz einer Partitur. […] Die ganze Aufführung, die einen Rekord von vier Stunden aufstellte, litt unter dem Tempo. Statt eines Prestissimo-Flitzens gab es ein gemächliches Scherzo mit Andante-Anwandlungen.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Januar 1917, Viertes Mittagblatt, Nr. 152.
Henrik Ibsen, Frau Inger auf Oestrot (Kgl. Schauspielhaus, 17.01.17); Gustav Kadelburg, Der Reisebegleiter [freie Bearbeitung von Michael Klapps Rosenkranz und Güldenstern] (Deutsches Künstler-Theater, 19.01.17). – Zu Ibsens Drama: „Es bleibt ein Werk, eine Fingerübung vor dem Erwachen des Löwen, eh’ er sich auf das besann, was er, nur er der Welt zu sagen hatte. So belanglos wie die Anfänge des jungen, zum Thespiskarren entlaufenen Stratforder Tunichtgut Shakespeare (etwa wie der erste Teil von Heinrich VI.). Es wäre schon zuviel Ehre, wollte man die bei ihrer Geburt bereits staubbedeckte Frau Inger den Rienzi Ibsens nennen. Nur wie Wagner hier ohne Meyerbeer undenkbar ist, hat Ibsen noch nicht die Nabelschnur mit Victor Hugo zerrissen.“

John Bulls andere Insel. Komödie in 4 Akten von Bernard Shaw. (Deutsche Uraufführung im Berliner Lessing-Theater am 20. Januar.) NZZ, 30. Januar 1917, Erstes Abendblatt, Nr. 177.
„Mußte es sein? … Direktor Barnowsky hat es gewollt, die Behörde hat es geduldet. Man wird trotzdem anderer Meinung sein dürfen. – Zuvörderst sei der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß in keinem andern kriegführenden Staate jetzt, im dreißigsten Monat des Vernichtungskampfes, da man zu letzten enscheidenden Streichen ausholt, etwas Ähnliches möglich oder auch nur denkbar sei. In Deutschland hat man sich – wer könnte es leugnen? – eine achtungswerte künstlerische Vorurteilslosigkeit bewahrt. Eben wurde ein Roman von Romain Rolland veröffentlicht, Bernard Shaw wird ohne Demonstration gehört. Nur in Deutschland darf man solches wagen, während man anderswo Wutausbrüche des verblendeten Pöbels befürchten müßte. – Gleichwohl hätte die Aufführung einer Shawschen Komödie, insbesondere dieser Komödie, unterbleiben können, ohne daß wir ärmer gewesen wären. Nicht so sehr deshalb, weil ihr Verfasser, der bei uns einen fruchtbaren Weideplatz gefunden hatte, das Gute, das er hier empfangen, nicht immer mit gleicher Münze zurückgezahlt hat, sondern es gelegentlich für zweckentsprechend hielt, einen Januskopf aufzusetzen. Auch nicht aus dem Grunde, weil dieses Werk eine rein interne britische Angelegenheit ist, die uns im Frieden wenig anging, im Kriege noch weniger angeht, da wir sie nun und nimmer übertragen, auf fremden Boden verpflanzen und nur zu einem kleinen Teile verstehen können. Sondern einzig aus künstlerischen Rücksichten: weil die Bühne, die nach dieser höchst persönlichen Auseinandersetzung des Iren Shaw mit seiner Adoptivheimat England griff, zu einer politischen Tummelstätte wurde, sich unnötigerweise in das Gewirre des Tagesstreites gezerrt sah. Die Politik hat es mit den Irrtümern des Tages zu tun, die Kunst verbreite Wahrheiten für die Ewigkeit. Das sei ihre von Gott befohlene Sendung! Die Scheidewand zwischen beiden Gebieten kann gar nicht hoch und dick genug sein. Niemand sollte ohne Not den Versuch machen, auch nur durch einen Spalt in der Mauer zu blicken; noch weniger, den Fuß von hüben nach drüben zu setzen. Dies ist mein Standpunkt. Gott schütze die Kunst!“

Berliner Theater. NZZ, 10. Februar 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 247.
Hans Kyser, Charlotte Stieglitz (Lessing-Theater, 02.02.17). – „Nach ganz wenigen Aufführungen (es mögen drei oder vier gewesen sein) ist John Bulls andere Insel von Bernard Shaw lautlos und endgültig vom Spielplan des Lessing-Theaters verschwunden. Der Versuch, die Schaubühne, die Schiller als eine moralische, doch nicht als eine politische Anstalt bezeichnete, in den Dienst der Tagesfragen zu stellen, als Hilfsarbeiterin für nationale Zwecke zu beschäftigen, hat also beim großen Publikum nicht die erwartete Gegenliebe gefunden; es bestätigte sich die Erfahrungstatsache, daß Stücke, die vor der Feuerprobe den Kampf der Geister entfachen, in den seltensten Fällen nachher sich des von ihnen gemachten Aufhebens würdig erweisen. Was Shaw, ein ausgesprochener Gegner englischer Unterjochungspolitik, zugunsten des entrechteten, geknechteten irischen Volkes mehr witzig als durch Mitleid wissend sich hier von der Leber redete, konnte unmöglich in partibus auf volles Verständnis zählen. Denn wenn auch wir unsere fremden Bevölkerungen besitzen, so haben wir ihnen gegenüber doch niemals ein Auspowerungssystem befolgt, sondern waren stets auf ihre kulturelle Hebung bedacht. Sie mögen unter strenger, oft unbequemer Zucht geseufzt haben, mußten aber auf die Dauer anerkennen, daß es ihnen unter solcher Herrschaft wirtschaftlich keineswegs schlecht ergangen ist. Bismarck hat dafür einmal den Vergleich mit einer rauhen Jacke gebraucht: anfangs fühlt man nur, daß sie am Körper kratzt; nach einiger Zeit spürt man aber, daß die Jacke auch wärmt. Und wenn man zuerst nur über sie geschimpft hat, sieht man bald ihre wohltätige Wirkung ein. Dieser gewaltige Unterschied war wohl letzten Endes daran schuld, daß Shaws doppelzüngiges Plädoyer hierzulande nur ein Schütteln des Kopfes verursachte und nicht in dem gewünschten Sinne einzuschlagen vermochte. – Nach dem mißglückten Ausflug in das Reich politischer, der Stunde geltender Interessen hat sich das Lessing-Theater rasch wieder auf seine zeitlos literarische Sendung besonnen und dem Schauspiel Charlotte Stieglitz des heimischen Dichters Hans Kyser Gastrecht gewährt. Man braucht den Kennern der Literaturgeschichte das Ehepaar Stieglitz nicht vorzustellen; er lebt nicht durch seine Werke, sie lebt durch eine Tat fort und hat ihm damit eine kleine Unsterblichkeit verliehen: um die stockende, fast schon erloschene Schaffenskraft ihres Mannes zu erwecken, weil sie in dem Glauben selig war, den Ausgebrannten durch tiefes Leid zu neuen Liedern anregen zu können, hat sie sich am 29. Dezember 1834 erdolcht. […] Leider können wir weder an die Wunderkraft des Opfers noch an die Würdigkeit des Mannes glauben. Selbst wenn die Zuschauer nicht wüßten, daß Heinrich Stieglitz nachher nichts mehr von Belang geschaffen hat, würden sie diesem Schwächling schwerlich ihre Teilnahme schenken. Das bringt das Drama, das im letzten Akt reine, tiefe Töne der Liebe anschlägt, um ein gut Teil seines Nachhalls.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Februar 1917, Zweites Abendblatt, Nr. 317.
Otto Franz Gensichen, Die Märchentante (Kgl. Schauspielhaus, 13.02.17). – „In Meyers Konversationslexikon werden nicht weniger als vierundvierzig Werke des kürzlich siebzig Jahre alt gewordenen Otto Franz Gensichen aufgezählt. In (R.M.) Meyers Deutscher Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts fehlt der Name ganz. Der eine Meyer ist vollständig; der andere Meyer schweigt vollständig. Wer hat recht? – Mustert man die reichhaltige Liste von Gensichens Werken, so wird man fast jede poetische Gattung vertreten finden. Trotz Sophokles hat er sich an einen Ajas, trotz Büchner an einen Danton, trotz Elise Schmidt an einen Judas Ischarioth gewagt. Zweimal ist er beherzt in den Bannkreis Goethes getreten: mit dem Drama Euphrosyne, als hätte des Weimarer Theaterleiters herrliche Totenklage um die früh verstorbene Schauspielerin Christiane Neumann nicht allen Ansprüchen genügt, und mit der literarhistorischen Schrift Das Haideröslein von Sesenheim, als ob das Verhältnis des Straßburger Studenten zu Friederike Brion des Nachzeichners bedurft hätte. Dieser Titel – er wäre heut undenkbar; er war es wohl schon vor zwanzig Jahren – bekundet eine tiefe Neigung zum Innigen, Minnigen, Sinnigen. – Sie tritt in Gensichens Lustspielen, die sich am längsten erhalten, wenn auch nicht frisch erhalten haben, unverhohlen zutage. Auf eines seiner beliebtesten, das sogar in Paris Anklang gefunden haben soll, Die Märchentante, griff das Kgl. Schauspielhaus zurück, als es jetzt dem rüstigen Jubilar eine Nachfeier und Auferstehung bereitete. – […] Die Tante ist inzwischen keine Nichte, sondern eher eine Großtante, eine Urgroßtante geworden. Der eine Meyer zählt sie mit dreiundvierzig andern Werken des Herrn Verfassers auf, der andere Meyer schweigt sie nebst sämtlichen andern Werken tot. Wer hat recht? – Recht hat Otto Franz Gensichen; denn er lebt, wenn auch sein Werk nicht lebt. Er lebt, hat seinen Ruhm nicht überlebt, wie es manchem Berühmteren schon ergangen ist, und darf sich der Mitwelt in Erinnerung bringen.“

Berliner Theater. NZZ, 24. Februar 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 335.
Paul Wegener in der Rolle des Othello (Deutsches Theater, 15.02.17). – „Paul Wegener gab als erste neue Rolle, nach dem Gastspiel des Deutschen Theaters in der Schweiz, Shakespeares Othello. […] Wegener bringt von Haus aus alles für den Sohn des heißeren Himmelsstriches mit, sogar die Erscheinung. Er braucht nur das schwarze Kraushaar aufzusetzen, und Othello steht fertig da – furchtbar prächtig wie ein Freiligrathscher Mohrenfürst. […] Wie die modernen Neger hat er offenbar eine Schwäche für Kontrastfarben – gleich zu Beginn tritt er in weißem Brokat auf –, und nach der Sitte exotischer Völker behängt er sich überreich mit Schmuck. – Dieses Exotische ist der Grundbaß seines Wesens. Es kommt wie selbstverständlich in seiner Sprache zum Ausdruck, im Lallen und Lachen. Auch in den Gesten, die manchmal zu Beschwörungsformeln greifen. Der Künstler tut noch ein übriges und macht bei der Musik der Negerstämme Anleihen, indem er ihre lang gezogenen Töne zur Äußerung des Schmerzes verwendet. […] – Exotisch überströmend ist auch seine Liebe zu Desdemona. Er kann sich nicht genug tun, sie zu kosen, an sich zu ziehen, zu betasten. Man empfindet vor diesen häufigen Berührungen, stürmischen Umarmungen einer Weißen durch einen Farbigen beinahe physisches Unbehagen und sucht es zu begreifen, daß ein früherer Staatsanwalt, der über das Sexualproblem im Othello kürzlich einen Vortrag hielt, Desdemona in den Verdacht einer abnormen Neigung bringen konnte. Dieser Othello glaubt unerschütterlich an seine ‚holde Kriegerin’, und man fühlt es mit, daß sein Glaube, sobald er ins Wanken gerät, das Chaos um sich zu sehen vermeint. Hier, in der gewaltigen Erschütterung des dritten Akts, erreicht Wegener eine tragische Größe, wie sie kein deutscher Schauspieler seit Matkowsky besessen hat. – Nun bricht seine Wildheit hemmungslos hervor. Er setzt mit dem sichern Sprung eines Tigers über Tisch und Bänke, fährt Jago an die Gurgel und würgt ihn, daß ihm die Sinne vergehen. Er stößt, blindwütig rasend, den Dolch in den Türpfosten, als könne das schon seine Rache an dem verhaßten Cassio kühlen. Desdemona zu mißhandeln ist ihm eine Wollust, und er mordet die Schuldlose mit einem Realismus, wie man ihn seit den Tagen Kawakamis und der Sada Yacco auf keiner Bühne mehr erlebt hat. […] – Sein Othello ist wirklich kein Berliner Lokalereignis, er ist ein Gipfel deutscher Schauspielkunst; ja, ich stehe nicht an, ihm europäische Bedeutung zuzuerkennen. In der Galerie Shakespearescher Meisterporträts nimmt er neben Irvings Shylock, Forbes Robertsons Hamlet, Kainzens Richard II., Matkowskys Faulconbridge einen Ehrenplatz ein. Wäre das Deutsche internationales Sprachgut, Paul Wegener könnte, wie einst Rossi und Salvini, mit seinem Othello getrost über die Bretter der Welt schreiten… Leider ist die Welt vorläufig noch mit Brettern zugenagelt.“

Berliner Theater. NZZ, 9. März 1917, Drittes Mittagblatt, Nr. 419.
Mite Kremnitz u. Hermann Kienzl, Die Kammerwahl (Schiller-Theater, 01.03.17). – „Am Vormittag hielt der Kriegsminister v. Stein im Reichstag eine Rede über die Mißhandlung deutscher Gefangener in den feindlichen Ländern. Von allen Lebewesen dieses in das Chaos zurückgeglittenen oder freventlich zurückgestoßenen Kosmos ist und bleibt der Mensch, welcher sich anmaßend die Krone der Schöpfung nennt, doch das grausamste. – Am Abend geht man ins Theater. Da der Kritiker nicht zu den Pachydermen zählt oder zählen sollte, bekennt er unumwunden, daß er am Abend des 1. März, in seine eigenen Gedanken wie in ein unzerreißbares Netz verstrickt, den Lockungen der Bühne passiven Widerstand entgegensetzte. Er gehört – dem Himmel sei Dank – nicht zu jenen beneidens- oder beklagenswerten Geschöpfen, die alles von sich abzuschütteln vermögen wie ein berühmter Komödiant, der im vertrauten Freundeskreise einmal erzählte, der größte Tag seines Lebens sei der gewesen, an dem er nachmittags seine Tochter verlor, abends den Hamlet zu spielen hatte und den Triumph genoß, daß er trotzdem nicht einmal weniger als sonst gerufen wurde. Vielleicht muß man aus solchem Holz geschnitzt sein, um aus den Krisen des Daseins siegreich hervorzugehen. Aber wenn es nur solche für ‚die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschickes’ Unempfängliche gäbe: die Kunst hielte noch bei den ersten Zuckungen der Naturvölker. – Also sehen wir Theater … Die Uraufführung einer nach der Komödie Der verlorene Brief des Rumänen Caragiale frei bearbeiteten Zustandsburleske Die Kammerwahl von Mite Kremnitz und Hermann Kienzl. […] – Hermann Kienzl wollte uns überdies mit dem Sumpfboden bekannt machen, auf dem seine Komödienfrucht reifte. Zu diesem Zweck hat er ein Büchlein Die Fäulnis Rumäniens (bei Georg Müller in München) zusammengestellt, das die dortigen Dichter durch markante Proben über den Wuchs ihres Geistes und den Umfang ihres Talentes ausweisen soll. Eine europäische Begabung findet sich, soweit ich gesehen habe, in diesem rumänischen Pantheonchen nicht. […] Als der begabteste erscheint eben jener Caragiale, dessen eine Skizze, Im Heimatstädtchen, mit der Geißelung einer ‚Volksbelustigung’ ins allgemein Menschliche hinüberschwingt. Wir lesen darin, wie ein halbverhungerter Hund von entmenschten Menschen mit Wollust totgeprügelt wird. Von allen Lebewesen dieses planlosen Planeten ist und bleibt der Mensch doch das grausamste. Er quält nicht nur seinesgleichen mit satanischer Freude bis aufs Blut, sondern auch Kreaturen, die tief unter ihm stehen – nein: von denen er sich einbildet, daß sie tief unter ihm stehen. Man empfindet es als einzigen Trost, daß man sich schämen darf, und daß überall Dichter leben …“

Berliner Theater. NZZ, 15. März 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 453.
Georg Kaiser, Die Sorina (Lessing-Theater, 06.03.17); Max Dreyer, Die reiche Frau (Kgl. Schauspielhaus, 07.03.17). – „Zwei Uraufführungen an zwei aufeinanderfolgenden Abenden – da sage noch einer, Berlin habe sich das Heft aus der Hand winden lassen. Und doch ist es, wie hier schon gelegentlich hervorgehoben wurde, unbestreitbar, daß die hauptstädtische Hegemonie auf dem Theatermarkt starke Einbuße während des Krieges erlitten hat. Die Provinz ist erwacht. Wenn die Zentralstelle schläft oder (aus Scheu vor gesteigerten Kosten) säumt, regt es sich verheißungsvoll an vielen Orten der Peripherie. So ist aus der gefährlichen Monarchie oder fast schon Tyrannis der Hauptstadt eine Oligarchie geworden, die als Erscheinungsform wie in ihren Wirkungen manches Erfreuliche hat. Nur darf man nicht, in einem Hang zu partikularistischer Überschätzung, glauben, daß sich – um im Bilde der Staatswesen zu bleiben – eine Pantisokratie (das Wort stammt von Coleridge) herausgebildet habe, d.h. daß nun alle Städte gleichen Rang und Wert besitzen. Ist Berlin auch nicht mehr ausschließlich das A der Flugbahn, so bleibt es doch deren O. Denn wer nicht hier abgestempelt ist, darf sich noch immer kaum mehr als lokale Geltung zuschreiben. So führen letzten Endes alle Wege nach Berlin… – Zu den jüngsten Entdeckungen oder Versuchsobjekten des Reiches gehört Georg Kaiser. Vor wenigen Wochen hat er mit seinem Drama Die Bürger von Calais […] in der alten Krönungsstadt Frankfurt a.M. erfolgreich kandidiert. […] Nun Frankfurt mit gutem Beispiel vorangegangen, folgte Berlin auf dem Fuße. – Mit der Komödie Die Sorina. […] Man sieht, daß viele Bestandteile einer Operette hier beisammen sind. Und doch ist es keine Operette geworden, weil Georg Kaiser nur in der Verführungsszene des Jünglings durch die alternde Frau den unerläßlichen Übermut und die nötige Unbekümmertheit mitbringt. Sein Blut scheint zu dickflüssig, und die Kabarettfrechheit, die dieser Stoff erheischt, die Wedekind-Weis’ dürfte ihm zu hoch hängen. Schon die Führung der Fabel läßt die leichte Hand entbehren. Öfters wird der Eindruck erweckt, als seien dem Autor die Fäden während der Arbeit entglitten. Das wirkt nicht wie aus einem Guß, sondern schleppt sich, zumal im Schlußakt, mühsam dahin.“ – Mit Bezug auf Max Dreyer: „Ein echter Max Dreyer ist das Lustspiel Die reiche Frau. Echt in seiner niederdeutschen Behaglichkeit, in seiner blauäugigen Gutmütigkeit, in seiner frohgemuten Neigung, Welt und Menschen von ihrer besten Seite zu nehmen, als ob es überhaupt keine Schatten gäbe, und Wolken, die auftauchen, schnell von der goldenen Sonne verscheuchen zu lassen. Es hat beinahe etwas Rührendes zu sehen, daß sich ein Dichtersmann – noch dazu in solcher Zeit! – seine Knabenblütenträume bewahrt hat. So sonnig und wonnig stellen sich sonst nur Daheim-Leserinnen diese denkbar beste Welt vor; so rosige Begriffe mögen sie, nur sie auch von dem lustigen Künstlervölkchen haben, bei dem Dreyer diesmal eingekehrt ist. – […] Doch das Stammpublikum des Kgl. Schauspielhauses, in dem Daheim-Leserinnen und Gartenlaube-Abonnenten zahlreicher vertreten sind als an andern Kunststätten, hielt sich an die liebenswerten Eigenschaften des Menschen Max Dreyer und ließ es den Dichter nicht entgelten, daß er, wie die Katze um den heißen Brei, um die Schwierigkeiten seines Themas herumgegangen ist. So vertrieb sein ‚goldener Humor’ die Wolken am Himmel des Erfolges und ließ ihm die Sonne freundlichen Beifalls scheinen.“

Berliner Theater. NZZ, 22. März 1917, Erstes Abendblatt, Nr. 505.
August Strindberg, Totentanz (Theater in der Königgrätzer Straße, 13./14.03.17). – „Kein rotes Haßfanal, keine neue Geisterrakete Strindbergs zischt empor; sondern das mixtum compositum ‚Haßliebe’ wird von einem fürchterlich Enttäuschten mit blutigen Händen in seine Atome aufgelöst. – Das Theater in der Königgrätzer Straße, Strindbergs Kultstätte, bot das gesamte Werk an zwei aufeinanderfolgenden Abenden, was ihm als hohes Verdienst angerechnet werden muß. Es wurde gesteigert durch eine mit äußerster Hingebung und frei von allen selbstherrlichen Zwecken herausgebrachte Aufführung unter der Regie Rudolf Bernauers. So nahe es läge, sie mit Reinhardts Lesart zu vergleichen [in seiner Inszenierung am Deutschen Theater vom 27.09.12] – ich widerstehe der Versuchung. Auch die künstlerischen Leistungen der Schauspieler sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Verkörperte Wegener den ehernen Willensmenschen vollendet, war er der im Mark angefressene Kapitän mit erschreckender Deutlichkeit, so spielte ihn Ludwig Hartau mit einer geistigen Energie ohnegleichen. Er mußte das Charakterbild von vornherein mit Rücksicht auf den zweiten Teil anlegen und durfte das listenreiche, unheimlich Verschlagene nicht unterdrücken. Es war vollendete Kunst. Die Alice, ‚früher Schauspielerin’, gab nach der Eysoldt Irene Triesch. War die Eysoldt in der Erscheinung gespensterhaft wie eine Nachteule, so verleugnete sich bei der Triesch die Eitelkeit des Weibes nicht so weit; sie war um zehn Jahre zu jung und nicht von den Schauern des Turmverließes umweht. Dafür glaubte man ihr mehr den früheren Beruf und die noch immer bereite Eroberungslust. Die gab sich schrankenlos in der Verführungsszene aus. Das stille Martyrium, der Jammer wortlosen Duldens wurde von der Eysoldt überzeugender veranschaulicht; die Momente des Aufzüngelns der Leidenschaft, der Geladenheit können keine echtere Darstellerin finden als Irene Triesch, die im zweiten Teil ihre überwältigendsten Augenblicke hatte.“

Kleine Chronik. NZZ, 30. März 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 558.
Eugen d’Albert, Die toten Augen (Deutsches Opernhaus Charlottenburg, 22.03.17). – „Eugen d’Albert dirigierte jüngst die 25. Aufführung seiner Oper Die toten Augen im Charlottenburger Deutschen Opernhaus. Damit wurde uns die authentische Lesart des Werkes vermittelt. Sie kam besonders dem Vorspiel zustatten, das sich ganz als Idyll erwies und in schärferen Gegensatz zu der leidenschaftlich bewegten Handlung trat. Sie wird, neben der in allen Teilen gleich wohlklingenden und ohrenfälligen Musik, das Publikum, das der Oper bis jetzt treu geblieben ist, auch weiterhin fesseln. Wenn man erwägt, wie außerordentlich wenige moderne Tondramen sich dauernd auf dem Spielplan zu erhalten vermögen, so wird man diesen ersten Meilenstein auf dem mit Erfolg gepflasterten Wege der Toten Augen als gutes Zeichen für die Zukunft nehmen dürfen. Aber man sollte sich nicht so ausschließlich auf die durch Tiefland und Die toten Augen vertretene tragische Seite im Schaffen des Komponisten beschränken, sondern ein komisches Juwel wie Die Abreise, in der das musikalische Lustspiel einen verheißungsvollen Anlauf genommen hat, wieder einmal hervorholen.“

Berliner Theater. NZZ, 3. April 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 588.
Carl Hauptmann, Tobias Buntschuh (Deutsches Theater, 26.03.17). – „Nicht weil Gerhart ihm im Lichte stand, ist Carl aus dem Halbdunkel kaum hervorgetreten; sondern obwohl Carl seinen Platz im Schatten hatte, vermochte ihn Gerhart durch den Glanz des Namens Hauptmann hervorzuziehen. So denkt ein Unvoreingenommener über das mißachtete oder vernachlässigte Talent Carls. Man ist nicht verpflichtet, alles von einem Zeitgenossen zu lesen, beschränkt sich vielmehr auf Stichproben. Aber so oft mir etwas von Carl Hauptmann zu Gesicht kam, bis zu Ende drang ich nie durch. Weil in allen seinen Schöpfungen beständig Kurzschluß eintritt. Knips – die Birnen sind eingeschaltet; knips – das Licht erlischt. Der schwer erträgliche Kurzschluß zeitigt selten mehr als Bruchstücke. – […] Ewige Einsamkeit bei stärkstem Liebesbedürfnis – das wäre die kürzeste Formel, auf die Carl Hauptmann das Problem des genialen Phantasiemenschen gebracht hat. […] Ist die Problemstellung höchst einseitig, so ist die Durchführung mehr als anfechtbar: verfehlt. Nur die Seitenbemerkung läßt man gelten, daß geistig weniger bevorzugten Menschenkindern die irdischen Freuden müheloser in den Schoß fallen. Zum Glück hat das Genie meist keine Zeit; zum Glück hat es meist keine Zeit für Dinge, die außerhalb seiner Arbeit liegen, sondern geht darin auf und unter. – […] Das in der Bildnerkraft dünne, in den Ideen anregende, wenn auch zum Widerspruch anregende Werk wurde mit unbegreiflichem Jubel aufgenommen, als sollte sein Schöpfer für die lange Wartezeit entschädigt werden. Tatsächlich spielte sich der Zirkusrummel, der auf der Bühne so unecht ausfiel, im Zuschauerraum ab.“

Hans im Schnakenloch. Schauspiel in vier Aufzügen von René Schickele. (Zur Berliner Aufführung im Kleinen Theater am 29. März.) NZZ, 7. April 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 609.
„Ich ziehe den Hut vor der Zensur. Um so tiefer, als wir im allgemeinen mehr auf Kriegs- als auf Grüßfuß stehen. Sie hat diesem Werk eines nach Objektivität ringenden Elsässers […] mitten im Krieg – also zu einer Zeit, wo der Subjektivismus mit Scheuklappen das Gebot der Stunde ist – den Passierschein ausgestellt. Zwar hatte Frankfurt a.M. als erste deutsche Stadt vor kurzem den Dramatiker René Schickele aus der Tiefe gehoben; aber indem ihn Berlin so schnell zur Konfirmation zuließ, schuf es ihm ein ungleich kräftigeres Echo und befestigte den Glauben an seine Sendung. – Wie jedermann weiß, liegt die Zensur zurzeit in den Händen der Militärgewalt. Was können ihr künstlerische Rücksichten sein, wenn es sich um nationale Lebensfragen handelt! Alles, noch die leiseste Regung einer eigenen Ansicht, muß ihnen untergeordnet werden. Weil der Geist des Ganzen vor ihren Augen Gnade fand, nahm sie an Einzelheiten, die ihr wider den Strich gehen mochten, keinen Anstoß. Welcher Marsbewohner – und das sind heute mit Ausnahme der Neutralen fast alle Bürger der europäischen Großstaaten – wäre nicht verpflichtet, wütenden Widerspruch zu bekunden, wenn der Krieg als eine Mischung von Transportgeschäft und Indianerspiel bezeichnet, für alle Zeiten gezeichnet wird? (Der Ausspruch ist in seiner kühnen Knappheit so schlagend, daß ihn künftige Geschlechter, die den Krieg als einen Atavismus betrachten werden, in der Schule auswendig lernen sollten.) An solchen Stellen, die völkisch Verblendeten zweifellos ein Dorn im Auge sind, herrscht kein Mangel. Trotzdem hat die Zensur sich von ihnen nicht verstimmen und zu einem Verbot bestimmen lassen. Man darf auf unserm Weltteil die Hauptstadt mit der Laterne suchen, wo Ähnliches heute möglich wäre. Ich ziehe den Hut vor dieser Zensur ... – Zweimal ziehe ich den Hut vor dem Berliner Publikum. Im Laufe des Abends, der deutsches und französisches Wesen in gleichen Schalen abzuwägen trachtete, fühlte es sich nicht ein einziges Mal bewogen, für oder wider Partei zu nehmen, die Vorstellung durch eine demonstrative Äußerung des Beifalls oder Mißfallens zu stören. So verhielt man sich aus Wohlerzogenheit, keineswegs aus Gleichgültigkeit. Das Publikum sah ein, daß der Dichter ehrlich bestrebt war, beiden Teilen gerecht zu werden, ihnen ihr Gutes zu lassen, ihr Schlechtes nicht zu unterstreichen, und duldete es daher auch, daß ihm gelegentlich minder erquickliche Wahrheiten gesagt wurden. […] – Dreimal ziehe ich den Hut vor René Schickele. Er hat als Erster ein künstlerisch ernst zu nehmendes Kriegsstück geschrieben – kein Kriegsstück im üblichen Sinne, das billige bengalische Wirkungen zu unlauteren Zwecken begehrt. Sein Verfasser ist einer der selten gewordenen Zeitgenossen, die das Menschliche über das Völkische stellen, denen die Grenzen ihres Heimatlandes den Blick für die Welt nicht versperren. Sein Hirn ist für Deutschland, sein Herz gehört Frankreich. Jenem bringt er Bewunderung, diesem Liebe entgegen. […] – Kein Kriegsstück also mit wild gewordener Begeisterung; doch auch kein Tendenzstück gegen den Krieg. Gewiß, ein Antimilitarist in letztem Betracht läßt sich vernehmen, einer, der davon durchdrungen ist, daß die aufs höchste vervollkommnete Kriegsmaschine blöden Zwecken dient, daß die Menschheit edlere Aufgaben zu lösen hat. Einer, der ganz nebenher, in einer flüchtigen Szene, zeigt, wie der Krieg schon bei seinem Ausbruch die niedrigsten Triebe entfesselt und die sogenannten Kulturträger auf die tiefste Stufe herunterdrückt.“ – MMs Theaterkritik ist in vollem Wortlaut abgedruckt im Anhang der 3. Auflage von Schickeles Schauspiel (München: Kurt Wolff Verlag 1927, S. 255-258).

Berliner Theater. NZZ, 12. April 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 637.
Franz (Ferenč) Molnár, Fasching (Kammerspiele, 02.04.17). – „Zwei Prinzipien streiten noch immer in Molnárs Brust: der Dichter und der Macher befehden sich. […] Bald strebt Molnár in Höhenluft empor, wie in seinem Volksstück Liliom [s.o. NZZ vom 18.02.14, Nr. 246] oder, dem Hörensagen zufolge, in seinem Kriegsstück Die weiße Wolke. Dann steigt er, da er seine Vorliebe für Reißer nicht unterdrücken kann, wieder unbekümmert ins Tiefland. Sein Bühnenblut muß sich austoben; der Kitschier – begabt, wo man ihn packt –, macht sich Luft. Er schmeißt Knallerbsen zum internationalen Gebrauch, selbst wenn [?] es keine Internationalität mehr gibt; er schafft Bombenrollen. – Diesmal ist es freilich eine Bombenrolle mit nur einem Kostüm geworden […].“

Berliner Theater. NZZ, 23. April 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 712.
Molière, Der Geizige („eingerichtet“ von Carl Sternheim) (Deutsches Theater, 16.04.17); Anton Tschechow, Die Möwe (Residenz-Theater, 17.04.17). – Zur Molière-Inszenierung: „Er [Molière] hat für die Gegenwart keine Botschaft mehr. Trotzdem scheint es uns ein frevelhaftes Unterfangen, ihn dieser Gegenwart gewaltsam näher zu bringen, ihm mit modernem Rüstzeug an den verkalkten Leib zu gehen, ihm auf die altersschwachen Beine zu helfen. Wie er ist, will er genossen sein. Sonst lieber gar nicht. Ein vom Schöpfer abgeschlossenes Kunstwerk hat ein- für allemal sein Siegel empfangen und sollte für die Nachfahrenden ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Die dazu da sind, respektiert, aber nicht erbrochen zu werden. – Carl Sternheim hat den Mut gehabt, es Molière in eigenen Komödien nachzutun. Umso schärfer muß sein Übermut verurteilt werden, sich an Molière zu vergreifen, indem er dessen Geizigen bearbeitete. Jahrhundertelang war der Geizige von Molière; jetzt sollen wir umlernen: Der Geizige nach Molière, eingerichtet von Carl Sternheim. Des Deutschen Klinger Tragödie Das leidende Weib fiel ihm vor kurzem zum Opfer; sein zweites ward des berühmtern Franzosen Komödie. Eingerichtet – oder vielmehr: hingerichtet im Auftrag von Max Reinhardt, dem Herrn des Deutschen Theaters. – Unverhohlen sei es ausgesprochen: die ganze Richtung paßt mir nicht. Es blieb unserer ebenso einsichts- wie rücksichtslosen Zeit, auch darin einer radikalen Umwerterin, leider vorbehalten, derartige Attentate auf Kunstwerke der Vergangenheit auszuüben. Hugo v. Hofmannsthal hat mit der Elektra den Anfang gemacht. Nachdem der erste Schritt mit Sophokles getan war – wer konnte da noch seines Nachlebens sicher sein? Ein Wunder nur, daß Shakespeare bis jetzt nicht zur Strecke gebracht wurde. Man hätte einen einzelnen Versuch – besonders da er so selbständig ausfiel wie der Hofmannsthals – als Verirrung ruhig hingenommen: nun sich daraus eine Seuche entwickelt hat, muß sie mit vernichtenden Waffen bekämpft werden. Sonst ist kein Halt mehr auf der schiefen Bahn. – […] Molière ist Molière und soll es für alle Zeiten bleiben. Als unverrückbare Größe steht er da, auch mit seinen von dem heutigen Geschlecht empfundenen Mängeln. Die bessernde Hand an sie anzulegen, ist ein Unfug, der sich nicht einmal dann rechtfertigen ließe, wenn das Urbild wirklich übertroffen würde. Niemals entsteht aber auf diese Weise ein reines Kunstwerk. Wer etwas Besseres schaffen kann als ein Unsterblicher der Vorwelt, tue es in Gottes Namen; doch in Dreiteufelsnamen hüte er sich davor, da weiter zu dichten, wo ein anderer aufgehört hat. Hebbel hat schon solches Beginnen mit heiligem Zorn gebrandmarkt.“

Volk in Not. Ein deutsches Heldenlied in drei Akten von Karl Schönherr. (Zur Berliner Aufführung durch die Volksbühne [am 20.04.17].) NZZ, 27. April 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 747.
„René Schickeles Schauspiel Hans im Schnakenloch galt mir als das erste künstlerisch ernst zu nehmende Kriegsstück; Karl Schönherrs Schaustück gilt mir nicht als das zweite. Sondern als Nervenreißer, der die erschütternde Wirkung seines Schlußakts weniger aus dichterischer Kraft zieht als aus dem gleichgestimmten Hintergrund der Zeit. – ‚Ein deutsches Heldenlied’ …? Hier setzen schon die Fragezeichen ein. Was ist daran spezifisch deutsch? Das Stoffliche? Es handelt sich um den Tiroler Volksaufstand vom Jahre 1809 gegen Napoleon. Haben sich die Tiroler damals als Deutsche gefühlt? Sie kämpften hauptsächlich gegen die mit französischen Truppen vermischten Bayern. War der rote Reichsadler damals Fahne und Fanal des Deutschtums? Gilt Andreas Hofer als deutscher Nationalheld? […] – Da der Stoff also nur mit einem Anachronismus deutsch genannt werden kann, müßte die Bezeichnung auf die Gefühlszone zutreffen, die mit diesem Stoff verquickt ist. Seit wann ist es nur oder hervorstechend deutsch, sich gegen die Unterdrücker der Freiheit aufzulehnen? Haben etwa die Iren nicht auf solchen Ruhm Anspruch? Gab es nicht einen Schweizer Wilhelm Tell, dem ein deutscher Dichter strahlende Unsterblichkeit schenkte, ohne seinem Lobgesang ein völkisches oder vaterländisches Aushängeschild anzustecken? Bringt nicht jedes Volk (ohne Unterschied der Rasse) dem heimatlichen Boden die höchsten Opfer? Müssen nicht alle Frauen gleichermaßen den Verlust ihrer im Kampf gefallenen Männer ertragen? – Ein Heldenlied? Wenn Lied, dem herkömmlichen Sprachgebrauch gemäß, eine musikalische Gattung bezeichnen soll, läßt sich schwer etwas Unlyrischeres ausdenken. Das Sondermerkmal Schönherrscher Gestalten: daß nichts in ihnen klingt und singt, daß sie nüchtern wie ein Sektionsbefund, trocken wie ein Polizeibericht, hart wie Schmiedeeisen sind – ist hier so scharf ausgeprägt wie in seinen früheren Dramen. Musik haben diese Menschen nicht in sich; dazu sind sie zu bewußte Hungerkünstler des Gefühls, die vor jeder weicheren Regung erschrecken, zu gewollt primitiv, zu unbeleckt, zu unbehauen, zu viel Tonklumpen – ohne Ton. – Nun müßten wir uns noch über den Begriff Heldentum auseinandersetzen. Der Augenblick ist ungünstig, weil die Species zu üppig wuchert und daher im Preise gesunken sein könnte. Wenn die Tat entscheidet, fragt man wenig nach der Gesinnung; wenn die Faust regiert, wird der Kopf meist negiert. So wäre es möglich, daß wir bei näherer Prüfung auf das ‚Skelett im Hause’ stießen. […] – Einzig der letzte Akt hat zeitlose Bedeutung. Da sitzen die Weiber der in den Krieg Gezogenen beisammen und harren voll banger Ungeduld der Heimkehrenden. Wen hat das Schicksal verschont, wen dahingerafft? […] Hier trennt ein Abgrund meine Auffassung von der seinen [Schönherrs]. Ich habe für den sogenannten Heroismus der Rotadlwirtin gar nichts übrig. Ihren Mann und ihre drei Söhne – darunter einen noch unerwachsenen – hat sie hingeben müssen; kaum hat sie jedoch die Trauerbotschaft empfangen, so reißt sie sich zu einer Kino-Gebärde der Tüchtigkeit empor und verkündet, als ob die Tiroler Bäuerin Carlyle gelesen hätte, ihr ‚Arbeiten und nicht Verzweifeln’. Wohl der, die’s kann! Hunderttausende von Frauen sind gottlob aus anderm Holze geschnitzt und spüren vor dieser Holzschnittmanier ein Grauen. – Noch mehr geht mir Hofers Gefühlsroheit wider die Natur. Nachdem er den Jammer der armen Weiber mitangehört hat, rät er ihnen, sich alsbald nach Mannsleuten umzuschauen und für Nachwuchs zu sorgen, weil das Land Buben brauche. ‚Es is a schmiedeisene Zeit.’ Ich empfinde das einfach als widerwärtig.“

Madame Legros. (Zur Berliner Aufführung im Lessingtheater.). NZZ, 9. Mai 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 827.
Heinrich Mann, Madame Legros (Lessing-Theater, 26.04.17). – „Ein ehedem glücklicher, dann tief, tief unglücklicher Mensch sprach in De Profundis seine schmerzensvolle Überzeugung aus: es gäbe in einer engen Gasse Londons schon genug Kummer, zu beweisen, daß Gott die Menschen nicht liebe, und überall, wo jemand leide, – sei  es auch nur ein Kind, das in einem Gärtchen weine über ein Vergehen, dessen es sich schuldig oder nicht schuldig gemacht –, da sei das ganze Antlitz der Schöpfung entstellt. – So empfindet auch, im Jahre 1789, die Pariserin Madame Legros, eine brave Strumpfwirkersgattin von leuchtender Einfalt der Seele. Ein Zufall läßt vom Turm der Bastille einen Zettel vor sie niederflattern; darauf beklagt ein seit dreiundvierzig Jahren Eingekerkerter sein furchtbares Los und fleht um Hilfe. Sein Schmerzensschrei wird ihr zum Schicksalsruf. Der Himmel hat gesprochen, ihr eine Sendung auferlegt. […] – Ein Revolutionsdrama? Vielleicht! Doch überall droht die Zwingburg der Bastille, darin zahllose Unschuldige verwesen, und 1789 ist kein bestimmtes Jahr. Das ist das Bedeutsame und Wunderbare an Heinrich Manns Werk, daß sich über dem konkreten Einzelfall, der alles Historische abgestreift hat, ein symbolischer Bogen wölbt. So besteht dieses Drama die Edelmetallprobe jeder Dichtung mit höchsten Ehren. Freudig überrascht wird man seinem Schöpfer bestätigen, daß er nach artistischen Bühnenanfängen nun den Weg ins weite Land der Menschheit gefunden hat. Hier winkt ihm und uns eine glückverheißende Zukunft.“

Berliner Theaterchronik. NZZ, 10. Mai 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 832.
Eugen Heltai, Die Steiner-Mädels (Residenz-Theater, 04.05.17). – „Ein Budapester Lustspiel Die Steiner-Mädels von Eugen Heltai leitete die Sommerspielzeit des Berliner Residenz-Theaters nicht eben erquicklich ein. Stoffliche Paten waren Sudermanns Schmetterlingsschlacht und Felix Dörmanns Ledige Leute. Ihr Taufgeschenk ist die Mischung von Verderbtheit und Unschuld. […] Die Zensur sorgte aber dafür, daß die Schwüle dieser Auftritte zu einer durch Opferbereitschaft gut bürgerlich erwärmten Wohlanständigkeit gedämpft wurde. So genoß man weniger Paprika und mußte mit dem über etliche Nebengestalten ausgestreuten Salzersatz vorlieb nehmen, der aus L’Arronges ewig gestriger Garküche stammte.“

Berliner Theaterchronik. NZZ, 1. Juni 1917, Erstes Abendblatt, Nr. 988.
Oskar Blumenthal, Der Probepfeil (Lessing-Theater, 24.05.17). – „Zur Erinnerung an Oskar Blumenthal, den vor kurzem [am 24.04.17] verstorbenen Gründer und ersten Leiter des Lessing-Theaters, gab man dort sein einstmals berühmtes Lustspiel Der Probepfeil. Es hielt die Probe nicht mehr aus. Der Kritiker müßte nur Pfeile abschnellen, wenn die Veranstaltung (die außerdem noch einem wohltätigen Zweck galt) sich nicht darauf berufen hätte, einen Toten zu ehren. Denn dies Lustspiel ist ein Intrigenstück von umständlicher Erfindung, mit schwerfälliger Maschinerie und verblüffend wenig Geist. […] Wie muß es auf deutschen Lustspielbühnen im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, ehe der Naturalismus Großreinemachen hielt, ausgesehen haben, wenn diese Nachahmung fremder Muster von sich reden machen konnte!“

Berliner Theaterchronik. NZZ, 5. Juli 1917, Erstes Abendblatt, Nr. 1231.
Fritz Peters, Konkurrenten (Residenz-Theater, 28.06.17); Fritz Friedmann-Frederich, Klubleute (Deutsches Künstlertheater, 29.06.17). – „Trotz Tropenglut spielen, mit Ausnahme der königlichen, alle Berliner Bühnen weiter. Selbst im Zeichen des Sirius werden uns Erst- und sogar Uraufführungen nicht geschenkt. ‚Aber sie sind auch danach’, könnte man sich zum Trost sagen. Es ist ein schwacher Trost gegenüber dem mit Recht so verstorbenen, romanhaft ausgewalzten, rassetheoretisch zugespitzten Kaufmannsstück Konkurrenten von Fritz Peters. Vor sieben Jahren wurde das totgeborene Kind einmal öffentlich gezeigt (vgl. NZZ vom 4. Mai 1910); mittlerweile ist es nicht lebensfähiger geworden. Mußte das Residenz-Theater durchaus den verschollenen Sarg öffnen lassen? – Da weiß sich Herr Fritz Friedmann-Frederich, Verfasser des Lustspiels Klubleute, eine ganz andere Lebensfülle anzuschminken, obwohl er nur nach bewährten Mustern von vorgestern arbeitet. […] Berlin und Wien werden einmal wieder konfrontiert, Derbheit und Liebenswürdigkeit, Spießer und Genießer. […] Wenn das nicht immer schmackhafte Gericht dem Gaumen des Publikums im Deutschen Künstlertheater überraschend mundete, so hatten wesentlichen Anteil am Erfolg die Schauspieler. Aber die sind eigentlich zu schade für solche Mittelstandsbrühen mit sporadischen Fettaugen.“

Berliner Theaterchronik. NZZ, 10. Juli 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 1264.
Alice Stein-Landesmann, Im Bahnwärterhaus (Kleines Theater, 02.07.17). – „Das Besondere des kleinen Dramas schlichter Leute liegt einzig im Ausgang: sobald die Bahnwärtersfrau merkt, daß die andere sich an ihren Mann heranpirscht, ist sie entschlossen, ihre Rechte zu verteidigen; als sie aber erfährt, daß die andere ein Kind von ihrem Mann zu erwarten hat, räumt sie kampflos das Feld. Der mütterliche Instinkt der um ihr Mutterglück Betrogenen treibt sie fort. Diese edle Menschlichkeit nimmt sich in der Theorie erfreulich aus; aber es ist stark zu bezweifeln, daß ein so daseinsträchtiges Geschöpf die Kraft zu solchem Opfer findet. Die Nebenbuhlerin beseitigen – dem betörten Mann den Garaus machen – sich vor einen brausenden Zug werfen: all das wäre dagewesener, doch aus leidenschaftlicher Erregung heraus glaubhafter. Nur der, in pathetischen Worten geäußerte, bewußte Verzicht im Hinblick auf den Bastard vermag nicht zu überzeugen. Wenn sich der Affekt bei einem so triebhaften Wesen in Reflexionen entlädt, stimmen entweder die Reflexionen oder der Affekt nicht. Trotzdem wird man dem Werkchen nachrühmen dürfen, daß es in guter Schule ausgereift ist; der Bund für Mutterschutz mag es als Propagandaschrift benutzen.“

Pallenbergiana. NZZ, 20. Juli 1917, Zweites Abendblatt, Nr. 1336.
Robert Misch u. Franz Cornelius, Der kleine Napoleon (Deutsches Theater, 13.07.17). – „Max Pallenberg, heute der populärste Komiker Berlins, unbestritten die eigenwilligste Erscheinung der deutschen Bühne, Zwerchfellerschütterer und zugleich in seiner tiefen Menschlichkeit erschütternd, ein überaus seltsames Gemisch von Clown und Vollblutkünstler, in der Tragikomödie nicht minder heimisch als in der Farce, Aujust und saepe augustus in einem Atem, beständig zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen tänzelnd – Pallenberg spielt in dem Schwank Der kleine Napoleon von Robert Misch und Franz Cornelius: 1. den Kriegslieferanten Jacques Cerf; 2. den Kaiser Napoleon; 3. den Cerf, der den Napoleon probt; 4. den Cerf, der den Napoleon mimt. Eine solche vielwendige Rolle (mit doppeltem Hosenboden) entspricht seinen von jeher aufs Ganze gehenden Neigungen. Wie er keinen Mitspieler neben sich duldet, ist ihm der Text des Stückes willkommener Anlaß zur Vergewaltigung, Sprungbrett zu eigenen Wirbeln, Witzen, Wortverdrehungen. Ein unbändiger Improvisator öffnet die Schleusen seiner schöpferischen Begabung; der letzte Stegreifkomödiant hetzt sich mit einer wahren Verbissenheit in Silbenstecherei hinein. Dabei trachtet er nach Vermenschlichung, seelischer oder mehr noch gemütlicher Mitgift der von ihm bevorzugten hohlen Gebilde, über die er sich mit wütender Unverbrauchtheit hermacht. Die Posse trägt er nicht selten zur Kunst empor; die Kunst ist bei ihm nicht selten in Gefahr, einen possenhaften Einschlag zu empfangen. Irgendwie hat alles, was er anfaßt, einen Stich ins Spezialitätentum. Er wäre als Menelaus in den Kammerspielen ebensogut denkbar wie als Lear im Colisseum. Jeder Rolle springt er sozusagen an die Gurgel und würgt sie so lange, bis sie ihn als Herrn und Meister anerkennt – der rücksichtsloseste, rabiateste Alleinherrscher im Bretterreich. Daneben kann er auch äußerste Bescheidenheit vortäuschen, wenn er mit Hauptmann (Jau) oder Ibsen (Foldal) in Berührung kommt; es ist fast ein Kokettieren mit Einfachheit. Doch in seinem Element ist er erst, wenn er sich in schrankenloser Selbstherrlichkeit austobt. – Dazu hatte er in dem neuen Schwank überreiche Gelegenheit. Leider war es seiner, jeder Wandlung widerstrebenden Natur versagt, die beiden grundverschiedenen, nur durch auffallende körperliche Ähnlichkeit verbundenen Wesen auseinanderzuhalten. Als französischer Hirsch, der Tuch liefert, war er ein Treffer, als französischer Kaiser, der Schlachten liefert, eine Niete. Dort jede Geste ghettogeboren, hier jeder Zoll ein Herrscher.“

Berliner Theaterchronik. NZZ, 27. Juli 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 1377.
Alfred Fekete, Die Verhüllte (Residenz-Theater, 17.07.17). – „Er [Fekete] wollte einen besonders einfachen (und doch reichlich zurechtgeschobenen) Fall, den sein dreiaktiges Schauspiel Die Verhüllte enthüllt, als abschreckendes Beispiel dafür hinstellen, daß der Fluch der bösen Krankheit dem Segen der reinen Liebe droht. Sein Fall indes fordert mehr die medizinische als die künstlerische Kritik heraus. […] Schnitzlers Reigen-Motiv wirft hier seine tragischen Schatten. Durch etliche Stellen unfreiwilliger Komik ist allerdings dafür gesorgt, daß man den traurigen Fall nicht zu hoffnungslos sieht; sie verderben einem – um Feketes witzigstes Wort anzuwenden – den ganzen Schmerz. – Auch die Darstellung des Residenz-Theaters […] ließ sich eine freundlichere Färbung des schwarzen Bildes angelegen sein. So mag es der Ungar vielleicht nur seiner Volkszugehörigkeit verdanken, daß auch er in diesem von einer magyarischen Überschwemmung heimgesuchten Theatersommer die Berliner beglücken durfte; aber sie werden, bei aller Schätzung der Bundesbrüderschaft, bald so weit sein, auszurufen: ‚Gott, schütze uns vor unsern Freunden!’“

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1917 / 1918

Berliner Theater. NZZ, 4. September 1917, Drittes Mittagblatt, Nr. 1632.
Johann Wolfgang von Goethe, Stella und Prometheus (Kgl. Schauspielhaus, 28. 08.17). – „Im Zeichen Goethes treten wir während des Krieges in die vierte Theaterspielzeit. Als gute Vorbedeutung für künstlerisches Wirken darf man den erlauchten Namen nehmen. Längst begraben, vergessen und vergeben ist die wie eine schwarze Wolke rasch vorüberziehende Trübung der Geister, die in den ersten Monaten – zum Glück nur in ihnen – dem Theater eine ihm fremde Sendung auferlegen wollte; sie wurde so allgemein als Verirrung empfunden, daß sie mit Schimpf und Schande schleunigst aus dem Tempel der Kunst gejagt wurde und sich nie wieder erdreistete, ihre Fratze hervorzustrecken. Auch darin gilt uns heute Goethe als Vorbild, daß er seine Stimme, die bei allen Zeitgenossen Gehör fand, nicht mit Trompetenklang in den Dienst des Krieges stellte, sondern unbeirrt, während schwere Stürme über Deutschland hinbrausten, einzig seinem Genius folgte, mochten immerhin Verblendete, die es auch damals schon gab, ihn eines Mangels an vaterländischem Empfinden zeihen. Er wußte, daß ein poetisches Schaffen ohne Distanz von den Ereignissen nicht möglich ist. So blieb er, was er war; und wie er war, ist er geblieben. … […] Im Zeichen Goethes traten wir in den vierten Theaterkriegswinter. Möge die Menschheit davor bewahrt bleiben, nur zu ‚leiden, zu weinen’, und wieder berufen sein, ‚zu genießen und zu freuen sich’.“

Berliner Theater. NZZ, 19. September 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 1736.
Carl Rößler, Die beiden Seehunde (Komödienhaus, 12.09.17). – „Rößler, der gewiegte Bühnenpraktiker, braucht lange, zu lange, bis er das Rad in Schwung bekommt. Mit sichtlichem Behagen, in schmunzelnder Breite, doch mit reizvollen Zügen im einzelnen, malt er die Zustände am Hof seines Fürstentums. Es ist guter Stil der Fliegenden Blätter aus früheren Jahrgängen. Man mag auch an ein lebendes oder erst kürzlich verstorbenes Modell eines größeren Staatswesens denken. – Leider hält die Erfindungskraft des mittleren Aktes der operettenhaften Wirklichkeitsschilderung nicht stand. Da hätte der Dichter Simplizissimus-Saiten (aus früheren Jahrgängen!) aufziehen sollen; aber statt Klauen streckt er Samtpfötchen vor, und die Satire beißt nicht ordentlich zu.“

Berliner Theater. NZZ, 24. September 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 1769.
Johannes V. Jensen (Bearb. Karl Vollmoeller), Madame d’Ora (Kammerspiele, 14.09.17). – „In Anlehnung an das Wort Industrieritter ist man fast versucht, ihn [Vollmoeller] als Kunstritter zu bezeichnen. Mit schwülen symbolistischen Dramen fing er an (Reinhardt war ihm Helfer). Er verpflanzte, Weihrauch und Pferdeäpfel mischend, ein dem Bannkreis der katholischen Kirche entlehntes Mirakel in den Zirkus (Reinhardt war ihm Helfer). Er stellte eine mit literarischem Flitter behangene Pantomime auf die Varietätenbretter (Reinhardt war ihm Helfer). Zwischendurch reckte er sich durch eine Verdeutschung der Orestie zu äschyleischem Riesenpathos empor (Reinhardt war ihm Helfer). Jetzt bringt er (Reinhardt ist ihm Helfer) den ausgesprochensten Film auf eine Schaubühne, deren künstlerische Sendung einst mit Trompeten durch ganz Europa geschmettert wurde. Das ist nicht mehr Kunst, liebe Leute, das ist Kunstrittertum. – Hat Vollmoeller im Ernst einen Augenblick gedacht, er könne diese Vorstadtschauermär adeln, indem er sie mit seinem Namenschild decke? Dazu ist er zu klug. Die Verdienste eines Menschen sind nicht nur nach dem zu bemessen, was er tut, sondern auch nach dem, was er unterläßt. Aber Reinhardt, der immer mehr hinter Namen als hinter Dramen her war, spendete seinen theaterpäpstlichen Segen. Und wenn er auch nicht selbst die schwarze Messe zelebrierte, so ließ er seinen Kardinal Felix Hollaender amten. Es ist unbegreiflich, wie diese hohen Würdenträger im Reiche der Schminke häufig in ihrem Urteil fehl gehen. Der Fachmann steht vor einem Rätsel, falls er nicht an Kunstpolitik denkt (Dank für das Gastspiel in Dänemark); der Laie schüttelt den Kopf. – Er schüttelte ihn bis in den dritten Akt hinein, wo ihm die Geduld riß; da machte er seinem Unwillen durch Lachen, zum Schluß durch Zischen Luft.“

Der Katzensteg. Ein deutsches Volksstück in fünf Akten und einem Vorspiel von Hermann Sudermann. (Uraufführung in Berlin am Theater in der Königgrätzer Straße am 27. September.) NZZ, 1. Oktober 1917, Erstes Abendblatt, Nr. 1829.
„Mit zweiunddreißig Jahren (1889) veröffentlichte Sudermann seinen Roman Der Katzensteg – auf epischem Gebiet neben Frau Sorge seine erfolgreichste Gabe, wie es auf dramatischem Die Ehre und Heimat geblieben sind. Nun tritt er in das sechste Jahrzehnt seines Lebens. […] Wenn unser Geburtstagskind also auch langsam, aber sicher, ins Hintertreffen gekommen ist, so sorgt der Jubilar doch mit ungebrochener Schaffensfreude dafür, sich an seinen Ehrentagen in geziemende Erinnerung zu bringen. Diesmal hat er den Katzensteg vor seine Theaterbüchse genommen, nachdem er ihn schon, wacker mit der Mode schreitend, dem Film ausgeliefert hatte. […] Wenn das Stück, dessen Theaterfeuer in einigen Szenen jäh aufflackert, nachdem es streckenweise zu verglimmen drohte, im ganzen – auch fern vom Geburtstagsanlaß – eine sehr warme Aufnahme fand, so durfte sich der Verfasser bei den Darstellern der beiden Hauptrollen bedanken. Friedich Kayßler, dem Jünglingsformat zwar entwachsen, ist das Ideal einer von Bitterkeit zerfressenen Ritterlichkeit. Er transponiert den Sudermannschen Helden in die Kayßlersche Tonart und adelt ihn durch seines Wesens Wert. Marie Orska, zurzeit die umstrittenste Schauspielerin Berlins, die man voreilig auf die Bosheit des Dämonischen festlegen wollte, hatte hier, der ‚Allmutter Natur’ nahestehend, ganz weibliches Gefühl auszuströmen oder vielmehr zu unterdrücken. Mich ergriff sie bei ihrem Ausflug ins Fach der Else Lehmann durch den Verzicht auf alle Mittel, mit denen sie sonst als unumschränkte Gebieterin schaltet. Nach dieser Leistung könnte man ihr vielleicht das Kleistsche Käthchen, sicher Hauptmanns Ottegebe anvertrauen.“

Berliner Theater. NZZ, 4. Oktober 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 1847.
Robert Grötzsch, Dyckerpotts Erben (Residenz-Theater, 21.09.17); Franz Herczeg, Der Blaufuchs (Lessing-Theater, 22.09.17); Ludwig Fulda, Der Lebensschüler (Trianon-Theater, 20.07.17). – „Der neue Mann habe den Vortritt. Er heißt Robert Grötzsch. Stammt aus Sachsen. Wirkt als Redakteur der sozialdemokratischen Dresdener Volkszeitung. Sein Steckbrief ist im übrigen unerheblich für die Beurteilung seiner Erstlingskomödie Dyckerpotts Erben. Aus der spricht Liebe zu Tieren und, damit fast immer gepaart, Verachtung der Menschen.“ – Zu Fuldas Schauspiel: „War es unbedingt notwendig, daß diese für die Provinz erdachte, im augenfälligen Provinzgeschmack gemachte Berliner Sittenzeichnung an den Tatort gelangte? Wir hatten reichlich genug an Sodoms Ende (von Sudermann) und Schlaraffenland (von Heinrich Mann); mußte uns der Dichter eines Märchenspiels Schlaraffenland durchaus ein Sodom und kein Ende zurufen? – Niemand kann sich vorstellen, daß Liebermann – es sei denn aus Jux – ein Porträt in der Manier eines Boldini malt. Noch die kürzeste Kundgebung einer Persönlichkeit trägt irgendwie den Stempel ihrer Handschrift. Aber Fulda bringt hier das Kunststück fertig, sich seiner Wesensart beinahe vollkommen zu entäußern und als kleiner Kahn seelenvergnügt im Schlepptau des hochbeladenen Sudermann dahinzufahren. Der Assimilationsprozeß ist erstaunlich; die Ausführung ebenso unselbständig wie die Wahl des Gegenstands.“

Winterballade. Dramatische Dichtung von Gerhart Hauptmann. (Uraufführung im Deutschen Theater zu Berlin am 17. Oktober.) NZZ, 23. Oktober 1917, Zweites Morgenblatt, Nr. 1981.
„Parkett: 20 Mark 50 Pfennig. Kassenpreis (nebenher blüht der Billettwucher). Im vierten Kriegswinter! Andrang hin, Andrang her – man spielt doch nicht nur für Kettenhändler. Ihr müßt ja wissen, was ihr tut, wenn ihr mit dem Namen eines ersten oder doch ernsten deutschen Dichters solchen Raubbau treibt. In jedem Menschen steckt erfahrungsgemäß so viel volkswirtschaftlicher Sinn, daß er den Preis und den Wert einer Sache in Beziehung zueinander setzt. Für zwanzig Mark kauft man den ganzen Shakespeare, den ganzen Goethe, den ganzen Kleist und noch obendrein ein Viertelpfund Fleisch und hat einen Besitz fürs Leben, während dieses Hauptmannsche Winterwerk nicht einmal für die Dauer eines Theaterabends von den Hörern Besitz ergreift… – Nach  den ersten drei Szenen – es sind im ganzen sieben – rührte sich keine Hand. Nach der vierten erschien Hauptmann dankend; aber obgleich er auch zum Schluß, mit Zischen untermischt, noch etliche Male gerufen wurde, kann er sich nicht darüber getäuscht haben, daß die Aufnahme seiner jüngsten Dichtung bei allen unvoreingenommenen Geistern eisig war. Das ergibt die einzige Rechtfertigung für den Titel Winterballade, der im übrigen peinlich an ein Shakespearesches Märchengebilde anklingt.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Oktober 1917, Fünftes Mittagblatt, Nr. 2009.
Leo Birinski, Raskolnikoff (Residenz-Theater, 18.10.17). – „Wenn durchaus dramatisiert werden muß, schrieb ich neulich [s.o. NZZ vom 01.10.17, Nr. 1829], ist mir der Vater lieber als ein Pflegevater. Er kennt wenigstens alle Tücken und Nücken seines Kindes; wenn er dazu ein so geschickter, die Technik beherrschender Chirurg wie Sudermann ist, schneidet er ohne allzu großen Blutverlust aus den Rippen seines epischen Sprößlings ein handfestes Theaterstück. Die tiefste Stufe dieser bei uns zum Glück nie sehr hoch eingeschätzten Betätigung ist es, wenn ein Bühnenschriftsteller sich über den bekannten Roman eines andern herstürzt und, am Rohstoff klebend, ihn durch Einteilung in Akte auf die Bühne zerrt. Was schert es ihn, ob der Geist zum Teufel geht, wenn nur die Handlung mit Ach und Krach eingefangen ist! – Zu dieser Gruppe gehört Leo Birinski, der es nach manchem Vorgänger unternommen hat, Dostojewskis Raskolnikoff in drei Akte zu zwängen. Eine glatte Unmöglichkeit, wie jedem Kenner des breit ausgesponnenen, in seelischen Tiefen wurzelnden Romans Schuld und Sühne ohne weiteres einleuchten wird. Man kann einen Fluß nicht mit einem Eimer ausschöpfen. […] Die Sauberkeit und Bescheidenheit seiner Arbeit bleiben anzuerkennen; im übrigen hat er das Revolutionäre zum Familienidyll abgeschwächt, den Reichtum des Romans auf eine Rolle reduziert. – Sie war wohl Joseph Kainz zugedacht, der dem Bühnenschriftsteller Birinski Schrittmacherdienste leistete, wofür ihm dieser, als er auf dem Sterbebett lag, mit rührender Treue dankte. Kainz hat wohl nie den Rodja gespielt. Dagegen war Matkowsky in dieser Rolle (von Eugen Zabel zurechtgeschnitten) für mich während meiner Straßburger Universitätszeit ein Erlebnis. Die Nervosität war wohl seiner kraftstrotzenden Natur versagt; aber er brachte einen versengenden Feuerstrom der Rede mit. Auf meinem Sterbebett werde ich ihn noch vor mir sehen, wie er auf die Knie fiel, nein: hinschlug, nein: niederdonnerte, sich die Zunge aus dem Halse riß und sein Geständnis halb hervorwürgte, halb herausschrie. Kein Gerichtssaal der Welt vermag solche Erschütterungen zu bieten.“

Berliner Theater. NZZ, 2. November 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 2064.
Felix Salten, Kinder der Freude (Kammerspiele, 26.10.17). – „Felix Saltens Einaktertrio Kinder der Freude, zuerst in Zürich gewogen und nicht zu leicht befunden, wurde in den Kammerspielen beifällig aufgenommen. Der Verfasser, der selbst mit Umsicht das Spiel geleitet hatte, konnte nach den heitern Sätzen mehrfach dankend erscheinen. – Wir wollen uns trotzdem nicht verhehlen, daß hier nur getippt und genippt wird. Anmutiges Gekräusel, Wiener Plausch ohne Tiefe, ohne Perspektive, ohne Schnitzlers seelische Blitzlichter. Das Leben ist doch schön; genießt es drum in vollen Zügen; man altert leider so früh – darauf kommt Saltens Weltweisheit hinaus. Er gibt dreimal Lebensausschnittchen, stark mit Bühnenluft parfümiert. Dreimal gaukelt er behend und witzig über die Oberfläche der Dinge. Dreimal aber erschöpft er, für mein Empfinden, nicht den Gehalt der Auseinandersetzungsszenen, auf die er in weitem Bogen lossteuert.“

Berliner Oper. NZZ, 8. November 1917, Drittes Mittagblatt, Nr. 2106.
Erich Wolfgang Korngold, Violanta und Der Ring des Polykrates (Kgl. Opernhaus, 02.11.17). – „In Zürich sind die beiden einaktigen Opern Violanta und Der Ring des Polykrates von Erich Wolfgang Korngold schon genossen und gewürdigt worden. Erst jetzt – anderthalb Jahre nach der Münchner Uraufführung – gelangten sie ins Berliner Kgl. Opernhaus. Der Erfolg kam mehr von den Händen als aus dem Herzen. Man ehrte die Jugend und das erstaunliche Können des Komponisten, ohne daß seine Besonderheit überzeugt oder gar erwärmt hätte. Der Eindruck herrschte vor: das alles ist verblüffend gemacht, aber doch eben gemacht, nur gemacht und nicht empfunden, nicht erlebt. Ein technisches Wunder, dem die Ursprünglichkeit des Menschlichen fehlt. Nichts Musikalisches ist diesem Hexenmeister des Klanges fremd. Aber schließlich wachsen heutzutage die jungen Musiker mit der von allem Reichtum der Neuzeit behangenen Instrumentierung auf, haben bereits in der Wiege, wo Celesta und Harfe ihre Rassel sind, Richard Wagner überwunden, saugen mit der Muttermilch Richard Strauß ein, lächeln in Puccinis Quinten, weinen in Arnold Schönbergs Mißlauten und begleiten ihre ersten Gehversuche mit Debussyschen Dissonanzen. […] Generalpause, junger Meister! Nach drei Jahren möge seine Leier von neuem erklingen. Dann wird sie hoffentlich nicht nur die Hände in Bewegung, sondern auch die Herzen in Erregung versetzen. Es wäre ewig schade, wenn so viel Können vor der Zeit verschwendet würde.“

Die Menschenfreunde. Drama in drei Akten von Richard Dehmel. (Uraufführung im Berliner Lessing-Theater am 10. November.) NZZ, 17. November 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 2166.
Richard Dehmel, Die Menschenfreunde (Lessing-Theater, 10.11.17); Otto Soyka, Geldzauber (Kleines Theater, 08.11.17). – Zu Dehmels Drama: „Mehr als die Einblicke in die Seele des Verbrechers, dieses Verbrechers, der Anlagen zum Timon hat, wie ein Mönch in der Wüste haust, öffentliche Wohltätigkeitsanstalten verschwenderisch in Nahrung setzt und doch als seiner Erkenntnis letzten Schluß anordnet, daß ihnen kein Pfennig zufließe, weil sie unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft von Pharisäern züchten, der als ein Wissender verkündet, daß ein bißchen Güte von Mensch zu Mensch besser ist als alle Liebe zur Menschheit  (sei bedankt für deine aufrichtige Güte, Richard Dehmel!) – mehr als die Einblicke in die Seele des Verbrechers haben mich die Einblicke in die Seele des Dichters gefesselt. Er trat, obschon ein Fünfziger, bei Kriegsausbruch ins Heer ein, hat es mittlerweile zum Leutnant gebracht, trägt das Eiserne Kreuz (ich glaube sogar: Erster Klasse) und läßt keinen Zweifel, wie er über seinen neuen Beruf denkt. ‚Hat sich etwa der General Bonaparte – heißt es einmal – oder irgendein anderer Schlachtenlenker jemals mit Gewissensskrupeln über Massenmord abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit… Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann.’ Und an einer andern Stelle: ‚Die Massenmorde fürs Vaterland, oder für Thron und Altar und Kapital, oder für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder sonstige große Rosinen: die verherrlicht sogar die Weltgeschichte.’ Sei bedankt für deine aufrichtige Gesinnung, Richard Dehmel! Diese Sätze stehen nicht nur im Buch, sondern sie wurden wundersamerweise von der Bühne herab gesprochen. Vielleicht ist unsere Zensur doch besser als ihr Ruf; oder sie hängt die kleinen Übeltäter und läßt die großen laufen. Mit Genugtuung verzeichnet man solche Herzensergießungen eines, der dabei gewesen, der noch mitmacht und eine Revision der Weltgeschichte in Aussicht stellt. Sei bedankt für deinen Mut, Richard Dehmel!“ – Zu Soykas Geldzauber: „Man muß der Komödie eine bestechende Idee nachrühmen. Nicht zu derselben Höhe gelangt die Charakteristik. Da wird teilweise mit Klischees gearbeitet: wie sich der Europäer das Monstre-Reklametum des Yankees vorstellt. Menschen von tieferer Bedeutung sind nicht entstanden, wenn man auch dem Stoff die tiefere Bedeutung gern einräumt. Erst wo Erfindung und Gestaltung verschmelzen, gibt es eine echte Dichtung. Immerhin unterhält das heitere Spiel während der ersten Hälfte auf eine gefällige Art.“

Berliner Theater. NZZ, 30. November 1917, Zweites Abendblatt, Nr. 2246.
Emil Gött, Edelwild (Volksbühne, 19.11.17). – „Was sahen wir also? Ein mit den untrüglichen Merkmalen naiven Epigonentums behaftetes Drama. Ein Werk, im Aufbau ungekonnt, im Konflikt ungestaltet. Schauplatz: Bagdad, das mit Recht so beliebte Dilettantendorado. Der ‚farbenprächtige’ Orient war von jeher ein bevorzugter Ausflugsort für die Sonntagsreiter des Flügelrosses. […] Durch orientalisches Gewand schimmert leuchtendes Epigonentum von Epigonen. Jambisches Geschwabbel. Tausendundeinmal Dagewesenes aus Tausendundeiner Nacht.“

Berliner Theater. NZZ, 10. Dezember 1917, Zweites Mittagblatt, Nr. 2322.
Ernst Bacmeister, Barbara Stossin (Residenz-Theater, 29.11.17). – „Nun kommt die Mahd der Jungen. Sie pochen, des Wartens müde, mit Ungestüm an die Tore der Bühnenhäuser. […] Auch Max Reinhardt konnte an der Tatsache nicht vorübergehen, daß die Jugend sich ihren Platz zu erobern gesonnen ist. So gründet er, von einem Kuratorium klangvoller Namen gestützt, eine Gesellschaft ‚Das junge Deutschland’. Sechshundert Mitglieder – für das Deutsche Theater zu wenig, für die Kammerspiele zu viel – sollen zugelassen werden. Das junge Deutschland tritt also vor eine beschränkte Öffentlichkeit. – Mittlerweile unterziehen sich andere dieser Aufgabe mit weniger Umständen. So hat das vom Glück wahrlich nicht verfolgte Residenztheater, nach Dyckerpotts Erben von Grötzsch [s.o. NZZ vom 04.10.17, Nr. 1847], jetzt einer Komödie Barbara Stossin von dem nicht minder unbekannten Ernst Bacmeister seine Pforten geöffnet. Ist es eine glückliche Wahl zu nennen? […] Es wird ihm [dem Theaterkritiker] schwer, nach dieser Kostprobe zu entscheiden, ob Ernst Bacmeister eine Persönlichkeit ist. Er kommt in der Vermummung des Chronikengewandes einher, beherrscht die grobianische Sprache der Reformationszeit besser als die Bühnentechnik und scheint sich eher auf Handlung als auf Charakteristik zu verstehen. Die dichterische Klaue blieb er schuldig; von seiner Fabulierbegabung konnte er überzeugen. […] Trotzdem soll die Hoffnung nicht begraben werden, daß er mit seinem zweiten Werk sein Gesellenstück liefern möge. Aber dann, bitte, mehr Bacmeisterliches!“

Berliner Theater. NZZ, 17. Dezember 1917, Erstes Morgenblatt, Nr. 2366.
Wilhelm Stücklen, Die Straße nach Steinaych (Theater in der Königgrätzer Straße, 08.12.17); Arthur Schnitzler, Fink und Fliederbusch (Lessing-Theater, 07.12.17). – „Sie kommen angefahren – die jungen Dramatiker. Es bedarf keiner Vereinsgründung unter dem Vorsitz des Herrn Snob, ihnen die Landung zu erleichtern. Die Menge sträubt sich gar nicht so sehr gegen sie, wie man uns glauben machen will, vorausgesetzt, daß sie nicht, zu unerzogen oder des Technischen spottend, die dramaturgische Kinderstube verleugnen. – Im Kahn saß auch Herr Wilhelm Stücklen. Er stieg in der Königgrätzer Straße ans Land. Wer ist Wilhelm Stücklen? Niemand weiß es. Kein Buch, kein Heldenlied von ihm hat seinen Ruhm bisher bekannt gemacht. Als er nach dem zweiten Akt seiner ernsthaften Komödie Die Straße nach Steinaych an einem Stock auf der Bühne erschien, hatte er gewonnenes Spiel. […] Schwer zu sagen, welche Entwicklungsmöglichkeiten vor Wilhelm Stücklen liegen. Er baut drei schlanke Akte, die ihn nicht als modernen Verächter der Form erscheinen lassen. Im Handwerklichen hat er kaum etwas hinzuzulernen. Das soll ihm als Vorgang gebucht, nicht, wie es heute leider vielfach geschieht, als Vorwurf angekreidet werden. Er schreibt eine knappe Sprache; nicht zu flach und nicht überschwenglich. Das ist schon ein ansehnliches Einlagekapital, und wir wollen ihm wünschen, daß es noch reichere dichterische Zinsen tragen möge.“ – Zu Schnitzlers Komödie: „Ich befinde mich in der wenig angenehmen Lage, […] sagen zu müssen, daß hier ein mißratenes Werk vorliegt. Mißraten in seiner nicht zu künstlerischer Einheit gediehenen Mischung von Groteske und Wirklichkeit. Das bricht dem Stück, dessen Held kein Rückgrat hat, den Hals. Grotesk der Einfall, das journalistische Ich Fink-Fliederbuschs oder Fliederbusch-Finks in zwei Gesinnungen zu spalten, ihn heute rot und morgen blau schreiben zu lassen. […] Schnitzlers Geschöpf, ein Verwandlungskünstler der Feder, hat den Mangel an Überzeugungstreue gegen sich. […] Die Arbeit liebäugelt damit, wenn es schon nicht in ihrer Absicht lag, ein Journalistenstück up-to-date zu sein […]. Bei vielen Gegenständen mag es schwer sein, die Satire nicht zu schreiben; bei den Journalisten, diesen Glückspilzen, ist es offenbar schwer, die Satire zu schreiben. Auch Schnitzler hat sie nicht geschrieben.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Dezember 1917, Fünftes Sonntagblatt, Nr. 2416.
Georg Reicke, Blutopfer (Volksbühne, 14.12.17). – „Ob der Bürgermeister von Paris oder London während des Krieges wohl die Zeit findet, neben seinen amtlichen Arbeiten sich auch noch dramatisch zu betätigen? Georg Reicke, der kunstbeflissene Bürgermeister von Berlin (mag er immerhin nur der zweite sein) hat dies Kunststück fertig gebracht. Solchem Schaffensdrang kann keiner die Anerkennung versagen. An Reicke scheint sich der Satz zu bestätigen, daß nur die Leute, die am wenigsten zu tun haben, immer über Zeitmangel klagen. Im Hauptberuf hat er eine so irreführende Menge von Verfügungen verfaßt und erlassen, daß ein gewöhnlicher Sterblicher wie in einem Labyrinth darin herumtappt. Trotzdem erübrigte er noch die Muße, in abendlichen Ausflügen auf den Helikon seinem Nebenberuf treu zu bleiben. – […] Aus dem mehr bühnenmäßig starken als dichterisch tiefen Stück spricht eine aufrechte Männlichkeit, eine gerade Gesinnung. Der Erzfälscher Krieg hat ihr nicht das Augenmaß verschoben, tönende Hurraphrasen auf die Lippen gelegt. Man spürt den wertvollen Menschen. Und es macht ihm Ehre, daß seine hervorragende bürgerliche Stellung ihn nicht zurückhielt, diesen für Predigtamtskandidaten und Pensionsvorsteherinnen heiklen Stoff zu behandeln. Herr Hinz und Frau Kunz freilich schienen vielfach anderer Meinung; es verdroß sie wohl, daß ihr Bürgermeister sich am Rande eines solchen sittlichen Abgrundes bewegte, und sie gaben ihm das durch mißbilligende Laute deutlich zu verstehen. So kam es nur zu einer geteilten Aufnahme. […] Geheimrat Reicke ließ sich durch geheimrätliche Mißfallensäußerungen nicht am Erscheinen hindern. Ob der Bürgermeister von Paris oder London wohl ein gleiches Schicksal herausfordern würde?“

Berliner Theater. NZZ, 2. Januar 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 8.
Hermann Essig, Der Held vom Wald (Kgl. Schauspielhaus, 18.12.17); ders., Der Kuhhandel (Kleines Theater, 22.12.17); Reinhard Johannes Sorge, Der Bettler („Das junge Deutschland“ im Deutschen Theater, 23.12.17). – „Zweimal Essig (Hermann) in einer Woche […]: der Quantität nach war es eine Überdosis; der Qualität nach viel Wasser, wenig Spiritus; der Wirkung nach beide Male Schlummerpunsch. Was hat dieser hemmungslos hervorsprudelnde Bühnenschriftsteller, der methodisch auf den Schild gehoben werden soll, Eigenes zu sagen? Man fragt es verwundert; muß die Antwort schuldig bleiben. Was bietet er an Beobachtungen bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Lebens? Ein Kuddelmuddel von abgenutzten Zügen mit ganz vereinzelten humorvollen oder drastischen Wendungen. Worin liegt seine Besonderheit? In einer absolut theaterfremden Art, in der Ungeniertheit, Sätze aneinanderzureihen. Möglich, daß er schneller, als er hochkam, wieder untertauchen wird. Der Kleist-Preis stellt dem Dilettantentum keinen Dauerfreibrief aus. Selbst Zensurverbote, auch wenn sie sich nicht halten lassen, können undichten Dichterruhm nicht halten. […] ‚Wenn wirklich, wie es gewisse moderne Ästheten wahr haben wollen, alle dichterische Kunst letzten Endes auf eine Wortkunst hinausläuft, dann ist die Sprache der Essigschen Komödie ein untrügliches Kriterium, daß ihr Verfasser nicht zu den Dichtern zählt’ – so schrieb ich hier, nach der Aufführung des Lustspiels Die Glückskuh, am 11. Februar 1911. Ich unterschreibe es heute.“

Berliner Theater. NZZ, 8. Januar 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 35.
Rudolf Rieth, Der tote Gast (Kgl. Schauspielhaus, 31.12.17); Emmerich Földes, Lili Grün (Residenz-Theater, 25.12.17); August Strindberg, Das Band (Theater in der Königgrätzer Straße, 28.12.17). – „Herr Rudolf Rieth nannte seine im Kgl. Schauspielhaus am Silvesterabend aufgeführte vieraktige Albernheit, Der tote Gast, […] eine ergötzliche Komödie aus der guten alten Zeit. Ergötzlich? Darüber steht wohl doch uns das letzte Wort zu, nicht dem Verfasser einer Gruselgeschichte aus Abdera. Wäre nicht Jahresschluß und somit ein Anlaß zur Gewährung mildernder Umstände gewesen, das Publikum, von Gähnkrämpfen geschüttelt, hätte nimmermehr die Frohlaune aufgebracht, die es mitgebracht hatte. Der Kritiker, unabhängig vom Datum, klagt noch am folgenden Morgen über die Abnutzung seiner Kieferknochen. Da war nicht das matteste Sternlein, das leuchtete, nicht das schwächste Fünkchen von Begabung, das sich anblasen ließe. […] Kaum ergötzlicher und keineswegs erfreulich wirkte im Residenztheater, allwo das Ungarische dauernd Trumpf ist, ein Lustspiel Lili Grün von Emmerich Földes. Jüdische Kleinbürgersleute aus Pest; xmal dagewesene Milieuschilderung; Affenliebe der Eltern; das goldene hebräische Herz. […] Zwischendurch sah man im Theater in der Königgrätzerstraße (mit Irene Triesch und Ludwig Hartau in den Rollen des streitenden Paares) den Gerichtsakt Das Band von Strindberg. Die maniakalische Maßlosigkeit dieses verblendeten Scharfsichtigen läßt das Trauerspiel, das den Kampf zweier in Scheidung liegenden Gatten um ihr Kind behandelt, heute fast schon als Parodie erscheinen. Wütende Zerfleischungssucht führt zu einem lächerlichen Wettrennen der Gemeinheit. Man kennt bei Strindberg den Sieger: die Frau. Aber selbst in einem solchen Nebenwerk bleibt er – Rieth links, Földes rechts – ein Bewohner von Brobdingnag unter Liliputanern.“

Die Koralle. Schauspiel in fünf Akten von Georg Kaiser. (Zur Aufführung in den Berliner Kammerspielen). NZZ, 26. Januar 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 129.
Georg Kaiser, Die Koralle (Kammerspiele, 17.01.18). – „Wollte man der Dichtung Kaisers mit realistischen Bedenken zu Leibe rücken, sie schmölze zusammen wie Märzenschnee vor der Sonne. Mit dem Leben hat dieses Gaukelspiel der Abstraktionen nichts zu tun. Im Leben sträuben sich Milliardärsöhnchen nicht so krampfhaft gegen die Segnungen des Geldes; wenn der Vater Zehntausende ausgibt, bringt der Sprößling Hunderttausende durch. Als mein Multimillionär in Amerika [Joseph Pulitzer] das täglich mit frischem Wasser aus dem Meer gefüllte Schwimmbad, das wir im Hause hatten, bei seiner Abreise wegen der zu hohen Kosten nicht länger benutzt sehen wollte, schalt der zurückbleibende Sohn die schofle Gesinnung des Vaters. Auch dürfte es häufiger vorkommen, daß der moderne Krösus mit seiner traurigen Herkunft prahlt und auf seine düstere Kindheit stolz ist, statt sich ihrer zu schämen, um aller Welt sagen zu können, wie herrlich weit er es gebracht habe. Mein Krösus pflegte mit Vorliebe zu erzählen, daß er als Steinklopfer begonnen, als Totengräber fortgefahren habe, bis er als Reporter den Grundstein zu seinem Riesenvermögen legte.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Februar 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 179.
Adolf Glaßbrenner, Nante [in der Bearbeitung von Fritz Friedmann-Frederich] (Kleines Theater, 24.01.18). – „‚Nu brat’ mer eener ’en Storch’, hätte der längst verstorbene Lokalsatiriker Aldolf Glaßbrenner in der geliebten Berlinischen Mundart zu seinem noch immer nicht mausetoten Eckensteher Nante sagen können, als sie im Kleinen Theater fröhliche Urständ feierten. Eine ganz geschickt aus losen Dialogen zusammengestellte Handlung, mit Liedern der Zeit garniert, entrollt vier Bilder Altberliner Lebens.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Februar 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 188.
Max Dreyer, Der Unbestechliche (Komödienhaus, 26.01.18). – „‚Was sind das alles für Menschen!’ sagt ein weltfremder Universitätsprofessor in Max Dreyers neuer Komödie Der Unbestechliche. Er sagt es von der Großherzogin, dem Prinzen, dem Kammerherrn (künftigem Finanzminister), und bekanntlich drücken sich Universitätsprofessoren mit solchem Freimut bei Hofe aus. Was sind das alles für Menschen! sagen wir zu dem gar nicht weltfremden Stückeschreiber Max Dreyer, dessen neue Komödie Kunsthandwerk von vorgestern ist. – Im Mittelpunkt der welterschütternden Begebenheiten steht das Doktorexamen des Prinzen. Die Augen des ganzen Landes sind auf ihn gerichtet. Da geschieht etwas Unfaßbares: ein Professor mit Rückgrat gibt die Doktorarbeit als ungenügend zurück. […] Was mag einen Dichter, der schon ein Dutzend Stücke hinter sich hat, locken, einen solchen Stoff und ihn so zu behandeln? Wollte er die Korruption in Universitätskreisen aufdecken? Dann waren seine schwarzen Schafe schlecht gewählt. Wollte er eine Satire auf die bei prinzlichen Prüfungen üblichen Gepflogenheiten geben? Dann blieb sie in kargen Ansäzen stecken. Immerhin darf man sich wundern, daß die Zensur (heute) schon so viel gestattete. Dreyer besaß, um seinem Verdienst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den untrüglichen Riecher dafür, daß ein Doktorexamen auf der Bühne alle, die es mitgemacht, an überstandene Martern denken und alle, die es nicht mitgemacht, frohlocken läßt, daß ihnen diese Qual erspart wurde. Der Griff war gut; die Rechnung stimmte; die Quittung wird, nach dem Beifall im Komödienhaus zu schließen, sicher nicht ausbleiben.“

Berliner Theater. NZZ, 8. Februar 1918, Abendblatt, Nr. 196.
Gabriela Zapolska, Der junge Zar (Residenz-Theater, 31.01.18). – „[Die Autorin] hatte sich in dem Tendenzstück Die Warschauer Zitadelle als eine so handfeste Dramatikerin erwiesen, daß man jetzt auch siruphaltigen Kitsch von ihr aufführen zu dürfen glaubte. Der Zettel versichert: ‚Spielt am Hof des Zaren um das Jahr 1892’; aber wir sind nicht so sicher, daß Alt-Heidelberg an der Newa liegt, und wir meinten bis jetzt, Frau Zapolska sei bei Antoine, aber nicht bei der Birch-Pfeiffer engagiert gewesen. – Alles an dieser ‚Gefühlskiste’ ist aus ranzigen Romanen und schmalzigen Operetten bekannt. Und doch läßt sich auch hier wieder die Beobachtung machen, daß die Grenzlinie zwischen fingerdickem Kitsch und hoher Dichtung nicht gar so scharf ausgeprägt ist. Das Liebesidyll zwischen dem Prinzen und der Tänzerin hätte in jedem Augenblick Dichtung werden können, wenn die Zapolska weniger betonen wollte, daß sie zur Macherin geboren ist. Schauspielerin von Geblüt, Rollenlieferantin von Gemüt.“

Der schwarze Handschuh. Eine lyrische Bühnenphantasie in fünf Akten von August Strindberg. (Uraufführung in den Berliner Kammerspielen am 20. Februar). NZZ, 27. Februar 1918, Abendblatt, Nr. 284.
„Der große Dichter August Strindberg fühlte dann und wann das Bedürfnis, sich bei vollem Bewußtsein zurück[zu]schrauben; nach Entladungen des Titanidentrotzes lendenlahm zu Kreuz zu kriechen, auch zum Kreuze zu kriechen. Auf Perioden der Tobsucht folgten solche eines stillen Dämmerns. Wilde Anklagen wurden von milden Klagen abgelöst. Seine dramatischen Werke lassen sich fast in zwei Gruppen zerlegen: solche des Wahnsinns und solche des Schwachsinns. Zu den ersten gehören Quader- und Haderblöcke wie der Totentanz, der Scheiterhaufen; zu der zweiten Geduldspiele wie die Kronbraut, Ostern und (der Gipfel!) diese Weihnachtsandacht. […] Sein Stern war ein Irrlicht; sein Generalnenner ein Bruch. Wenn er, als poète maudit, Geifer spritzte, war sein Können gesegnet; wenn er als Sonntagnachmittagsprediger von segnenden Händen Balsam träufelt, wird sein Nichtkönnenwollen verflucht langweilig und unerträglich larmoyant. Dort, im delirium tremens selbstzerfleischender Kämpfe offenbart er eine ungeheuerliche Kraft; hier, im delirium clemens sanfter Stimmungen, eine schauderhafte Ohnmacht. Von allen tragischen Anblicken dieser Erde ist vielleicht keiner furchtbarer als der eines verkindischten Riesenkerls. O, welch ein großer Geist ist hier verstört! […] Ich muß ein Plagiat an Alfred Kerr begehen, indem ich das eine inhaltsschwere Wort hinschreibe: Uäh!“

Seeschlacht. Tragödie von Reinhard Goering. (Zweite Vorstellung der Gesellschaft „Das junge Deutschland“ im Deutschen Theater zu Berlin am 3. März). NZZ, 13. März 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 348.
„Nimmt man Kinder in die Schreckenskammer mit? Verschreibt man Nervenkranken zur Genesung einen Aufenthalt in der Gummizelle? Streut man Salz in frische Wunden? Muß man den armen Zeitgenossen, die ohnehin schwer genug am Kriege leiden, auch noch ein Bild der Furchtbarkeiten auf der Bühne vorführen? Wer hat hier, von der Wucht des Stoffes betäubt, wie mit einer Keule vor den Kopf geschlagen, einen künstlerischen Eindruck empfangen? Wer fühlte sich seelisch ergriffen, erhoben, geläutert? Er trete vor (sofern er kein völlig empfindungsloser Dickhäuter ist). Die andern aber werden rückhaltlos bekennen, daß ihnen die Vorgänge des aufwühlenden Gedichts, mag es immerhin ein Hohelied der Pflichttreue sein, in keinem Augenblick zu Herzen, in manchem an die Nieren gingen. Ist das die Sendung der neuen Kunst? […] Es bleibt noch anzumerken, daß das Werk durch die Schaurigkeit seines Stoffes sichtbare Wirkung auf die Hörer übte. Ein schüchterner Beifallsversuch wurde taktvollerweise im Keim erstickt. Trotz willig gereichter Kleinmünze der Anerkennung wird Reinhard Goering noch zu erweisen haben, ob er ein Gestalter ist, wenn ihm der Vorwurf weniger Rückenlehne bietet. In der Kunst kommt es nicht darauf an, recht zu haben und im Augenblick von trunkenen Schildknappen recht zu bekommen; in der Kunst kommt es darauf an, recht zu behalten.“

Berliner Theater. NZZ, 14. März 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 354.
Johannes Wiegand, Die Tante aus Sparta (Kgl. Schauspielhaus, 22.02.18). – „Voraussetzung des vieraktigen Lustspiels Die Tante aus Sparta von Johannes Wiegand ist die ‚neue Welt’. Prinzen wollen arbeiten und tüchtige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden, dürfen daran denken, eine Komtesse aus dem Geschlecht der Habenichts zu ehelichen; ein verknöcherter Kammerdiener zitiert gar ‚Bahn frei’. Das Alte stürzt, und ein neues Alt-Heidelberg (diesmal am Fuß des Vogelsbergs gelegen, vom Marburger Universitätsleben umfächelt) blüht aus den Ruinen. […] Das ist die neue Zeit; dem Tüchtigen freie Bahn. … Das Kgl. Schauspielhaus, das einmal Anläufe zur Verwirklichung dieses schönen Spruches zu nehmen schien, hat sich rasch wieder auf die Pflege seines Altenteils besonnen. Offenbar in richtiger Einschätzung seines Publikums, dem solcher Kitsch zur zweiten Natur geworden ist. Es sorgte für die dem gewiegten Herrn Wiegand fehlende Musik durch reiche Nasenresonanz. Die mehr als freundliche Aufnahme verschuldete Frl. Lussin, eine Menschendarstellerin von Hirn, Herz und Humor.“

Berliner Theater. NZZ, 21. März 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 388.
August Strindberg, Nach Damaskus. Teile II-III (Lessing-Theater, 09.03.18). – „Im April 1914 unternahm es Viktor Barnowsky, den ersten Teil von August Strindbergs gigantischer Lebensbeichte Nach Damaskus im Lessing-Theater vorzuführen. Ich habe mich damals (in Nr. 610 vom 22. April 1914) eingehend mit dem Werk beschäftigt und meinen ablehnenden Standpunkt zu begründen gesucht. Darum ablehnend, weil ich eines zerrütteten Geistes qualvolles Ringen, das mit einem Kirchgang sänftiglich endete, nicht als Heilsbotschaft für künftige Menschen ansehen konnte; weil mir diese Flucht eines Unterhöhlten, Angenagten, Zermürbten in den Schoß der Religion als Preisgabe der Persönlichkeit, als bedingungslose Waffenauslieferung erschien. Goethes Epitaph: ‚Dieser ist ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein’ drohte die gar nicht zeitgemäße, sondern höchst rückständige Umwandlung zu erfahren: ‚Dieser ist ein Mensch gewesen, und das heißt ein Frommer werden.’ – Nun folgten der zu Einem Theaterabend zusammengezogene zweite und dritte Teil des Passionsweges Nach Damaskus. Nur in Ausdrücken uneingeschränkter Anerkennung und tiefen Dankes läßt sich über die szenische Darbietung reden. Sie ist bei weitem das Stärkste, was Barnowsky als Leiter des Lessing-Theaters gezeigt hat; mehr: sie kann sich getrost neben allem sehen lassen, was die Berliner Bühnen seit Brahms Tode geleistet haben. Ja, man fühlte sich wirklich an seine besten Abende erinnert: so einheitlich, so frei von allem Ablenkenden, so geistig durchgearbeitet, so von schauspielerischer Selbstherrlichkeit gereinigt, so sorgsam getönt und so edel gefaßt war der Gesamteindruck. Alle Kräfte waren einem, dem Kunstwerk selbstlos dienenden, künstlerischen Willen unterworfen. Keiner trat überragend hervor; keiner blieb hinter den Anforderungen nennenswert zurück. Man muß diesen Abend in das goldene Buch der Erinnerungen eintragen […] Nach Damaskus ist Strindbergs Faust.“

Berliner Oper. NZZ, 28. März 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 421.
Eugène d’Albert, Liebesketten (Opernhaus Charlottenburg, 07.03.18). – „Rudolf Lothar, mit sicherm Bühnenblick bewaffnet, drängte die drangvolle Handlung zu einem Operntext, Liebesketten, zusammen, der in den Begebenheiten stärker ist als im Figürlichen, mehr Verismus als Charakteristik bietet und in der Wortwahl, trotz der Nähe des Meeres, auf breiter Landstraße wandelt. Dem Direktor des Deutschen Opernhauses in Charlottenburg, Georg Hartmann, genügte diese Zusammendrängung noch nicht: er verschmolz die beiden letzten Akte, hielt sich nicht bei seelischen Wandlungen der Gestalten auf, machte ihnen einen Strich durch die Abrechnung und eilte der Katastrophe zu. Eine Repertoireoper, die bei früheren Anlässen (in Wien und Dresden) keine Liebesketten zu schmieden vermochte, sollte auf diese etwas gewaltsame Weise dem Repertoire gewonnen werden. Eugen d’Albert hatte nichts dagegen. […] Erstaunlich bleibt es, wie völlig unbeeinflußt von Wagner d’Albert im Thematischen ist, während ihm italienische Klangreize und –mischungen mancherlei gegeben haben. Doch die stärksten Spuren hat der Tiefland-Komponist bei dem Seestrand-Komponisten hinterlassen. Und das machte dem Publikum offenbar die Sache besonders schmackhaft. Schon nach dem ersten Akt wurden die Sänger mit reichem Beifall bedacht; er steigerte sich nach Schluß zu Huldigungen für alle Beteiligten. […] Der anwesende Komponist durfte mit Aufführung und Aufnahme zufrieden sein.“

Schweizer Komponisten-Abend in Berlin. NZZ, 4. April 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 443.
Konzert des Philharmonischen Orchesters unter Leitung von Hermann Henze mit drei Werken lebender Schweizer Komponisten: der Humoreske (op. 36) von Joseph Lauber, dem Violinkonzert (op. 21) von Othmar Schoeck sowie der siebenten Sinfonie von Hans Huber (Beethovensaal, 25.03.18). – „War es auch nicht musikalisches Neuland, so doch geographisches, in das der Ausflug sich reichlich lohnte. […] Das Publikum dankte, besonders für die letzte, den Abend krönende Gabe, mit herzlichem Beifall.“

Berliner Theater. NZZ, 10. April 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 472.
Adolf Paul, Lola Montez (Deutsches Künstler-Theater, 31.03.18). – „Gemisch von Liebes- und Intrigenkomödie; schwächerer Sardou, Lola, zu deren bewunderten Füßen die höchsten Hornochsen schmachten, findet in dem verwegenen Karlistenführer Madons ihren Herzensknicker. Sie liebt zum ersten- und einzigenmal. Doch ihr Räuberhauptmann wird von den Diplomaten zur Strecke gebracht und unter ihrem Fenster hingerichtet. Früher nannte man einen solchen Vorgang Teichoskopie, jetzt Kino-Situation. Eine gewisse Tosca erlebt Ähnliches und ist sogar auf der Opernbühne, mit Puccinischem Schmelz und Schmalz kaum erträglich. Adolf Paul, der zwei und einen halben Akt lang nur mit Viertelskraft arbeitet, unbedeutende Worte für einen nicht unbedeutenden Tanzstern hinstreut, gelangt selbst im Schluß nicht auf die Höhe des knalligen Effekts: der Film könnte die Szene – Lola auf dem Balkon, ihr Liebster auf dem Schafott – ohne Text zu noch ganz anderer Wirkung steigern. Immerhin kam eine sogenannte Bombenrolle [für Ida Roland] zustande.“

Berliner Theater. NZZ, 11. April 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 477.
Georg Hirschfeld, Das hohe Ziel (Kgl. Schauspielhaus, 05.04.18). – „‚Warum?’ – Robert Schumanns himmlisches Phantasiestück – erklingt im Mittelpunkt von Georg Hirschfelds Drama Das hohe Ziel. […] Warum führt der Weg zum Hohen Ziel an so vielen, von fremder Hand gesetzten Kilometersteinen vorbei? […] Zum reinen Romantiker – und so gibt er sich hier – fehlt dem jetzt auf dem Ozean aller Stilarten steuerlos umhergetriebenen Georg Hirschfeld, der einst im festgefügten realistischen Kahn hinausfuhr, vor allem das Schwärmerische. Seine Sprache – bald poetisch straff gespannt, bald alltäglich lose herunterhängend – ist durch Hilflosigkeit gekennzeichnet. Auch seine Bühnenerfahrung hat ihn diesmal schlecht bedient. Wenn ein Kind einen Greis heuert und außerdem der Name des jugendlichen Liebhabers auf dem Zettel steht, so weiß jeder im Theater, was kommen wird. Man soll nicht auf roh stoffliche Spannung hinarbeiten; aber man soll auch seine Karten nicht von vornherein aufdecken. Mag die wie ein Vögelchen im Käfig eingesperrte Frau noch so überzeugt versichern, ihr hohes Ziel sei die Treue: die albernste Galeriegans geht ihr nimmermehr auf solchen Leim. – Und doch, wenn alles gegen dieses Werk aus zweiter Hand schonungslos gesagt ist – man spürt an manchem feinen Zug, an der liebetanenden Gesinnung, an der wehmütigen Träumerei, an der zarten Stimmung den Dichter. Deshalb hätte auch das Drama (von der Darstellung mit Ausnahme des vortrefflichen Herrn Biensfeldt mäßig gestützt) eine nicht so offenkundige Ablehnung verdient wie im Kgl. Schauspielhaus. Warum hätschelt ihr oft die Macher und steinigt den Dichter?“

Berliner Theater. NZZ, 15. April 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 497.
Molière, Der Bürger als Edelmann [Neufassung von Hugo von Hofmannsthal] (Deutsches Theater, 09.04.18). – „Schon in der dritten Fassung erleben wir die Adelsbürger-Ariadne (mit ihrem vollen Namen: Le bourgeois gentilhomme – Ariadne auf Naxox) von Molière –Hofmannsthal – Strauß. Zuerst, im Kgl. Schauspielhaus, Molières Komödie, von Hofmannsthal übersetzt, mit der Straußschen Oper als Anhängsel. Die Vernunftehe erwies sich als unglücklich. Die allzu verschiedenen Gatten, die sich gegenseitig das Leben erschwerten, gingen auseinander. Ariadne, unbedingt der stärkere Teil, zog es vor, fern von Molière im Kgl. Opernhaus, nach angemessener Streckung, ein selbständiges Dasein zu führen. Hofmannsthals Text ist ihr sterbliches, Richard Straußens Musik ihr unsterbliches Angebinde. Doch der also verlassene Molière sollte nicht zurückstehen; um die köstlichen Straußschen Arabesken zu retten, wurde auch er von Hofmannsthal gestreckt und so, neu aufgepäppelt, als ‚Komödie mit Tänzen’ im Deutschen Theater herausgestellt. Ohne Erfolg; mit deutlich vernehmbarem Mißerfolg sogar. […] Selbst wenn ihm [dem Publikum] der tote Dichter, der gerochen wurde, Hekuba gewesen sein sollte, ging ihm doch die kunterbunte Vermengung aller Gattungen wider den Strich. Da gab es: Komödie, Tragikomödie, Posse, Oper, Operette, Ballett, Pantomime, Zirkus, Varieté, Alhambra, Tivoli; Wort, Tanz, Musik, Arien, Duette, Chöre, Mummenschanz, Massenaufzüge – kurz, ein Kuddelmuddel, wie es üppiger nicht in Rauchtheater-Revuen gedeiht. Reinhardt, als Generalissimus des Ganzen, konnte im Theater der fünftausend Stilarten schwelgen.“

Berliner Theater. NZZ, 22. April 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 529.
Ludwig Fulda, Die Richtige (Volksbühne, 13.04.18). – „Heute wird im Trianon-Theater die Komödie Der Lebensschüler von Ludwig Fulda zum 222. Male gegeben. Diese ‚für die Provinz erdachte, im augenfälligen Provinzgeschmack gemachte’ (und von der Provinz verlachte) Berliner Sittenzeichnung findet eine würdige Steigerung in dem gestern uraufgeführten Traumschwank Die Richtige. Klimax der Froschperspektive. […] Hört, ihr Ehemänner, und laßt euch sagen: die Frau, die ihr habt, ist die Richtige – auch wenn sie Minna heißt. Das ist die Moral des Fuldaschen Traumschwanks. Und die Kunst wird an den Nagel gehängt.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Mai 1918, Drittes Sonntagblatt, Nr. 591.
Walter Hasenclever, Der Sohn („Das junge Deutschland“ im Deutschen Theater, 24.03.18); Carl Sternheim, Perleberg (Lessing-Theater, 20.04.18); Alfred Möller u. Lothar Sachs, Meine Frau, die Hofschauspielerin (Kgl. Schauspielhaus, 25.04.18). – „Nachzutragen: als dritte Vorstellung der Gesellschaft ‚Das junge Deutschland’ – am 24. März – Walter Hasenclevers Drama Der Sohn. In Zürich und auch sonst mehrfach öffentlich aufgeführt; wozu also ein Wiederaufnahmeverfahren hinter verschlossenen Türen? Der jugendlich ungestüme und überschwengliche Dichter rennt offene Türen ein mit seinem blindwütigen Sturmlauf gegen die Tyrannei der Väter, welche im Jahrhundert des Kindes nicht Peiniger, sondern eher die Gepeinigten sind.“ – „Hervorzuheben: Perleberg von Carl Sternheim […]. Ein früher Sternheim? Wo bleibt sein Steckenpferd: die Verhöhnung des Bürgers? Man ist jedenfalls geneigt, dieses Kleinstadtidyll vor dem Zyklus seiner comédies bourgeoises anzusetzen. Der allem ‚Poetischen’ so abholde, todfeindliche Sternheim hat hier, mit köstlichem Gelingen, seinen ersten Ausflug ins Poetische unternommen.“ – „Totzuschweigen: der Schlager der Provinz: Meine Frau, die Hofschauspielerin von Alfred Möller und Lothar Sachs.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Mai 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 602.
Bruno Frank, Die Schwestern und der Fremde (Theater in der Königgrätzer Straße, 30.04.18). – „Während Bruno Franks Schauspiel Die Schwestern und der Fremde in München und andern Städten des Reiches achtungsvoll aufgenommen wurde, hatte es hier am Theater in der Königgrätzerstraße, trotz wenig deckender Verkörperung der beiden Hauptrollen, beträchtlichen Erfolg. Das als besonders kritisch verschriene Berlin ist also – manchmal! – besser als sein Ruf. […] Was sonst zur Füllung des Schauspiels beigetragen wird, hat oft reizvollen Umriß, ohne durch Neuheit der Erfindung oder der Einkleidung sonderlich hervorzustechen. Man bewegt sich in der Gesellschaft eines belesenen, theaterkundigen, auf Schliff der Form haltenden Mannes. Die Münchner Redoute des Vorspiels ist in zarten Aquarellfarben gegeben; eine lebensbetrachterisch veranlagte Scheuerfrau bringt sogar Humor hinein. Ein alter Herr, dem Kampf und Krampf der Liebe entrückt, ganz wehmütiger Zuschauer, schleicht symbolisch durch die drei Akte wie der Greis in Schnitzlers Jungem Medardus, gewissermaßen ein antiker Chorus in der Einzahl. Das ganze schmeichelt sich weniger durch eine starke eigene Melodie als durch kennerisch gewählte Akkorde aus. Man denkt an einen gemächlichen Satz von Robert Volkmann: nicht ohne Tiefe; wohlklingend, doch vertraut; weich und edel; sehr kunstmäßig mit einem leisen Lavendelduft.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Juni 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 744.
Hanns Saßmann, Aristid und seine Fehler (Kleines Theater, 01.06.18). – „Höchst überflüssige Unterbrechung des Sommerschlafs“.

Berliner Theater. NZZ, 15. Juni 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 784.
Franz Werfel, Der Besuch aus dem Elysium / Friedrich Koffka, Kain („Das junge Deutschland“ im Deutschen Theater, 09.06.18). – „Als vierte Veranstaltung der Gesellschaft ‚Das junge Deutschland’ wurden zwei Einakter im Deutschen Theater herausgebracht: eine nicht näher gekennzeichnete Dichtung Der Besuch aus dem Elysium von Franz Werfel und ein Drama Kain von Friedrich Koffka. Wenn es der Zweck einer solchen Gesellschaft ist, dramatische Talente zu fördern, so hat sie ihn diesmal gründlich verfehlt. Es ist nicht einzusehen, welchen Nutzen die Aufgeführten davon haben sollten, daß sie ihre blutleeren Gebilde körperlich vor Augen sahen. Ihre Entwicklung bleibt dadurch völlig unberührt; denn beide Werke sind durch die Bühne auch nicht vorübergehend zum Scheindasein zu erwecken. Das Publikum quittierte über einen verlorenen herrlichen Sonntag-Mittag, indem sich keine Hand zum Beifall regte. […] Nun müßte das ‚Junge Deutschland’ endlich – denn dieses war schon der vierte Streich – einen jungen Dramatiker entdecken. Die bisher zu Worte kamen, hatten entweder die Feuerprobe schon an anderer Stelle bestanden oder entpuppten sich als Nieten. Hoffentlich in der nächsten Spielzeit.“

Berliner Theater. NZZ, 27. Juni 1918, Zweites Abendblatt, Nr. 846.
Rudolf Pannwitz, Die Befreiung des Oidipus (Lesung der Gesellschaft „Das junge Deutschland“ im Deutschen Theater, 16.06.18); Bruno Frank, Bibikoff (Deutsches Theater, 20.06.18). – Zu Bruno Franks Komödie: „Unbedenklich. Sie hat einen etwas bittern Beigeschmack, wenn man sieht, wie Bruno Frank, der uns vor kurzem in seinem Schauspiel Die Schwestern und der Fremde als feiner Kammermusiker mit kleinem, reinem Ton begegnet war, jetzt dem kaum zu bändigenden Kasperl Pallenberg eine Rolle ganz unbekümmert auf den Leib schreibt. [….] Im einzelnen dürfte schwer festzustellen sein, wie Frank die Rolle dem Pallenberg oder Pallenberg die Rolle frank sich selbst mundgerecht gemacht hat. Vermutlich wird der Schauspieler, in Stegreif-Sprüngen am stärksten, das, was im Text dreimal stand, sechsmal gesagt haben. Er ist in allen Zeiten, Zonen, Zungen semper idem. Und bleibt der putzigste Pulcinell mit rührendem Unterton.“

Echo der Bühnen. Berlin. LE, Bd. 20, Nr. 19 (1. Juli 1918), 1163-1164.
Franz Werfel, Der Besuch aus dem Elysium / Friedrich Koffka, Kain („Das junge Deutschland“, Deutsches Theater, 09.06.18 [signiert: „i.V.: Max Meyerfeld“]). – „Als Gegenstück zu den drei Gewaltigen müßte man die beiden Schmächtigen Möchtegern und Kannicht erfinden. Ihre Blutleere wird von strotzender Wortfülle verdeckt. Die Bildung ist ihr Rüstzeug, die Impotenz ihr Fluch. Darin wetteifern die zwei Einakter, die nur bildern, doch nicht bilden.“ – Vgl. oben NZZ vom 15.06.1918, Nr. 784.

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1918 / 1919

Berliner Theater. NZZ, 12. September 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 1199.
Eröffnung der neuen Theatersaison; Karl Lebrecht Immermann, Merlin (Volksbühne, 04.09.18). – „Gott grüß` die Kunst! Mit diesem schönen Spruch wollen wir in die fünfte Spielzeit während des Krieges eintreten… – Spielzeit und Krieg – wie reimt sich das zusammen? Es gibt einen etwas gewaltsamen Reim. Wenn alle Kunst völlig nutzlos ist, so hat man ihr jetzt einen allzu greifbaren Nutzen untergeschoben: sie soll die Gedanken der erholungsbedürftigen Bevölkerung vom blutigen Ernst ablenken. Die Gegenwart hat verstehen gelernt, was es mit dem vom römischen Proletariat der Kaiserzeit erhobenen Rufe nach Brot und Zirkusspielen für eine Bewandtnis hatte. Nie zuvor hat sich die Menge so in die Theater gedrängt, um dort Vergessenheit von der Not des Lebens zu suchen. Wie ein Kind, nichtsahnend und unbefangen, zwischen den Grabhügeln eines Leichenfelds seine Spiele fortsetzt, so heischen die Menschen, inmitten des furchtbarsten Totentanzes der Geschichte, nach wie vor ihre Zerstreuung und glauben, sie in den Spielhäusern zu finden. Die wahre Bestimmung der gottgebornen Kunst dürfte das wohl nicht sein; aber wenn alle Werte auf dem Spiele stehen, wird man über Spielwerte leicht zur Tagesordnung übergehen. – Von einigen Veränderungen ist kurz zu berichten. Die Operettengrippe hat zwei weitere Opfer gefordert. Das programmlos im Winde schwankende Nationaltheater, in das seit dem Auftreten der Duse (lang, lang ist’s her) kein Kunstmensch mehr den Fuß gesetzt hat, ist ganz zur leichtesten Muse abgeschwenkt. Leider auch das zu seinem ursprünglichen Namen zurückkehrende Wallner-Theater, einst die Pflegestätte der guten Berliner Posse, zuletzt als Schiller-Theater eine Garküche bekömmlicher Dramatik für breite Bürgerschichten. Fortan wird hier, unter der Führung des Herrn Heinz Saltenburg, die moderne Mischung von Schnickschnack, Gesang und Tanz (gemeinhin: Operette) angerührt, während das Schiller-Theater auf sein Zweigunternehmen in Charlottenburg beschränkt bleibt. Vielleicht wird ihm diese Zusammenfassung seiner Kräfte zu einer wünschenswerten Auffrischung verhelfen. – Neu hinzukommen wird das Palast-Theater, bislang eine Rummelsburg, das sich auf das Schaustück großen Stils verlegen will. Sein erster Leiter, Herr Fritz Friedmann-Frederich, als Verfasser gangbarer Lustspiele mit Berlinischer Note bekannt, soll demnächst auch das Metropol-Theater übernehmen. Welchem Schicksal bei einer solchen Personalunion das Palast-Theater zugetrieben werden wird, kann jedes Großstadtkind mühelos erraten. – Max Reinhardt hat die Volksbühne abgegeben und wird im Laufe der nächsten Woche einen Saal der kgl. Hochschule als Kleines Schauspielhaus eröffnen. Damit bekommt er wieder seine dritte Bühne; zwar noch nicht das sehnlich begehrte, durch widrige Umstände bisher verwehrte Theater der Fünftausend, woran ihm so viel gelegen ist, sondern einen Ableger der Kammerspiele. – In die Volksbühne ist Friedrich Kayßler, Deutschlands sakralster Schauspieler, als Verweser eingezogen, von allen Kunstfreunden mit aufrichtigen Gefühlen begrüßt. Sein allem Flitter und Tand des Kulissenreichs abholder Ernst wird sich gerade an dieser Stelle bewähren können. Wenn der in praktischen Dingen weniger bewanderte Künstler das Glück haben sollte, einen gewiegten Geschäftsführer zu finden, so wird man auf sein ideales Streben manche Hoffnung setzen dürfen.“ – Zu Kayßlers Inszenierung von Immermanns Merlin an der Volksbühne: „Der stürmische Erfolg war als Quittung für die Beliebtheit des Schauspielers Friedrich Kayßler, gewiß nicht als Echo seelischer Ergriffenheit einzuschätzen. Berlin besitzt – daran ist nach dieser ersten Tat kein Zweifel – einen Bühnenleiter mehr von starkem geistigen Gepräge. Gott grüß` die Kunst!“

Berliner Theater. NZZ, 16. September 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 1217.
Hanns Johst, Der Einsame (Kleines Theater, 07.09.18). – „[In dem Stück] wird das dornenvolle Erdenlos des kraft-genialischen Dramatikers Christian Dietrich Grabbe eingedichtet und zum symbolischen Poetenschicksal verdichtet. Hier stockt man schon. Wenn einer, so war der Detmolder Auditeur mit seiner lächerlich abstoßenden Menschlichkeit denkbar ungeeignet, verallgemeinernde Züge herzugeben. Er scheiterte, nicht so sehr an dem typischen Unverstand der Mitwelt, als durch die singuläre Besonderheit seines Wesens. Nicht an seinem Genius ging Grabbe, sein Genius ging am Alkohol zugrunde. Hätte er sein Leid nicht in Rum ertränkt, wäre der Ruhm zum Lied des Lebenden vielleicht noch gekommen. […] Direktor Altmann vom Kleinen Theater […] scheint für Grabbe eine besondere Vorliebe zu haben. So vortrefflich einst seine Inszenierung des Lustspiels von Grabbe gewesen war [s.o. NZZ vom 02.05.17, Nr. 527], so rühmlich war diese schlichte Einrahmung der Tragödie mit Grabbe als Helden. Dabei hatte er nicht einmal einen wesensverwandten Darsteller zur Verfügung. […] Bei keineswegs hervorragenden Einzelleistungen kam ein prachtvoll abgestimmter Gesamtton zustande. Die neue Spielzeit läßt sich überraschend verheißungsvoll an. Keine Spur von Müdigkeit, von einem Mangel an Stoffen oder dergleichen im fünften Kriegsjahr, sondern die altgewohnte Rührigkeit. Die Berliner Bühnen können es anscheinend noch sehr lange aushalten.“

Shakespeares Maß für Maß. NZZ, 22. September 1918, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1245.
William Shakespeare, Maß für Maß (Volksbühne, 14.09.18). – „Nach dem nie gespielten Merlin Karl Immermanns [s.o. NZZ vom 12.09.18, Nr. 1199] kam eine selten gespielte, nie durchgedrungene Komödie Shakespeares in der Berliner Volksbühne unter Friedrich Kayßler an die Reihe: Maß für Maß. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: auch dieser Versuch, überaus anregend, als Gesamtleistung höchst achtbar, in vielen Einzelheiten fesselnd, im Szenischen erfolgreich neue Bahnen wandelnd, vermochte die Hörer nicht restlos zu bezwingen und wird daher am Bühnenschicksal des umstrittenen Werkes kaum etwas ändern. – […] Eine solche Dichtung der Bühne erobern zu wollen, muß auch dann als Verdienst gelten, wenn sie sich nicht zu behaupten vermag. Das Bemerkenswerteste an Friedrich Kayßlers Versuch scheint mir, daß es ihm ohne gewaltsame dramaturgische Eingriffe gelang, die Spielzeit der fünfaktigen Komödie, die Pause eingerechnet, auf das Normalmaß von zweieinhalb Stunden zu bringen. Das war eine Erquickung, eine dankbar zu buchende Wohltat, wenn man an die sonst beliebten, über mehr als vier Stunden gereckten Aufführungen dachte. […] Die günstigen Eindrücke überwogen so sehr, daß das Publikum, dem dieser Shakespeare fremd war, zu lautem Jubel hingerissen wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 25. September 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 1260.
Georg Hermann, Mein Nachbar Ameise (Lessing-Theater, 12.09.18). – „Georg Hermann mit seiner reichen Plaudergabe ist ein in Deutschland seltener Singvogel oder eigentlich Koloratursänger; wenn er auch meist die gleichen Noten wiederholt, so sind sie doch oft lieblich anzuhören. Für den Kenner, während das Gros bei diesen gehäuften Anspielungen, diesen Besuchen in künstlerischen Nachbarreichen, diesen Spaziergängen in den Gärten sämtlicher Literaturen weniger auf seine Kosten kommt. Ein Schöngeist schüttet das Füllhorn erlesener Lesefrüchte aus, mit eigenem Geist vermischt. Er setzt fast ein Parkett von Poppenbergs voraus. Ihm selbst zergehen seine Leckerbissen auf der Zunge, aber der Magen der Hörerschaft (oder nun gar der Kriegsmagen einer Kriegshörerschaft) verlangt kräftigere Speise. Von Bonmots allein werden die schwerlich satt. Der Kenner jedoch hat seine Freude an der Auswahl und am Vortrag.“

Eröffnung des Palast-Theaters in Berlin. NZZ, 25. September 1918, Erstes Morgenblatt. Nr. 1260.
Julius von Voß u. Adolf Glaßbrenner (Musik: Bogumil Zepler), Stralauer Fischzug (Palast-Theater, 17.09.18). – „Aus voller Brust schallt ihm ein kräftiges Nein entgegen. Je n’en vois pas la nécessité, erwiderte der Richter dem Angeklagten, der behauptete, er müsse doch leben. Man faßt es nicht, warum im fünften Kriegsjahr zu den überreichlich vorhandenen ein neuer Pläsierplatz hinzukommen soll. Schon der Name verursacht ein leises Schaudern, da er an greuliche Bier-Paläste und ähnliche Schieber-Schöpfungen denken läßt. Der Raum würde sich, nach Entfernung der feudalen Klubsessel, gewiß vortrefflich zum Schwimmbassin eignen. […] Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder man dient der Kunst oder dem Mob. Selbst der Krieg, der Vater aller Undinge, hat ein drittes noch nicht geschaffen. Aber Herr Friedmann-Frederich wird bei seiner Geschicklichkeit die Sache schon fingern. Ich bitte um ein Natronpulver.“

Ein Schweizer Theaterstück in Berlin. NZZ, 28. September 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 1278.
Sigfried Giedion, Arbeit (Kleines Schauspielhaus, 21.09.18). – „In dem Kleinen Schauspielhaus, das vor acht Tagen unter Professor Reinhardts Leitung mit einer vielgepriesenen Aufführung von Goethes Clavigo eingeweiht wurde, kam Giedion als erster neuer Dichter zu Worte. […] Wenn man einen neuen Dichter fördern will, soll man seiner Arbeit nicht eine in jedem Betracht zweitklassige Aufführung zuteil werden lassen. […] Mit Recht protestierten die zahlenden Zuschauer, die füglich auch etwas hören wollten, zum Schluß – nicht gegen den Verfasser, sondern gegen eine überaus mäßige Darstellung. Es gab ein regelrechtes Pfeifkonzert. Trotzdem erschien Giedion, der auch schon nach dem zweiten Akt gerufen wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Oktober 1918, Erstes Morgenblatt, Nr. 1312.
Walter von Molo, Der Hauch im All (Theater in der Königgrätzer Straße, 18.09.18); Wilhelm Schmidtbonn, Die Versuchung des Diogenes (Kgl. Schauspielhaus, 19.09.18). – Zu von Molos Tragödie: „In jedem Menschen steckt der Hang zum Verbrechen. Oft bedarf es nur einer winzigen Veranlassung, ihn ans Licht zu locken. Was wir Charakter nennen, kann durch einen Windstoß umgeblasen, in sein Gegenteil verkehrt werden. Ormuzd und Ahriman führen noch immer ihren Kampf um den aus Gemeinem und Edlem gemachten, unendlich komplizierten Staubkloß. Dies alles hat Molo mit einer vor nichts zurückschreckenden Dialektik geäußert. Er geht unbeirrbar aufs Ganze, was dem Bühnenanfänger nicht hoch genug angerechnet werden kann.“

Berliner Theater. NZZ, 11. Oktober 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 1344.
Rudolph Schanzer u. Ernst Welisch, Die tanzende Nymphe (Komödienhaus, 05.10.18). – „Ewig denkwürdig wird der Abend des 5. Oktober bleiben, an dem Die tanzende Nymphe, ein Lustspiel der Herren Rudolph Schanzer und Ernst Welisch, im Komödienhaus unter dem Beifall der Zeitgenossen zum ersten Mal über die Bretter hopste. In jedem Menschenleben gibt es Ereignisse, an sich unbedeutend, die durch die gewaltige Bedeutung der Begleitumstände im Gedächtnis unauslöschlich fortleben. Ein solcher Fall lag hier vor. – Auf der Fahrt zum Theater kam man kurz vor 7 Uhr am Reichstagsgebäude vorbei. Die Sitzung war schon fast eine Stunde aus; aber der historische Schauplatz war noch von einer stattlichen Schar umstellt, als ob die Menschen, die nicht dabei sein konnten, wenigstens in der Nähe sein wollten. Dort, am Rande des Tiergartens, gegenüber dem Brandenburger Tor, eine kleine Gruppe, um einen eifernden Redner versammelt. Ein Herr steigt in die Elektrische; er war dabei. Ohne daß ihn einer gefragt hätte, erzählt er, was sich eben im Reichstag zugetragen – leidenschaftslos, mit der Ruhe eines Arztes. Seit den stürmischen Augusttagen 1914 hat man das nicht mehr erlebt, daß ein Fremder unaufgefordert seinen Empfindungen Luft macht. Auf der kurzen Strecke, die man noch zu Fuß gehen muß, gewahrt man unter der Laterne einen Offizier, das Abendblatt lesend, in dem noch gar nichts Weltbewegendes steht. Eine unsagbare Spannung beherrscht die Gemüter. Äußerlich ist alles unverändert; innerlich hat man ein Gefühl wie der junge Leutnant bei Puschkin, der den höchsten Einsatz am Spieltisch wagt. Die Abgestumpftheit, die fünfzig Monde voll grausigen Geschehens, fünzig Monde der Taten und Leiden bei den meisten hervorgerufen hatten, war zitternder Erregung gewichen. – So kam man ins Theater. […] Der erste Akt muß doch einmal sein Ende finden. Man stürzt auf die Straße, um die zweite Ausgabe der Abendblätter zu erstehen. Nun endlich erhält man Gewißheit. Gottlob. Der Zuschauerraum füllt sich mit Zeitungspapier. Und wenn jetzt ein Gedicht von der Erhabenheit des Faust mit eherner Wucht das Holzgerüst beschritte, wenn lauter Talmas Goldglanz über Talmi breiteten – die Gedanken sind weit, weit weg. Fliegen über das Weltmeer so schnell, wie nur die Gedanken fliegen. Vergegenwärtigen sich, wie die Botschaft des deutschen Volkes in Washington eintrifft. Wie Präsident Wilson, arbiter mundi, das Schriftstück in Händen hält. Wie er den Erdball auf seinen Schultern trägt. Wie er vor einer Verantwortung steht, um die ihn kein Gott beneidet. – Was dann noch folgte? […] Die Hörer klatschten. Die Komödie ist aus. Ist die Tragödie aus?“

Berliner Theater. NZZ, 16. Oktober 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 1370.
Ludwig Biro, Hotel Stadt Lemberg (Residenz-Theater, 08.10.18). – „Ein verspätetes Kriegsstück? Vielleicht; doch ein nie zu spät kommendes Stück gegen den Krieg. Wenn es nicht von Biro wäre, könnte es von Latzko sein. Die Episode des um seiner Tapferkeit willen mehrfach ausgezeichneten russischen Soldaten, der sich weigert, einen Sturmangriff mitzumachen, weil er ‚die Überzeugung verloren’ hat und einem Menschen nicht mehr das Bajonett in den Leib zu rennen vermag – das könnte wirklich bei Latzko stehen und prägt sich dem ungarischen Offizier so ein, daß er dieselbe Wandlung erfährt. Und die Kühnheit, mit der ein russischer Hauptmann (als Sprachrohr des Dichters) die Gemeinen als ‚Rindviecher’ bezeichnet, weil sie sich blindlings unterwerfen, und den Generalstab als den Feind Gottes brandmarkt, ist in der heutigen Zeit des Aufhorchens wert. Daß die Zensur solche Stellen durchließ, zeugt von einer großzügigeren Auffassung, als sie dem Publikum eignete, das ob einer Bußpredigt die Selbstbeherrschung verlor.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Oktober 1918, Zweites Morgenblatt, Nr. 1382.
Anton Tschechow, Der Kirschgarten (Volksbühne, 09.10.18); [Hans Sachs et al.], Alt-Nürnberg (Kleines Theater, 09.10.18). – „Anton Tschechows Komödie Der Kirschgarten […] ist kein Theaterstück, eher ein Musikstück. Was für eine Überschrift würde man ihm geben? Vielleicht: Allegretto con tristezza. Heiterkeit und Schwermut sind darin gemischt wie in slawischen Volksklängen. […] Ein Entsagen und Verzichten steigt in dieser Bühnendichtung eines Novellisten bittersüß an die Oberfläche, und trotzdem jubelt in der Tiefe ein unverlierbares Glücksgefühl, das aus dem Seelenadel aufquillt. […] Dieses seidenzarte Gespinst des russischen Dichters will mit behutsamsten Fingern angefaßt sein. Friedrich Kayßler tat es in der Volksbühne. Er und seine Frau, Helene Fehdmer, brachten die unerläßliche Natur mit und übertrugen ihren Seelenadel auf die willigen Mitwirkenden. Ohne verschwenderischen Pedalgebrauch kam eine überaus fein abgestimmte Vorstellung zustande. Kayßler wird seinen Getreuen Erzieher zu edelster Beseelung. Seit Brahm war solcher Einfluß in Berlin nicht mehr spürbar.“ – „Zu derbem Rüpelspiel war man ins Kleine Theater gegangen. Die Welt Hans Sachsens und seiner Zeitgenossen – Alt-Nürnberg – sollte für zwei Stunden lebendig werden. Soweit meine Person in Frage kam, ward sie es nicht für zwei Minuten.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Oktober 1918, Erstes Abendblatt, Nr. 1404.
Victor Hardung, Isanthe / Friedrich Markus Hübner, Lanzelot und Sanderein (Kgl. Schauspielhaus, 16.10.18). – „Mit souveräner Erhabenheit gleitet der Dichter Hardung über Geschehnisse hinweg. Gefühl ist ihm alles. Es kommt ihm nur auf die Liebe des Paares an, das sich gemieden hat und sich erst findet, als der Mann seinen Verlust wahrhaft empfindet. Mit zwei Wildeschen Sätzen läßt sich dieser Glutkreislauf umschreiben: ‚Denn jeder mordet, was er liebt’ (aus der Zuchthausballade) und ‚Das Geheimnis der Liebe ist größer als das des Todes’ (aus der Salome). Ähnliches klingt bei Hardung an. Isanthe klagt einmal, es sei Frauenschicksal: ‚Das, was wir lieben, legt uns in den Sarg’; sie verlangt von ihrem Gemahl den Glauben an ihre Auferstehung. Liebe ist Auferstehung. Liebe brächte das Wunder zustande, eine Tote ins Leben zurückzurufen, auch wenn die Tote nicht durch ein Wunder am Leben geblieben wäre.“ – „Auf das empfindungsstarke, gedankentiefe Spiel der Liebe folgte eine altflämische Legende aus dem 15. Jahrhundert Lanzelot und Sanderein, in deutscher Bearbeitung von Friedrich Markus Hübner. […] Ungewöhnlich an dieser alten Moralität ist, daß nicht der Jungfrau, sondern dem Jüngling das Herze bricht vor Liebesschmerz. Ein bißchen peinlich für den modernen Hörer ist die unverblümte Art, wie die Fürstinmutter hier die Kuppelmutter macht (mit genauen Unterweisungen). Offenbar waren die Herrscherinnen von Dänemark bei den Dichtern der Zeit besonders schlecht angeschrieben (siehe Hamlet). Um so heiterer mutet die Unbefangenheit an, mit der sich der jagende Rittersmann über das fehlende Kränzchen seiner Erkorenen hinwegsetzt; einen gewissen Hebbel hat er nicht im entferntesten geahnt.“

Berliner Theater. NZZ, 3. November 1918, Drittes Blatt, Nr. 1464.
Reinhard Goering, Der Erste (Kammerspiele, 25.10.18). – „‚Trotz willig gereichter Kleinmünze der Anerkennung wird Reinhard Goering – stand hier am 13. März nach seiner Seeschlacht – noch zu erweisen haben, ob er ein Gestalter ist, wenn ihm der Vorwurf weniger Rückenlehne bietet. In der Kunst kommt es nicht darauf an, recht zu haben und im Augenblick von trunkenen Schildknappen recht zu bekommen; in der Kunst kommt es darauf an, recht zu behalten.’ [s.o. NZZ vom 13.03.18, Nr. 348] – Meine Besprechung des dramatischen Kriegsgedichts, die mit unerschütterlichem Freimut die Überzeugung äußerte, daß die behandelte Situation größer war als der Dichter, wurde mir von mancher Seite verübelt. Die Frau eines bekannten deutschen Malers, die sich damals in der Schweiz aufhielt, konnte es mir nicht verzeihen, daß ich mich für dieses Hohelied der Pflichttreue nicht zu begeistern vermochte. Ich vermag es auch heute nicht im landläufigen Maße. Die Ansicht hat sich bei mir befestigt, daß Skagerrak, nicht Goering den stärkeren Anteil an der nervenaufwühlenden Wirkung hatte. Er lasse seine Seeschlacht bei Trafalgar vor sich gehen, wo ihm die Gegenwart weniger unter die Arme greift, und dann mache er die Probe aufs Exempel, ob die Leute noch ebenso ergriffen sein werden. Im übrigen – ‚ich bin hier da, über meine persönlichen Eindrücke Rechenschaft zu geben’… – Sein  Opus 2, dachte man, wird zum Prüfstein seines Könnens werden. Das Opus 2 ist allerdings in vielen Fälllen ein Opus 1. Wer einen Erfolg davongetragen hat, kann die Schiebladen seines Schreibtischs entleeren; Verleger und Theaterdirektoren sind gleichermaßen auf seine (Schieb-)ladenhüter versessen, die wahrscheinlich ohne Bedenken vorher von ihnen abgelehnt worden wären. So liegt der Fall vermutlich bei dem Drama Der Erste, das wir in den Kammerspielen zu Grabe tragen durften. – […] Wo leuchtet in dieser Wirrnis ein Funke von ursprünglicher Begabung auf? Ohne den Verfassernamen Reinhard Goering, der jetzt schon eine geschützte Handelsmarke ist, wäre der Erste – ich nehme es auf meinen Diensteid – von keinem Verleger gedruckt, von keinem Bühnenleiter gespielt worden. Was nicht hindert, daß S. Fischer dem Buch, Professor Reinhardt der Aufführung seinen Segen erteilte.“

Berliner Theater. NZZ, 5. November 1918, Erstes Abendblatt, Nr. 1477.
Jean Racine, Phädra (Kleines Schauspielhaus, 31.10.18). – „Am Eingang des Krieges stand die Umfrage, ob man Shakespeare spielen dürfe. Am Ausgang spielt man, ohne zu fragen, Racine. Das eine war eine Verirrung, zum mindesten eine Gefühlsverwirrung. Das andere ist ein höchst überflüssiger Luxux, eine unzeitgemäße Geste, ein Fossil, ein verlorner Posten. Immerhin – keine Kunde drang zu uns, daß man während des Krieges in London ein Drama von Goethe aufgeführt habe, oder daß man jetzt in Paris Neigung verspüre, es etwa mit einem Stück Lessings zu versuchen. Wir Wilden sind doch seltsame Menschen. – ‚Racine, ein so großer Dichter, als je einer gelebt hat’ – urteilte Grillparzer vor weniger als acht Jahrzehnten. Wenn dem so wäre, müßte er noch eine Botschaft für die Gegenwart haben, zu allen Völkern sprechen. Die Größe eines Künstlers liegt in seiner ort- und zeitlosen Bedeutung. Der Racine der Phädra, die uns im Kleinen Schauspielhaus vorgesetzt wurde, ist ein Baumeister, ein Techniker, ein Wortprunkbold, kein Übermittler von Gefühlswerten. Man wird im besten Falle die Fassade fröstelnd bewundern. […] Für unbefangene moderne Hörer, auch wenn sie kunstgeschichtlich geschult sind, ist die Phädra zu einer Konservatoriumsangelegenheit, einer Museumsschönheit erstarrt. – Sie fußt auf dem Hippolytos des Euripides, und man hat Racine wohl den Euripides seines Zeitalters genannt. […] Vor zehn Jahren (es mag noch länger her sein) sah ich in London an einem Sommernachmittag diesen Hippolytos [s.o. VZ vom 04.06.04, Nr. 257]. Die Vorstellung, mit fürstlichen Geldern gestützt und von dem nie versagenden Geschmack der beiden Künstler Ricketts und Shannon überwacht, ist eine unverlierbare Theatererinnerung geworden: eine Wonne fürs Auge, ein Fest fürs Ohr. Wie Granville Barker, damals noch Schauspieler, den Botenbericht sprach – man vergißt es nie wieder. Wie Ben Webster dastand, von Hoheit und Anmut überströmt – so mögen die idealen Griechen ausgeschaut, so mögen sie sich bewegt haben. Wohlgemerkt: die Griechen, die sich unsere Einbildung nach den Werken eines Praxiteles und Skopas geschaffen hat. Dieser von den Bildhauern gemodelte Idealtyp ist keineswegs bei den Nachkommen der alten Hellenen, sondern merkwürdigerweise bei den modernen Engländern zu finden.“

Berliner Theater. NZZ, 8. November 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 1494.
Curt Goetz, Nachtbeleuchtung / Felix Salten, Auferstehung (Deutsches Künstler-Theater, 02.11.18). – Zu den drei Grotesken von Curt Goetz mit dem Titel Nachtbeleuchtung: „Stücke von Schauspielern haben im allgemeinen nicht höhere Geltung als Kapellmeistermusik. Ihr Gedächtnis tritt stärker zutage als die Inspiration; sie lehnen sich an bewährte Muster an und bringen technische Geschicklichkeit mit. Auch dieses Handwerk hat, bisweilen, einen goldnen Boden. Doch gibt es rühmliche Ausnahmen unter ihnen, wie etwa die dramatischen Arbeiten des abseitigen Friedrich Kayßler. Die Grotesken von Kurtz Götz stammen aus einer andern Zone. Sie setzen die parodistische Linie fort, die an den unvergessenen ‚Schall und Rauch’-Abenden von einem ausgelassenen Künstlervölkchen gepflegt wurde. Nette Einfälle, bühnensicher durchgeführt, bilden ihre Signatur; die Schnoddrigkeit der Form paßt zur Illusionslosigkeit des Inhalts.“

Berliner Theater. NZZ, 20. November 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 1523.
Hans Knobloch, Die Judasglocke (Kgl. Schauspielhaus, 06.11.18). – „Viel guten Willen wendet das Kgl. Schauspielhaus an die Entdeckung neuer Dramatiker. Ihm war, nach dem Urteilsspruch des Publikums, das Finderglück hold, als es das Erstlingswerk des jungen Grazers Hans Knobloch, Die Judasglocke, zur Uraufführung brachte. Sein dramatisches Reifezeugnis hat er unbestritten vorgelegt, und solche Mitgift will heute, wo jeder Gernegroß die Gesetze der Bühne mit Füßen tritt, schon etwas besagen.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19