Horst Schroeder

Theater-, Musik- und Filmkritiken im Dritten Reich

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1932 / 1933

Mannheim a. G. in Berlin. NZZ, 11. Februar 1933, Morgenausgabe, Nr. 258.
Paul Joseph Cremers, Die Marneschlacht (Nationaltheater Mannheim im Berliner Theater, 03.02.33). – „Mußte das sein? Mußte wirklich das Mannheimer Nationaltheater unter seinem Intendanten Herbert Maisch, weil es daheim mit der deutschen Tragödie Die Marneschlacht von Paul Joseph Cremers Erfolg hatte, gleich damit auf Reisen gehen und auch Berlin beglücken? Ja, wenn die Mannheimer für eine große Dichtung hätten werben wollen oder für große Darstellungskunst oder für einen neuen Schauspielstil! Aber das von ihnen protegierte Werk ist nur insofern außergewöhnlich, als es mit Theater und Kunst und Theaterkunst nichts, gar nichts zu tun hat, nichts zu tun haben will. Vielmehr ist es eine Seminarübung für Offiziersaspiranten oder ein strategisches Kolleg in der Kadettenanstalt. Gezeigt werden soll, gezeigt wird an Riesenleinwänden der Aufmarsch der deutschen Truppen vor Paris, die mitten im glorreichen Sieg zurückgenommen wurden, weil die Hirne der Heerführer nicht so schnell funktionierten wie die Beine der Grenadiere. Das deutsche Volk, die deutsche Armee, die deutsche Front vom General bis zum letzten Mann hat – nach Cremers – die Marneschlacht gewonnen; einzig die deutsche Oberste Heeresleitung hat sie verloren. Was ist das für eine Rabulisterei oder Sophisterei, die von Widersachern als typisch deutsche Mentalität ausgelegt wurde! Und warum versagte die Heeresleitung? Weil an ihrer Spitze ein schwerkranker Mann stand, dessen Nerven der gigantischen Aufgabe nicht gewachsen waren und der im kritischen Augenblick die Verantwortung auf den Oberstleutnant Hentsch abwälzte. Das war ‚schicksalhafte Fügung’ oder namenloses Mißgeschick oder (im Offiziersjargon) Riesenpech. Eine ‚Tragödie’ hätte sich daraus nur entwickeln lassen, wenn man den Tatsachen nicht mit der Genauigkeit einer Generalstabskarte gefolgt wäre, sondern sie für die Zwecke der Bühne nötigenfalls auch kühn um[ge]bogen hätte. Zur Beurteilung des Stückes ziehe man einen Strategen heran, keinen Kritiker. Der kann lediglich sagen, daß das Mannheimer Ensemble vortrefflich eingespielt war und daß die Darsteller samt und sonders die Uniform mit Anstand trugen, während die Masken nicht allzu ähnlich ausgefallen waren. Mehr zu geben, ist den Verkörpern solcher Panoptikumsfiguren ja kaum vergönnt. Trotzdem bereiteten die Berliner im Berliner Theater den Mannheimer Gästen einen respektvollen Empfang.“

Berliner Theater. NZZ, 2. März 1933, Morgenausgabe, Nr. 375.
Elisabeth Castonier, Die Sardinenfischer (Volksbühne, 21.02.33). – „Jahrhunderte hat sich die Frau, seit jener frühen Hroswitha, Zeit gelassen oder lassen müssen, ehe sie die Bühne zu erobern suchte; doch nachdem sie einmal in unsern Läuften Fuß darauf gefaßt hat, geht sie mit Macht aufs Ganze. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und spart auch nicht mit dem Feigenblatt. Kein Mann hätte eine krassere Milieuschilderung geben können, als Elisabeth Castonier es in ihrem Schauspiel Die Sardinenfischer getan hat. Brutal die Handlung, brutal die Sprache. Der gefürchtete ‚Monsieur’, Inhaber der größten Sardinenpackerei in einem Pyrenäennest am Mittelmeer, zahlt seinen minderjährigen Angestellten Hungerlöhne und vergeht sich überdies an ihnen – ein Scheusal in Menschengestalt oder, wie man in des Ahnherrn Zola Tagen gesagt hätte, une bête humaine. Auch die kleine Angèle ist von ihm im Rausch genommen worden und bringt nun am Meeresstrand, mit Hilfe ihres Brackenburg [einer Figur aus Goethes Egmont], ein Kind zur Welt, das es indes vorzieht, sich gleich wieder zu trollen. Auf diesen ersten Teil mit schwärzestem Naturalismus (Zola) folgt ein zweiter voll rosenroter Romantik (Dickens). Angèle geht in die Stadt, sich zu verdingen, und kommt zu einem feinen herzkranken alten Junggesellen, der solches Gefallen an ihr findet, daß er sie zu seiner Universalerbin einsetzt. Die ganze Zeit über war Angèle nur von dem einen Gedanken der Rache an ihrem ehemaligen Peiniger beherrscht. Jetzt hat sie Mittel in der Hand, ihn geschäftlich zu ruinieren. Doch als sie nach Hause kommt, findet sie ihr geliebtes Schwesterchen in demselben Zustand, wie sie es war. Da geht sie hin und erschlägt den Unhold mit einer Eisenstange. Diese Szene, um derentwillen es sich vielleicht gelohnt hätte, zur dramatischen Form zu greifen, wird erzählt und enthüllt so die Verfasserin als geborne Nicht-Dramatikerin. – Mit etwas gemischten Gefühlen sah man dieses Stück unter dem Patronat der Volksbühne. Als mildernder Umstand konnte höchstens gelten, daß Luise Rainer in einer großen Rolle herausgestellt werden sollte. Die blutjunge Künstlerin fand fast so schnell Anschluß und Anerkennung wie ihre Kollegin Wessely. Mit solchem Nachwuchs kann das deutsche Theater nicht untergehen.“

Berliner Theater. NZZ, 8. März 1933, Morgenausgabe, Nr. 412.
Richard Billinger, Rosse (Staatl. Schauspielhaus, 01.03.33). – „Am Premierenabend soll, den Zeitungsberichten zufolge, Richard Billingers Schauspiel Rosse starken Erfolg gehabt haben. Wer, durch die gleichzeitige Wiedereröffnung des Deutschen Theaters verhindert, erst der zweiten Aufführung im Staatlichen Schauspielhaus beiwohnen konnte, war überrascht, wie lau das Werk aufgenommen wurde. Man spürte förmlich, daß die Hörerschaft an dem behandelten Konflikt geringen seelischen Anteil nahm – übrigens eine Erscheinung, die sich neuerdings öfter wiederholt: daß das unprofessionelle Publikum weitaus kritischer eingestellt ist als das Parkett von Berufskritikern. Wieder sind wir in Billingers Heimat an der oberösterreichischen Grenze, wo sich heidnische Bräuche noch lebendig erhalten haben [vgl. MMs Besprechung von Billingers Rauhnacht in der NZZ vom 28.12.31, Nr. 2498]. Das Inntal wird dieses Dichters Schlesien. Wieder huschen unmotiviert spukhafte Gestalten die Menge herein und müssen der stockenden Handlung das Regionalkolorit geben. Diese läßt sich in einen Satz zusammenfassen: der Roßknecht Franz Zinnhobel, der treuste Wärter seiner fünfzehn Ackergäule, gerät außer sich, weil der Großbauer einen Teil der Pferde durch landwirtschaftliche Maschinen ersetzen will, versteht die Welt nicht mehr und hängt sich im Stall auf. Daß er wegen seines störrischen Wesens entlassen werden soll, das geht ihm nicht sonderlich nahe; daß aber Maschinen die bisher von seinen geliebten ‚Rössern’ geleistete Arbeit verrichten sollen, das will ihm schier das Herz verbrennen. Die Schicksalsverbundenheit zwischen Mensch und Tier soll auf diese Weise zum Ausdruck kommen; doch im rückständigen Oberösterreich so wenig wie im entlegensten Hinterpommern dürfte sich noch ein Knecht auftreiben lassen, der nicht auch die Wohltat der Maschine gesehen und eingesehen hätte. Die dürftige Handlung, ursprünglich für einen Einakter ausreichend, wird mit nahezu drei Dutzend Episodenfiguren ausstaffiert. Sie sind mit der Härte des Holzschnitts hingesetzt, ohne jedoch immer von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. Den tiefsten Eindruck hinterläßt ein Dorfkomödiantenpaar, das dem Knecht in seinem Stall Verse aus einem Passionsspiel aufsagt (von Lina Lossen und Bernard Minetti ergreifend gesprochen). Der Hauptdarsteller Walter Franck füllt die Klöpfer-Rolle des Knechts körperlich nicht ganz aus und muß sich zu einer Tumbheit zwingen, die seinem Wesen ferner liegt. Höchste Anerkennung gebührt dem Regisseur Leopold Jeßner, der – bei so viel Mitwirkenden keine Kleinigkeit – fast die Einheitlichkeit des Dialekts zustande brachte. Diese Inszenierung des ehemaligen Intendanten war sein Schwanengesang am Staatstheater; als Belcantist ist er abgetreten.“

Wiedereröffnung des Deutschen Theaters. NZZ, 12. März 1933, Erste Sonntagausgabe, Nr. 436.
Pedro Calderón de la Barca [Bearb. Hugo von Hofmannsthal], Das große Welttheater (Deutsches Theater, 01.03.33). – „In Deutschland hängt zurzeit der Himmel voll schwarzer Wolken, in Berlin zumal weisen viele Anzeichen auf Sturm – da will es etwas besagen, daß zwei Männer – Carl Ludwig Achaz und Heinrich Neft – den Mut finden, die Leitung des von ihren unmittelbaren, der Mittel baren Vorgängern heruntergewirtschafteten Deutschen Theaters zu übernehmen. Sehr schwer muß die Wahl des Eröffnungsstücks gewesen sein; denn wenn der Geschmack des Publikums schon immer als die Größe x in die Rechnung einzustellen war, so ist er jetzt noch unberechenbarer, noch irrationaler geworden. Man entschied sich für das in Salzburg oft erprobte geistliche Spiel von Calderon: Das große Welttheater, das Hugo v. Hofmannsthal in der ihm eigenen Art neu geformt hat. Für Berlin wurden die musikalischen Bestandteile des Werkes vermehrt, indem der erste Engel und die ‚Schönheit’ durch Mark Lothar zu reinen Gesangspartien ausgestaltet wurden. Auf das stimmungsfördernde Moment des Kircheninnern mußte man natürlich fern von Salzburg verzichten; doch Oskar Strnad hatte eine prunkvolle Barockhalle gebaut, in der sich das sakrale pageant zwanglos abrollte. Ohrenschmaus und Augenweide verbanden sich unter Reinhardts ebenso subtilen wie sublimen Händen. Auf dem Gebiet der Mischung vieler Gattungen, wo das Drama beständig in die Oper oder das Oratorium überfließt, ist er unerreichter Meister. Aber das Seelische vermochte selbst er, der große Zauberer der Szene, nicht hervorzuzaubern, obwohl er beste Schauspielkräfte zur Verfügung hatte. Und so bleibt es die Frage, ob Calderons katholische Welt ihre Anziehungskraft im protestantischen Norden erweisen wird.“

Berliner Theater. NZZ, 15. März 1933, Mittagausgabe, Nr. 461.
Max Alsberg, Konflikt (Theater in der Stresemannstraße, 09.03.33). – „Alsberg, Max, Dr., Prof., Berlins begehrtester und bewährtester Verteidiger in Strafrechtssachen, daneben juristischer Wissenschaftler, der an der Universität Vorlesungen hält, strebt außerdem (woher nimmt der Vielbeschäftigte nur die Zeit?) nach dem Lorbeer des Dramatikers. Sein Erstling Voruntersuchung vor drei Jahren war noch kein Volltreffer [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 06.11.30, Nr. 2146]; sein Op. 2: Konflikt, das der Mitarbeit Otto Ernst Hesses entraten zu können glaubte, wurde es, wenigstens soweit es sich um den äußern Erfolg im Theater in der Stresemannstraße handelte. Die zahlreich versammelten Juristen erschienen durchaus befriedigt; die Kritiker werden etliche Einwendungen schwer unterdrücken können. Zur Erörterung steht die schon von Galsworthy, auch einem Juristen, in Gesellschaft gestreifte Frage: darf ein Anwalt die Verteidigung eines Mandanten übernehmen, obwohl er weiß, daß dieser schuldig ist? Wenn uns Laien diese Frage näher gehen soll, müssen uns die Menschen, um die es sich dreht, etwas bedeuten. Aber was ist uns diese zum zweitenmal verheiratete Frau, die ihren gewalttätigen Trinker von Mann keineswegs durch einen unglücklichen Zufall, sondern mit Vorsatz erschießt? Was ist uns ihr siebzehnjähriger Sohn, der schön Klavier spielt und gegen den Willen seines Adoptivvaters, eines Ofenfabrikanten, Musiker werden will? Alsbergs Kunst der Menschenzeichnung ist geringer als die Geschicklichkeit der Problemstellung. Er benötigt drei Bilder, bis er zur Kernfrage vorstößt, und in diesen drei Bildern kommen uns die Hauptpersonen nicht näher. Viel mehr aus dem Leben gegriffen oder zum Leben erweckt sind zwei Nebenfiguren: ein Winkelkonsulent und ein Knote von Geschäftsmann. Um seine Kaffernart darzutun, muß er Klinger noch für einen Lebenden, Liebermann für einen Bildhauer, d’Albert (mit falscher Aussprache) für einen Geiger halten. Ist das nicht ein bißchen für die Galerie gemalt? Am meisten von sich selbst gibt Alsberg, wenn er seinen großen Bühnenkollegen auseinandersetzen läßt, wie seine hinreißenden Plädoyers entstehen. Das wurde von Bassermann mit so visionärem Schwung vorgetragen, daß er den stärksten Beifall des Abends für sich buchen konnte. Seine Partnerin, Tilla Durieux, machte nur Theater. Dieser ehemalige Vamp der Sprechbühne scheint für Muttergefühle kaum die geeignetste Darstellerin. Zum Schluß wurde der Verfasser sehr gefeiert.“

Berliner Theater. NZZ, 23. März 1933, Abendausgabe, Nr. 522.
Richard Hülsenbeck u. Günter Weisenborn, Warum lacht Frau Balsam? (Deutsches Künstler-Theater, 14.03.33); William Somerset Maugham, Für geleistete Dienste (Komödie, 16.03.33). – „In einer der letzten Nummern des Simplicissimus wird, als Unterschrift zu einem Bild, das Schmuggeln ein Beruf genannt, an dem sich leichter sterben als von dem sich leben lasse (so ungefähr). [In der Nr. 50 vom 12.03.33 heißt es unter der Karikatur ‚Schmugglerphilosophie’: „Siehst du, mein Junge, das ist der Haken: vom Schmuggeln kann man schwer leben, aber leicht sterben!“] Daß sich von ihm auch leben und sogar in Freuden, wenn auch nicht ohne Gefahren, leben läßt, zeigt die an der deutsch-böhmischen Grenze beheimatete Schmugglerkomödie Warum lacht Frau Balsam? von Richard Hülsenbeck und Günter Weisenborn. Besagte Frau Balsam (mit Vornamen: Ziska) ist eine Großunternehmerin des Schmuggelhandels; bald hat sie den gleichfalls vom Schmuggel lebenden Herrn J. A. Abel zum Partner, bald zum Konkurrenten. Gemeinsam wollen sie mit Hilfe eines Panzerautos einen großen Coup ausführen; er gelingt, Herr Abel hat das Nachsehen, und Frau Balsam kann lachen. Neben ihrer geschäftlichen Tüchtigkeit ist Frau Ziska noch eine tüchtige Männerkonsumentin. Wie sie den kleinen Otto Sonntag in ihre Netze zieht, das wird zur saftigsten und lustigsten Szene der Komödie. Sonst ist sie bei so karger Handlung ein wenig breit ausgesponnen, und es fehlt ihr wohl auch die letzte Präzision; aber Menschen und Milieu sind ergötzlich hingestellt. Warum das Publikum im Deutschen Künstlertheater dagegen mit Pfeifen vorging, ist um so unverständlicher, als der Regisseur Moriz Seeler alle Lachmöglichkeiten ausschöpfte und Agnes Straub eine grandiose Gestalt von fast überlebensgroßem Format schuf. Auch sonst wurde vortrefflich gespielt und der niederrheinische Dialekt – falls sich das sagen läßt – köstlich gemundhabt. Frau Balsam hätte den erregten Gemütern eher Balsam als Zündstoff zum Krakeelen sein sollen. Die zweite Vorstellung fand übrigens nicht mehr statt. ● Durchaus einmütigen Beifall fand in der Komödie das mit Bitterkeit bis zum Rande gefüllte Nachkriegsstück Für geleistete Dienste von W. Somerset Maugham; Stück und Darstellung verdienten ihn gleichermaßen. Seht her, ruft der Dichter – denn Maugham ist mehr als ein blendender Techniker –, so behandelt England seine Kriegshelden. Der eine ist blind zurückgekehrt und empfindet das Dasein im Schoße der Familie nur noch als Last. Der andere, sein Schwager, ist dem Trunk ergeben, treibt Landwirtschaft und stellt der jüngern Schwester seiner Frau nach. Ein dritter, gewesener Marineoffizier, hat eine Garage aufgemacht, windet sich, geschäftsuntüchtig wie er ist, in Schulden und vermag eine verhältnismäßig geringe Summe nicht aufzubringen, weswegen er zum Revolver greift. Ganz so verheerend machen sich die Folgen des Krieges für die Frauen bemerkbar. Da sind drei Töchter einer Familie: die älteste ist mit jenem Trunkenbold unglücklich verheiratet; die zweite welkt dahin, weil sie sich in Sehnsucht nach dem Manne verzehrt, und wird wahnsinnig, als sie vom Tode des Geliebten erfährt; die dritte, außer von ihrem Schwager auch noch von einem ältlichen Ehemann verfolgt, ist drauf und dran, zu straucheln. Rechnet man noch hinzu, daß bei der Mutter, die eine Operation standhaft ablehnt, Krebs festgestellt wird, so kommt man selbst um die Feststellung nicht herum, daß hier des Leidvollen, des Qualvollen zu viel angehäuft ist. Und nirgends ein Silberstreif am Horizont. Weniger hätte ja nicht weniger überzeugend zu sein brauchen. Doch von diesem Einwand abgesehen, liegt hier ein überaus wirkungsvolles Gesellschaftsdrama vor. Und dazu eine Fülle guter Rollen, nach denen sich die Schauspieler die Finger lecken. Unter Leitung von Robert Klein kam eine glanzvolle Aufführung zustande, wie aus Berlins besten Theatertagen. Si fractus illabatur orbis [‚Selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt’ (Horaz, Oden, III. iii. 7)] – die Kunst soll nicht zuschanden werden. Unvergeßlich bleibt Käthe Haack. War sie bisher bloß eine Repräsentantin des Lieblichen, so hat sie sich jetzt mit dem, was man früher Wolter-Schrei nannte, als tragische Künstlerin von hohen Graden erwiesen.“

Berliner Theater. NZZ, 3. April 1933, Abendausgabe, Nr. 603.
Jochen Huth u. Friedel Joachim, Ein Fußbreit Boden (Deutsches Künstler-Theater, 28.03.33); Maxim Ziese, Siebenstein (Staatl. Schauspielhaus, 29.03.33). – „Brüder haben sich nicht selten in gemeinsamer Arbeit an einem Theaterstück zusammengefunden: die Brüder Goncourt, die Brüder Sitwell, die Brüder Schönthan, die Brüder Capek, um nur einige wenige zu nennen. Aber wann hätten je Mann und Frau zusammen ein Theaterstück verfaßt? Das berühmteste schreibende Ehepaar der Weltliteratur sind noch immer Elizabeth Barrett und Robert Browning, und sie kamen sich nichts ins Gehege, wie Strindbergs Kameraden. – Jetzt haben die miteinander verheirateten Jochen Huth und Friedel Joachim sich zu einem Lustspiel Ein Fußbreit Boden verbunden, das die Nöte der heutigen Jugend antippt. Lisa macht beherzt einen Modesalon auf – ohne Angestellte, mit einem Kostüm im Schaufenster. Und just zu ihr geht ein Filmstar, um Garderobe zu bestellen. Nun hat Lisa den ersten Auftrag; doch sie hat leider kein Geld, ihn auszuführen. Mangel an Betriebskapital wird zur Wurzel alles Übels. Mittellos, wie Lisa ist (mit 2 Mark 50 in der Tasche), geht sie resolut in ein Tanzlokal und bestellt alten Burgunder. Hier trifft sie einen Bankier, der von sich selbst sagt, daß er an Hemmungen leide, und nimmt in dessen Abwesenheit, als er zum Telephon gerufen wird, seine Brieftasche an sich. Auch ihr Freund, ein Werkstudent, erleichtert diese um einen stattlichen Betrag. Die jungen Leute können, wie man sieht, mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt kommen; aber es handelt sich ja um ein Lustspiel, und da soll man die Handlung und die Handlungen nicht so genau nehmen. Wenn ein Gerichtsvollzieher erscheint mit dem Auftrag, das Telephon zu sperren, und mit so gutem Herzen, daß er die paar Mark am liebsten selbst vorstrecken würde, und voll Bereitwilligkeit, für die säumige Schuldnerin aus dem Fenster zu springen, so ist es nicht mehr weit zur Operette und zum Duett mit der Ladeninhaberin. Es wird uns nicht ganz leicht gemacht, die Modistin und ihren teppichklopfenden Studenten als Vertreter der heutigen Jugend gelten zu lassen, denn von ihren geistigen Kämpfen erfahren wir kaum etwas. Das Publikum im Deutschen Künstlertheater hatte indes seine Freude an dem unbeschwerten Spiel und bereitete namentlich der Darstellerin Maria Paudler einen guten Erfolg. ● In ungleich höhere Sphären führt uns das Drama Siebenstein von Maxim Ziese. Als Motto steht darüber: ‚Überall, wo etwas für Deutschland getan werden muß – dort liegt Siebenstein.’ Ein mythischer Ort also, der auf keiner Landkarte zu finden ist, der im Blute liegt. Was der ‚fremde Mann’ für Ibsens Frau Ellida, das ist ungefähr der Offiziersbursche Philipp für den Leutnant Feuerstaak, der zermürbt aus dem Kriege heimgekehrt ist. Der ehemalige Rechtsanwalt, jetzt, wie er selbst sagt, zur Bande der Erfolglosen gehörend, beschäftigt sich, statt mit Akten, mit Laubsägearbeiten und reitet auf seinen zerrütteten Nerven herum. Jedesmal, wenn er vor einer wichtigen Entscheidung steht, platzt der Bursche herein – wohl als Personifikation des Kriegserlebnisses gedacht, das nicht aus dem Blute zu reißen ist. Er erzählt von der wandernden Höhe 103 (bei Loretto), die sich auf den Marsch gemacht habe und nach Siebenstein verzogen sei. Auf seinen Wink erscheinen später die von der ganzen Kompagnie noch übrigen drei Mann. Die alten Frontkämpfer haben einen neuen Strauß zu bestehen mit der unbotmäßigen Jugend, die zum mindesten ihre Unverbrauchtheit voraus hat. Feuerstaak geht allein auf Patrouillengang und kehrt nicht zurück. – Solange Greifbares geschieht, lassen sich aus Zieses symbolträchtigem Drama Funken herausschlagen; je mehr es sich dem Unbegreifbaren nähert, desto nebuloser wird das Theaterstück. Der Regisseur Fehling hatte den ersten Akt meisterhaft geballt und gesteigert; nachher fiel er mitunter in seine alte Vorliebe für extremes Ausspielen der Szene. Aus der vorzüglichen Aufführung ragte Bernhard Minetti hervor – ein Bursche von unheimlicher Realität und wirklicher Spukhaftigkeit. Hier wächst eine Kraft ersten Ranges heran, die sich mit jeder neuen Leistung mehr legitimiert. Neben ihr behauptete sich Lothar Müthel in Ehren. Die Hörer wollten im Staatlichen Schauspielhaus anfänglich nicht recht anbeißen und spendeten erst zum Schluß ausgiebigeren Beifall.“

Berliner Theater. NZZ, 9. April 1933, Erste Sonntagausgabe, Nr. 641.
Kurt Kluge, Ewiges Volk (Deutsches Theater, 04.04.33). – „Zwei Schweizer Künstler standen in vorderster Linie des deutschen Schauspiels Ewiges Volk von Kurt Kluge, das den Abwehrkampf der Kärntner gegen den Einmarsch der Serben, vom Herbst 1918 angefangen bis zum Friedensschluß, in zehn Bildern aufrollt: Hans Rehmann, der die Hamletnatur eines Leutnants gab, und Heinrich Gretler, der einen serbischen Wirt und Spion mit prallem Leben füllte. Rehmann war ganz der Offizier, dem sich Heer und Volk anvertrauen; auch daß ihm ein Frauenherz zuflog, nahm nicht wunder. Gretler hatte die schwerere Aufgabe, einen Serben schon durch die Sprache zu charakterisieren. – Ewiges Volk – man denkt an das Kriegsstück Volk in Not von Karl Schönherr [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 27.04.17, Nr. 747], und man wird dem Verfasser, der im Hauptberuf Erzgießer ist, vielleicht am ehesten gerecht, wenn man ihn in die Nachbarschaft des Tiroler Volksdramatikers rückt, ohne daß er freilich über dessen szenischen Furor verfügte. Mit seinem ersten in Berlin aufgeführten Theaterstück hat Kluge eine durchaus gediegene, gesinnungsstarke, saubere Arbeit geliefert, welche die Liebe zur Heimat verherrlicht und die Schicksalsverbundenheit von Bauer und Soldat aufzeigt. Fortzureißen, zu entflammen vermag er hier noch kaum. Nur in einer Szene packt er unmittelbar ans Herz: wenn der General, der eine Gehorsamsverweigerung der Truppe feststellen muß, den Waffenrock auszieht und den Bauernkittel anlegt. – Es ist im Stück einmal vom Fingerspitzengefühl für die Bedürfnisse der Gegenwart die Rede. Dieses Gefühl hat offenbar die Direktion des Deutschen Theaters geleitet, und sie sah ihre Wahl durch einen schönen Erfolg belohnt.“

Vom Berliner Staatstheater. NZZ, 19. April 1933, Morgenausgabe, Nr. 701.
Die neue Leitung des Staatl. Schauspielhauses: Franz Ulbrich (Intendanz) und Hanns Johst (Dramaturgie). – „Aller Augen, soweit ihnen die Kunst überhaupt noch etwas bedeutet, sind auf das Staatliche Schauspielhaus in Berlin gerichtet. Nicht nur, daß es sich selbst an Haupt und Gliedern erneuert – von hier soll auch die Erneuerung des gesamten deutschen Theaters ausgehen. – An der Spitze werden künftig zwei Männer stehen: der Intendant Dr. Franz Ulbrich, der aus Weimar kommt, und der Dramaturg Hanns Johst, woraus zu schließen ist, daß der Dramaturg erweiterte Machtvollkommenheit erhalten hat. Über ihre Pläne für die nächste Spielzeit haben sie sich kürzlich geäußert. Sie gedenken, im Verlauf der kommenden Spielzeit ungefähr fünfzehn Stücke herauszubringen. Die Pflege des klassischen Dramas soll am Gendarmenmarkt nicht vernachlässigt werden. So sind zunächst in Aussicht genommen worden: Kleists Hermannsschlacht, Shakespeares Julius Cäsar und Calderons Leben ein Traum (in Berlin seit Matkowskys Tagen nicht mehr gegeben) in einer Neubearbeitung durch Wilhelm v. Scholz. Selbstverständlich wird der größte Teil des Spielplans von lebenden deutschen Autoren bestritten. Neben den Jungen, die es zu entdecken gibt, sollen auch Ältere aufgeführt werden, die ins Hintertreffen oder nicht auf den ihnen gebührenden Platz gelangt sind. Man findet darunter Namen wie Herbert Eulenberg, Emil Strauß, Adolf Paul, Kolbenheyer. – Es ist interessant, zu erfahren, daß dem Staatstheater annähernd 450 Stück für die nächste Spielzeit eingereicht worden sind, was erweist, daß die Dramenproduktion in Deutschland trotz abnehmender Aufführungsmöglichkeit noch keineswegs nachgelassen hat. Diese 450 Stück auch nur zu lesen, ist eine Herkulesarbeit, eines Mannes Kraft weit übersteigend. Bei der Sichtung dürfte wegweisend ein Ausspruch Goethes (in den Unterhaltungen mit Eckermann) sein: ‚Es kommt darauf an, daß der Dichter die Bahn zu treffen wisse, die der Geschmack und das Interesse des Publikums genommen hat. Fällt die Richtung des Talents mit der des Publikums zusammen, so ist alles gewonnen.’ [24.02.1825] – Die erste, nicht die leichteste Aufgabe, die der neuen Männer harrt, ist die Zusammenstellung des Schauspieler-Ensembles. Von den vorhandenen Kräften wird ein beträchtlicher Teil beibehalten; hinzukommen sollen einige Sterne erster Ordnung. So verhandelt man mit einer Künstlerin wie Lucie Höflich, mit Künstlern wie Bassermann, Werner Krauß und Kayßler. Da die Konkurrenz anderer Bühnen kaum noch in Betracht kommt, ist fast mit Sicherheit anzunehmen, daß die Unterhandlungen zum Ziele führen werden. – Im übrigen gilt heute noch, was Dr. Ulbrichs berühmtester Weimarer Vorgänger vor mehr als hundert Jahren gesagt hat: ‚Es ist ein großer Irrtum, wenn man denkt, ein mittelmäßiges Stück auch mit mittelmäßigen Schauspielern besetzen zu können. Ein Stück zweiten, dritten Ranges kann durch Besetzung mit Kräften ersten Ranges unglaublich gehoben und wirklich zu etwas Gutem werden. Wenn ich aber ein Stück zweiten, dritten Ranges auch mit Schauspielern zweiten, dritten Ranges besetze, so wundere man sich nicht, wenn die Wirkung vollkommen null ist.’ [Eckermann, Gespräche mit Goethe, 14.04.1825].“

Berliner Staatstheater. NZZ, 25. April 1933, Abendausgabe, Nr. 742.
Hanns Johst, Schlageter (Staatl. Schauspielhaus, 20.04.33). – „Neulich [am 19.04.] war hier ein Ausspruch des Ex-Theaterdirektors Goethe zitiert: ‚Es kommt darauf an, daß der Dichter die Bahn zu treffen wisse, die der Geschmack und das Interesse des Publikums genommen hat. Fällt die Richtung des Talents mit der des Publikums zusammen, so ist alles gewonnen.’ Ein solcher Glücksfall war gegeben mit dem Schauspiel Schlageter von Hanns Johst, das am Geburtstag des Reichskanzlers im Berliner Staatstheater seine Uraufführung erlebte. Die Richtung der Dichtung traf den Geschmack des Publikums und hielt sein Interesse fest. – Es muß schwer, sehr schwer sein, einen Zeitgenossen zum Helden eines Dramas zu machen und Vorgänge, die noch in aller Erinnerung leben, als Dichtung zu behandeln. Wahrlich, Hanns Johst hat es sich nicht leicht gemacht. Sein Leutnant Albert Leo Schlageter, der, noch nicht dreißigjährig, von den ins Ruhrgebiet einmarschierten Franzosen als ‚Saboteur’ erschossen wurde, ist ein von des Gedankens Blässe angekränkelter Held, ein Hamletino oder, wie man früher sagte, eine problematische Natur. Fremd ist er aus dem Weltkrieg heimgekehrt, beteiligt sich noch an den Kämpfen im Baltikum, in Oberschlesien und zieht dann den Soldatenrock aus, um akademischer Bürger zu werden. Er studiert Nationalökonomie, was sein Denken nicht hemmt, oft von der Wissenschaft zu dem Rechte nach politischer Betätigung abzuschweifen. Es geht um die ‚Aktivierung’ des von der deutschen Regierung angeordneten passiven Widerstands, nachdem die Franzosen im Rheinland stehen. Schlageter schwankt und zaudert, selbst eine Entscheidung zu treffen. Sein Gefühl will einen Befehl. ‚Wo ist die Befehlsstelle, die mir meinen Posten gibt?’ schreit er auf, der wohl ein Stürmer, aber kein Drauflosstürmer ist. – In der Zwiespältigkeit seiner Empfindungen wendet er sich an einen General (er bleibt anonym, heißt Exzellenz X.), um seinen Rat einzuholen. Es ist die beste oder die dialektisch am schärfsten geschliffene Szene, in der sich der alte und der junge Kriegsmann gegenüberstehen. Natürlich sympathisiert der General mit der Jugend, aber sein Verstand sagt nein, so vernehmlich sein Herz auch Ja sagt. Nun hat Schlageter seinen ‚Rückhalt’, seine ‚Sicherung’ gefunden. Und es ist die Krönung seiner Sache, daß der junge Sohn des sozialdemokratischen Regierungspräsidenten zu ihm übergeht, ‚nicht, weil  er der letzte Soldat des Weltkriegs, sondern weil er der erste Soldat des Dritten Reiches ist.’ – Was danach folgt, steht weder dramatisch noch dichterisch auf gleicher Höhe. Die Zusammenkunft der ehemaligen Kameraden, welche die Einzelheiten der Sabotageakte besprechen, treibt die Handlung nicht aufwärts, und die eingefügten Liebesszenen sind etwas bläßlich geraten. Nicht jede Alexandra wird ein Clärchen. Johst hat auf die Gerichtsszene – ein nie versagender Trumpf – verzichtet; ihr Ergebnis wird telephonisch mitgeteilt – eine moderne Form der Teichoskopie, sofern ein vom Visuellen ins Akustische verlegter Bericht sich so nennen läßt. Dagegen wird Schlageters Erschießung zum Schluß gezeigt. – Mit der Inszenierung dieses Werkes seines ersten Dramaturgen hat der Intendant Dr. Franz Ulbrich seine Tätigkeit am Berliner Staatstheater begonnen. Selbstloser Dienst am Werke muß ihr nachgerühmt werden, wenn sich auch noch keine scharf umrissene Physiognomie ausprägte. Für die Hauptrolle des Schlageter trat Lothar Müthel ein: sehr gesammelt, sehr zergrübelt, aber man hätte sich den Darsteller vielleicht zehn Jahre jünger gewünscht, sagt doch Schlageter von sich selbst, er sei jung, radikal, gläubig. Auch die Geliebte in der ansprechenden Verkörperung durch Emmy Sonnemann wirkte zu fraulich. Eine Anzahl von Nebenfiguren war hervorragend vertreten, doch den Triumph des Abends heimste Albert Bassermann ein, der den General mit zeitloser, ewiger Schauspielkunst gab; zweimal umrauschte ihn Beifall auf offener Szene. Sonst wurden die Beifallsäußerungen in der zweiten Aufführung, der Ihr Referent beiwohnte, sowohl nach dem ersten wie dem dritten Akt zurückgehalten.“

Tell in Berlin. NZZ, 8. Mai 1933, Abendausgabe, Nr. 834.
Friedrich von Schiller, Wilhelm Tell (Deutsches Theater, 05.05.33). – „Vielen Menschen ist Schillers Wilhelm Tell das erste Theatererlebnis, und das haftet im Gedächtnis, fast so stark wie das erste Liebeserlebnis. Sie mögen vorher vielleicht schon ein Weihnachtsmärchen, ein Ballett oder eine Clownerie gesehen haben – der Tell ist gewöhnlich, falls ihm nicht Minna von Barnhelm den Rang streitig macht, die erste Abendvorstellung, zu der das Jungvolk mitgenommen wird. Er ist ja auch oder war wenigstens zu meiner Zeit das erste klassische Drama, das in der Schule gemeinsam gelesen und besprochen wurde. – Die ungeheure Popularität des Tell hat nie die geringste Einbuße erfahren. Im Frieden und im Krieg hat er stets die Gemüter entflammt. Auch die matteste Aufführung vermag dem Schwung des Dichterwortes nicht ernstlich Abbruch zu tun. Es ist seltsam: man erinnert sich nicht, im Zeitraum von 4½ Jahrzehnten eine wirklich schlechte Aufführung erlebt zu haben – aus dem einfachen Grunde, weil es vielleicht keine schlechte Aufführung des Tell geben kann; selbst Johann Lumpe fröhlichen Angedenkens könnte die Apfelschußszene nicht um ihre grandiose Steigerung und ergreifende Wirkung bringen. [Johann Lumpe war Leiter einer Wandertruppe aus Dobern bei Bensen in Böhmen, der im Winter 1897 in Berlin mit seinem Schmierentheater von sich reden gemacht hatte.] – Dagegen erinnert man sich dankbar einer Reihe außergewöhnlicher Leistungen. Bis zur Jahrhundertwende hat den ‚Tell’ im Kgl. Schauspielhaus Joseph Nesper gegeben, ein alter Meininger ‚von echtem Schrot und Korn’ [von 1884-1917 am Kgl. Schauspielhaus Berlin engagiert]. Es folgten dann Arthur Kraußneck (später der herrlichste Attinghausen) [vgl. MMs Hommage an Kraußneck zu seinem 80. Geburtstag (NZZ vom 23.04.36, Nr. 689)], der edle Sommerstorff [vgl. MMs Nachruf in der NZZ vom 13.02.34, Nr. 256] und elementar wie ein Naturereignis, Adalbert Matkowsky [vgl. MMs Nachruf in der NZZ vom 19.03.09, Nr. 78]. Bassermann konnte seiner intellektuellen Natur gemäß kein Ideal-Tell sein [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 18.12.19, Nr. 1990], und Werner Krauß, der letzte Tell, den man in Berlin sah, ließ zu sehr das Format des Helden vermissen [in Fehlings Inszenierung vom 08.10.32 im Staatstheater]. Entweder man ist Tell oder man ist es nicht. Ist man es, so hat man gewonnenes Spiel; ist man es nicht, so wird auch das vollendetste Spiel kaum den Sieg davontragen. Ein Problem ist die Darstellung des Tell für den Schauspieler eigentlich nicht. Wesentlich problematischer gestaltet sich die Darstellung zweier anderer Rollen: des Geßler und des Melchthal. Als Bassermann im Berliner Theater den Bösewicht spielen sollte, glaubte er, ihm nur gerecht zu werden, indem er ihn besoffen gab [am 29.05.96]. So entmenscht kann ja kein Mensch sein, sagte sich der Künstler offenbar: diese Lust am Quälen ist so pathologisch, daß man das Ungetüm unter dem Einfluß des Alkohols zeigen muß. Also torkelte und lallte Bassermanns Geßler. Das Publikum indes opponierte gegen diese Auffassung, und Bassermann mußte Zischsalven über sich ergehen lassen, was ihm gewiß in seiner langen Künstlerlaufbahn nicht oft begegnet ist. Einen durchaus überzeugenden Vogt sahen wir zuletzt von Bernhard Minetti: der gab ihn als asketischen Sadisten oder sadistischen Asketen mit gläserner Schärfe des Wortes [in Fehlings bereits genannter Inszenierung vom 08.10.32]. Die Schwierigkeit in der Darstellung des Melchthal liegt auf sprachtechnischem Gebiet. Mitten im tiefsten Seelenschmerz soll er eine Tirade oder eine ‚Arie’ über das Augenlicht sprechen. Das vermögen unsere durch die Schule des Naturalismus gegangenen Schauspieler nicht mehr. Entweder sie bringen den Schmerz zum Ausdruck oder die schönen Worte. Beides zugleich – das ist ihnen nicht mehr möglich. Man hilft sich so, daß man den breiten Gefühlserguß kappt. Tatsächlich ist es einmal vorgekommen, daß nur die erste Zeile: ‚O, eine edle Himmelsgabe ist das Licht des Auges’ stehen blieb. ● Was gab der neuen Aufführung des Tell im Deutschen Theater ihre Bedeutung? Daß sie in schicksalsschwerer Zeit und an schicksalsschwerer Wende des ruhmreichsten deutschen Privattheaters stattfand. Wie erwartet, tat Schiller vollauf seine Schuldigkeit; wie erwartet, sprang vom historischen Freiheitskampf der Schweizer der Funke bald auf heutige Hörer über und entzündete sie zu häufigen, starken Beifallskundgebungen. Carl Ludwig Achaz, der Regisseur des Abends, hatte seinen Enthusiasmus auf alle Mitwirkenden übertragen und führte sich mit dieser seiner ersten Inszenierung vielversprechend ein. Sie empfahl sich weniger durch überragende Einzelleistungen als durch das hohe Gesamtniveau. Immerhin verdienen der Attinghausen Friedrich Kayßlers ob seiner adeligen Haltung und der Geßler Heinrich Georges ob seiner unheimlichen Gestaltungskraft hervorgehoben zu werden. Dieser Landvogt war ein aus dem Urschlamm emporgestiegener Golem, vor dem man das Fürchten lernen konnte. Achaz hatte nicht den Ehrgeiz, es um jeden Preis anders machen zu wollen, wodurch klassische Stücke nicht selten ihre moderne Würze erhalten haben. Er sah nicht vom Landschaftlichen ab, sondern ließ sich durch eindrucksvolle Bühnenbilder Ernst Schütters unterstützen, in denen der Gebirgswelt ihr Recht wurde. Er machte für das Figürliche nicht bei Hodler Anleihen, wie es einst im Staatstheater geschah, sondern blieb bei neutraler Gewandung. Nur gegen den Schluß hin hielt er es für zweckdienlich, von Schiller abweichen und über ihn hinausgehen zu sollen. So fehlten in der Ermordungsszene die barmherzigen Brüder, die mit gutem Bedacht als Folie des Hochzeitszuges erscheinen, um die unlösliche Verknüpfung von Leben und Sterben darzutun. Ganz gestrichen war der Auftritt Parricidas. Von Geßlers Leichnam ging es mit kühnem Sprung zu einem furiosen Fanalfinale. Freudenfeuer flammten auf allen Bergen auf, und der Jubel äußerte sich in leidenschaftlichem Fahnenschwenken. Nicht wie bei Schiller schloß das Werk damit, daß Rudenz alle seine Knechte frei erklärt, sondern danach erst erfolgte Tells Wiedersehen mit seiner Familie, und die allerletzten Worte sprach Melchthal: ‚Der Boden ist rein.’ Das steht zwar bei Schiller, aber nicht an dieser Stelle, und der Dichter könnte mit Berufung auf Luthers ‚Das Wort sie sollen lassen stan’ für sich beanspruchen: das Wort sie sollen lassen an der rechten Stelle stan.“

Berliner Volksbühne. NZZ, 18. Mai 1933, Morgenausgabe, Nr. 895.
Die Berliner Volksbühne unter Heinz Hilpert in der Spielzeit 1932/33. – „Mit unverhohlener Bewunderung muß man von der Berliner Volksbühne sprechen, die es unter ihrem Leiter Heinz Hilpert verstanden hat, sich in den Fährnissen dieser Zeit zu behaupten und künstlerisches Niveau zu halten. Mag auch die Zahl ihrer Stammgäste zurückgegangen sein, deren Theaterbegeisterung hat nicht nachgelassen. Der Satz: ‚Für das Volk ist das Beste gerade genug’ darf als Richtschnur für Hilperts Wirken in Anspruch genommen werden. – Blickt man auf die zur Neige gehende Spielzeit zurück, so gewinnt man den erfreulichen Eindruck, daß das geplante Programm tatsächlich durchgeführt worden ist. In neun Monaten wurden neun Stücke herausgebracht. Davon hatten die Werke der noch unerprobten Dramatiker wohl den geringsten Erfolg, was wiederum die weit verbreitete Ansicht zu bestätigen scheint, daß es mit der zeitgenössischen Produktion nicht zum besten bestellt sei. Weder Julius Hays Utopie Das neue Paradies [03.12.32] noch Walter Gilbrichts Historie Oliver Cromwells Sendung [12.12.32] noch die kraß realistischen Sardinenfischer der Elisabeth Castonier [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 02.03.33, Nr. 375] vermochten die Menge nachhaltig zu packen. Weit eher sprach die in Marseille beheimatete Fanny von Marcel Pagnol an, wozu freilich die wundervolle Darstellung durch Käthe Dorsch, Rosa Valetti und andere nicht unwesentlich beigetragen haben mag [04.11.32]. Es bleibt ein großes Verdienst Hilperts, daß er ein ausgezeichnetes Ensemble herangebildet hat, das von Fall zu Fall durch einen Star ergänzt wird. – Gerhart Hauptmann war mit zwei Werken vertreten. Sein siebzigster Geburtstag wurde durch eine Aufführung der Ratten gefeiert, in der neben Käthe Dorsch Eugen Klöpfer hervorragte [15.11.32]. Er trug auch den Florian Geyer zum Sieg – ein herrlicher Rittersmann aus Franken, wie er schwerlich zum zweitenmal (seit Rudolf Rittners Abgang) auf deutschen Bühnen zu finden ist [18.04.33]. – Aus dem ältern Schatze der Weltliteratur zog Hilpert den Revisor von Gogol heran [12.09.32] und Shakespeares Viel Lärm um nichts [22.03.33]. Hier konnte in einer durch Schubertsche Weisen beschwingten Aufführung Grete Mosheim, die sprühende Darstellerin der Beatrice, mit Recht von sich sagen, sie sei unter einem tanzenden Stern geboren. Für diese Grete Mosheim grub man vermutlich auch die alte Berliner Posse Eine leichte Person von Emil Pohl aus, in der sie zeigen konnte, daß sie Herz und Mundwerk auf dem rechten Fleck hat, wobei sie der Urberliner Max Adalbert schlagkräftig unterstützte [13.05.33]. Und wie ging das Publikum der Volksbühne mit! Seit langem schon ist nicht mehr so herzlich in einem Berliner Theater gelacht worden. Direktor Hilpert darf mit sich, seinen Künstlern und seinem Besucherstamm zufrieden sein.“

In memoriam Paul Ernsts. NZZ, 24. Mai 1933, Morgenausgabe, Nr. 935.
Paul Ernst (gest. 13.05.33), Der heilige Crispin (Staatl. Schauspielhaus, 17.05.33). – „Paul Ernsts Lustspiel liegt etwa auf der gleichen Ebene wie die versonnenen, versponnenen Frühwerke Herbert Eulenbergs. Hieß nicht ein solches Ein halber Held? [Vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 22.01.19, Nr. 101] Man wird daran erinnert, wenn von Crispin gesagt wird, er sei ‚kein Kerl’. Crispin ist also ein römischer Ritter, der Aurelia, die Tochter des Kaisers Diokletian, liebt und von ihr wiedergeliebt wird. Ein Thron könnte ihm winken, doch er sucht Anschluß an das Volk, wird Schuster und stiehlt dem reichen Händler das Leder, um daraus Schuhe für die Armen zu machen. Die Umwelt lacht ihn aus, schilt ihn einen Narren, die Mädchen wollen von ihm nichts wissen: aber er hat die Genugtuung, daß ihm schon bei Lebzeiten ein Engel den Heiligenschein aufsetzt. ‚Wenn Aurelia das sehen könnte!’ sagt er in überströmendem Glücksgefühl. Mehr Theaterblut als die legendäre Hauptgestalt, von Bernhard Minetti mit feinem Takt behütet, haben einige Nebenfiguren abbekommen, so der molièrisch geizige Lederhändler und sein tragikomischer Buchhalter, der den Schritt in die Ehe tun will, als es schon zu spät für ihn ist. Köstlich die Szene, in der ein Maurer, der eine halbe Stunde tätig war, den Lohn für einen halben Tag beansprucht. Hier spürt man, wie der Dichter seinen Ärger an den Handwerkern mit ihren übertriebenen Lohnforderungen ausgelassen hat. Diese Episoden empfingen saftvollstes Leben durch die Darsteller Leibelt, Wäscher und Franz Weber. Vielleicht war sogar des Guten gelegentlich ein bißchen zu viel getan. Jürgen Fehling, der Regisseur, blies das Spiel nach Kräften an und konnte zum Schluß für den Beifall des öftern danken.“ – Siehe auch die Rubrik ‚Nachrufe’.

Berliner Theater. NZZ, 26. Mai 1933, Abendausgabe, Nr. 954.
Sigmund Graff, Die vier Musketiere (Theater in der Stresemannstraße, 18.05.33); August Hinrichs, Krach um Jolanthe (Kleines Theater, 20.05.33). – „Wenn vier feldgraue Soldaten, ein Berliner, ein Bayer, ein Sachse und einer von der Waterkant, aus dem Unterstand ins Quartier rücken und jeder von ihnen nun seine heimatliche Mundart nach Kräften und nach Noten ‚snakt’, so ergeben sich ohne weiteres aus der Fülle und der Verschiedenheit der Dialekte komische Wirkungen. Sie werden weidlich ausgenutzt im ersten Akt des Volksstückes Die vier Musketiere von Sigmund Graff, der als Mitverfasser des Frontstückes Die endlose Straße in guter Erinnerung lebt [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 28.02.32, Nr. 368]. Shakespeare hat ja schon – falls man nicht auf die Lysistrata des Aristophanes zurückgehen will – in Heinrich V. aus dieser polyglotten Komik Kapital geschlagen. Und ebendort findet sich auch bereits eine Lektion in einer fremden Sprache, nicht wesentlich verschieden von den Verständigungsversuchen, welche die deutschen Krieger mit der französischen Quartierwirtin anstellen. Man sieht: die Dramatiker haben es nicht leicht, etwas Neues unter der Sonne zu ersinnen, und im Komischen ist das wahrscheinlich noch schwerer als im Tragischen. Graff schlägt die menschlichen wie die mundartlichen Tasten auf so ergötzliche Art an, daß die Hörer aus dem Lachen nicht herauskommen. Vielleicht darf man aber doch die Frage aufwerfen, ob uns das Kriegserlebnis nicht noch so tief im Blute steckt, daß wir eher seine Tragik als seine Komik zu sehen vermögen. – Das ist indes nur der Auftakt. Nach dem übermäßig heitern Vorspiel setzt das gar nicht heitere Spiel ein. Es ist Friede geworden, und die vier Kameraden sollen sich bei einem Regimentsfest in einer sächsischen Stadt treffen. Hatte der Krieg die Vier uniformiert (in des Wortes doppelter Bedeutung), so sind in den Friedensjahren die Gegensätze wieder zum Durchbruch gelangt, und sie gelangen bald zum Ausbruch. Der Berliner, ehedem Schiefertafelfabrikant, ist auf der sozialen Leiter hinabgerutscht, während der Sachse es zum Direktor eines Einheitsgeschäftes und zu Wohlstand gebracht hat. Kaum sind die Vier beisammen, so tun sich die Gegensätze auf; und wenn sie gar von Politik zu reden anfangen, ist im Nu der Zank da. Das Zerwürfnis überträgt sich sogar auf die Frauen. Ein aus Amerika zurückgekehrter Badener muß den Kriegskameraden erst von seinem brennenden Heimweh erzählen, um den Hader unter ihnen zu beschwichtigen. Der deus ex machina ist hier also ein homo ex America. – ‚Volksstück’ – äußert der Verfasser über sein Werk –: ‚darunter verstehe ich ein Stück aus dem Volk und für das Volk. Ein Stück, das Art und Wesen, Typen und Sprache des Volkes in unverfälschter Echtheit wiedergibt…’ Diesen Eindruck half eine prachtvolle Darstellung im Theater in der Stresemannstraße, das gegenwärtig von Ernst Legal und Kurt Raeck geleitet wird, ans Licht fördern. Es ist schwer zu entscheiden, wem von den vier gleich echten Musketieren, verkörpert durch Paul Westermeier, Fritz Kampers, Erhard Siedel, Hans Brausewetter die Palme gebührt; nach reiflicher Überlegung muß sie wohl doch dem Bajuwaren Kampers zugesprochen werden. Das Publikum zeigte sich so belustigt, daß man dem Volksstück nach dem lauten einen langen Erfolg prophezeien darf. ● Ein anderes Volksstück: die Bauernkomödie Krach um Jolanthe von August Hinrichs, seines Zeichens Tischlermeister, wurzelt im Oldenburgischen, und sie darf gleichfalls für sich in Anspruch nehmen, daß sie Art und Wesen, Typen und Sprache des Landstrichs in ‚unverfälschter Echtheit’ wiedergibt. Gar zu schmeichelhaft ist das Bild der dort Ansässigen nicht ausgefallen. Es mache ihnen mehr Spaß, wird einmal von ihnen gesagt, fünf Pfennig durch ‚Schummeln’ zu gewinnen, als einen Taler redlich zu verdienen. Bei dem Krach um Jolanthe – der Titel läßt an Jolanthes Hochzeit, eine frühe Erzählung von Hermann Sudermann, denken – geht es um eine wegen rückständiger Steuerzahlung gepfändete Riesensau, die vom Gendarmen ins Spritzenhaus gesperrt, von den in fiskalischen Angelegenheiten sich solidarisch fühlenden Bauern aber befreit wird. Der Verdacht der Täterschaft fällt auf einen harmlosen Schulmeister, der im Mondenschein lustwandelt, um sich von ihm zu seinen Reimereien an die Tochter des Haupthalunken inspirieren zu lassen. Die Bauern machen indes dem Gendarmen durch ihre Gerissenheit das Leben sauer. ‚Bloß sich nicht auffressen lassen – auch nicht vom Finanzamt’, heißt ihr Grundsatz. – Hinrichs kennt seine Leute und weiß auch schon im Handwerklichen der Bühne Bescheid. Wenn er noch lernt, Konventionelles auszuscheiden, kann er es zu einem norddeutschen Ludwig Thoma bringen. Die norddeutsche Künstlergemeinschaft, die die Komödie im Kleinen Theater spielte, hat mit allen Bauerntruppen die verblüffende Echtheit gemein. Dem entsprechend war der Beifall.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Juni 1933, Abendausgabe, Nr. 1047.
Per Schwenzen u. Josef Bonifazius Malina, Am Himmel Europas (Theater am Schiffbauerdamm, 01.06.33); Robert Adolf Stemmle u. Jens C. Nielsen, Drei Apfelbäume (Deutsches Künstler-Theater, 29.05.33). – „Liebe im Rheinland hieß ein deutsch-französisches Volksstück des Pariser Zeitungskorrespondenten René Lauret, der sich als Bühnenautor Jean Tarvel nannte [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 13.11.32, Nr. 2111]. Im Zeichen des rapprochement empfahl es die Mischehe zwischen Angehörigen der beiden Nationen. Ein deutsch-französisches Verständigungsstück könnte sich die Komödie Am Himmel Europas von Per Schwenzen und J. B. Malina nennen, in der zum ersten Male eine Segelfliegerschule auf die Bühne gebracht wird. Gerne lassen wir uns in dem neuen Milieu herumführen, und gerne nehmen wir zur Kenntnis, daß die deutsche Jugend trotz allen Erlebnissen der Kriegszeit und allen Demütigungen der Nachkriegszeit ihren Frohsinn nicht ganz verloren hat, einfach weil sie jung ist und den Glauben an sich nicht verloren hat. Mag der beste Flieger der Schule, dem es gelingt, einen neuen Rekord aufzustellen, von dieser Jugend auch als von einer zornigen sprechen – er schlägt weichere Töne an im Hinblick auf ein liebes Mädel, dessen Gunst er errungen, und einen treuen Kameraden, der von jenseits der Grenze kommt. Dieser junge Franzose, Lucien Vidal, sieht die Welt mit offenen Augen und Deutschland mit warmem Gefühl an. Er vertritt die von allen geteilte Meinung, daß es kein besseres Mittel zur Verständigung der Völker gebe, als daß sie sich im eigenen Lande kennen lernen. Sache der Jugend sei die Versöhnung; sie solle den Blick nicht bis zur Grenze, sondern über die Grenze hinaus schweifen lassen. Was er sagt, ist oft genug hüben wie drüben ausgesprochen worden, aber es wird hier mit solchem Takt vorgetragen, daß es nirgends Anstoß erregen kann. Neben dem Takt ist den beiden Verfassern auch Humor nachzurühmen, wie er sich besonders in den Gestalten eines ebenso Horaz- wie trinkfesten Studienrats und einer ältlichen Entomologin bekundet. Am Himmel Europas ist nicht nur ein gut gemeintes, sondern auch ein gut gekonntes Stück, das überall des Erfolgs sicher sein darf. Zumal, wenn es so gewinnend herausgebracht wird wie im Theater am Schiffbauerdamm unter der tüchtigen Regie Heinz Dietrich Kenters und einem Hauptdarsteller wie Adolf Wohlbrück, der seinem jungen Franzosen durch hinreichende Liebenswürdigkeit die allgemeine Sympathie sicherte. Der Erfolg für Stück und Aufführung war gleich stark. Es gibt nichts daran zu nörgeln. ● Kleinigkeiten sind manchmal so verräterisch. Wie können zwei Männer, die sich zusammentun, ein Volksstück aus Hamburger Seemannskreisen zu schreiben: der durch das Schulstück Kampf um Kitsch und die Bearbeitung der italienischen Komödie Geld ohne Arbeit bekannt gewordene Robert Adolf Stemmle [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 06.10.31, Nr. 1888] und der annoch weniger bekannte Matrose Jens C. Nielsen – wie können sie nur auf den Gedanken verfallen, ihren ‚Helden’, einen deutschen Barmixer, Jonni, und ihre ‚Heldin’, die Tochter der Witwe Puttfarken, welche das verrufene Lokal ‚Zu den fünf Erdteilen’ in St. Pauli besitzt, Sonni zu nennen! Es muß nicht leicht gewesen sein, Namen aufzutreiben, die für ihre Träger weniger bezeichnend gewesen wären. Spielhagen hat einmal treffliche Bemerkungen über die Namengebung im Roman veröffentlicht, aus denen ersichtlich wird, ein wie wichtiges Charakterisierungsmittel für den Dichter die Namen seiner Gestalten sind. Was für das epische Schaffensgebiet gilt, trifft auch für das dramatische zu. Vielleicht noch in erhöhtem Maße: denn das Auge hat die Möglichkeit längerer Kontrolle als das Ohr. Der Gleichklang Jonni Sonni erschwert das Verständnis. Wenn von Jonni die Rede ist, kann man leicht Sonni verstehen und umgekehrt. Dramatiker sollten ähnlich klingende Namen durchaus vermeiden. – Wie konnten (zweitens) die Verfasser ihr Seemannsstück als ‚Komödie mit Musik’ etikettieren? Allerdings, es kommen zwei oder drei Lieder mit Begleitung des Schifferklaviers darin vor. Mit dem gleichen Recht ließe sich Egmont als Tragödie mit Musik in Anspruch nehmen, weil Clärchen ein Lied zu singen hat. Und wie erklärt sich (drittens) bei Nielsen & Stemmle der Titel Drei Apfelbäume, während Mutter Puttfarken doch singt: ‚Ein Apfelbaum steht vor dem Häuschen’? Kleinigkeiten – gewiß; doch Kleinigkeiten sind oft so aufschlußreich. – Was aber die Umwelt betrifft, so fühlt man sich in St. Pauli an Pagnols Marseille erinnert, wie es in Marius und Fanny lebendig geworden ist [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 11.12.30, Nr. 2424]. Der Matrose Nielsen läßt an den Matrosen Joachim Ringelnatz denken, ohne daß er schon seine Urwüchsigkeit erlangt hätte. Fünf Minuten vor Schluß erhält die Handlung, bei der es um einen Mord aus Eifersucht ging, plötzlich einen komischen Dreh, den zwar niemand erwartete, durch den sich aber manch einer gefrozzelt fühlte. Trotzdem gab es im Deutschen Künstlertheater freundlichen Beifall für die mitwirkenden Künstler. Senta Söneland [vgl. MMs Nachruf in der NZZ vom 23.07.34, Nr. 1327], die hyperburleske Darstellerin, konnte sich in einer ernsten Mutterrolle kaum nach Wunsch ausgeben. Hans Rehmann wirkte sehr echt, obwohl er sich nicht an das Platt herangetraute. Am eindrucksvollsten, von unheimlicher Gespanntheit war sein stummes Spiel, als er den Verbrecherkeller betritt; da konnte man inne werden, wieviel der Sprechschauspieler von dem Filmschauspieler gelernt hat.“

Berliner Theater. NZZ, 20. Juni 1933, Morgenausgabe, Nr. 1115.
Curt Goetz u. Heinz Gordon, Der Mitternachtsdichter (Komödienhaus, 16.06.33). – „Weil der Basler Curt Götz (neben Heinz Gordon) als Mitverfasser des Schwanks Der Mitternachtsdichter auf dem Zettel stand, ging man ins Komödienhaus. Der Teig, sagt man sich, wird wohl von Gordon stammen; die Rosinen, die Mandeln, die Pomeranzenschalen wird Curt Götz beigesteuert haben. Oder, mit einem Vergleich aus der Musikwelt: das Libretto wird von Gordon, die Instrumentation von Götz sein. Aber je weiter der Abend vorschreitet, desto hoffnungsloser wird der Versuch, irgendwelche Spuren von Curt Götz, auch nur das kleinste Körnchen attischen Salzes zu entdecken. Langsam regt sich im Hirne der Verdacht: diesen Schwank hast du schon einmal gesehen. Die Geschichte von dem Bonbonfabrikanten aus Neu-Ruppin, der auf Wunsch seiner Gattin durchaus zum Dichter gemacht werden soll, kommt dir doch bekannt vor. Was das Gedächtnis allein nicht zustandebringt, wird rasch durch Nachschlagebücher ans Licht gefördert. Sieh da: dieser Schwank hieß ursprünglich Die Rutschbahn und wurde bereits im Jahre 1919 aufgeführt (auch an dieser Stelle gewürdigt [vgl. NZZ vom 16.06.19, Nr. 891]). Was würde man zu einem Kaufmann sagen, der einen vierzehn Jahre alten Ladenhüter unter andrer Marke wieder in den Handel brächte? Soviel steht fest: der Mitternachtsdichter stammt, trotz neuem Titel, aus einer Zeit, ehe der Komödiendichter Curt Götz sich selbst gefunden hatte.“

Deutsche Bühne. NZZ, 26. Juni 1933, Mittagausgabe, Nr. 1158.
Werbevorstellung für die „Deutsche Bühne e.V.“: Hans Christoph Kaergel, Andreas Hollmann (Staatl. Schauspielhaus, 10.06.33). – „Als erste Werbevorstellung für die ‚Deutsche Bühne’, eingeleitet durch einen Vorspruch ihres ersten Vorsitzenden, des bayrischen Staatskommissars Dr. Walter Stang, der die Verbundenheit von Volk und Bühne betonte, ging im Berliner Staatlichen Schauspielhaus das an andern Orten schon aufgeführte, sich mit dem Problem des Grenzlanddeutschtums auseinandersetzende Drama Andreas Hollmann des Schlesiers Hans Christian Kaergel in Szene. – Auswärtigen Lesern darf in Erinnerung gerufen werden, daß die ‚Deutsche Bühne e.V.’ die einzig anerkannte, ‚auf gemeinnütziger Grundlage arbeitende’ Besucherorganisation im neuen Deutschen Reich ist, die es in der kurzen Zeit ihres Bestehens schon auf eine halbe Million Mitglieder gebracht hat. Zu den Begründern und Vorstandsmitgliedern des Reichsverbandes gehören: der Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Frick, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Dr. Joseph Goebbels, der Ministerpräsident Hermann Göring, der preußische Kultusminister Bernhard Rust, der bayrische Kultusminister Hans Schemm, der bayrische Justizminister Dr. Frank II, der Reichsführer des Kampfbundes für deutsche Kultur Alfred Rosenberg, der Reichsjugendführer Baldur v. Schirach, der preußische Staatskommissar Hans Hinkel, der erste Dramaturg des Berliner Schauspielhauses Hanns Johst u.a. Dazu kommen als Begründer und Vorstandsmitglieder des Ortsverbandes Berlin: der Präsident der Bühnengenossenschaft Otto Laubinger, der Oberpräsident Wilhelm Kube, der Oberbürgermeister Dr. Sahm, der Schauspieler Eugen Rex, der Schriftsteller Hans Kyser, der Intendant der Berliner Funkstunde Friedrich Arenhövel, der Intendant des Deutschlandsenders Goetz Otto Stoffregen u.a. – Außer den beiden staatlichen Bühnen (der Oper Unter den Linden und dem Schauspielhaus) sind bis jetzt für den Besuch in Aussicht genommen: die Städtische Oper in Charlottenburg, das Deutsche Theater, das Schiller-Theater, das Komödienhaus, das Theater in der Behrenstraße, das Theater am Nollendorfplatz. Es soll vier Platzgruppen geben, die sich zwischen 50 Pfennig und 3 Mark 50 bewegen. Für Opernvorstellungen kann noch ein geringer Aufschlag von 25 Pfg. erhoben werden. Trotzdem bleibt der Maximalbetrag von 3 Mark 75 für einen Parkettplatz in der Staatsoper, wenn etwa der neu ernannte Erste Staatskapellmeister Wilhelm Furtwängler dirigieren sollte, noch preiswert genug. – Bedingung für die Mitglieder ist, daß sie mindestens einmal monatlich ins Theater gehen. Im Laufe der rund zehn Monate währenden Spielzeit sollen ihnen vier Opern und sechs Schauspiele geboten werden; doch werden Sonderwünsche auf Bevorzugung der Oper berücksichtigt. – Aus dem Werbeflugblatt seien einige Sätze wiedergegeben: ‚Die Deutsche Bühne ist von den Führern der nationalen Erhebung ins Leben gerufen worden… Sie wird, nachdem die politische Einheit geschaffen worden ist, auch die geistig-seelische Verbundenheit der nationalen Erhebung mit den Kulturgütern des deutschen Volkes zum Ausdruck bringen… Die im Werden begriffene deutsche Volksgemeinschaft braucht das deutsche Theater, und das deutsche Theater braucht sie, denn es soll ja auch auf diesem Gebiete erwiesen werden, daß wir es besser und schöner machen als das zersetzende Novembersystem. Die deutsche Erhebung ist immer Hand in Hand mit der Kunst und den Künstlern gegangen. In diesem Sinn rufen wir alle Volksgenossen…’ – Möglicherweise haben diese Sätze mehr Werbekraft als die erste Darbietung: Kaergels Schauspiel von der deutsch-tschechischen Grenze. Zugegeben, daß es eine saubere, keineswegs tendenziös unterstrichene dramatische Arbeit ist, aber es fehlt ihr alles Hinreißende, Begeisternde. Der Wirt und Gemeindevorsteher Andreas Hollmann gehört zur Gruppe der deutschen Eigenbrötler. Achtung vor dem Gesetz gilt ihm als Höchstes. Darum mißbilligt er es, daß sein Sohn sich der Pflicht des Militärdienstes entziehen will. Und als der Gendarm kommt, den Deserteur zu verhaften, schlägt er zwar den Hüter der Ordnung nieder, fährt dann aber mit dem Sohn in die Stadt, um sich vor Gericht zu stellen. ‚Es gibt bloß die Pflicht’ – das ist Hollmanns menschliches Evangelium. Einige theatralisch starke Auftritte können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Werk dichterisch nur zu mittlerer Höhe hinanreicht. Selbst ein Darsteller wie Walter Franck vermochte die Herzen der Hörer kaum zu rühren, wenn sich auch die Hände nach den Aktschlüssen kräftig rührten.“

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1933 / 1934

Berliner Theater. NZZ, 21. August 1933, Mittagausgabe, Nr. 1505.
Vorschau auf die neue Spielzeit.

Berliner Theater. NZZ, 5. September 1933, Morgenausgabe, Nr. 1593.
Ben Wolf Levy, Henry lernt die Tugend kennen (Komödie, 18.08.33); Gregor Schmitt, Don Juans Regenmantel (Deutsches Künstler-Theater, 25.08.33); Hartmann Freiherr von Richthofen, Der Staatskanzler (Theater am Nollendorfplatz, 22.08.33); William Shakespeare, Julius Cäsar (Staatl. Schauspielhaus, 01.09.33). – Die Besprechung der letztgenannten Inszenierung endet mit der Bemerkung: „Das Haus, das weniger mit Uniformen gefüllt war als sonst, vermutlich weil viele zum Parteitag nach Nürnberg gefahren waren, stattete nach der Leichenrede den mitwirkenden Künstlern anhaltenden Beifall ab. Zum Schluß wurde auch der Intendant zweimal gerufen.“

Berliner Theater. NZZ, 19. September 1933, Morgenausgabe, Nr. 1681.
Die neuen Theaterdirektoren der Berliner Privatbühnen; Henrik Ibsen, Der Volksfeind (Rose-Theater, 11.09.33) und Der Bund der Jugend (Volksbühne, 15.09.33).

Berliner Theater. NZZ, 27. September 1933, Abendausgabe, Nr. 1742.
Paul Relle, Gust’l wartet auf Helene (Lessing-Theater, 19.09.33); Barbara Bosch, Ein glückliches Leben (Theater in der Stresemannstraße, 21.09.33); Friedrich Forster, Robinson soll nicht sterben (Komödienhaus, 22.09.33); Friedrich Griese, Mensch aus Erde gemacht (Staatl. Schauspielhaus, 23.09.33).

Berliner Theater. NZZ, 26. Oktober 1933, Morgenausgabe, Nr. 1934.
Theatermisere in Berlin; Ludwig Anzengruber, Der Pfarrer von Kirchfeld (Berliner Theater, 18.10.33); Alexandre Bisson, Die fremde Frau (Theater Unter den Linden [vormals Kleines Theater], 18.10.33). – Zur Theatermisere: „Es hat sich seit dem Krieg herausgestellt, daß überhaupt kaum noch mit dreistelligen Erfolgsserien gerechnet werden kann, aus dem einfachen Grunde, weil die Zahl der Theaterbesucher empfindlich geschrumpft ist. Die schon von Kino und Radio gelichteten Reihen haben durch die soziale Umschichtung weitere Lücken erfahren; nicht die kleinste ist ferner dadurch entstanden, daß – um es mit den Worten E.K.’s [Eduard Korrodis, des Feuilletonchefs der NZZ] zu sagen – ‚jüdische Intelligenz, dies theaterfreundliche Publikum von je und je, integrierender Bestandteil aller Theater’, fast völlig verschwunden ist und nur noch durch Abwesenheit glänzt.“

Berliner Theater. NZZ, 1. November 1933, Abendausgabe, Nr. 1981.
Ralph Arthur Roberts u. Paul Vulpius, Hau-ruck (Theater in der Behrenstraße, 24.10.33). – „Am meisten belacht wurde der Satz, als der in die Enge getriebene Frechdachs erklärt, er habe nicht einmal großmütterlicherseits etwas zu befürchten.“

Berliner Theater. NZZ, 14. November 1933, Morgenausgabe, Nr. 2060.
Dietrich Loder, Konjunktur (Theater in der Stresemannstraße, 01.11.33). – „Da kommt Dietrich Loder (wieder ein neuer Mann) daher, und wir sehen am 1. November auf den Brettern […], was sich Ende März 1933 so oder ähnlich zugetragen haben könnte. Im Januar dieses Jahres – erster Akt – konnte es noch geschehen, daß der Buchhalter Klemm, weil er der Nationalsozialistischen Partei angehörte, aus der Bank hinausflog. Er wendet sich an einen Sturmführer, der sich um die Tochter des Bankdirektors bewirbt, und zwei Monate später werden verzweifelte Anstrengungen gemacht, den Entlassenen wieder einzustellen. Mittlerweile hat es der ehemalige Offizier zu einem hohen Posten im Innenministerium gebracht, aber er schaltet dort nicht, wie die Industriegewaltigen annehmen, als Staatssekretär, sondern nur als Kommissar. Als solcher hält er einem verstaubten Ministerialrat ein forsches Privatissimum über Tempo und Temperament der nationalsozialistischen Arbeitsweise. Er räumt einem Oberregierungsrat den Platz und führt die Braut heim. Die Konjunkturritter von der traurigen Gestalt und die nicht minder verächtlichen Mitläufer werden, wie sie es nicht besser verdienen, gezaust und bloßgestellt. Aber lebt nicht letzten Endes das Lustspiel Konjunktur auch von der Konjunktur? Gerade weil es sich einen so aktuellen Stoff vorgenommen hat, müßte es sich von Aktualitäten möglichst fernzuhalten suchen, die leicht ins Ewig-gestrige hinabgleiten. […] Die aufgeräumten Hörer dankten dem Verfasser der Konjunktur nach den Aktschlüssen durch Beifall von mittlerer Stärke, der freilich zum Schluß nachließ.“

Berliner Theater. NZZ, 27. November 1933, Morgenausgabe, Nr. 2145.
Ralph Benatzky, Bezauberndes Fräulein (Deutsches Künstler-Theater, 29.09.33); Friedrich von Schiller, Maria Stuart (Volksbühne, 31.10.33) und Die Braut von Messina (Staatl. Schauspielhaus, 10.11.33). – „Wird man jetzt von einem auswärtigen Besucher gefragt, welche Stücke er sich in Berlin ansehen solle, so ist man einigermaßen in Verlegenheit, was ihm mit gutem Gewissen empfohlen werden kann. […] Der auswärtige Besucher, sofern er nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, wird Bescheid wissen, was er von diesen unter dem Protektorat der zehnten Muse stehenden Werken zu erwarten hat: der einheimische Ratgeber kann ihm höchstens sagen, daß Bezauberndes Fräulein (die aufgeplättete Petite Chocolatière von ehedem), wie man erzählt, den größten Publikumserfolg hat, der auf die persönliche Beliebtheit von Max Hansen zurückzuführen sein dürfte, wiewohl man den Darsteller kurz vorher, ehe sich seine dänische Nationalität herausstellte, mit faulen Eiern beworfen hatte [am 08.09.33 bei der Premiere von Das häßliche Mädchen wegen der angeblichen jüdischen Abstammung Hansens]. Darüber kann kein Zweifel sein: Berlin, vor kurzem noch die erste Theaterstadt der Welt und als solche auch vom Ausland willig anerkannt, hat sich schnell und kampflos das Heft aus der Hand winden lassen. Tatsächlich finden, nicht erst seit gestern, die bedeutungsvollereren, die politisch unterkellerten Premieren im Reiche statt (in der Provinz darf man nicht mehr sagen). Ob sie den Weg in die Hauptstadt finden werden, hängt von dem Wagemut der hiesigen Direktoren ab. […] Es ist auch jammerschade, daß so viele hervorragende Schauspieler zurzeit unbeschäftigt in Berlin herumlaufen. Man sollte denken, sie wären in erster Linie befähigt, das stille stehende Theaterleben wieder anzukurbeln.“

Preußisches Theater der Jugend. NZZ, 8. Dezember 1933, Morgenausgabe, Nr. 2227.
Friedrich von Schiller, Wilhelm Tell (Preußisches Theater der Jugend, 02.12.33). – „[A]m 2. Dezember konnte das Schiller-Theater als Preußisches Theater der Jugend, das unter der Schirmherrschaft des preußischen Ministerpräsidenten Göring steht, seine Pforten wieder öffnen. Welches Dichtwerk wäre zur Weihe des Hauses geeigneter als Schillers Wilhelm Tell? Er ist ja nicht nur der Namenspatron des Hauses, sondern nach wie vor der heroische Liebling deutscher Jugend. Der Aufführung voran ging ein Festakt. Nachdem die Anwesenden, unter denen sich viel Jungvolk befand, die erste Strophe des Deutschland-Liedes gesungen hatten, erklang das Meistersinger-Vorspiel unter Leitung des Staatskapellmeisters Robert Heger. Dann hielt der Staatskommissar Hans Hinkel als Leiter des amtlichen Preußischen Theaterausschusses eine Ansprache. Oberbürgermeister Dr. Sahm nahm das Theater, das die Jugend verlangen muß, zu treuen Händen entgegen. Die Coda der Egmont-Ouvertüre von Beethoven (im Programm als Siegessinfonie bezeichnet) bildete den Abschluß des Festaktes.“

Tod in Genf. NZZ, 18. Dezember 1933, Mittagausgabe, Nr. 2316.
Friedrich Schreyvogel, Tod in Genf (Volksbühne, 27.11.33).

Berliner Theater. NZZ, 3. Januar 1934, Mittagausgabe, Nr. 9.
Leo Fall, Die Kaiserin (Volksbühne, 22.12.33); Hanns Johst, Propheten (Staatl. Schauspielhaus, 21.12.33); Günter Eich, Die Glücksritter (Preußisches Theater der Jugend, 20.12.33).

Berliner Theater. NZZ, 16. Januar 1934, Mittagausgabe, Nr. 84.
Edgar Kahn u. Max Monato, Langemarck (Preußisches Theater der Jugend, 06.01.34).

Berliner Theater. NZZ, 24. Januar 1934, Morgenausgabe, Nr. 130.
Hermann von Boetticher, Der König [Teil II des Schauspiels Friedrich der Große] (Staatl. Schauspielhaus, 17.01.34).

Ein Rembrandt-Stück. NZZ, 10. Februar 1934, Morgenausgabe, Nr. 238.
Hans Kyser, Rembrandt vor Gericht (Deutsches Theater, 23.01.34). – „Das Publikum des Deutschen Theaters, das sich jetzt aus andern Schichten rekrutiert (von den frühern Stammgästen ist nur ein winziges Häuflein zurückgeblieben), beklatschte zwar manchmal bei offener Szene die plattesten Redensarten, man hatte aber nicht das Gefühl, daß den Leuten Glanz und Elend des genialen Künstlermenschen sonderlich zu Herzen ging.“

Berliner Theater. NZZ, 12. Februar 1934, Morgenausgabe, Nr. 249.
Alan Alexander Milne [Bearb. Walter F. Fichelscher], Der liebe Gott geht durch den Wald [The Dover Road] (Theater am Kurfürstendamm, 10.01.34); August Hinrichs, Krach um Jolanthe (zu Anfang der Saison im Theater am Nollendorfplatz, dann im Lessing-Theater) und Wenn der Hahn kräht (Staatl. Schauspielhaus, 25.01.34). – „[…] Doch des regsten Zuspruchs erfreut sich augenblicklich […] August Hinrichs, dessen derber Schwank Krach um Jolanthe schon die zweihundertste Aufführung überschritten hat. […] Dabei setzte er [der Erfolg] im Kleinen Theater durchaus nicht stürmisch ein [vgl. oben NZZ vom 26.05.33, Nr. 954]; erst als der Schwank ins Theater am Nollendorfplatz übersiedelte und dort zweimal den Besuch des Reichskanzlers empfangen hatte, schnellte der Erfolg mächtig empor und setzte sich in dem auf den Namen Gotthold Ephraim Lessings getauften Hause fort.“

Berliner Theater. NZZ, 26. Februar 1934, Abendausgabe, Nr. 341.
Benito Mussolini, Hundert Tage [Campo di Maggio] (Staatl. Schauspielhaus, 15.02.34). – „Mussolinis Napoleon-Drama Campo di Maggio, in der deutschen Fassung Hundert Tage genannt, […] vermochte im Staatlichen Schauspielhaus, trotz der Anwesenheit des Reichskanzlers, des preußischen Ministerpräsidenten, des italienischen Botschafters und vieler Kunstprominenzen, nur einen guten Achtungserfolg zu erzielen.“

Berliner Theater. NZZ, 28. Februar 1934, Abendausgabe, Nr. 355.
Heinrich von Kleist, Der zerbrochene Krug (Volksbühne, 21.02.34); William Shakespeare, König Heinrich IV. (Preußisches Theater der Jugend, 17.02.34).

Berliner Theater. NZZ, 15. März 1934, Mittagausgabe, Nr. 453.
Sigmund Graff, Die Heimkehr des Matthias Bruck (Staatl. Schauspielhaus, 08.03.34); Friedrich Hebbel, Die Nibelungen (Deutsches Theater, 09.03.34).

Eine Zeppelin-Komödie. NZZ, 21. März 1934, Morgenausgabe, Nr. 497.
Harald Bratt, Seine Exzellenz der Narr (Preußisches Theater der Jugend, 15.03.34).

Festgefahren. NZZ, 28. März 1934, Mittagausgabe, Nr. 553.
George Bernard Shaw, Festgefahren [On the Rocks] (Volksbühne, 21.03.34).

Berliner Theater. NZZ, 7. April 1934, Morgenausgabe, Nr. 607.
Fred A. Angermayer [NZZ schreibt versehentlich „Angermann“], Das Wunderwasser („Junge Kampfbühne“ im Theater am Nollendorfplatz, 17.03.34); Alois Johannes Lippl, Die Pfingstorgel (Theater des Volkes [Großes Schauspielhaus], 27.03.34).

Berliner Theater. NZZ, 12. April 1934, Morgenausgabe, Nr. 644.
Richard Billinger, Stille Gäste (Deutsches Theater, 05.04.34).

Berliner Theater. NZZ, 21. April 1934, Morgenausgabe, Nr. 704.
Hans Friedrich Blunck, Land in der Dämmerung (Staatl. Schauspielhaus, 13.04.34); Hans Müller, Frischer Wind aus Kanada (Komödie, 12.04.34).

Änderungen im Berliner Theaterwesen. NZZ, 24. April 1934, Abendausgabe, Nr.726.
Die bevorstehende Verstaatlichung der Volksbühne und des Deutschen Theaters.

Besser als Shakespeare? NZZ, 2. Mai 1934, Nr. 777.
William Shakespeare, Komödie der Irrungen (in „neuer Fassung“ von Hans Rothe) (Staatl. Schauspielhaus, 26.04.34).

Berliner Kunstwochen. NZZ, 24. Mai 1934, Nr. 926.
Über die Unsitte, Theaterstücke unter neuem Namen auf die Bühne zu bringen; Carl Hauptmann, Musik (Staatl. Schauspielhaus, 17.05.34). – „Das neue deutsche Theatergesetz hat eine Lücke: solche Täuschungen [durch Änderung der Stücktitel], die geeignet sind, den Ruf des deutschen Theaters zu schädigen, dürften unter keinen Umständen gestattet sein.“

Berliner Theater. NZZ, 3. Juni 1934, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 995.
Hans Schwarz, Rebell in England (Staatl. Schauspielhaus, 30.05.34). – „Essex muß zum Abgott des Volkes emporwachsen, und in der letzten Szene, bevor er sich anschickt, von seiner Zelle im Tower zum Richtblock zu schreiten, prophezeit er hellseherisch den großen Volksmann, der da kommen wird. Wenn Paul Hartmann, Essex’ Darsteller, die Verse gar mit erhobener Stimme spricht, so ist im weiten Hause niemand, der nicht Bescheid wüßte.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Juni 1934, Abendausgabe, Nr. 1104.
Otto Erler, Struensee (Staatl. Schauspielhaus, 14.06.34).

Berliner Theater. NZZ, 27. Juni 1934, Abendausgabe, Nr. 1159.
Pedro Calderón de la Barca [Bearb. Wilhelm von Scholz], Das Leben ein Traum (Staatl. Schauspielhaus, 23.06.34).

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1934 / 1935

Berliner Theaterbeginn. NZZ, 27. August 1934, Abendausgabe, Nr. 1531.
Vorschau auf die neue Spielzeit. – „Später als sonst setzt sich das Theaterschifflein dieses Jahr in Bewegung. Während früher meistens der 28. August, Goethes Geburtstag, nach guter Tradition, das Signal zum Start war, herrscht jetzt noch allgemeine Ruhe. Man hat länger in den Sommer hinein gespielt und wird deshalb vor Mitte September kaum zu neuen Taten ausholen. – Was bisher aus den Theaterkanzleien an die Öffentlichkeit gelangt ist, läßt erkennen, daß die Klassiker und die älteren Bühnenschriftsteller stark, viel stärker als im letzten Jahr, vertreten sind. Besonders Shakespeare erfreut sich auffallender Nachfrage. Wie es euch gefällt, Was ihr wollt und Der Sommernachtstraum sind in Vorbereitung. […] Daneben scheint den dramatischen Bearbeitern historischer Stoffe die Sonne der Gunst zu lächeln. Hingegen dürfte der Höhepunkt des sogenannten Zeitstücks überschritten sein. Daß die Gesinnung nicht den Dichter, auch nicht den dramatischen Dichter macht, welcher der Zeit näher steht als seine Kollegen von der epischen und lyrischen Fakultät, ist eine Binsenwahrheit. Die vorige Spielzeit bescherte einige Hundert Uraufführungen deutscher Bühnenwerke, jeder Tag sah ungefähr eine Uraufführung; dieser Born scheint sich rasch geleert zu haben. – Immer mehr sieht sich das Theater in das Räderwerk des ‚totalitären’ Staates eingeordnet. Immer schwerer werden es die noch übrig gelassenen Privatbühnen haben, sich neben den staatlich geleiteten zu behaupten. Man braucht nur einen Blick auf das Ensemble des Staatlichen Schauspielhauses zu werfen, um zu gewahren, daß mit einer Bühne, an der Jannings, Werner Krauß, Klöpfer, George, Kayßler, Gründgens et tutti quanti tätig sind, kein Privattheater den Konkurrenzkampf aufnehmen kann. Ebensowenig könnte ein Privattheater bestehen, wollte es die billigen Preise einführen, die einige der staatlichen Organisationen bereits durchgeführt haben (Einheitspreis: 70 Pfennig). – Die wichtigsten Veränderungen betreffen das Deutsche Theater und die Volksbühne. Heinz Hilpert, bisher erfolgreicher Führer der Volksbühne, leitet fortan das Deutsche Theater, Intendant Bernhard Graf Solms übernimmt das Theater am Horst Wessel-Platz. Der erprobte Mann zieht mit seinem erprobten Schauspielerstamm in die Schumannstraße ein, während der in Berlin noch nicht akkreditierte gräfliche Intendant fast lauter in Berlin unbekannte Schauspieler mitbringt. Er hat bei weitem die schwerere Aufgabe; denn er muß sich ein Ensemble erst heranbilden – eine Kunst, in der Hilpert sich als Meister erwies –, und er sucht ohne prominente Namen auszukommen, was für die auf Prominenzen erpichten Berliner schwerlich ein Lockmittel sein wird. – Alles ist bereit; die Proben sind im Gange; schon hat die kleine Dolly Haas als Scampolo [in dem Spielfilm Scampolo, ein Kind der Straße (1932)] den Startschuß abgefeuert; das Schifflein gleitet sacht ins Wasser, und es bleibt nur noch übrig, ihm glückhafte Fahrt zu wünschen.“

Berliner Staatstheater. NZZ, 9. September 1934, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1612.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I und Faust II (Staatstheater, 01. / 02.09.34); Eugen Ortner, Meier Helmbrecht (Staatstheater, 04.09.34); das künftige Programm des Staatstheaters. – Zur Faust-Inszenierung: „es tut der Größe der Leistung keinen Abbruch, daß sie im wesentlichen aus der vorigen Spielzeit übernommen war. Immerhin stand in Eugen Klöpfer ein anderer Faust auf den Brettern; er hatte es nicht allzu schwer, seinen Vorgänger Werner Krauß zu überbieten, der in dieser Rolle unter sichtbaren Hemmungen litt. Der Schauspieler Gustaf Gründgens, der mittlerweile zum Intendanten aufgestiegen ist, gibt als Mephisto nach wie vor Goethes Versen den sprühenden Geist.“ – Zu Ortners Tragödie Meier Helmbrecht, „die schon vor sechs Jahren in den Münchner Kammerspielen ihre Feuerprobe bestand“: „Warum das in jedem Betracht durchaus mittelmäßige Werk einen so verspäteten Weg nach Berlin antrat, wird auch dadurch nicht geklärter, daß sich von Ortners Auffassung des Bauernstandes im 13. Jahrhundert Fäden zu seiner gegenwärtigen Wertschätzung spinnen. Lau wie die Charakteristik der Haupt- und Nebengestalten blieb der Anteil des Publikums, das der Konflikt zwischen Vater und Sohn nicht aufzurütteln vermochte. Selbst Friedrich Kayßler konnte dem knorrigen Alten kaum eigenes Kapital aus der Fülle seiner Menschlichkeit spenden.“ – Zur neuen Programmatik des Staatstheaters: „Der neue Geist des Staatstheaters soll im Laufe dieser Spielzeit durch eine preußische Dramenfolge zum Ausdruck kommen, an deren Anfang Lessings Minna von Barnhelm, an deren Ende Prinz Louis Ferdinand von – Hans Schwarz steht; dazwischen liegt ein dem Großen Kurfürsten geltendes Drama von Hans Rehberg und Hermann v. Boettichers friderizianische Duologie (schon in der verflossenen Spielzeit erprobt). ‚Aus diesen vier Preußen-Dramen’ – läßt sich Alfred Mühr, der neue Dramaturg am Gendarmenmarkt, vernehmen – ‚wollen wir ebenfalls die neue Einstellung der Bühne gewinnen. Der Bühnenkünstler von heute muß sich als Kulturträger des Staates fühlen, er ist ihm jederzeit verantwortlich. Er ordnet sich selbstverständlich den Gesamtinteressen unter. So verpflichtete die Intendanz erste Schauspieler, die bisher versprengt waren, und führte sie zum Dienst in der Arbeitsgemeinschaft des Staatstheaters zusammen. Mit Recht und Verantwortung spricht die künstlerische Leitung deshalb von einem Star-Ensemble…’ Seltsam – es ist noch gar nicht so lange her, daß der Star erbittert bekämpft und für einen Krebsschaden des heutigen Theaters erklärt wurde; wie wird das Star-Ensemble erst von allen, die nicht dazu gehören, bekämpft werden! Man mag auch an Mephistos Wort denken: ‚Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.’“

Berliner Theater. NZZ, 20. September 1934, Mittagausgabe, Nr. 1682.
William Shakespeare, Wie es euch gefällt (Deutsches Theater, 11.09.34) und Ein Sommernachtstraum (Theater des Volkes, 15.09.34); Renate Uhl, Hafenlegende (Volksbühne, 13.09.34); Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer (Renaissance-Theater, 14.09.34). – „Was länger als sonst auf sich warten ließ, hat sich nun in einer Woche zusammengedrängt: die Theater haben ihre Pforten und bei strahlendem Sommerwetter die Winterkampagne eröffnet. Wichtigstes Ereignis: Heinz Hilpert ist ins Deutsche Theater eingezogen. Oder eigentlich zurückgekehrt. Denn als Regisseur war er schon unter Reinhardt dort tätig, ehe er für zwei Jahre die Leitung der Volksbühne übernahm. Nun wird er Direktor der berühmtesten deutschen Privatbühne, die unter die Ägide des Reiches gelangt ist. Des zum Zeichen hängen in den Couloirs die Bilder des Kanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten. Hilpert hat das Ensemble der Volksbühne, das er sich in zielbewußter Arbeit herangezogen hat, zum großen Teil vom Horst Wessel-Platz in die Schumannstraße mitgenommen und es durch einige alte Kämpen des frühern Regimes bereichert. Den Glanz und das Glück scheint er sich aber von der Mitwirkung weiblicher Gäste zu erwarten […] – Shakespeares Wie es euch gefällt machte den Beginn. Es war ein guter, wenn auch nicht gerade glanzvoller Anfang. Die tänzerische Beschwingtheit, die Hilpert mit Viel Lärm um nichts [am 22.03.33] an der Volksbühne zustande brachte, wollte sich nicht so recht einstellen: der Märchenzauber blieb aus. […] Wieder erwies sich, wie schon vor neun Jahren bei Barnowsky [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 13.09.25, Nr. 1421], die Mozartsche Begleitmusik als stimmungsförderndes Element. Man braucht keineswegs daran Anstoß zu nehmen, daß hier ein Renaissance-Lustspiel mit Rokokoreizen geschmückt wird. […] – Für das Liebespaar waren Angela Salokker und Albin Skoda von München geholt. Er ein strammer Bursch, ein jugendlicher Held mit besten Anlagen und heutzutage besonders auffallendem Sprechvermögen. Sie ein zartes Geschöpf; noch lange nicht ausgereift, doch vielversprechend. Ich wüßte keine gegenwärtig in Berlin, die es besser macht; die drei, die es besser machen, treten zurzeit nicht in Berlin auf. [Gemeint sind mit Sicherheit Elisabeth Bergner und Helene Thimig sowie vermutlich Grete Mosheim, die alle drei Nazi-Deutschland verlassen hatten.] […] – Auch das Theater des Volkes, wie jetzt das Große Schauspielhaus heißt, begann seine zweite Spielzeit mit Shakespeare. Mit dessen volkstümlichster Komödie, dem Sommernachtstraum. Ohne Mendelssohns unsterbliche Musik. Ein Herr Edmund Nick unternahm es, dafür Ersatz zu schaffen. Gleichwohl bleibt Mendelssohns Ouvertüre die Genietat eines Siebzehnjährigen. Im ganzen Bereich der Töne gibt es nur noch eine gleich geniale Komposition eines Siebzehnjährigen: Schuberts Erlkönig. Im ganzen Bereich der Töne gibt es nur noch eine Begleitmusik, die gleich untrennbar mit dem Sprechdrama verwachsen ist: Griegs Musik zu Ibsens Peer Gynt. Doch lassen wir das lieber…. – Es gab im einzelnen herrliche Szenenbilder: mögen sich allabendlich dreitausend Zuschauer daran laben und Freude daraus für ihren schweren Alltag schöpfen. – An Hilperts Stelle ist Bernhard Graf Solms zum Intendanten der Volksbühne ernannt worden, die nun ebenfalls dem Propagandaministerium untersteht. Der neue Leiter kommt aus Dessau. Er brachte ein neues Stück, einen neuen Autor (sogar eine Autorin) und eine neue Truppe mit. Zählt man diese Erschwernisse zusammen, so darf man immerhin einen Erfolg für die Hafenlegende von Renate Uhl feststellen. Der Titel verrät schon, daß Reales und Symbolisches vermengt sind. Das Reale, die Geschichte eines Arbeitslosen, der Anno 1932 eine Stelle und sein Glück findet, hat keine Durchschlagskraft, weil es zu willkürlich geführt ist; das Legendäre erweist sich als überflüssig. […] Die wohlmeinende Dichterin gibt sich dadurch als Dilettantin und gibt sich als solche kund, daß Wollen und Können bei ihr auseinanderklaffen. […] – Endlich bleibt noch als Kuriosum zu erwähnen, daß Oscar Wildes ganz in französischem Fahrwasser segelnde Gesellschaftskomödie Lady Windermeres Fächer im Renaissance-Theater einen ungewöhnlichen Erfolg hatte. Er kommt hauptsächlich auf das Konto der Kabarettistin Hilde Hildebrand, die sich mit der Rolle der wurmstichigen Mutter ins höhere Fach der comédienne hinaufspielte. Sie macht alles auf eine reizvolle und persönliche Art, aber auch auf eine reichlich bewußte, die dauernd mit Klingelzeichen operiert.“

Berliner Theater. NZZ, 4. Oktober 1934, Morgenausgabe, Nr. 1772.    
Mutmaßungen über die neue Theatersaison; Max Dauthendey, Die Spielereien einer Kaiserin (Schiller-Theater, 25.09.34); Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm (Staatstheater, 26.09.34). – „Noch ist es verfrüht, aus den Vorankündigungen und den ersten Veranstaltungen die Physiognomie der kaum begonnenen Spielzeit herauslesen zu wollen. Wir wissen auch aus langer Praxis, daß Programme nicht selten von einem Erfolg umgekrempelt werden, obwohl das keineswegs auf die staatlichen Theater zutrifft, die peinlich exakt sogar an den für die Premieren vorgesehenen Daten festhalten. – Was glaubt man also herauslesen zu können? Zunächst einmal, daß das sogenannte Zeitstück – die dramatische ‚Stellungnahme’ zu einem politischen, sozialen, sozialpolitischen, kulturellen, ethischen, ethnographischen, wirtschaftlichen Problem der Gegenwart – stark im Rückgang begriffen ist. Wenigstens in der Hauptstadt, während die Bühnen des Reiches dafür, wie es scheint, noch eher Abnehmer sind. Nach dem Umsturz muß sich eine wahre Hochflut gesinnungstüchtiger Dramen über die Theaterkanzleien ergossen haben; ungezählte Federn oder Schreibmaschinen pirschten sich an aktuelle Themen heran, ohne damit indes der theaterliebenden Menge die ihrem Geschmack zusagenden circenses zu bieten. Aus einer Statistik, die in irgendeinem Fachblatt erschien, war zu ersehen, daß im vorigen Jahr innerhalb der deutschen Grenzen ungefähr jeden Tag eine Uraufführung vom Stapel ging, und zum weit überwiegenden Teil waren es Zeitstücke, die aus der Taufe gehoben wurden. Mit ganz wenigen Ausnahmen verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen; sie sind heute vergangen wie der Schnee vom vorigen Jahre. – In dem Maße, wie die Heutigen und Heutiges abfielen, mehrten sich die Chancen für die Gestrigen, ja die Vorgestrigen. Älteste Bühnenwerke, nach denen kein Hahn mehr krähte, erlebten plötzlich eine Urständ; Kotzebue und die Birch-Pfeiffer tauchten wieder empor aus dem Grab. Das Staatstheater bereitet sogar einen Scribe vor und läßt damit, nach langer Pause, wieder einen Franzosen ein. Auch Sudermann wurde gegen Ende der letzten Spielzeit als Bühnendichter für Berlin neu entdeckt. Worin lag wohl der Zauber, der mit einemmal von diesen ‚ollen Kamellen’ ausstrahlt? Es war nichts anderes als das gediegene Handwerk, die gute Mache, das spannende Theater. Die Leute bekamen im Theater wieder ‚Theater’ vorgesetzt und empfanden nach so vielen hingeschluderten Stücken mit Tendenz, mit nichts als Tendenz, die festgefügten, die gekonnten als Labsal. – Auch Victor van Buren, der neue Herr des schicksalsreichen Schiller-Theaters, das in Privathand zurückgekehrt ist, scheint sich vom ‚Theater’ für das Theater etwas zu versprechen; sonst hätte er nicht mit den Spielereien einer Kaiserin von Max Dauthendey begonnen, die nun auch schon ihre zwei Jahrzehnte auf dem Rücken tragen. Im Programmheft wird ein bißchen kühn behauptet, es handle sich um ‚ein Spiel, das in den Kurs des Lebenswillens unseres neuen Deutschland hineingehört’; gleichwohl ist es nicht leicht, sich ein Spiel auszudenken, das mit dem Lebenswillen des neuen Deutschlands (wir wollen dem Genitiv sein Recht lassen) weniger zu tun hat als diese maniakalische Liebe der vom Dragonerweib zur Kaiserin aller Reußen aufsteigenden Katharina. Einerlei – dem Publikum gefiel das Spiel, gefiel noch mehr das Spiel Agnes Straubs, die eine Paraderolle auf die virtuoseste Art ausschöpfte und in Friedrich Ulmer als Menschikoff einen Partner hatte, der mit jedem Wort, jedem Tonfall, jeder Miene, jeder Geste ‚Theater’ gibt, das an die Tage Possarts und Bonns erinnert. – Außer der Renaissance des Kostümstücks haben wir im Staatstheater einen Zyklus von Dramen zu erwarten, die der preußischen Geschichte entnommen sind. Gewissermaßen als Auftakt sollte Lessings Minna von Barnhelm gelten, deren norddeutsches Wesen schon Goethe hervorhob, wiewohl weder der Herr Major noch das adelige Fräulein sich in ihrem Reisepaß als preußisch ausgeben können. Das Star-Ensemble des Schauspielhauses, geführt von Gustaf Gründgens, ließ alle heitern Lichter des Lustspiels aufblitzen, so daß das seriöse Liebespaar von dem Buffopaar ein wenig in den Hintergrund gedrängt wurde. Gründgens selbst spielte den Riccaut – sehr bravourös, doch nicht frei von Outrierung. Ein anderer Regisseur hätte diesen zum Spitzbuben degradierten Glücksritter, der sich rote Bäckchen angemalt hatte, wohl nicht ganz so durchgelassen. Die menschlich rundeste Gestalt lieferte Eugen Klöpfer als Just; das war wirklich ein knurriger Pudel, dem die Herzensgüte aus den Augen leuchtete. Paul Hartmann kommt durch männliche Noblesse dem Ideal des Tellheim nahe, ohne das Interesse für ihn steigern zu können. Die Damen waren diesmal das schwächere Geschlecht.“

Berliner Theater. NZZ, 14. Oktober 1934, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1838.
William Shakespeare, Was ihr wollt (Volksbühne, 08.10.34); George Bernard Shaw, Die heilige Johanna (Deutsches Theater, 05.10.34). – „Von dramatischen Neuheiten ist wenig zu berichten. Berlin hält sich sichtlich zurück und überläßt es den Bühnen des Reiches, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Die Furcht vor Nieten ist in der Hauptstadt so weit gediehen, daß man selbst für die Eröffnung eines neuen Studios auf Finderehrgeiz verzichtet und sich damit begnügt, ein schon an anderer Stätte mit geringem Erfolg gegebenes Kriegsstück erneut zur Debatte zu stellen [s. folgende Theaterkritik]. – Die Volksbühne, nunmehr unter staatlicher Obhut, hatte mit der Wahl ihrer modernen Legende kein rechtes Glück [s. NZZ vom 20.09.34, Nr. 1682]. Es folgte Shakespeares Komödie Was ihr wollt, inszeniert von Detlef Sierck aus Leipzig. Der in Berlin noch nicht hervorgetretene Regisseur stand geradezu vor einer Sisyphusarbeit: es galt, ein vornehmlich aus jungen, zum Teil von ihrem Intendanten, dem Grafen Solms, aus Dessau mitgebrachten Schauspielkräften bestehendes Personal so weit für Berlin reif zu machen, daß die Erinnerung an frühere glanzvolle Aufführungen des Werkes im Deutschen Theater sich nicht wie eine schwarze Wolke vor die neue Darbietung schob. Sierck scheint die Fruchtlosigkeit dieses Bemühens richtig erkannt zu haben, denn er verlegte in seiner Verlegenheit das Schwergewicht vom Akustischen ins Optische. Hier machte sich eine gewisse Originalitätssucht bemerkbar. Schauplatz der Handlung ist bei Shakespeare Illyrien, ein phantastisches Illyrien, ein Märchen-Illyrien, von dem der Dichter schwerlich mehr Vorstellung gehabt haben dürfte als von Böhmen in seinem Wintermärchen. Sierck ließ daraus durch seinen Bühnenbildner Josef Fenneker ein echtes, ein ethnographisches, ein Balkan-Illyrien machen. Es gab eher einen Gutshof mit hoch getürmten Garben als ein romantisches Schloß zu sehen: die Szene sollte mehr illyrisch als lyrisch erscheinen. – Von den Darstellern traf einzig der bestens bekannte Hans Halden als Malvolio den Shakespeare-Ton; bei ihm wuchs die Komik wie von selbst zur Tragikomik empor. Aber was war aus dem Terzett der Spaßmacher geworden! Der feiste Sir Toby, diese Vorstudie zum Falstaff, war mehr lange Latte als Dickwanst und von eingefrorenem Humor; der Junker Bleichenwang hatte in der Verkörperung durch einen Kabarettisten überhaupt kein Profil; und der Narr mit seinen akrobatischen Sprüngen hätte jedem Wanderzirkus mehr Ehre gemacht als der Geistigkeit des Dichters. Im letzten Drittel des Abends kamen die Darsteller näher an Shakespeare heran, weil durch einen Glückszufall die Ähnlichkeit der Zwillingsgeschwister – sonst häufig eine crux – tatsächlich vorhanden war. Wie konnte es auch anders möglich sein, wenn die Schauspieler Saal und Balhaus heißen? Der idealen Forderung der Förderung des Nachwuchses wird jeder zustimmen; ob aber gerade Berlin die geeignete Experimentierstatt ist, das steht auf einem andern Blatt. – Rasch noch ein Wort über Hans Rothes Eindeutschung, mit der hier ja schon des öftern abgerechnet wurde [s. z.B. in der NZZ vom 02.05.34, Nr. 777]. Sie geht in ihrem Streben nach Modernisierung so weit, daß sie auch vor heutigen Ausdrücken nicht zurückscheut; dabei sind Entgleisungen unvermeidbar. Rothe weiß natürlich, daß den heutigen Engländern die Sprache Shakespeares keineswegs so leicht verständlich ist wie uns die Schlegelsche Übertragung: wenn er es sich trotzdem in den Kopf gesetzt hat, Schlegel noch zu aktualisieren, so ist das weniger Notwendigkeit als Marotte. Nicht zu billigen ist es auch, daß Zitate angefaßt, ohne verbessert zu werden. Ein Beispiel: ‚denn der Regen regnet jeglichen Tag’ kommt nicht nur dem Original näher, sondern ist besser als Rothes: ‚denn bei Tag und bei Nacht der Regen rinnt.’ – Leichter als Sierck hatte es Heinz Hilpert, da er im Deutschen Theater, gleichfalls nun unter staatlicher Obhut, Shaws Heilige Johanna wiederaufnahm. Erstens standen ihm tüchtigere Kräfte zur Verfügung, und zweitens war die Konkurrenz Reinhardts hier nicht so groß; denn die Inszenierung dieses Werks gehörte nicht zu seinen unvergeßlichen Leistungen. In manchen Punkten konnte man die Londoner Aufführung der Berliner überlegen finden [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 18.10.24, Nr. 1554], und jetzt durfte man sich freuen, daß Hilpert seinen Vorgänger in der Inszenierung des schwer zu meisternden Epilogs übertraf. Mit höchster Spannung hatte man der Verkörperung der Jungfrau durch Paula Wessely aus Wien entgegengesehen, die sich durch ihre Rose Bernd in die allererste Reihe gespielt hat und in dem Film Maskerade diesen Platz vollauf behauptet. Sie bringt für Shaws gescheites Landmädchen alles mit, nur der mystische Einschlag, das Visionäre, fehlt. Diese Johanna glaubt vielleicht an sich, doch es ist ihr nicht gegeben, den Glauben auf andre zu übertragen, weil sie zu irdisch, zu gesund, zu mollig ist. Diese Johanna war auch eher aus der Leopoldstadt als aus Lothringen, mit andern Worten: die Wiener Färbung der Sprache störte bisweilen. Eine schlechte Johanna hat es auf deutschen Bühnen wohl nicht gegeben (die Londoner war für unsere Begriffe schlecht, weil sie zu pathetisch, zu sehr Heroine im Sinne der Meininger war): Paula Wessely kommt in dieser Rolle jedoch ihrer Vorgängerin Elisabeth Bergner nicht gleich [vgl. ebd.].“

Berliner Studio. NZZ, 17. Oktober 1934, Abendausgabe, Nr. 1862.
Friedrich Bethge, Reims (Studio der Kammerspiele, 30.09.34).- „Mit dem schon vor drei Jahren im Theater des Westens aufgeführten und hier besprochenen Kriegsstück Reims von Friedrich Bethge [s. NZZ vom 13.10.31, Nr. 1934] wurden die Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin am Vormittag des Erntedankfestes als Versuchsbühne eröffnet. Das Drama präsentierte sich in neuer Fassung, aber seine Knappheit hat bisweilen etwas Dürres und Dürftiges. Ein neuer Regisseur, Paul Dahlke, trat mit einer schlichten, ungekünstelten Inszenierung hervor: außer bekannten wirkten auch etliche für Berlin neue Darsteller mit, ohne daß sich eine überragende schauspielerische Begabung in dieser ersten Studio-Darbietung bemerkbar gemacht hätte. Es ist geplant, Aufführungen, die sich in einer Morgenfeier bewähren, als Abendvorstellung in den Kammerspielen en suite zu geben. Dem Beifall nach zu schließen, hat sich die erste Morgenfeier bewährt: gleichwohl ist schwer vorauszusagen, ob nach 16 Jahren [seit Ende des 1. Weltkriegs] beim zahlenden Publikum noch Stimmung für ein Kriegsstück, für ein solches Kriegsstück vorhanden ist.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Oktober 1934, Abendausgabe, Nr. 1875.
Heinrich Schmidt-Schmiedebach, Der große Topf (Theater am Schiffbauerdamm, 10.09.34). – „Er hat ganz recht, der unbekannte Theaterbesucher, wenn er in einem imaginären Gespräch mit dem Theaterdirektor sagt, ein Theaterbesuch dürfe nicht verfliegen wie eine Seifenblase. Er müsse haften bleiben, sei es auch nur in geringen Einzelheiten. ‚Und er bleibt nur dann haften, wenn ich von Dingen gepackt werde, die mich etwas angehen.’ Ach, könnte der weniger unbekannte Theaterbesucher am nächsten Morgen doch bestätigen, daß seine Eindrücke des gestrigen Abends nicht wie eine Seifenblase verflogen seien! Er sieht sich jetzt oft Bühnenschriftstellern gegenüber, deren Namen er nicht einmal vom Hörensagen kennt (trotz mehr als dreißigjähriger Beschäftigung in der Branche), deren geistige Handschrift ihm schwer entzifferbar ist, deren politische Gesinnung dafür aber plakatmäßig in die Augen springt. Und er sieht sich inmitten einer Hörerschaft, die früher im Theater gar nicht oder selten anzutreffen war, deren schöne Naivität sich durch häufiges Lachen bekundet an passenden und auch an weniger passenden Stellen, so daß dem Staat als Erzieher zur Kunst hier noch ein tüchtiges Stück Arbeit vorbehalten bleibt. Andere Menschen wollen andere Stücke haben, oder andere Stückeschreiber sind auf der Suche nach andern Menschen. Damit muß man sich allmählich wie mit einer unabänderlichen Tatsache abfinden. – Der unbekannte Autor, der im wandlungsreichen Theater am Schiffbauerdamm vom neuen Direktor Fritz Wendel vorgestellt wurde, heißt Heinrich Schmidt-Schmiedebach, seines Zeichens Landesverwaltungsrat. Aus seiner beruflichen Tätigkeit, die den Vaganten und Vagabunden gilt, floß ihm ohne weiteres der Stoff zu seiner Komödie Der große Topf zu, im Untertitel ‚ein lustiges Stück von Burschen, Behörden und Bauern’ genannt. Ausländische Beurteiler sind immer voll des Lobes für die soziale Fürsorge in Deutschland gewesen: umso mehr überrascht es, daß wir jetzt mit den ‚liberalistischen Mißständen’ auf diesem Gebiete bekannt gemacht werden. Der neue forsche Regierungsrat räumt mit dem System staatlicher Versorgung der Arbeitsscheuen und Simulanten, die sich auf Kosten des Staates, des großen Topfes, aus dem alle Mittel fließen, ein gutes Leben im Krankenhaus zu bereiten wissen, gehörig auf. Seinem Schneid gelingt es, die Brüder von der Walze wieder einer geregelten Arbeit zuzuführen und auch einen mißtrauischen Bauer dahin zu bringen, daß er den Tippelbruder von der Landstraße als Eidam aufnimmt. – Was ist am andern Morgen davon übriggeblieben? Vielleicht die lustigen Szenen im Krankenhaus, wenn die Patienten das Radio anstellen und wahre Indianertänze aufführen. Alles andere hat sich verflüchtigt, wie eine Seifenblase. Zum Glück waren die Darsteller schlagender als das Darzustellende; namentlich Karl Meixner, unvergessen seit seinem jungen Schalanter an der Volksbühne [in Anzengrubers Das vierte Gebot am 16.10.31], ließ durch das ungestüme Brio seines Sprechens aufhorchen. Das gute Spiel verhalf dem weniger guten Schauspiel zum Publikumserfolg.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Oktober 1934, Mittagausgabe, Nr. 1894.
Ralph Arthur Roberts u. Leo Lenz, Ehe in Dosen (Theater in der Behrenstraße, 01.10.34); Ronald Jeans u. Alf Teichs, Kann eine Frau sich ändern? (Theater am Kurfürstendamm, 11.10.34). – „Ehe in Dosen heißt ein Lustspiel, das der Direktor Ralph Arthur Roberts zusammen mit seinem Hauspoeten Leo Lenz sich auf den Leib geschrieben hat. Die Stücke schreibenden Schauspieler denken in erster Linie an sich selbst, ob es sich nun um Sacha Guitry, Noel Coward oder Curt Götz handelt, während die dichtenden Schauspieler, wie z.B. ein gewisser Shakespeare, weniger auf die Hauptrollen versessen und mehr auf ihre Kollegen bedacht sind. Wie dem auch sei – Hut ab vor diesem Roberts, der als einziger actor-manager (so nennt man in angelsächsischen Ländern die Verbindung von Theaterleiter und Protagonisten) sich nun schon eine stattliche Reihe von Jahren, allen Widrigkeiten der Zeit zum Trotz, in Berlin behauptet. Sein literarischer Ehrgeiz ist nicht sehr groß, sein Etat ist nicht sehr groß, und so bietet er anständiges Unterhaltungstheater. Diesmal hat er sich um eine Gestalt und eine Mundart bemüht, die bisher in seinem etwas monotonen Repertoire nicht vorhanden waren. Er gibt einen Bohémien von Musiker tscherkessischer Abkunft, dem seine Frau zu bürgerlich ist. Sie kommt ihm nach fiktiver Scheidung der Ehe als mondäne Sängerin, und er verliebt sich auf der Stelle in die also Verwandelte; ein Jahr später teilt sie als Hafendirne ihm mit, daß jenes Beisammensein nicht ohne Folgen geblieben ist, worauf er freudestrahlend Mutter und Kind bei sich aufnimmt. Alles war nur Täuschung: der Komponist sieht ein, daß ihm eine bürgerliche Gattin am besten taugt. Hut ab auch vor dem Schauspieler Roberts, der frei von allen durch die Filmerei gezeitigten Grimassen sich diesmal eine wohltuende Zurückhaltung angelegen sein läßt und nicht nur zum Gaudium seines Stammpublikums zeigt, ein wie vorzüglicher Komödienspieler er sein kann. – Umgekehrt ist in dem vermutlich englischen Lustspiel Kann eine Frau sich ändern? von Ronald Jeans-Teichs (was für ein Vexierspiel von einem Namen!) der praktische, ordnungsliebende Mann dem Schusselchen von Frau zu bürgerlich (Schusselchen hieß eine Komödie des Berliner Bürgermeisters Georg Reicke [1905]). Sie ist eine rechte Bohémienne-Natur, das, was man vor dem Krieg eine Garçonne genannt hätte. Doch wie so oft: Les extrêmes se couchent. Und sogleich ist auch der Krach da. Was sich liebt, das kracht sich, hieß in anfechtbarem Deutsch der Titel eines andern englischen Lustspiels. Mag die Frau noch so oft Besserung geloben, sie kann nicht aus ihrer Haut heraus, wofür schon der alte Horaz den Vergleich mit der Natur und der Mistgabel gefunden hat [Epistel, I.10.24]. In der Behrenstraße war es die allzu bürgerliche Frau, im Kurfürstendamm-Theater ist es der allzu bürgerliche Mann, die ihr Teil abbekommen. Man könnte fast zu dem Schluß gelangen, an der bespöttelten Bürgerlichkeit müsse doch etwas dran sein, wenn es ihr gelingt, derangierte Verhältnisse zweimal in Ordnung zu bringen.“

Kompromißloses Theater in Berlin. NZZ, 1. November 1934, Abendausgabe, Nr. 1965.
Wilhelm Matthiesen, Heilige Erde („Die junge Bühne“ der NS-Kulturgemeinde „Kraft durch Freude“ im Theater am Nollendorfplatz, 29.10.34). – „Kompromißloses Theater in Berlin – als solches bezeichnet sich die ‚Junge Bühne’ der NS-Kulturgemeinde ‚Kraft durch Freude’. An ihr sollen ‚nationalsozialistische Dichter, die aus dem Geiste des Nationalsozialismus heraus schreiben’, zu Worte kommen. Unmißverstehbar heißt das, daß die Zugehörigkeit zur Partei, die politische Einstellung, die Gesinnung das Ausschlaggebende ist, obwohl von führenden Stellen in verschiedenen Reden unmißverstehbar erklärt wurde, daß auch im Dritten Reich die Gesinnung allein die Kunst nicht machen dürfe. Doch hören wir weiter: ‚Es soll kein Experimentierkabinett aus dieser „Jungen Bühne“ werden, wie es die Studios einer vergangenen Epoche durch den übertriebenen Intellektualismus ihrer Führer allzu oft wurden.’ Aber erst vor einer Woche hat doch Heinz Hilpert, der jetzt auch dem Propagandaministerium untersteht, ein solches Studio vom Stapel gelassen. – Als erste Gabe brachte die ‚Junge Bühne’ ihren Mitgliedern das Schauspiel Heilige Erde von Wilhelm Matthiesen. Darin findet die Tochter eines norddeutschen Bauern, die Ärztin geworden und mit einem von amerikanischen Petroleummagnaten angestellten Ingenieur verlobt ist, nach dem Tode des Vaters und des minderjährigen Erben den Weg zum alten Bauernhof zurück. Die Stimme des Blutes ist stärker: die Erde hat sie wieder. Das erregt mehr die Menschen auf als vor der Bühne (des Nollendorfplatz-Theaters), findet keinen Anschluß an die Hörer, weil es undramatisch gestaltet ist, von allem andern zu schweigen. Dementsprechend war die Aufnahme frostig.“

Berliner Theater. NZZ, 5. November 1934, Mittagausgabe, Nr. 1989.
Eugène Scribe, Das Glas Wasser (Staatstheater, 26.10.34); Edgar Kahn u. Ludwig Bender, Spatzen in Gottes Hand (Theater am Schiffbauerdamm, 24.10.34); Hans Christoph Kaergel, Hockewanzel („Die junge Bühne“ der NS-Kulturgemeinschaft „Kraft durch Freude“ im Theater am Nollendorfplatz, 21.10.34). – „‚Wie kommt Saul unter die Propheten?’ mag manch einer im Ausland denken, wenn er erfährt, daß das Staatliche Schauspielhaus in Berlin, des Reiches repräsentativste und gleichzeitig programmatischste Bühne, Scribes Lustspiel Das Glas Wasser in sein Repertoire zugelassen hat. Damit wird dem reinen Unterhaltungstheater die Tür aufgetan, und damit gelangt der erste Franzose, seit dem Umsturz, am Gendarmenmarkt zur Aufführung. Schon im Altertum war das Amüsiertheater, neben dem Theater als ‚moralischer Anstalt’, als Kultstätte nie ganz auszuschalten, und nur sture Fanatiker können etwas dagegen einwenden, daß man heute Shakespeare und morgen Schönthan, daß man heute Kleists Hermannsschlacht und morgen Das Glas Wasser spielt. Die Hauptsache bleibt doch immer, daß an beiden Abenden gut gespielt wird. – Das hat sich offenbar auch der neue Intendant Gustaf Gründgens gesagt, und ein bißchen wird es ihn wohl auch gelüstet haben, selbst in der Paraderolle des Bolingbroke zu paradieren. Was ihm auf die charmanteste Art gelang; er hüte sich bloß, daß sein Paradieren ins Parodieren einmündet, daß seine geistige Überlegenheit in Selbstgefälligkeit ausartet. Ohne Kontakt mit dem Publikum wird kein Darsteller glücklich; mit dem Publikum zu kokettieren ist jedoch ein Rückfall in einen Stil, der seit der Blütezeit Friedrich Haases überwunden schien. Gründgens’ Partnerin aus gleichem Geblüt war Hermine Körner als Herzogin von Marlborough. Soll man sagen, Hermine Körner sei ein weiblicher Gründgens oder Gustaf Gründgens sei eine männliche Hermine Körner? Jedenfalls war ihr Zusammenspiel oder vielmehr ihr Gegeneinanderspiel von hoher Harmonie und wurde mehrmals in die offene Szene hinein von spontanem Beifall unterbrochen. – Einiges war geschehen, den alten Scribe aufzufrischen. Man gab sein bestes Lustspiel in einer Bearbeitung von A. Cosmar, der es wohl auf Kürzung der Monologe und auf Straffung ankam: wie weit sie von dem Original abweicht, wird schwerlich den Gegenstand einer Dissertation bilden. Man umrankte die Akte mit Musik von Couperin, die Mark Lothar voller instrumentiert hatte, wobei man über die Bedenken hinwegsah, daß Couperin einer andern Zeit angehört. Rochus Gliese schuf einen schönen Palastraum, der nur nicht an der Themse zu finden gewesen wäre. Doch das Schönste der von Jürgen Fehling mit spürbarem Behagen geleiteten Aufführung waren die Kostüme der Damen – Stofforgien, Farbenräusche, Kleiderträume. Königin, Herzogin, Hofdamen wetteiferten in geschmackvollen Gewändern. Es war eine Lust zu schauen. Laßt die Modeberichterstatterin, wie es früher üblich, davon singen und sagen. ● Zwei neue Volksstücke in einer Woche – das mag dartun, wie sehr man sich um diese dramatische Gattung bewirbt in einer Zeit, welcher der Anschluß ans Volk den Anschluß an den Staat bedeutet. Das Theater am Nollendorfplatz gab ein historisches Volksstück, vom Grenzlandproblem überschattet; das Theater am Schiffbauerdamm ein heutiges, das sich seltsamerweise ‚Volkskomödie’ nennt, was fast auf eine contradictio in adjecto hinausläuft, da wir in der Komödie die höhere, meist nicht volksmäßige Art des Lustspiels zu sehen gewohnt sind und nicht recht einsehen, warum die gute, das Wesen der Sache treffende Bezeichnung ‚Schwank’ gemieden wird. Doch Edgar Kahn, der Mitverfasser des Dramas Langemarck, und Ludwig Bender, jugendlicher Komiker in Braunschweig, lassen sich deshalb keine grauen Haare wachsen. Sie nehmen für ihren Schwank Spatzen in Gottes Hand das Gute, wo sie es finden; sie nehmen sogar, sicherlich ohne es zu wissen, einen der am meisten belachten Witze vom Verleger Schottländer aus Breslau. Ihr kleiner Sparkassenhilfsstellenangestellter ist ein naher Verwandter des Helden in Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? und überwindet, ganz wie dieser, die Powreteh durch Heiterkeit des Gemüts. Er schickt, um seinem still duldenden ‚Lämmchen’ eine Freude zu bereiten, einen Brief an sich, dem zufolge ein reicher Onkel in Ohio ihn zum Erben eingesetzt hat. Die Handlung berührt sich also einigermaßen mit der eines musikalischen Lustspiels Der Onkel aus Amerika [von Arthur Lippschitz u. Fritz Friedmann-Frederich; Musik von Bertrand Sänger], das vor etlichen Jahren mit dem inzwischen verstorbenen [Julius] Falkenstein [gest. 09.12.33] in der Komischen Oper aufgeführt wurde. Doch damit soll nichts gegen die Fröhlichkeit gesagt sein, die von den kleinbürgerlichen Menschen ausgeht und sich auf die Hörer überträgt, zumal die Darsteller am Schiffbauerdamm ihre Rollen nicht spielten, sondern waren – wie aus der Kleinstadt nach Berlin geholt. ● An der deutsch-böhmischen Grenze lebte vor mehr als hundert Jahren ein Erzdechant, Wenzel Hocke geheißen, mit der in Schlesien üblichen Umstellung des Vor- und Zunamens ‚Hockewanzel’ genannt, der wegen seiner Grobheit im Volk beliebt und gefürchtet war. Man hat sich unter ihm eine Gestalt mit Rabelaisischem Sprachschatz vorzustellen; allein was der Verfasser des Volksstückes, Hans Christoph Kaergel, an sprachlich Urwüchsigem beisteuert, beschränkt sich fast nur auf ein nicht gerade salonfähiges, aber sehr verbreitetes Wort, das ungefähr ebenso anstößig ist wie das bloody im Munde des Shawschen Blumenmädchens (im Pygmalion). Wichtiger ist, daß der Geistliche das Herz auf dem rechten Fleck hat und alles aus Liebe für seine Pfarrkinder tut. Er will um keinen Preis dulden, daß in der Kirche zu Politz böhmisch gepredigt und böhmisch gebetet wird. Die Kirche ist deutsch, und deutsch soll sie bleiben. Deswegen gerät er mit der hohen Geistlichkeit in Konflikt. Eine kluge Lösung wird gefunden: der Dechant erhält den Bischofsstab, soll aber ins Böhmische versetzt werden. Nimmermehr gibt er sich dazu her. Just im rechten Augenblick bricht der Krieg gegen Napoleon aus. Hockewanzel wird mit den Brüdern gegen den Erbfeind marschieren. – Das ist unbedingt ein volkstümlicher Stoff, wenn es auch nicht absolut nötig war, ihn so primitiv zu behandeln. Die Art etwa, wie der Gegenspieler, der bischöfliche Kanzler, als schwärzester Bösewicht hingestellt wird, erinnert an frühstufige Spiele der Menschheit. Den Mitgliedern der Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude’ machte indes die Kraftnatur des geistlichen Herrn, der kein Blatt vor den Mund nimmt, viel Spaß, so daß Freude durch Kraft entstand, besonders da in Walter Süssenguth, der aus Klöpfers Ton geknetet scheint, ein überzeugender Darsteller gefunden war. Auch sonst durfte man mit der von Fritz Holl betreuten saubern Aufführung im Theater m Nollendorfplatz zufrieden sein.“

Schiller-Feiern in Berlin. NZZ, 15. November 1934, Morgenausgabe, Nr. 2050.
Die Braut von Messina (Staatstheater, 10.11.34); Die Jungfrau von Orleans (Volksbühne, 07.11.34); Wallenstein (Theater des Volkes, 11.11.34). – „Den Geburtstag beging das Staatliche Schauspielhaus, indem es die vor einem Jahr gezeigte Braut von Messina in teilweise neuer Besetzung wieder seinem Spielplan einfügte. Auch die Volksbühne, die jetzt staatlicher Führung untersteht, wollte sich an der Ehrung des populärsten deutschen Dramatikers beteiligen durch eine Aufführung der Jungfrau von Orleans, ohne damit indes Lorbeern einzuheimsen und den Ansprüchen einer großstädtischen Kritik zu genügen. Schillers Jungfrau – es ist schmerzlich, aber wahr – hat einen schweren Stand neben Bernard Shaws Heiliger Johanna. Der unromantische Dichter, der sogar gegen den Superlativ nichts einzuwenden hätte, hat für seine Zeitgenossen das verzückte Landmädchen glaubhafter gestaltet als der romantische. Die Märtyrerin steht unserm Herzen näher als die Heldenjungfrau. Wer glaubt heute noch, daß eine von ihrer göttlichen Sendung erfüllte Prophetin mitten auf dem Schlachtfeld das Opfer einer Liebe auf den ersten Blick wird? Und selbst wenn sie es würde – wer vermöchte darin ein todeswürdiges Verbrechen zu erblicken? Die der Heldin untergeschobene Schuld wirkt beinahe so, als ob sie für das Drehbuch eines Kinodramas erfunden wäre. Schiller selbst scheint gefühlt zu haben, daß seine Tragödie nur durch den Zusatz ‚romantisch’ eine Existenzmöglichkeit erhält. Darum muß auch das Romantische voll ausschwingen und darf nicht einer Darstellerin anvertraut sein, die schon für die Romantik Shakespearescher Komödien zu nüchtern ist [Herta Saal]. – Mit einer Huldigung, für die es nur die Bezeichnung non plus ultra gibt, trat das Theater des Volkes hervor. An dem auf den Geburtstag folgenden Sonntag wurde vor dreitausend Zuschauern die ganze Wallenstein-Trilogie samt Prolog gespielt. Von drei Uhr nachmittags bis halb elf Uhr nachts (mit einstündiger Pause). Von ‚Der scherzenden, der ernsten Maske Spiel’ bis ‚Dem Fürsten Piccolomini’. Vorher war in der Zeitung zu lesen: ‚Und gestrichen werden sollte auch nicht – keines dieser kostbaren Worte, keiner dieser (man beachte das Deutsch!) an Zeiten ungebundenen Gedanken, die uns durch die herrliche Sprache Schillers übermittelt werden, sollte verloren gehen.’ Auch hier zeigte sich wieder, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Gleich zu Beginn fiel auf, daß der letzte Absatz des Prologs mit der berühmten Schlußzeile: ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst’ gestrichen war. Weshalb wohl? Bei wem mag sie Anstoß erregt haben? Später vermißte man noch die Szenen der Familie Wallenstein und Theklas Lied. – Schwerlich wäre das nach dem Herzen Uli Klimschs gewesen, der kürzlich im Autor ein ernstes Wort an die Bühnen richtete und ‚Hände weg von der Dichtung’ verlangte. ‚Die Wagnersche Oper wird bis auf die letzte Note genau gegeben … Warum bei Wagner dies? Warum bei Schiller nicht? Sind Schillersche Verse weniger als Wagnersche Takte? Glaubt man in der Tat, daß Verse eines großen Dichters minder wichtig und leichter zu streichen seien, als Takte eines großen Komponisten? … Ehrt eure deutschen Meister! Und dies heißt hier: Spielt, wie es dasteht! Habt Ehrfurcht vor der Dichtung!’ – So kann – mit Verlaub – nur ein theaterfremder Mann, ein verstiegener Ideologe, ein intransigenter Theoretiker urteilen. Denn es hat noch keine dramatische Schöpfung gegeben, die nicht durch sorgsame, freilich mit viel Verständnis auszuführende Striche an Bühnenwirksamkeit gewonnen hätte. Ob es sich um hehre Dichtung oder um leichte Unterhaltungsware handelt – in den Händen eines Praktikers, der kein pietätloser platter Bursche zu sein braucht, kann ihre dramatische Schlagkraft gesteigert werden. Wer von uns hätte nicht oft genug im Theater erlebt, daß ein wenige Minuten zu spät gefallener Vorhang den Akt um seine vehemente Wirkung gebracht hat! Wenn jetzt der Vorhang niederginge, sagte man sich mit bebender Ungeduld, wäre der große Erfolg da. Wie schade, daß der rechte Moment verpaßt wurde! So z.B. hatte Hermann Bahrs bestes Lustspiel Das Konzert im Lessing-Theater einen unerwarteten Bühnenerfolg, weil es, wie Otto Brahm witzig bemerkte, ein Streichkonzert war [s. MMs Besprechung in der NZZ vom 29.12.09, Nr. 360]. – So sehr man Klimschs ideale Forderung in der Theorie gutheißen mag, in der Praxis verbietet sie sich durch die einfachste Rücksicht auf den Hörer. Denn Kunst soll Genuß und nicht Strapaze sein; wer sich erhoben fühlen soll, darf nicht körperlich abgespannt sein. Der moderne Nervenmensch erträgt drei, allerhöchstens drei und eine halbe Stunde intensiven Kunstgenuß. Was darüber ist, ist vom Übel. Man werfe nicht das eine Wort ‚Bayreuth’ ein, denn Bayreuth steht auf einem andern Blatt, ist ein Kapitel für sich, und selbst Bayreuth … Wie Novemberfliegen sollen die von der Augustglut geschmorten Hörer aus dem Festspielhaus schleichen, nachdem sie fünf Stunden Götterdämmerung in sich eingesogen. Und das sind doch zum größten Teil Menschen, die Wagners Werk in- und auswendig kennen. – Im Theater des Volkes dagegen wendet man sich vornehmlich an Menschen, die durch einen langsamen Prozeß erst zum Kunstgenuß erzogen oder, wie es jetzt mit Vorliebe heißt, an ihn herangeführt werden sollen. Ob man denen gerade mit dem Wallenstein ein Geschenk macht – diese Frage wurde durch die Gegenfrage beantwortet, ob man einer ähnlich gearteten musikalischen Hörerschaft die letzten Quartette Beethovens vorsetzen soll und gleich in toto. Die brauchten allerdings lange nicht so viel Zeit zur Ausführung. – Doch ein besonderer Anlaß – der Gedenktag – mag auch zu besonderer Darbietung herausfordern. In den Wiederholungen soll ohnehin die Trilogie auf zwei Abende verteilt werden. Freudig anerkennend sei festgestellt, daß in dem großen, klangfressenden Haus eine Aufführung von beachtlichem Niveau zustandekam. Entbehrte man auch den Glanz mancher frühern Vorstellung, so war doch unter Richard Weicherts Leitung, mit Heinrich George als Wallenstein, die eifervolle Hingabe spürbar, mit der sich alle Mitwirkenden in den Dienst der Sache stellten. Und auch Fleiß verdient Preis.“

Berliner Theater. NZZ, 20. November 1934, Morgenausgabe, Nr. 2082.
Fedor von Zobeltitz, Weh dem, der liebt! (Schiller-Theater, 13.11.34). – „,Ich hab’ so gern gelebt’ – ja, wir glauben das dem letzten Kavalier Fedor v. Zobeltitz aufs Wort und wüßten keinen bessern Titel für die Lebenserinnerungen des verblichenen Epikuräers [gest. 10.02.34]. Weniger sagt uns der Titel seines Lustspiels Weh dem, der liebt! zu, erstens weil er inhaltlich nicht stimmt, und zweitens: weil er eine unreine Paraphrase des Grillparzerschen Lustspieltitels Weh dem, der lügt! ist. (Den hat der todkranke Paul Schlenther zutreffender und treffender in Weh dem, der liegt! umgekehrt.) Noch weniger freilich sagt uns das Lustspiel selbst zu, weil es nicht genug von der liebenswerten Menschlichkeit, der Besonderheit seines Verfassers gibt. Zobeltitz gehörte zu jenen Glückskindern, die durch ihre Persönlichkeit stärker als durch dichterische Leistung wirkten, und der Romanschriftsteller fühlte sich immer gehemmt, wenn er sich der Bühne zuwandte. Am wenigsten aber konnte die Art gefallen, wie das Lustspiel im Schiller-Theater durch eingelegte Songs aufgeplustert wurde; und wenn diese Songs gar mit Opernallüren vorgetragen wurden, war der Gipfel des Mißvergnügens erreicht. Das gut bürgerliche Publikum ließ sich dadurch in seiner Lachlust nicht hindern und bereitete dem harmlos, allzu harmlos heitern Spiel von dem Kapitänleutnant, der ohne Urlaub eine Liebesnacht mit seiner Frau verbringt, einen herzlichen Erfolg. Auch der Anspruchsvollere wird sich die Definition merken: der Kuß sei ein Kompromiß zwischen Rechthaben und Nachgeben. Zehn solcher Bonmots mehr, und Fedor hätte allen Ansprüchen genügt.“

Uta von Naumburg. NZZ, 2. Dezember 1934, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 2168.
Felix Dhünen, Uta von Naumburg (Deutsches Theater, 20.11.34). – „Wer je im Naumburger Dom vor den unsagbar herrlichen Steinfiguren des Stifterpaares gestanden, wird sich die Frage vorgelegt haben: was mögen das wohl für Menschen gewesen sein, dieser Markgraf Ekkehart und seine Gemahlin Uta? Waren sie so kaffrig wie die Zeit, in die sie hineingeboren, oder standen sie schon auf einer höhern Stufe der Menschlichkeit? Wenn man ihn länger anschaut, meint man in den Zügen zu lesen – ich will nicht sagen, daß er brutal war, aber daß er brutal werden konnte. Rechnet man die Enttäuschung über die Kinderlosigkeit seiner Ehe hinzu, so mag man einer Tragödie auf der Spur sein; und man zittert für das zage Geschöpf, das neben ihm steht und sich mimosenhaft scheu in die Falten seines Mantels verkriecht, als suche es darin Schutz gegen ein rauhes Wort, das ihm wehgetan. – Nun müßte man eigentlich, wie Walter Pater über das Lächeln der Mona Lisa, eine Seite unsterblicher Prosa über das Zartgefühl der Markgräfin Uta schreiben. So sehr beflügelt die graue Steinfigur heute noch die Phantasie. Es ist nicht anders, als werde einem Musiker ein schönes, edles Thema gereicht, über das er sich in Variationen ergehen soll. Kein Wunder, daß ein Dichter die Hand nach diesen Gestalten ausstreckt, um sie für die Bühne zu gewinnen. Der Dichter heißt Felix Dhünen, sein Werk Uta von Naumburg. – Psychologisch interessiert uns am meisten der dem Namen nach unbekannte Steinmetz, der dieses unvergängliche Wunder mit seinem Meißel schuf. Welches seelische Erlebnis hob ihn bei der Arbeit im Dom über sich selbst empor? Natürlich, er war in die Markgräfin verliebt, kostete jede Minute des Beisammenseins schwelgerisch aus, wollte ihre Gegenwart nicht missen und schützte, um länger in der Nähe der Geliebten bleiben zu können, immer wieder vor, er sei mit seinem Werke noch nicht zufrieden, halte es noch für verbesserungsbedürftig. – Es gehört nicht allzu viel Scharfsinn dazu, seine Ausflüchte zu durchschauen. Der am Hofe aus- und eingehende Mönch sagt es der Markgräfin auf den Kopf zu, sie habe den Künstler behext. Ganz so, wie ihr ja auch der Gemahl verfallen ist, sonst würde er die Entscheidung darüber, ob er an einem Kreuzzug teilnehmen solle, nicht von ihr fällen lassen. Was kann die edle Frau dafür, daß sie auf alle Männer, die mit ihr in Berührung kommen, solchen Zauber ausübt? Nur der beschränkte, zelotische Gottesmann sieht darin eine Schuld. Und es kommt ein junger Graf zu Besuch, strahlend wie der Erzengel Michael selber. Nie ist von Liebe zwischen ihnen die Rede, und doch fühlt Uta, daß auch dieser Mann ihrem Zauber erlegen ist, und zum erstenmal fühlt sie auch, daß sich in ihrer Brust etwas für diesen reinen Jüngling regt. – Das sind einige Motive, die zur Handlung des Dramas geschichtet sind. Manches ist recht glücklich erfunden, manches hinwiederum bedenklich. So grenzt es dicht ans Lächerliche, daß der Markgraf in namenloser Wut über die Bezichtigung des Mönchs wähnt, diesen erwürgt zu haben, bis wir dann erfahren, der Totgeglaubte habe sich eines bessern besonnen und die Augen wieder aufgeschlagen. Das geht nicht, nicht einmal in einer Dichtung, deren Vorwurf viele Jahrhunderte zurückliegt, soll sie nicht ein typisches Epigonenwerk aus der Schule Schack werden, wovor sie auch ein ordentlicher Schuß Hebbel nicht bewahren kann. Doch der zuverlässigste Prüfstein für dichterische Werte bleibt die Handhabung der Sprache. Dhünen hält sich auf einer sichern mittlern Linie, von der er sich kaum je erhebt, wohl aber öfters in die Platitüde gleitet. Der abgenutzte Jambus verhüllt ja Gemeinplätziges nicht, sondern entlarvt es eher. – Auch dieses Werk hatte schon die Aufmerksamkeit der Provinz – Verzeihung: des Reiches geweckt, eh es den Weg nach Berlin ans Deutsche Theater fand. Heinz Hilpert nahm sich seiner mit Sorgfalt an, hätte nur das ungeschickte Kommen und Gehen der Personen etwas vertuschen sollen. Für die Uta stand ihm in Käthe Dorsch eine schlechterdings vollendete Beseelerin zur Verfügung. Liegen ihrem aktivistischen Naturell diese überwiegend passiven Rollen auch nicht sonderlich, so wob sie doch einen Heiligenschein um das Haupt der Dulderin. Ihr markgräflicher Gatte war Christian Kayßler, Friedrichs Sohn. Die Natur hat sich hier eine lächerliche Wiederholung geleistet: nicht nur der Vater, wie er spricht und schweigt, sondern auch, wie er geht und steht. – Der Beifall machte nicht einmal vor dem eisernen Vorhang Halt.“

Berliner Theater. NZZ, 8. Dezember 1934, Morgenausgabe, Nr. 2215.
Hans Rehberg, Der Große Kurfürst (Staatstheater, 30.11.34). – „Paul Schlenther hat den Kritikern aus seiner langen Erfahrung heraus den wohlgemeinten Rat gegeben, unvorbereitet ins Theater zu gehen, nicht vorher zum gedruckten Text zu greifen, sondern die durch die Bühne vermittelten Eindrücke als erste Instanz auf sich wirken zu lassen. Ich weiß nicht, was mich bestimmt hat, im Falle des Schauspiels Der Große Kurfürst von Hans Rehberg mit dieser Gepflogenheit zu brechen; vielleicht war es nur der Umstand, daß einem die Buchausgabe vom Verlag S. Fischer ins Haus geschickt wurde. Schon die Firma konnte als Gewähr dafür gelten, daß man es nicht mit einem Konjunkturstück und einem Stück Konjunktur, nicht mit einem vom Baum patriotischer Marktware hurtig abgerissenen Zweig zu tun hatte. Gleich die ersten Seiten bestätigen den Eindruck. Da tritt, wie in der Braut von Messina, ein aus zwei Halbchören bestehender Chor auf, der, als Ouvertüre gleichsam, seine Reflexionen zum besten gibt und uns darauf vorbereitet, daß der Held nicht das Höchste der Schöpfung ist. ‚Wenn er als Mensch nicht Leid erlitt in seines Lebens Anfang, Mitte oder Ende, so wird er bald vergessen sein. Denn eine Tat wird stets getan von vielen, aber Leid und Unrecht, Sorge, Qual und alles Mühn der Kreatur, das nimmt uns keiner ab. Und solches ist das Größte.’ Das Menschliche steht also diesem Hans Rehberg höher als das Heroische, als der ‚Faltenwurf des Mantels’, und das Umgekehrte ist seiner Überzeugung nach ‚des Dichters Arbeit nie gewesen’. Er sei bedankt für dieses Geständnis. – Wie schön wäre es nun, wenn der Dichter, der einen Stoff aus Brandenburgs Geschichte für die Bühne gewählt hat, zugleich ein Dramatiker wäre! Damit hapert es aber. Die Handlung ist kraus – um nicht zu sagen: wirr. Politische Machenschaften sind mit Familienränken auf unvorteilhafte Weise gemischt. Dem Dialog fehlt die Schlagsicherheit, die Zuspitzung. Keine der Figuren will so recht ein eigenes Profil bekommen. Wenn man sich vorstellte, diese kurfürstliche Familie Hohenzollern wäre eine bürgerliche Berliner Familie Schulze – nein, es ist nicht vorstellbar. Was der Regisseur Jürgen Fehling aus diesen undramatischen Szenen am Staatstheater durch Raffung und Straffung gemacht hat, das grenzt schon fast ans Wunderbare: er wurde wirklich zum Mitarbeiter des Dichters. Auch er freilich vermochte nicht, tiefern menschlichen Anteil für die Gestalten zu wecken. Am ehesten fließt dieser noch der problematischen Natur des buckligen Kurprinzen zu, der sich als Stiefkind des Glückes fühlt. Warum eigentlich machen alle Familienmitglieder soviel Wesens von einem körperlichen Gebrechen? Dieser Bucklige mit seiner krankhaften Eitelkeit hat sich nachher doch die Königskrone aufgesetzt und seinen Staat emporgehoben. Am übelsten ist es um die Frauen bestellt. Die Kurfürstin, eine Giftmischerin wie aus einem Hintertreppenroman, tritt nur in Begleitung einer Herzogin auf, die wie ein böser Dämon sie zu Missetaten verleitet. Das hat fast etwas Komisches. – Bleibt der Große Kurfürst. Wir sehen ihn nur in seinen letzten Lebensjahren als todkranken Mann, der sich mit Frankreich und dem Kaiser herumschlagen muß, um seine berechtigten Forderungen durchzusetzen. ‚Land, nicht Geld’, heißt seine Devise, die er auch seinem Nachfolger ans Herz legt. Der Gedanke zehrt an seinem Lebensmark, daß ihm seine Siege über die Schweden nichts gefruchtet haben. Einmal äußert er einen bedeutungsvollen Satz, der herausgehoben zu werden verdient: ‚Ich habe das Ziel, aus einem Land des Unvermögens mit Gewalt, Verrat und jedem Mittel das zu machen, was Deutschland ewig macht.’ Sind die Herrscher allesamt, fragt man sich schaudernd, aus solchem Holze geschnitzt? – Noch einige Worte seien der Aufführung im Schauspielhaus gewidmet. Der kurfürstliche Hof war von einer Kargheit, als ob er am Eurotas und nicht an der Spree gelegen wäre; sollte so das spartanische Preußen sichtbar werden? Offenbar kam es dem Regisseur mehr auf die Menschen als auf die Interieurs an. Eugen Klöpfer als Kurfürst sah dem Standbild Schlüters so ähnlich, als wäre er eben vom Pferd gestiegen. Wie immer strotzte er von Kraft, die ihm näher liegt als Hoheit. Bernhard Minetti verschmähte den Buckel, obwohl beständig davon die Rede ist, wußte aber den Ausgestoßenen glaubhaft zu machen. Fast alle übrigen Rollen sind für die Darsteller so undankbar wie möglich. Das Publikum dankte ihnen jedoch durch überraschend starken Beifall. Nach der Lektüre hätte man nie einen solchen Erfolg erwartet. Paul Schlenther hat recht: man soll als unbeschriebenes Blatt ins Theater gehen.“

Berliner Theater. NZZ, 20. Dezember 1934, Abendausgabe, Nr. 2322.
Walther Gottfried Klucke, Einsiedel („Die junge Bühne“ im Theater am Nollendorfplatz, 13.12.34). – „Als Studioaufführung der NS-Kulturgemeinde brachte ‚Die junge Bühne’ im Theater am Nollendorfplatz Einsiedel von Walther Gottfried Klucke heraus, im Untertitel als ‚Legende vom unbekannten Soldaten’ bezeichnet. Es handelt sich darin um einen Schwerverwundeten, der, ohne Erkennungsmarke eingeliefert, sein Gedächtnis infolge eines Kopfschusses verloren hat und zehn Jahre lang in der Heilanstalt war. Nun ist er so weit wiederhergestellt, daß er in die bürgerliche Welt zurückkehren kann. Als Totengräber findet er bei einem Friedhofsgärtner Arbeit und Unterkunft. (Nebenbei: ist es nicht eine maßlose Gefühlsroheit, einen Menschen, der dem Tode so dicht ins Auge geschaut hat, just an dieser Stelle zu beschäftigen?) Einsiedel schaufelt einem gestorbenen Oberst das Grab, und es soll wohl angenommen werden, daß er dessen verschollener Sohn ist. Seinen Namen, seinen Geburtsort hat er seltsamerweise vergessen, aber er erinnert sich, daß in den Einleitungstakten seiner c-Moll-Sinfonie Beethoven das Schicksal an die Pforte klopfen lassen wollte. Furchtbar wird für den Frontsoldaten die Mitteilung, daß der Krieg verloren wurde. Er will die Bürger aus ihrer Gleichgültigkeit aufrütteln und predigt, daß die Opfer nicht vergeblich waren, denn er hat die Gewißheit, daß Einer kommen wird, der den Geist des Schützengrabens fruktifizieren wird. Dabei sinkt er, vom Herzschlag getroffen, tot um. In Begleitworten zu der Legende wird hervorgehoben, daß in diesem Stück der heimkehrende Soldat so geschildert wird, wie die nationalsozialistische Weltanschauung den Soldaten und den Deutschen sieht und dargestellt wissen will. Also recht im Gegensatz zu Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues, ‚der sich als weitest verbreitete Suggestion auf Millionen wie ein Nebel legte und giftig verzerrte’. Immerhin, der Roman hat nicht deshalb eine Millionenauflage gehabt. Das Drama ähnelt in technischem Betracht den expressionistischen Nachkriegsergüssen – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Im Sprachlichen steht Klucke auf sehr primitiver Stufe. Doch ‚Die junge Bühne’ glaubte sich des Stückes annehmen zu sollen, weil es ‚reinen Herzens’ ist. Davor muß jedes Wort der Kritik verstummen.“

Berliner Theater. NZZ, 1. Januar 1935, Neujahrsausgabe, Nr. 4.
Hans Adler, Die Tänzerin Fanny Elßler (Deutsches Theater, 22.12.34); Kurt Adalbert, Eintreffe heute …Nelly (Theater am Kurfürstendamm, 21.12.34); Merton Hodge, Regen und Wind (Kammerspiele, 20.12.34); William Shakespeare, König Lear (Staatstheater, 23.12.34). – „,Man braucht von Zeit zu Zeit ein bißchen Zärtlichkeit’, singt Käthe Dorsch im Deutschen Theater als Tänzerin Fanny Elßler in einer von Hans Adler textierten Operette, die sich auf Melodien aus dem Nachlaß des Walzerkönigs Johann Strauß gründet. Und wann würde Zärtlichkeit lieber gespendet als in der Weihnachtszeit, die eine nie versagende captatio benevolentiae ist? – Freilich, so weit geht das Wohlwollen nicht, daß es nun zu allen unsagbaren Fadaisen Ja und Amen sagte. Wir wollen gern das Herz sprechen, aber nicht den Kopf mißhandeln lassen. Wir wollen guten Willen anerkennen, aber nicht äußerste Niveaulosigkeit schweigend hinnehmen, noch dazu, wenn zwei Männer dafür verantwortlich zeichnen wie für das Lustspiel eintreffe heute … nelly. Das ist für die durch den Film noch beliebter gewordene Darstellerin Ida Wüst zugeschnittene Ramschware. Ihr letzter Erfolg hieß Mama räumt auf; jetzt soll sie mit ihrem gesunden Menschenverstand, ihrer heitern Überlegenheit abermals aufräumen in einem englischen Aristokratenmilieu, oder wie sich die beiden kleinen Moritze das vorstellen. Sie denken, Oscar Wildeschen Geist auszuschenken, wenn sie gelegentlich einen paradoxen Satz verzapfen. Selbst die Nähe des Weihnachtsfestes vermochte nicht, aus totem Gestein Lebkuchen hervorzuzaubern, und selbst das Publikum des Kurfürstendamm-Theaters wollte von dieser schalen Speise nichts wissen. Hier hat die Zärtlichkeit ein Ende. – Mehr Glück hatte in den unter Hilperts Leitung wiedereröffneten Kammerspielen des Deutschen Theaters ein echter englischer Importartikel: das heitere Spiel Regen und Wind von Merton Hodge, deutsch bearbeitet von Detlef Sierck. The Wind and the Rain wird in London seit länger als einem Jahr gegeben. Was mag die Leute dort locken? Vermutlich der schottische Dialekt. Der läßt sich aber unmöglich übertragen (in des Wortes doppelter Bedeutung). Er mag ungefähr so komisch wirken, wie es das Sächsische noch im Munde eines Richard Wagner tat. Sonst kommt einem alles recht dagewesen vor: die Mischung von Liebe und Studentenulk, von Trinken und Grammophonplatten, von Übermut und Sentimentalität, die regenschwere Stimmung, die Wiederkehr des Gleichen. Der ruhende Pol im Wandel der Erscheinungen ist die alte Zimmervermieterin, köstlich dargestellt von Lucie Höflich. Unser angeschwärmtes Gretchen, unsere hauchzarte Melisande machte daraus eine vollendete Schlampe, die in Filzlatschen behäbig über die Bretter schlurft. Ach, wie die Zeit vergeht! … – Mit einer großartigen Aufführung von Shakespeares König Lear wurden wir im Staatlichen Schauspielhaus durch Gustaf Gründgens beschenkt. Er führte das ein, was man in England all star cast nennt, d.h. jede Rolle war mit einem Star oder einem prominenten Künstler besetzt, wie es bei uns in dieser Vollendung sich höchstens Bayreuth leisten konnte. Um schnellste Verwandlungen zu erzielen, hatte er die Proszeniumslogen in den Bühnenrahmen einbezogen; durch sie vollzog sich Kommen und Gehen der Personen. Zu Beginn und jedesmal als Überleitung von einem Bild zum andern erscholl grelles Drommetengeschmetter, als ob die Posaunen von Jericho zum Jüngsten Gericht riefen; durch zu häufige Wiederholung schwächte sich die aufpeitschende Wirkung allerdings ab. Gründgens tat es darin den meisten Lear-Regisseuren gleich, daß er mit einem Fortissimo-Klang einsetzte. Die erste Szene ist vom Dichter so überwältigend grandios gestaltet, daß danach eine Steigerung kaum noch möglich erscheint. Und doch darf der Höhepunkt nicht am Anfang liegen, sondern erst im Unwetter auf der Heide. Hier glaubte der Inszenator dem Dramatiker ein wenig unter die Arme greifen zu sollen, indem er den König, den Narren und den armen Thoms einander bei der Hand nehmen und einen Reigen tanzen läßt, wozu sie singen: ‚Und der Regen regnet jeglichen Tag’. Auch Reinhardt war in seinen besten Tagen von solchen Exzessen nicht frei (man denke nur an den Kanon in Was ihr wollt); sie bleiben darum nicht minder überflüssig. Gründgens wollte die furchtbare Armageddon-Tragödie als mythisches Gebilde geben, und er hielt den Ton konsequent fest; nur der Aufmarsch der Truppen in funkelnagelneuen Uniformen mit zahllosen Standarten war für die Zeit, in der man noch bei Jupiter schwur, zu heutig geraten. – Werner Krauß war Lear. Auch er setzt fortissimo ein. Mit gezücktem Schwert stürmt inmitten von Fanfarenklängen der keineswegs kindisch alte Herrscher herein, um dann freilich, recht wie ein kindischer Greis, hohlen Beteuerungen der mißratenen Töchter zu glauben und die Stimme der Liebe zu überhören. Schon im ersten Auftritt flackert der Wahnsinn in seinem Blick. Die geistige Umnachtung kommt stärker zum Ausdruck als das Stück vom Herzen, das dem König bleiben soll. Krauß bleibt halt ein Verstandesschauspieler, der nur selten an den Sitz des Gefühls greift. Von den Mitspielenden bot Minetti als schurkischer Bruder die stärkste Leistung, Paul Hartmann als rechtschaffener die schwächste, weil er, wenn er sich wahnsinnig zu stellen hat, sich nicht verstellen kann. Großes Format hatten auch die beiden entarteten Töchter, Hermine Körner als Goneril, Maria Koppenhöfer als Regan, und Käthe Golds Cordelia ging durch sanften Liebreiz zu Herzen. Alles in allem: dieser König Lear war das Stärkste, das unter der neuen Flagge bisher gezeigt wurde.“

Berliner Theater. NZZ, 7. Januar 1935, Abendausgabe, Nr. 36.
George Bernard Shaw, Pygmalion (Staatstheater, 31.12.34); Will Vesper, Wer? Wen? (Volksbühne, 31.12.34). – „Schon immer durfte Silvesterabend als Auftakt zum Fasching oder, da dieser an der Spree nicht vorhanden ist, als Ersatz für ihn gelten. Die Theater huldigen gern der heitern Muse und leisten ihr willig Gefolgschaft, wenn sie sich möglichst ausgelassen gibt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu verstehen, daß Shaws Pygmalion ins Staatliche Schauspielhaus gelangte, wobei allerdings auch der Umstand mitgesprochen haben mag, daß das Ehepaar Maria Bard – Werner Krauß sich darin nach Herzenslust austollen konnte. – Auch die Volksbühne glaubte dem Datum Rechnung tragen zu sollen und bescherte ihren dankbaren Mitgliedern am Silvesterabend ein Lustspiel Wer? Wen? von Will Vesper. Schauplatz: Venedig (Zeit ungenannt). Ein Herzog tritt als oberster Schiedsherr auf, der alle Irrungen und Wirrungen klug und gütig schlichtet. Zwei vornehme verliebte Venezianer kommen vor, deren jeder sich zur Frau des andern hingezogen fühlt. Keine Angst: es passiert nichts: ‚für Jugendliche freigegeben’ könnte über dem Spiel mit dem Feuer stehen. Jeder der beiden Granden hat einen komischen Diener. Braucht noch ausdrücklich gesagt zu werden, daß wir uns ganz in der Luft Shakespearescher Komödien bewegen? Und wenn Shakespeare der Ahnherr dieses Lustspiels ist, so ist Ludwig Fulda sein naher Anverwandter. Der Parallelismus der Szenen, mehr an spanische als altenglische Komödien erinnernd, die glatte Sprache, die gelegentlich den Reim zu Hilfe holt, die Liedeinlagen sind auf Fuldas Acker gewachsen. – In einer biographischen Skizze läßt sich Will Vesper, der im Garten deutscher Lyrik manches feine Blümchen gepflückt hat, also vernehmen: ‚Immer wenn ich auf den Äckern stand, auf denen einst meine Väter pflügten, säten und ernteten, war mir, als flösse mir Kraft und Sicherheit aus der heimatlichen Erde zu.’ Erstaunt muß man sich fragen: warum hat dann dieser moderne Antäus den heimatlichen Grund und Boden verlassen, wenn da die starken Wurzeln seiner Kraft sind? In Fuldas Reich ist er lange nicht so zu Hause. – Die Volksbühne half dem lyrischen Dramatiker nach durch gefällige Bühnenbilder Benno v. Arents und stimmungfördernde Musik Kurt Heusers, während die Darsteller aus ihren blutleeren Rollen kaum einen Funken zu schlagen vermochten. Einzig Josef Sieber als Oberster der Sbirren hatte Berliner Format: er ist auf dem besten Wege zum Dogberry.“

Berliner Theater. NZZ, 30. Januar 1935, Morgenausgabe, Nr. 172.
Erwin Guido Kolbenheyer, Heroische Leidenschaften (Staatstheater, 22.01.35). – „Zwischen zwei Kassenerfolge (Scribes Glas Wasser und Shakespeares König Lear) eingekeilt, kommt die Tragödie des Giordano Bruno von Erwin Guido Kolbenheyer unter dem Titel Heroische Leidenschaften, der wohl eine Übersetzung der Brunoschen Schrift Gli eroici furori sein soll, nach andern Städten auch in Berlin am Staatlichen Schauspielhaus zur Aufführung. […] Trotz dieser frei erfundenen weltlichen Handlung, die auch an der Liebe nicht ganz vorbeigeht, sind wohl zwei Drittel des Dramas von religionsphilosophischen Gesprächen ausgefüllt. Sie sollten ihren Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Papst finden: doch es bleibt bei Worten, wo Menschliches und Dichterisches hervorquellen müßte. Dieser Giordano Bruno tritt uns weder als Genie noch als Märtyrer nahe: bestenfalls bringen wir seinen Gedankengängen soviel Interesse entgegen wie der Vorlesung eines begabten Privatdozenten. Und am nächsten Morgen ist der ganze Spuk verflogen. – Dramatisch ist das Werk außerordentlich spröde. Wie spröde, das erhellte daraus, daß selbst ein Gestalter wie Werner Krauß, der für eine undankbare Charge herangezogen wurde, mit seiner Rolle nichts Rechtes anzufangen wußte. Lothar Müthel gab den Giordano, Friedrich Kayßler den Papst: beide gaben sich selbst: Müthel seine Rhetorik, Kayßler seine abgeklärte Ruhe. Der Beifall, der zögernde einsetzte, nahm überraschenderweise zum Schluß lebhaftere Formen an und klang in eine Huldigung für den Dichter aus.“

Berliner Theater. NZZ, 17. Februar 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 279.
Lars Hansen u. Karl Holter, Bären (Volksbühne, 30.01.35). – „Es ist eine alte Geschichte (oder soll man sagen: Familienblattgeschichte?): Petra hat den jungen Pelzjäger Halvard geliebt, aber Olaf, den Sohn des begüterten Eismeerschiffers, geheiratet; doch ihre Liebe gehört nach wie vor dem Ersten. Und die beiden Rivalen ziehen zu gemeinsamer Grönlandfahrt hinaus, und weder Schnee noch Eis vermögen der Hitzigkeit ihrer Gefühle Abbruch zu tun. Sie gehen selbander auf die Bärenjagd, selbst Bären in der Wildheit ihrer Leidenschaft (dem Symbol fehlt es durch allzu nahe Greifbarkeit an Schlagkraft). Doch Olaf kehrt nicht in die Schneehütte zurück, und Halvard gerät in den Verdacht, seinen Nebenbuhler erschossen zu haben. Nachdem er schon wegen Mangels an Beweisen freigesprochen ist, stellt sich heraus, daß Olaf tatsächlich im Polarsturm umgekommen ist, worauf – um es im Stil der Familienblattgeschichte zu sagen – der Verbindung der Liebenden nichts mehr im Wege steht. – Zwei Skandinavier haben dieses Schauspiel Bären geschrieben: Lars Hansen, ein Eismeerfahrer und Walfischfänger, also einer, der sich in den arktischen Gegenden auskennt, und Karl Holter, ein Regisseur und Schauspieler, also einer, der im Bereich der Bühne Fachmann ist. Von Hansen dürfte das Was, von Holter das Wie stammen. Der eine wird den Stoff geliefert, der andere ihn geformt haben. Wo Seekenntnis und Beherrschung der Theatertechnik sich vereinen, da müßte es, sollten wir denken, einen guten Klang geben. Ein Kritiker glaubte, die ‚gute und kluge’ Mischung als ‚Sudermann auf dem Nordpol’ bezeichnen zu sollen; aber das heißt den deutschen Dramatiker entschieden herabsetzen. Die beiden Norweger geben in ihrer gemeinsamen Arbeit eigentlich überhaupt keinen Klang, denn ihre Figuren stehen uns am Schluß nicht näher als am Anfang. Die Geschehnisse spannen äußerlich, aber sie packen nicht innerlich. Was von Polarstürmen, grimmigen Winternächten, dürftiger Verpflegung, was von der ganzen Umwelt des ewigen Schnees und Eises vorkommt, das hätte zur Not auch eine Landratte beisteuern können. Das Regionale vermag uns nicht über den Mangel an seelischen Sonderzügen hinwegzusetzen. Hier ist immer der Standpunkt vertreten worden, daß nur Wesentliches aus dem Ausland importiert werden sollte. Jetzt ist die Einfuhr so gering geworden, daß wir erst recht Anspruch auf Wesentliches haben. – Darum lag für die Volksbühne keine Notwendigkeit vor, dieses Stück nach der Stettiner Uraufführung für Berlin zu erwerben. Der Übersetzer Per Schwenzen, bekannt als Verfasser des pazifistischen Segelflugstückes Am Himmel Europas, führte Regie, ohne daß sein nordischer Griff spürbar geworden wäre. Die Darsteller wirkten gut deutsch, gut bürgerlich deutsch, auch der Seebär Josef Siebers, der die saftigste Leistung bot.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Februar 1935, Morgenausgabe, Nr. 311.
Hanns Gobsch, Josephine (Theater in der Saarlandstraße, 06.02.35). – „Leopoldine Konstantin, die wie Schillers Mädchen aus der Fremde mit jedem jungen Jahr in Berlin einkehrt und ihre Gaben mitbringt, hat die Josephine in dem gleichnamigen Schauspiel von Hanns Gobsch – zum Unterschied von Hermann Bahrs Komödie Josephine im Untertitel Das letzte Jahr genannt – schon in Wien gespielt. Nach den Erfahrungen, die sie dort mit der Rolle gemacht haben muß, ist es verwunderlich, daß sie damit auf Reisen geht; denn die Rolle bietet so gut wie keine Expansionsmöglichkeiten, es sei denn in Gewändern und Pelzen. Die Kaiserin der Franzosen ist als welkende Frau hingestellt, die sich durch neun Bilder hindurchzuweinen hat. Sie tritt als Enttäuschte auf, weil ihr der Kaiser nicht entgegengeeilt ist; als Zerknirschte willigt sie endlich in die Scheidung ein. Dazwischen vergießt sie dauernd Tränen, weil sie merkt, daß sie keine Gewalt mehr über Napoleon hat. Und wenn Frau Konstantin das auch mit hoher Selbstverleugnung auf eine virtuose Art macht, so ist es ihr doch nicht gegeben, unser Mitleid für die gealterte, kaltgestellte Dame zu erzwingen. – Es ist überhaupt die Frage, ob das innerhalb der Bilderfolge von Gobsch möglich ist. Man denkt an den Film So endete eine Liebe (mit Paula Wessely) [Okt. 1934] zurück und muß feststellen, daß dort Erna Morena als Josephine kaum so viel Minuten zur Verfügung hatte wie hier die Konstantin Stunden und mindestens ebenso stark wirkte. Woraus der Schluß zu ziehen wäre, daß man nicht knapp genug sein kann, wenn man bloß ein Abbild der Wirklichkeit zu geben hat. Wie Gobsch die Vorgänge aufzeichnet, mögen sie sich oder können sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben. Aber das reicht bei weitem nicht für ein Kunstwerk aus. In keinem Augenblick ist man im Banne der Geschehnisse und noch weniger im Banne der Personen. Napoleon hat den Geheimgang zwischen seinem Schlafzimmer und dem der Kaiserin zumauern lassen; obwohl es ein halbes dutzendmal gesagt wird, bleibt es seine Privatangelegenheit. Napoleon hat ein G’spusi mit einer schönen Polin gehabt und erwartet von ihr vielleicht einen strammen Jungen; es bleibt seine Privatangelegenheit. Napoleon will aus dynastischen Gründen nicht länger mit Josephine schlafen; es bleibt seine Privatangelegenheit. Warum lassen uns all diese Dinge so kalt? Weil sie mit einer Nüchternheit ohnegleichen produziert oder reproduziert werden. In Gobschs sämtlichen Bildern kommt auch nicht eine Szene vor, die zum Herzen oder zum Verstand spricht, begegnet kein Satz, der aufhorchen läßt. Aus Untertemperatur heraus kann man aber keine Dichtung hervorbringen, und Wiedergabe der Historie sollte sich durch Zusammendrängung, nicht durch Weitschweifigkeit auszeichnen. Auch muß man zur Dramatisierung etwas charakterisieren können. – Das Theater in der Stresemannstraße (lies: Saarlandstraße), das sich unter der Leitung von Ernst Legal und Dr. Kurt Raeck wohl am längsten von allen Berliner Privatbühnen zu behaupten vermochte, hat sich mit diesem Napoleon-Stück wohl doch zu viel zugetraut. Der Rahmen wirkte durchaus nicht immer illusionsfördernd, und die Darsteller erzeugten noch weniger die Illusion von Fontainebleau und Malmaison. Selbst ein so vorzüglicher Episodist wie Hans Halden schien als Napoleon auf verlorenem Posten zu stehen, als ob sich die Nüchternheit der Vorlage auf sein Können geschlagen hätte. Kein Wunder daher, daß das Publikum, das auch im Hause nicht recht warm geworden war, kaum über Höflichkeitsbeifall hinausging.“

Studio-Aufführung in Berlin. NZZ, 27. Februar 1935, Morgenausgabe, Nr. 340.
Josef Wiessalla, Die Front unter Tage (Studio der Kammerspiele, 10.02.35). – „Von einem Erfolg, wie er schon lange keinem Bühnenwerk deutscher Zunge zuteil geworden, ist zu berichten. Als der Referent um die zweite Stunde die Kammerspiele nach dem achtzehnten ‚Vorhang’ verließ, standen die Menschen noch immer wie angenagelt und klatschten. Der Beifall galt einem neuen Autor, einem neuen Stück, einem neuen Regisseur, einem neuen Ensemble – vornehmlich wohl aber dem neuen Autor Josef Wiessalla. Er stammt aus Beuthen in Oberschlesien, ist 36 Jahre alt, hat nur die Volksschule besucht und war schon als Dreizehnjähriger auf Gelderwerb angewiesen. Seit 1928 war er stellungslos. Erst vor vier Jahren trat er mit einer Novelle hervor, die Eingang in eine Sammlung fand. Sein erster Bühnenversuch ist das Bergwerksstück Die Front unter Tage. Ref. muß sich für ‚unzuständig’ erklären, soweit es sich um die Vorgänge dieser der Wirklichkeit nachgeschriebenen Studie handelt, hegt aber nicht den mindesten Zweifel, daß sie bis aufs i-Tüpfelchen stimmen, daß sie sich genau so abgespielt haben oder abgespielt haben könnten, obwohl es schwer vorstellbar ist, daß ein Bergwerksdirektor im Falle eines Grubenunglücks mehr an die Aktionäre als an die armen Opfer denken, mehr auf die Ersparnis von Unkosten als auf die Rettung der eingeschlossenen Arbeiter bedacht sein soll. ‚Und so einer – wird uns gesagt – entscheidet über das Schicksal von sechstausend Menschen.’ Letzten Endes geht es also gegen den Kapitalismus, dem ein Menschenleben weniger bedeutet als die Dividende. Zum Glück werden die Verschütteten durch den Opfersinn ihrer Kameraden gerettet. – Es ist nicht das erstemal, daß wir zu Zeugen eines Dramas unter der Erde gemacht werden. Ein ähnliches sahen wir im Wallner-Theater vor wenigen Jahren (wer kann sich auch nur die Titel und die Verfassernamen aller dieser dramatischen Eintagsfliegen merken!); es war so schaurig, daß es übers Ziel hinausschoß. Es quälte, statt zu Herzen zu gehn. Es griff an, aber es verzerrte maßlos. Wiessalla scheint bei aller Polemik etwas von dramatischer Objektivität zu ahnen. Er mildert – und das dürfte vorläufig seine Besonderheit sein – die furchtbaren Begebenheiten durch Humor, der in einem Bergmann von der Statur des Steinklopferhanns ruppige Gestalt gewinnt. Gibt er schon Tendenz, so tritt er doch die Wahrscheinlichkeit nicht mit Füßen. Alles ist deckend, zureichend, doch nicht von außergewöhnlicher Schlagkraft und Eindringlichkeit. Wenn er trotzdem einen außergewöhnlichen Erfolg davontrug, so kommt dieser zu einem guten Teil auf das Konto des Regisseurs Ernst Karchow, der dafür gesorgt hatte, daß alles Exzessive vermieden wurde, und auch die wirklichkeitsgetreuen Darsteller hatten an der enthusiastischen Aufnahme ihren vollen Anteil. Das zweite Bühnenwerk ist dazu bestimmt, mehr über den Verfasser auszusagen.“

Berliner Theater. NZZ, 4. März 1935, Morgenausgabe, Nr. 370.
Sidney Philipps [Übers. Hermann Richter], Gentlemen (Komödie, 13.02.35). – „Asta Nielsen, die einmal im stummen Film ungefähr das war, was Greta Garbo im sprechenden ist, durch diesen dann entthront wurde, sich als Tragödin auf der Sprechbühne mit wechselndem Glück versuchte, zuletzt in der Berliner ‚Scala’ (of all places!) zwischen Pisten und Artisten den Schlußakt der Kameliendame mit Aplomb hinlegte – Asta Nielsen spielt jetzt in der ‚Komödie’ am Kurfürstendamm richtiges Theater in einem Stück von Sidney Philipps The Doctor’s Secret, das in der deutschen Übersetzung von Hermann Richter Gentlemen heißt, ohne daß damit der Inhalt mehr als gestreift würde. Wieder einmal steht das ärztliche Berufsgeheimnis im Mittelpunkt. Muß der Arzt in jedem Falle reinen Mund halten, selbst wenn es sich um das Glück der eigenen Tochter handelt? Professor Paul Wegeners Handeln ist durchaus zu billigen. Auch seine Assistentin Käthe Haack tut das. In diesem nicht tief gehenden, aber mit Spannung angerührten Stück gibt Asta Nielsen eine internationale Opernsängerin, deren Bekanntschaft mit dem jungen Arzt vor zwanzig Jahren eine Tochter gezeitigt hat. Der berühmte Wissenschaftler rettet das Kind von der Ehe mit einem Kranken und darf zum Lohn eine Ehe mit der Mama eingehen. Asta sieht noch immer der Grete Hauptmann ähnlich, trägt extravagante Kleider mit Wagenrädern von Muffen, spricht das Deutsch mit glashartem nordischen Akzent und schwelgt in entfesseltem Theater, während bei Paul Wegener und Käthe Haack das Theater überwunden scheint. An Beifall fehlte es allen dreien nicht.“

Berliner Theater. NZZ, 10. März 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 406.
Rudolf Kurtz, Seine Exzellenz gibt sich die Ehre (Kammerspiele, 22.02.35). – „Vor einigen Wochen wurde ein als Studio-Aufführung des Deutschen Theaters herausgestelltes Bergwerksstück in den Kammerspielen mit so phantastischem Beifall aufgenommen, daß es alsbald in den Abendspielplan einrückte. [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 27.02.35, Nr. 340.] Die Kritik gab ihren Segen dazu, und so schienen eigentlich alle Bedingungen für einen Dauererfolg erfüllt. Nur die zahlenden Zuschauer, die, wie man auch sonst über sie denken möge, nicht als quantité négligeable im Reiche Thaliens gelten können, blieben aus. Die Einnahmen sollen so lächerlich gering gewesen sein, daß man schon nach einer Woche schleunigst an Ersatz denken mußte. – Das Berliner Publikum ist durch glänzende Vorstellungen, die es genossen, sehr verwöhnt und will von mittelmäßigen nichts wissen. Es hat sich daran gewöhnt, seine unvergeßlichen Theatereindrücke mit den Namen hervorragender Darsteller, der sogenannten Prominenten oder Stars, zu verkoppeln, und wenn es diese nicht auf dem Zettel findet, ist es geneigt, Zweitklassiges oder noch geringere Qualität zu vermuten. Hat man vor noch nicht allzu langer Zeit in den übertriebenen Ansprüchen des Stars den finanziellen Ruin des Theaters und in seiner Besonderheit den Untergang der Ensemblekunst erblicken wollen, so ist neuerdings der Star, seitdem sich das Staatliche Schauspielhaus ein Star-Ensemble zugelegt hat, gewissermaßen sanktioniert. Und das Staatliche Schauspielhaus ist – zum erstenmal in seiner Karriere – jeden Abend ausverkauft. – Das wird das Lustspiel Seine Exzellenz gibt sich die Ehre von Rudolf Kurtz in den Kammerspielen ganz bestimmt nicht sein. Wie konnte nur ihr Leiter, der Bühnenpraktikus Heinz Hilpert, auf diesen von Rußland nach Illyrien geistlos übertragenen Revisor verfallen? So groß kann der Mangel an brauchbaren Stücken nicht sein, daß die Wahl dieses Lustspiels zu rechtfertigen wäre. Unmöglich läßt sich komische Wirkung von einem Bühnenwerk erwarten, dessen Pointe der Hörer schon nach fünf Minuten erraten hat […].“

Berliner Theaterbrief. NZZ, 5. April 1935, Abendausgabe, Nr. 597.
Eugène Scribe, Das Glas Wasser (Staatstheater, 26.10.34); George Bernard Shaw, Pygmalion (Staatstheater, 31.12.34); Hermann Sudermann, Heimat (Theater in der Saarlandstr., 14.03.35); Gerhart Hauptmann, Biberpelz (Theater am Kurfürstendamm, 01.02.35); Hans Müller-Schlosser, Schneider Wibbel (Theater am Nollendorfplatz, 02.03.35); Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer (Renaissance-Theater, 14.09.34); Molière, George Dandin (Deutsches Theater, 26.03.35). – „Ja, verehrte Schweizerin, die Wahl wird Ihnen diesmal nicht allzu viel Qual bereiten. Es ist durchaus anerkennenswert, daß Sie Ihrer Vorliebe fürs Theater treu bleiben und nicht einfach in den nächsten Kintopp laufen, wo Ihnen [Harry] Piel oder sex appeal geboten wird. Auch das sei Ihnen hoch angerechnet, daß Sie mir treu bleiben und sich für Ihren bevorstehenden Besuch in Berlin wieder von mir beraten lassen wollen. – Sie wünschen zu wissen, was Sie sich hier ansehen sollen. Das ist gar nicht so leicht gesagt wie gefragt. Natürlich müssen Sie ins Schauspielhaus gehen. Das staatliche Institut marschiert konkurrenzlos an der Spitze. Wie könnte heute auch ein Privatunternehmen sich in einen Wettkampf gegen die ärarischen Mittel einlassen! Sie finden dort ein noch nicht dagewesenes oder ein da noch nicht gewesenes Ensemble von Stars vereinigt. Seltsam, paradox, einzigartig: was im Singular als Übel galt und gezüchtigt wurde, soll im Plural ein Segen sein und gezüchtet werden. Im ganzen Bau der Weltordnung wird es so bald kein zweites Beispiel dafür geben, daß die Mehrzahl nicht eine Steigerung der Einzahl bedeutet. – Was Sie sich am Gendarmenmarkt ansehen sollen? Der alte Scribe mit seinem Glas Wasser, von Fehling eingeschenkt, von Gründgens getragen, hat Zulauf. [Vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 05.11.34, Nr. 1989.] Aber deswegen, werden Sie mir entgegenhalten, kommen Sie doch nicht nach Berlin, um den alten Scribe, der schon in Ihrer Jugend veraltet war, von den Toten auferstehen zu sehen. Nun, es wird dort auch ein älterer Shaw gespielt, der Pygmalion. [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 07.01.35, Nr. 36.] Ihr Sinn ist mehr auf Heutiges, Modernes, Aktuelles gerichtet? Bedaure unendlich, damit im Augenblick nicht dienen zu können. Wer vermöchte dramatische Dichter wie Armeen aus der Erde zu stampfen? Sie dürfen überhaupt von den ‚ollen Kamellen’ nicht gering denken, sie sind neuerdings im Kurs beträchtlich gestiegen. Leopoldine Konstantin (Star in der Einzahl), die mit der Josephine eines Zeitgenossen nicht recht zog [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 22.02.35, Nr. 311], hat die alte Magda der Sudermannschen Heimat aus der verstaubten Gefühlskiste hervorgeholt. Ida Wüst (Kinoliebling) hat den Hauptmannschen Biberpelz ausgekramt, um an der gerissensten Waschfrau darzutun, daß sie auch fern von Puder und Parkett eine Natur ist. Für die Heerscharen von ‚Kraft durch Freude’ gibt Otto Fridericus Gebühr den Schneider Wibbel, um nicht also homo unius personae auf die Nachwelt zu kommen. [Anspielung auf die zahlreichen Filme mit Otto Gebühr als Friedrich dem Großen.] – Das waren schon in verflossenen Zeiten unanfechtbare Bühnenerfolge, die Magda wohl die begehrteste Rolle auf dem internationalen Theatermarkt. Was soll man aber dazu sagen, daß ein ausgesprochener Mißerfolg wie Lady Windermeres Fächer von Oscar Wilde, im Deutschen Theater unter Paul Lindau Anno 1904 rasch zusammengeklappt [vgl. MMs Kritik in der NZZ vom 29.09.04, Nr. 271], jetzt im Renaissance-Theater mehr als zweihundertmal hintereinander aufgeführt wird? [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 20.09.34, Nr. 1682.] Nicht umsonst trägt das Bühnenhaus die Renaissance im Namen. – Sonst gibt es noch im Deutschen Theater unter Heinz Hilpert den George Dandin von Molière (nach der Übersetzung von Paul Prina) zu sehen mit der entzückenden, immer wieder entzückenden Begleitmusik, die Richard Strauß für Molières Bürger als Edelmann geschrieben hat. Diese Verquickung hat selbstverständlich ihre Bedenken. Straußens Musik ist einer reinen Komödie angepaßt, während der George Dandin – der Bürger als Ehemann oder eigentlich: der Bauer als Ehemann – eine verteufelt ernste Sache, eine pure Tragikomödie und für unser penibleres Empfinden kaum noch erträglich ist. Warum soll der gutherzige Landmann den ganzen Abend zu heiterster Musik Schimpf und Schande erleiden? Weil er eine Adlige geheiratet hat und in seine Frau noch immer verliebt ist. Nein, das geht nicht mehr; wir bäumen uns dagegen auf. Heinz Rühmann, der drollige Schlingel, macht seinen Salto ins Tragische auf die treuherzigste Art, aber an den erschütternden Menschendarsteller Viktor Arnold, der 1912 bei Reinhardt die Rolle verkörperte, reicht er nicht heran. [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 18.04.12, Nr. 108.] – Und so brauchte Ihnen am Ende doch nicht von Piel abgeraten zu werden. Eine kunstverständige Dame hat mir berichtet, sein Artisten-Film werde durch die Mitwirkung eines Äffchens zu einer menschlichen Angelegenheit.“

Berliner Theater. NZZ, 12. April 1935, Mittagausgabe, Nr. 643.
Eugène Scribe, Das Glas Wasser (Staatstheater, 26.10.34); Molière, George Dandin (Deutsches Theater, 26.03.35); Edouard Pailleron, Die Welt, in der man sich langweilt (Kammerspiele, 29.03.35); Pierre Berton u. Charles Simon, Zaza (Theater am Kurfürstendamm, 02.04.35). – „Ist es Zufall, ist’s Regie? Es war schwerlich ein Zufall, daß Jahr und Tag kein französisches Bühnenwerk in Berlin gespielt wurde. Es lag auch kein Grund vor, darin eine besondere Spitze gegen das westliche Nachbarland zu erblicken, weil sich die Beschränkung der Einfuhr von Theaterstücken gleichmäßig auf alle Grenzen erstreckte und die von den gegenwärtigen Machthabern postulierte wirtschaftliche Autarkie sich des musischen Gebiets nicht minder zu bemächtigen schien. Alle daran geknüpften Mutmaßungen erwiesen sich indes als haltlos und hinfällig, da plötzlich das Staatliche Schauspielhaus innerhalb eines betont nationalen Spielplans das Glas Wasser von Scribe aufführte. Der alte Bühnentechniker, Szenenbeherrscher, Dialogmeister, hatte, von einer quicklebendigen Darstellung unterstützt, nicht nur den gewohnten Erfolg, sondern wuchs sich überdies zu einem regelrechten Kassenerfolg aus. Die Leute mußten sich tagelang vorher an der Kasse anstellen, um sich einen Platz für das Glas Wasser zu erstehn (in des Wortes doppelter Bedeutung). Und wenn es auch nicht so sehr der alte Scribe war, der die Menge lockte, wie die neue Aufmachung, die der Regisseur Fehling ihm hatte angedeihen lassen – einerlei, ein französisches Lustspiel, in der Intrige und keinem Mutterboden wurzelnd, trug einen ungeahnten, fast schon sensationellen Erfolg davon. [Vgl. MMs Rezensionen in der NZZ vom 05.11.34 / Nr. 1989 und 05.04.35 / Nr. 597.] – Scribe wurde das Signal für eine Durchsicht der französischen Bühnenliteratur. Das Deutsche Theater entschied sich für eine heute kaum noch genießbare Komödie Molières: George Dandin, die mit den Gefühlen eines Landmanns für unser Empfinden peinlichen Spott treibt. Obwohl Heinz Hilpert mit guten Schauspielern, Dekorationen, Musik und Tanz nicht sparte, wollte sich kein rechter Erfolg einstellen. [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 05.04.35, Nr. 597.] Ähnlich erging es nebenan in den Kammerspielen der Welt, in der man sich langweilt von Pailleron. Ein Teil der Berliner Kritik erklärte, man langweile sich tatsächlich in dieser verschollenen Welt des Salonästhetizismus; ein anderer Teil fand, man langweile sich nicht in dieser ‚Welt, in der man sich langweilt’. Wäre Pailleron so hinreißend in der Schumannstraße gespielt worden, wie Scribe am Gendarmenmarkt gespielt wird, so ist nicht einzusehen, warum er weniger gefallen haben sollte; doch die Darstellung war nur deckend, mit Ausnahme vielleicht von Hedwig Bleibtreu, die, als Pauline Metternich an der Seine, wenigstens die Tradition von der Donau mitbringt, und von Karin Evans, die nicht nur eine waschechte Engländerin, sondern zugleich auch deren köstliche Karikatur gibt. – Noch schlimmere Erfahrungen mußte das Kurfürstendamm-Theater machen, als es die noch nicht ganz so lange verstorbene Zaza ins Leben zurückrufen wollte. Wahrscheinlich geschah es nur, um Margarete Melzer in einer Paraderolle herauszustellen. Dann war die Rolle entschieden an die falsche Adresse gelangt. Die Künstlerin ist so wenig eine lockere Tingeltangelöse wie eine grande amoureuse: Energie, nicht Elegie, heißt ihre Marke. – Nun mag der französische Import wieder abebben, es sei denn, er werde durch künstlerische Überzeugung und nicht durch Blinzeln mit der Kasse diktiert.“

Heringshändler Kohlhaas. NZZ, 16. April 1935, Abendausgabe, Nr. 675.
Walter Gilbricht, Michael Kohlhaas (Deutsches Theater, 13.04.35). – „Erich Schmidt unvergessenen Angedenkens, der vorbildliche Herausgeber der kritischen Kleist-Ausgabe (im Bibliographischen Institut), bemerkt im Vorwort zu den Erzählungen im Hinblick auf Michael Kohlhaas: ‚Dilettantische Dramatiker sollen die Hand von einem Stoff lassen, der ein für allemal der großen Erzählungskunst gehört’. Er hatte Grund, als ein rechter Jupiter tonans  unwirsch das Haupt zu schütteln und den Dilettanten, die sich an einem Meisterwerke Kleists vergriffen, auf die Finger zu klopfen, denn die Nachdichter ließen nicht davon ab, den Fall des fanatischen Roßkamms auf die Bühne zu bringen. Schon zwanzig Jahre nachdem Kleists Novelle im Druck vorlag (1808), versuchte sich August v. Maltitz an dem gleichen Vorwurf (Hans Kohlhaas). Es folgten, um nur einige Namen anzuführen, Robert Prölß, Richard Zoozmann (Ums Recht), Karl Weitbrecht (Schwarmgeister) und sogar eine Frau: Gertrud Prellwitz. Wenn Erich Schmidt seine Betrachtungen mit dem Satze schloß, eine völlige Neubildung werde umsonst gegen Kleists populärste Novelle ankämpfen, so hat er bis zum heutigen Tag recht behalten. – Eine solche völlige Neubildung begegnet uns in den neun Szenen, die Walter Gilbricht, bekannt geworden durch ein vor wenigen Jahren aufgeführtes Oliver Cromwell-Stück [s. MMs Kritik in der NZZ vom 01.01.33, Nr. 2], zu dem Drama Michael Kohlhaas aneinandergereiht hat. Wenigstens den Namen hat er unverändert von Kleist übernommen. Aber daß er den märkischen Roßhändler, als welcher er durch Kleist in die Ewigkeit eingegangen, mag er immerhin der Chronik gemäß ein Produktenverkäufer gewesen sein, justament als Heringshändler zum Helden des Dramas erhebt – schon das muß eine Geschmacksverirrung genannt werden. Die Rappen gehören zum Roßhändler, während die Heringsware nun einmal etwas Herabsetzendes hat. – Wenn Gilbricht anfängt, setzt er die Kenntnis der Begebenheiten nach Kleists Novelle voraus; im letzten Bild erzählt der vor seinem irdischen Richter stehende Kohlhaas die Geschehnisse freilich auf eine von Kleist nicht unwesentlich abweichende Art. Das Ende hätte an den Anfang gehört, und der Anfang nimmt als bekannt hin, was erst zu gestalten gewesen wäre. Doch das sind technische Geringfügigkeiten. Schwerer ins Gewicht fällt, daß alle Gefühlsmomente ausgemerzt sind. Weder der Tod der Frau (sie bleibt bei Gilbricht am Leben) noch das Ende des treuesten Knechtes werden vom Dramatiker für seine Zwecke genutzt. Man fragt sich, was ihn zu diesem Stoff gezogen haben mag, wenn er an solchen Höhepunkten der Handlung vorüberging. – Doch ihm kam es offenbar mehr auf die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Sachsen und Brandenburg an, die ihm Veranlassung wurden, mit ironischen Zutaten nicht zu geizen, sowie auf die dialektische Erörterung des Falles. Der Heringshändler ist ein gewaltiger Streiter mit dem Worte; er kann sich mit seinen Argumenten und Formulierungen in der eindringlichsten Szene des Ganzen sogar neben dem Dr. Martin Luther behaupten. Ja, er erklärt, er werde echt lutherisch seine Sache gegen Luther fürs Gewissen durchfechten. Wo in aller Welt gab es je einen Heringshändler, der mit solchen Antithesen um sich warf! Gerne sei zugestanden, daß dem Verfasser manches treffende Wort sarkastischer Prägung eingefallen ist. Aber das setzt nur die Hände in Bewegung und findet kaum Zugang zu den Herzen. Dieser Kohlhaas mit seinen Gewissensnöten, mit seinem lodernden Rechtsbewußtsein läßt uns durchaus kalt. Ein Drama, das aber in seiner Gefühlswirkung weit hinter der Erzählung zurückbleibt, hat seinen Zweck verfehlt. […] Gleichwohl hatte die von Heinz Hilpert geleitete Aufführung des Deutschen Theaters in Berlin guten Erfolg.“

Zurück zum Volksstück? NZZ, 15. Mai 1935, Abendausgabe, Nr. 850.
Georg Fraser, Die elf Teufel (Theater am Kurfürstendamm, 18.04.35). – „Nicht nur die Berliner Volksbühne hat augenscheinlich mit dem nach englischer Vorlage bearbeiteten Volksstück Der goldene Kranz [von Jochen Huth; Premiere 10.04.35] den Geschmack des Publikum getroffen – was viel verwunderlicher ist: das Kurfürstendamm-Theater hat es mit dem Volksstück Die elf Teufel von Georg Fraser nicht minder. Steuern wir am Ende einer Renaissance des Volksstücks entgegen? – Dort stand im Mittelpunkt eine Scheuerfrau, der das Familienglück höher steht als ein noch so hohes Filmhonorar (credat Judaeus Apella) und die wieder Mutter sein will, nachdem sie gegen Starbezahlung eine Mutterrolle gespielt hat (was übrigens eine Degradierung des Könnens der Kinoschauspieler bedeutet). Hier dreht sich alles um ein Kantinenpächtertöchterchen, das den Antrag des steinreichen Fabrikanten ablehnt, weil es ihn nicht lieben kann, und sich mit dem armen, stellungslosen Mechaniker, den es liebt, verlobt. Wenn das nicht gutes altes Volksstück oder der wiedererwachte L’Arronge ist! In beiden Fällen handeln die Heldinnen (sofern man sie so nennen darf) nach dem Grundsatz, daß Geld allein nicht glücklich macht, daß die Stimme des Herzens Gottes Stimme ist. Das war von jeher das erste Gebot oder die frohe Botschaft im Volksstück, sein Leid- und Leitmotiv, sein happy ending, lange bevor der Begriff von der die Realitäten des Lebens umbiegenden Kinobranche als Lockmittel gebraucht wurde. – Was für den Goldenen Kranz die Kinowelt, ist in den Elf Teufeln der Sport. Eine deutsche Fußballmannschaft tritt gegen die Uruguayer an. Da die Bühne das Spiel selbst nicht zeigen kann, wird der Verlauf des Kampfes durch eine Reportage des Lautsprechers wiedergegeben. Er übernimmt also die Stelle der in frühern Zeiten angewendeten Teichoskopie. Man denke nur einen Augenblick an die wunderbaren Botenberichte im antiken Drama, etwa im Hippolytos des Euripides, und frage sich dann ganz unbefangen, ob unsere staunenswerten Erfindungen einen Fortschritt für die dramatische Kunst gezeitigt haben. – […] Die elf Teufel sind eine herkömmliche Liebesgeschichte mit Sportmilieu à la Am Himmel Europas [einer Komödie von Per Schwenzen und Josef Bonifazius Malina: s. MMs Rezension in der NZZ vom 09.06.33, Nr. 1047] und Radio. Allein der Fußball macht des Stückes und das Liebespaar (Maria Paudler – Hans Brausewetter) des Hörers Glück. Der Kurfürstendamm jubelt, als wolle er nachweisen, daß er besser denn sein Ruf ist.“

Berliner Theater. NZZ, 22. Mai 1935, Abendausgabe, Nr. 894.
Harald Bratt, Die Insel (Komödienhaus, 03.05.35); Friedrich Wischmann, Stimme im Sturm (Staatstheater, 07.05.35). – „Nach reichen Erfolgen im Reiche ist das schon letztes Jahr in Zürich gespielte Diplomatenschauspiel Die Insel von Harald Bratt ans Berliner Komödienhaus gelangt, ohne hier ganz willige Hörer zu finden. Insonderheit der Höhepunkt der bühnenkundig gesteigerten Handlung weckte gefährliche Heiterkeit, die wie ein Aufsagen der Gefolgschaft klang. […] – Als Akt der Courtoisie mag es aufzufassen sein, daß sich das Staatstheater noch kurz vor Schluß der Spielzeit des Dramas Stimme im Sturm von Friedrich Wischmann angenommen hat. Den Berliner Bühnenleitern ist der Vorwurf nicht erspart geblieben, daß sie wichtigere Uraufführungen dem Reich überließen; wie dem auch sei – Berlin hat jedenfalls mit seinen Uraufführungen kein sonderliches Glück gehabt, und Wischmann macht davon keine Ausnahme. Der gebürtige Mecklenburger will in seinem dramatischen Erstling einen Einblick in das von den Elementen ständig bedrohte Dasein auf einer Hallig gewähren. (Diese kleinen, der Nordseeküste vorgelagerten Inseln, die bisweilen von Sturmfluten verschluckt werden, wenn sie nicht durch Eindeichung dem Festland angeschlossen sind, dürften auch einer nicht norddeutschen Leserschaft aus Storm bekannt sein.) – Vor einigen dreißig Jahren schrieb Max Halbe sein Drama Mutter Erde, dessen Titel für die ganze deutsche Heimatkunst programmatisch wurde, und er ließ ein Drama Der Strom folgen, worin auch die Elemente das Gebild von Menschenhand hassen. [Vgl. MMs Rezension in der NZZ vom 07.01.04, Nr. 7.] Dieser Strom und die Stimme von Storm klingen in der Stimme im Sturm an. Halbe vermochte immerhin für seine Gestalten zu erwärmen, während es der nicht zu kurierende Schaden von Wischmanns Schauspiel ist, daß uns seine Menschen Hekuba sind und Hekuba bleiben, am Ende genauso wie am Anfang. Es wird viel geredet, aber nicht der leiseste Versuch unternommen, die Menschen so reden zu lassen, wie ihnen dort der Schnabel gewachsen ist. […] Der Beifall ließ erkennen, daß das Schicksal der Halligleute den Hörern am Gendarmenmarkt nicht zu Herzen gegangen war.“

Berliner Theater-Kehraus. NZZ, 5. Juni 1935, Abendausgabe, Nr. 984.
Eugène Scribe, Das Glas Wasser (Staatstheater, 26.10.34); Johann Nestroy, Lumpazivagabundus (Deutsches Theater, 07.05.35); Walter W. Goetze, Schach dem König! (Volksbühne, 16.05.35); Leo Lenz, Meine Tochter – deine Tochter (Theater in der Behrenstraße, 14.05.35); Axel Ivers, Spiel an Bord (Komödie, 22.05.35); Fritz Peter Buch, Veronika (Theater Unter den Linden, 23.05.35); Eberhard Foerster [i.e. Eberhard Keindorff] u. Christian Munk [i.e. Günther Weisenborn], Die Neuberin (Deutsches Künstler-Theater, 25.05.35). – „Als der Anthrazit noch lustig im Dauerofen brannte, wurde die ‚Sommerspielzeit’ schon angekündigt – mit dem Ergebnis, daß sie an verschiedenen Stätten gar nicht in den Sommer hineingelangte, sondern in der Maienblüte oder in ihrer Sünden Maienblüte verschied. – Vorzeitig schloß, wegen baulicher Veränderungen, das Staatliche Schauspielhaus. Der Auffrischung des künstlerischen Personals soll die technische Modernisierung des Bühnenhauses folgen. Von allen Berliner Theatern schließt das Staatliche bei weitem mit der günstigsten Bilanz. Scribes Glas Wasser brachte ihm ein halbes Hundert ausverkaufter Häuser [s. die voraufgegangenen Rezensionen] und soll nach dem Berliner Triumph nun auch den Musenfreunden im Reich vorgesetzt werden. Es entbehrt nicht eines gewissen Humors, daß die preußische Nationalbühne, deren Spielplan so ernst und so national gestaltet war, justament mit der entmotteten Komödie eines Franzosen ihren großen Treffer zog. Aber solche unberechenbaren Zufälle sind im Theaterleben keine Seltenheit. – Das Deutsche Theater, in Hilperts erster Spielzeit nicht sonderlich vom Glück begünstigt, suchte sein Heil bei Nestroys ins Norddeutsche verpflanzter Posse Lumpazivagabundus, die dem Haus in der Schumannstraße vor einem Menschenalter einen Kassenerfolg erster Ordnung bescherte, als Josef Kainz, der quicklebendigste Zwirn, alle Minen seines Übermuts springen ließ [Premiere 03.05.96]. Es scheint, als wolle sich mit dem Stück der Erfolg nicht wiederholen. – Die Volksbühne, die seit Hilperts Weggang schwankte, wankte, krankte, griff nach dem Rettungsring einer funkelnagelneuen Operette Schach dem König! von Walter W. Goetze. Diese erhielt weniger durch die Hinzuziehung bewährter Opernkräfte einen pikanten Reiz als durch die Regieführung Lucie Höflichs, der großen Menschendarstellerin, die gleichermaßen Solisten und Choristen befruchtete. Sie wurde auf ihrem neuen Betätigungsfeld stürmisch gefeiert. – Neben den staatlich subventionierten haben die Privatbühnen natürlich einen schweren Stand. Sie tun ihr Mögliches, sich über Wasser zu halten; aber nur einem scheint es spielend zu gelingen: dem universellen Ralph Arthur Roberts. Er, er ganz allein in der Verbindung von Direktor, Autor, Regisseur, Darsteller ist das Theater in der Behrenstraße. An beiden ist die Umwälzung spurlos vorübergegangen, auch an seinem Publikum. Ein Bühnenpraktikus wie Leo Lenz hilft ihm, sich seine Rolle auf den unverändert schlanken Leib schreiben. Diesmal heißt der Schwank Meine Tochter – deine Tochter. Alles dreht sich um den alternden Lebemann, dem ein getarntes Töchterchen ins Haus geschneit kommt. Kann man auch gewisse Geschmacksentgleisungen des Schlußaktes nicht billigen, so muß man doch der technischen Sicherheit des ersten Aktes Anerkennung zollen. Und immer wieder, kennt man auch längst alle seine Tricks, reizt der witzige Schauspieler Roberts zum Lachen. Das will in diesen humorlosen Zeiten etwas besagen. – Von Axel Ivers, der schon mit einem Lustspiel Bob macht sich gesund in der Komödie zu Worte kam, gibt es dort jetzt ein Spiel an Bord zu sehen. Abermals steht ein Frechdachs im Mittelpunkt. Er läßt sich von den Mitreisenden als amerikanischer Milliardär hofieren und kann ähnliche Erfahrungen wie Gogols Revisor machen: Rang oder Reichtum genügt, einen blinden Passagier in den Ruf einer geheimnisvollen Persönlichkeit zu bringen. Diese erinnert lebhaft an den maritimen Ahasver Joseph Pulitzer; aber das hat der Verfasser wohl schwerlich gewußt, brauchte er übrigens gar nicht zu wissen. – Ungewöhnlichen Erfolg hatte das Kleine Theater mit dem kleinen Volksstück Veronika von Fritz Peter Buch, das als szenisches Seitenstück zu Falladas Kleinem Mann gelten kann. […] Man hat mancherlei gegen dieses opusculum auf dem Herzen, nicht nur gegen seine Moral. Auch gegen die sonst vortreffliche Regie Veit Harlans, der an sentimentalen Stellen, ganz wie im Kintopp, mit unmotiviert hereinbrechender Musik und fahler Beleuchtung arbeitet. Auch gegen die Hörerschaft, die sich über einen Schwerhörigen lustig macht; solche Roheiten hielt man für überwunden. Aber wenn alles gegen das Werkchen gesagt ist, soll nicht verschwiegen sein, daß man durch seine liebenswürdige Handschrift versöhnt wird. Erstens hat es eine Handschrift und zweitens eine gewinnende; darum wird man es länger im Gedächtnis bewahren als die vielen prätentiös auftretenden Heimatdramen und Historien. – Zu diesen gehört das dem Andenken der Begründerin des deutschen Theaters gewidmete Schauspiel Die Neuberin von Foerster-Munk (unter welchem Doppelnamen sich zwei Berliner Schauspieler verbergen sollen, die allem Anschein nach ihre Kollegin Agnes Straub mit einer Riesenrolle beglücken wollten). […] Seien wir aufrichtig: an dem Stück mit seiner probaten Mischung von Literatur und Liebe ist nicht viel dran; aber Agnes Straub macht im Deutschen Künstlertheater aus der resoluten Thespiskarren-Prinzipalin fast einen blutvollen Menschen. Dagegen gelingt es dem jungen Regisseur Wolfgang Liebeneier noch nicht, die andern Mitwirkenden zu gleichwertigen Partnern zu erziehen. Man sah eine Provinztruppe mit Madame Straub a. G. Doch auch so nahm das Publikum an den Theatervorgängen um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen Anteil, als ob die Austreibung und Verbrennung Harlekins aktuelle Bedeutung besäße und als wolle es durch ungezählte Hervorrufe bekunden, daß nun der Winter seines Mißvergnügens glorreicher Sommer ward.“

Von deutschen Bühnen. NZZ, 7. Juli 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1185.
Friedrich Lindemann, In Luv und Lee die Liebe (Volksbühne, 25.06.35). – „Nachdem die Volksbühne Berlin sich schon vorigen Monat in die stagnierenden Gewässer der Operette begeben hatte, setzte sie nun, bei 33 Grad im Schatten, ihrer Stammgemeinde die Seemannskomödie In Luv und Lee die Liebe von Friedrich Lindemann vor. Der Verfasser hat bereits einen Kriminalroman Der Streit um die Betty Bonn veröffentlicht, und ein Schmugglerroman von ihm erscheint gegenwärtig in der Grünen Post. Das mag als ein Signalement gelten. Um Schmuggel handelt es sich auch in seiner Posse in der Waterkant. Das Kokain spielt etwa die gleiche Rolle wie ein gewisser Biberpelz, und der die Untersuchung leitende Zollbeamte steht einem gewissen Wehrhahn an Verbohrtheit kaum nach. Mehr als die dünne Handlung, die von zwei Verlobungen gekrönt wird, nehmen die saftigen Seemannstypen für sich ein, besonders wenn sie so echt dargestellt werden wie von Josef Sieber, der mit jeder neuen Rolle wächst, und von Jakob Tiedtke, dem sein eben gefeierter sechzigster Geburtstag noch nichts von seiner ursprünglichen Kraft und Frische genommen hat. Es gab einen guten Erfolg, der vielleicht doppelt so stark ausgefallen wäre, wenn man sich, bei 33 Grad im Schatten, auf die Hälfte des Textes beschränkt hätte. Als Graf Solms anfing, Regie zu führen, riet man ihm, sich einen Regisseur zu holen; jetzt, da er die Spielzeit als Regisseur beschließt, muß man ihm einen Dramaturgen wünschen. – Und allen Theatern sei ein gesegneter Sommerschlaf gewünscht.“

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1935 / 1936

Spielplan der Berliner Staatstheater. NZZ, 18. August 1935, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1431.
„Schon jetzt, im tiefsten Sommerschlaf, tritt die Leitung der Staatlichen Bühne mit ihrem Programm für die kommende Spielzeit an die Öffentlichkeit. Die Staatsoper sieht ihre Hauptaufgabe darin, ‚die Standardwerke der Opernliteratur dem Spielplan dauernd zu gewinnen und in mustergültigen Aufführungen darzubieten’. Gluck, Mozart, Beethoven, Weber, Wagner und Verdi werden vertreten sein. Außer diesen finden von Ausländern noch Auber mit Fra Diavolo und Wolf-Ferrari mit den Vier Grobianen Berücksichtigung. Ein anderer Italiener: Ottorino Respighi wird die Uraufführung seiner Oper Die Flamme im Hause Unter den Linden erleben, und dorthin wird auch Werner Egk mit seiner Zaubergeige einziehen. […] – Das Staatliche Schauspielhaus wird die klassischen Dramen der verflossenen Spielzeit in seinem Repertoire behalten und durch wichtige Ergänzungen bereichern. So soll das umgebaute Haus am Gendarmenmarkt mit Goethes Egmont in der Inszenierung von Gustaf Gründgens und unter musikalischer Leitung von Wilhelm Furtwängler eröffnet werden. […] Unter den Uraufführungen, die das zaudernde Berlin bisher vielfach dem Reich überlassen hat, sticht eine brandenburgisch-preußische Historie Friedrich Wilhelm I. von Hans Rehberg hervor, den sein Schauspiel Der Große Kurfürst bekannt gemacht hat [s. MMs Rezension in der NZZ vom 08.12.34, Nr. 2215]; auch Maxim Ziese soll mit einem neuen Werk Der erschlagene Schatten aus der Taufe gehoben werden. Für die Arbeitskraft des Intendanten Gründgens zeugt es, daß er nicht nur den Hamlet selbst spielen will, sondern auch Paul Apels Hans Sonnenstößer in einer von ihm vorgenommenen Neufassung des Traumspiels [Hans Sonnenstößers Höllenfahrt]. Eine ähnliche Personalunion von Intendant, Regisseur und Protagonist war in Berlin noch nicht da. – Das Schauspielhaus hat sich als Dependance das Deutsche Künstlertheater in der Nürnbergerstraße zugelegt, das fortan ‚Staatstheater – Kleines Haus’ heißt. Hier wird man mehr dem heitern Genre und einer internationalen Einstellung huldigen. […] Wenn auch nur ein Teil dieser Vorankündigungen durchgeführt wird, ist Berlin im kommenden Winter mit theatralischen Genüssen reichlich versorgt.“

Berliner Theaterbeginn. NZZ, 15. September 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1592.
Dietrich Eckart, Dunkle Wege (Komödie, 06.09.35); William Shakespeare, Zwei Herren aus Verona (Kleines Haus des Staatstheaters, 08.09.35). – „Harald Paulsen feuerte den Startschuß am 6. September ab. In der Komödie am Kurfürstendamm. Mit einer ‚Gesellschaftskomödie aus der Vorkriegszeit’ von dem mittlerweile verstorbenen Dietrich Eckart, die vor dreißig Jahren am Gendarmenmarkt Der Froschkönig hieß und jetzt Dunkle Wege genannt wurde. Sie stammt nicht nur stofflich aus der Vorkriegszeit, sondern auch technisch und scheint wie durch eine Ewigkeit getrennt von jenen Kriminalreißern, die Conan Doyle, Wallace und Konsorten auf die Reise um den Erdball schickten. Doch das Publikum hat immer wieder seine Freude daran, daß die unfehlbare Hermandad danebengreift und der edelmütige Verbrecher ihr ein Schnippchen schlägt. Wenn der Polizeigewaltige einen harmlosen alten Diener wegen Diebstahls verhaften lassen will und der wahre Täter neben ihm steht, so sieht er nicht klüger aus als der hanebüchene Wehrhahn [in Gerhart Hauptmanns Biberpelz]; wird dann die Figur durch den Darsteller auch noch ganz ins Schwankhafte gezogen, so ist des Jubels kein Ende. Harald Paulsen dagegen spielt seinen feudalen Einbrecher durchaus ins Tragikomische hinüber mit bewundernswerter Treffsicherheit, die das Theater völlig überwunden hat, mit höchster artistischer Präzision. Seltsamerweise denkt man nicht an seinen diametral entgegengesetzen Vorgänger Matkowsky, sondern an den jungen Bassermann zurück, der solchen Gestalten eine unheimliche Intensität mitgab. Paulsen ist ihm ebenbürtig. Zwei Akte lang vermochte er die Komödie aus eigener Kraft über Wasser zu halten, am dritten mußte selbst er scheitern. – Zwei Abende später stellte sich das dem Staatlichen Schauspielhaus angegliederte Kleine Haus (immerhin, es soll tausend Sitzplätze fassen) frisch gewaschen vor. Der für Theaterräume beliebteste Farbendreiklang von weiß, gelb und rot tut auch in der Nürnbergerstraße seine Schuldigkeit. Zur Eröffnung war Shakespeares sehr selten aufgeführtes Jugendwerk Die beiden Veroneser gewählt, das in der von Hans Rothe vorgenommenen neuen Fassung Zwei Herren aus Verona heißt. ‚Das Stück ist für die Bühne ohne Umarbeitung nicht verwendbar’, hatte Wilhelm Oechelhäuser einst geurteilt; aber schwerlich hatte der langjährige Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft an eine solche Umarbeitung gedacht, die das Handlungsgerüst ungefähr stehn läßt, doch einen Behang eigenen Gewebes darüber breitet und diesen mit den Fäden des Dichters verknüpft. Es sieht fast so aus, als ob Rothe von der Vorsehung erkoren sei, dem guten Shakespeare unter die Arme zu greifen, wenn ihm nichts Gescheites einfällt. – Mit den Beiden Veronesern ist wirklich, trotz Staatstheater, nicht viel Staat zu machen, und wenn Zwei Herren aus Verona die Gründlinge im Parkett mehr belustigen, kann es uns bei dem Mangel an bühnenwirksamen Lustspielen ziemlich einerlei sein, wieviel von Shakespeare, wieviel von Rothe herrührt. Die Sache verliert dadurch an Wichtigkeit, weil es sich im vorliegenden Fall um ein minderwertiges Objekt handelt; allein prinzipiell muß, da es sich um kein minderwertiges Subjekt handelt, wieder ein Wort über dieses Gemansche gesagt werden. An dieser Stelle wurde schon mehrfach gegen Rothes selbstherrliches Verfahren Protest erhoben, aber noch nie hat sich seine Mitarbeit so peinlich fühlbar gemacht. Es kümmert ihn nicht im geringsten, daß er wesensfremde Elemente in die Shakespearesche Vorlage hineinträgt, daß bisweilen ein frivoler Ton anklingt, daß ein Zynismus durchbricht, der für Shaws Zeitalter kennzeichnender ist als für die Elisabethaner. Wenn der Herzog von Mailand etwa fragt, wer noch nicht Frauen in Gedanken entkleidet habe, so ist das ein Ladenschwengel-Ausdruck modernen Gepräges. Wenn von einem Hündchen gesagt wird, daß es begierig von Rinnstein zu Rinnstein taumle, so ist das nicht auf Shakespeares Beet gewachsen. Und nun ereignet sich das Allerirrationalste: die Sentenzen Meister Rothes werden beklatscht, und keine Hand regt sich für Shakespeare. Armer William, ‚Stern der höchsten Höhe’ [Goethe über Shakespeare]! – Viel war von dem Regisseur des Abends, Lothar Müthel, getan worden, der Komödie aufzuhelfen. Er hatte sich von Traugott Müller lichte, lustige Dekorationen malen lassen; er hatte bei Mark Lothar verbindende Musik bestellt, die freilich mehr an das Gewimmel orientalischer Basare als an Italien denken ließ. Er hatte eine bewährte Schar von Komikern zur Verfügung, und neu hinzu kam der Filmdarsteller Viktor de Kowa, der seinen trockenen Humor mit der Leichenbittermiene des Aujust aus dem Zirkus verband. Vom Film her kommt auch Marianne Hoppe, die eine sehr reizvolle Julia aus Verona (nicht die Julia) gab und auf gutem Weg zu Viola oder Rosalinde scheint. Als Neuerscheinung der Staatsbühne durfte man ferner Pamela Wedekind begrüßen, an der bestimmt eine vielversprechende Kraft gewonnen ist; man braucht sie nur nicht in jeder Rolle frohlocken zu lassen: ‚Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister’, sollte sie weniger als Amorosa denn als Aspasia beschäftigen. Mit so frischem, bildungsfähigem Material zu arbeiten muß für den Regisseur eine schiere Freude gewesen sein; dem Glücklichen schlug keine Stunde, sonst wäre ihm nicht entgangen, daß sich die Aufführung über 3½ Stunden hinzog, was für eine solche dramatische Seifenblase des Guten zu viel ist. Das war entschieden ein Handicap für die Zwei Herren aus Verona, wenn ihnen auch eine überaus freundliche Aufnahme bereitet wurde.“

Berliner Theater. I. NZZ, 20. September 1935, Morgenausgabe, Nr. 1624.
Nikolaij Gogol, Der Revisor (Kleines Haus des Staatstheaters, 11.09.35); F. Walther Ilges, Die Laterne (Deutsches Theater, 10.09.35); Hjalmar Bergman, Markurell (Deutsches Theater, 13.09.35). – „Auch die ältesten Einwohner dieser Stadt werden sich nicht erinnern können, daß das Deutsche Theater im Laufe einer Woche drei Premieren herausgebracht hat. Das bedeutet faktisch die Abschaffung der viel angefochtenen Serienspielerei, zu deren Gunsten sich höchstens anführen ließe, daß sie auf einigen weniger wichtigen Gebieten eine Ersparnis erwirken kann, die freilich in keinem Verhältnis zu den künstlerischen Schäden steht. Zurück zum wechselnden Spielplan! heißt also die Parole. Auch für das Kleine Haus des Staatstheaters, das auf Shakespeares radikal revidiertes Lustspiel von den Zwei Herren aus Verona bald Gogols Revisor folgen ließ. In einer von dem heimgekehrten Jürgen Fehling besorgten Inszenierung, welche die Bässe sozusagen stärker betonte als die Melodie, das Nationale unterstrich und das Schwergewicht durchaus auf das Sarmatische legte. ‚Lang und laut’ schien die Richtschnur für seine mit vielen liebevollen Einzelheiten ausgestattete Lesart zu sein, wobei es unentschieden bleibe, ob eine weniger ins Groteske gebogene Darstellung dem Kern der Gogolschen Komödie nicht näher gekommen wäre. Bernhard Minetti gab den kleinen Schwindler aus Petersburg, ohne daß er die Rolle mit seinem Wesen völlig veramalgamieren konnte. Man hat das Gaunerchen meist als sprühenden Frechdachs gesehen, während man bei Minetti das Gefühl hatte, daß ihm vor der eigenen Keckheit bange wurde; doch er gefiel nicht minder als die dick auftragenden Chargenspieler, so daß ein rauschender Erfolg für die russische Komödie zustandekam. – Zur Eröffnung des Deutschen Theaters hatte Hilpert ein Schauspiel aus der Französischen Revolution: Die Laterne von F. Walther Ilges ausersehen. Diese kurze Geschichte hat eine merkwürdige Vorgeschichte. Vor zehn Jahren, als der Wind noch von der andern Seite blies, durfte es in Köln nur vor einem geschlossenen Kreis gespielt werden, und als es vor wenigen Jahren an ein Peripherietheater nach Berlin kam, war es nur Parteimitgliedern zugänglich. Die Gründe, die damals behördliches Einschreiten hervorriefen, sind heut unerfindlich. Man wundert sich nachträglich, daß diese dünnen, lose gehefteten, dramatisch kaum gestalteten Szenen irgendwen beunruhigen sollten. Vor kurzem war in englischen Zeitungen zu lesen, ein Proletarierstück, das gegenwärtig mit großem Erfolg in London läuft, sei um ein Haar an dem mangelnden Besuch von seiten des proletarischen Publikums gescheitert; denn es ist Erfahrungstatsache, daß die Leute das am wenigsten auf der Bühne sehen wollen, was sie am meisten bedrückt. Ein ähnliches Gefühl hatte man vor diesen Revolutionsbildern: die Erinnerung an die Revolution im eigenen Lande ist noch zu lebendig, als daß die historische tiefern Eindruck hinterlassen könnte. Nur zum Schluß gab es einigen Beifall. – Der prasselte ganz anders nieder für die schwedische Tragikomödie Markurell von Hjalmar Bergman. Da spürte man, obwohl das Stück seiner Struktur nach aus Vorkriegszeiten stammt, wie die Zuschauer durch dick und dünn mitgingen, voller Anteil für das Schicksal eines zu Wohlstand gelangten, brutal taktlosen Gastwirts, der ein Rauhbein, aber ein herzensguter Kerl ist und eine wahre Affenliebe für seinen Sohn hegt, der gar nicht sein Sohn ist. Wieder einmal siegte das Theater, noch dazu nicht besonders gut gemachtes Theater, dem die Eierschalen der Dramatisierung nach einem Roman anhaften; aber doch Theater mit fortlaufender Handlung, menschlichen Profilen und dankbaren Rollen – kurzum, zeitloses Theater, fast sogar ortloses Theater, denn was hier in Schweden vor sich geht, könnte sich ebensogut irgendwo anders zutragen, ohne daß die Komödie künstlerisch dadurch verlöre. Hilpert selbst lieh ihr als Regisseur seine sichere Hand, wie er auch als Bearbeiter verantwortlich zeichnete. Er hatte in Otto Wernicke einen ausgezeichneten Helfer von Heinrich Georgschem Format, während Gerda Müllers Gastwirtin nicht recht glaubhaft wurde, weil sie den Kothurn des Stildramas nicht abschnallen kann und nur in der Abrechnungsszene Gelegenheit fand, sich dramatisch zu entladen. Eine Augenweide seltener Art bot in der Rolle einer Gräfin Karin Evans, wie aus dem Rahmen eines Bildes von Romney hervorgestiegen.“

Berliner Theater. II. NZZ, 21. September 1935, Morgenausgabe, Nr. 1632.
Eberhard Wolfgang Möller, Panamaskandal (Deutsches Theater, 17.09.35); Walter Erich Schäfer, Schwarzmann und die Magd (Theater in der Saarlandstraße, 16.09.35). – „Als dritte Gabe dieser ereignisreichen Woche, wiederum von Hilpert überwacht und inspiriert, bescherte das Deutsche Theater ein Schauspiel Panamaskandal von dem wohl vornehmlich für seine Lyrik durch einen staatlichen Preis geehrten Eberhard Wolfgang Möller. Was mag den Deutschen zu diesem traurigen Kapitel aus Frankreichs chronique scandaleuse, das sich als bühnenmäßig unergiebig erweist, hingezogen haben? Wollte er dartun, daß republikanische Korruption überall zu Hause ist? Und wollte er am Beispiel des Suezkanal-Erbauers Ferdinand v. Lesseps zeigen, daß eine geniale Persönlichkeit strauchelt, weil ihr von allen möglichen Stellen Widerstand oder Unverständnis entgegengesetzt wird? Wie dem auch sei, Möller nimmt, genau wie die ihm vorangegangenen Verfasser solcher schon für tot gehaltenen Diskussionsstücke, einen berühmten Namen und setzt voraus, daß seine Zuschauer so gut Bescheid wissen wie er selbst; aber der Namensträger wird uns nicht, was des Dichters lockendes Ziel gewesen wäre, menschlich näher gebracht. Es wird dauernd über ihn und von ihm geredet, allein dadurch entsteht noch kein Theaterstück, das erregt oder bewegt. Im Grunde bleibt uns F. v. Lesseps, was er uns zu Beginn gewesen ist: ein Name… – Auch Walter Erich Schäfer, dessen Schauspiel Schwarzmann und die Magd vom Theater in der Saarlandstraße aufgeführt wurde, kann nicht erwarten, daß wir für Figuren, die durchaus in embryonalem Zustand geblieben sind, menschlichen Anteil aufbringen. Was geht uns der reiche Bauer an, der eine arme Magd schwängert, dann von ihr verlangt, daß sie das Kind abtreibe, weil eine andere Liebste, der er mittlerweile verfallen ist, das von ihm verlangt, weil ihr das Kind der andern lästig werden könnte, dann die Magd und schließlich sich selbst umbringt! Das Besondere an diesen Vorgängen ist, daß sie so gar keine Besonderheit in der Behandlung aufweisen; ein gelegentlich anklingender volkstümlicher Ton verspricht indes vielleicht etwas für die Zukunft des Verfassers. Walter Franck, vom Staatstheater für die Rolle des Schwarzmann ausgeliehen, ließ beinahe vergessen, daß er uns als Verstandesmensch mehr zu sagen hat denn als reiner Triebmensch.“

Agnes-Straub-Theater in Berlin. NZZ, 6. Oktober 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1725.
Eröffnung des Agnes-Straub-Theaters mit Franz Grillparzer, Sappho (01.10.35), Pedro Calderón de la Barca, Dame Kobold (02.10.35) und Henrik Ibsen, Gespenster (04.10.35). – „Ihr eigenes Theater hat schon manche große Schauspielerin gehabt; ihr eigenes, nach ihr genanntes Theater hat als erste aber wohl Sarah Bernhardt in Paris gehabt. Und nun kommt, in einer den Musen gewiß nicht besonders günstigen Zeit, Agnes Straub, die Heroine der deutschen Bühne, und tauft das Kurfürstendamm-Theater, bisher Stätte mondäner Unterhaltung, in ‚Agnes-Straub-Theater am Kurfürstendamm’ um mit dem Vorsatz, dort dem ‚Erhabenen’ zu dienen. Auch sie bricht, wie das Staatstheater, wie das Deutsche Theater, die beide drei Premieren in einer Woche herausgebracht haben, mit der viel gescholtenen Serienspielerei. […] Statt dessen kehrt auch Agnes Straub zum wechselnden Repertoire zurück, ‚das ein Spiegelbild des großen Lebens ist’. Gleichsam als Motto hat sie die schönen Verse aus der für den ersten Abend bestimmten Sappho von Grillparzer gewählt: ‚Laß uns denn trachten, mein geliebter Freund, / Uns beider Kränze um die Stirn zu winden: / Das Leben aus der Künste Taumelkelch, / Die Kunst, zu schlürfen aus der Hand des Lebens.’ – Die neue Prinzipalin, die zuletzt in Berlin als Neuberin eine verwandte Seele gefunden hatte [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 05.06.35, Nr. 984] und sich in der Maske ihrer tapfern Vorgängerin ‚des argen Stoffs entladen’ durfte, wird es einstweilen nicht hindern können, daß sie der Star ihres Ensembles ist; aber sie ist einsichtig genug, nicht jeden Abend auf den Brettern stehen zu wollen. So überläßt sie des zweiten Abends Vorstellung: Dame Kobold von Calderon (in Adolf Wilbrandts Bearbeitung) ihren jüngern Kräften, zu denen eine Anzahl in Berlin schon bekannter, wenn auch nicht in der ersten Reihe marschierender Schauspieler hinzukommt. Jeder Theaterfreund wird es mit Freuden begrüßen, daß für den künstlerischen Nachwuchs so uneigennützig gesorgt ist; nie lag ihm sein Rhodus näher. Jung wie das Ensemble sind seine Regisseure: Wolfgang Liebeneiner, Veit Harlan, Hans Halden, um nur diese zu nennen. Die neuen Regisseure, die jetzt in Berlin wirken, sind samt und sonders aus den Reihen der Schauspieler hervorgegangen, während in der Ära Brahm die Literaten als Regisseure bevorzugt wurden. Außer den oben genannten wären noch anzuführen: Gustaf Gründgens am Staatstheater, Ernst Karchow am Deutschen Theater, Harald Paulsen am Komödienhaus. Liebeneiner, der die Sappho inszeniert hat, scheint in seiner stillen, zurückhaltenden, dem Kunstwerk bescheiden dienenden Art mehr nach Brahm hin orientiert zu sein, während Veit Harlan, der die Dame Kobold bunt und ausgelassen, mit spielfreudigen Kinkerlitzchen behangen, inszeniert hat, mehr von Reinhardt gelernt zu haben scheint. Endlich hat sich Frau Straub auch noch die Mitarbeit einiger junger Autoren gesichert und ihnen Aufgaben gestellt, von denen sie sich eine Bereicherung ihres Programms versprechen zu dürfen hofft. – So wären alle Voraussetzungen für einen nach ideellen Gesichtspunkten geleiteten Theaterbetrieb gegeben. Grillparzer, Calderon, Ibsen (Gespenster): kein schlechter Dreiklang für die Eröffnungswoche. Das letzte Wort hat, wie immer, das Publikum (das die vollen Kassenpreise zahlende Publikum). In seiner Hand liegt es, ob alle Blütenträume reifen werden…“

Berliner Theater. NZZ, 13. Oktober 1935, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1774.
Willi Kollo, Schminke (Komödienhaus, 26.09.35); Jochen Huth, Himmel auf Erden (Kleines Haus des Staatstheaters, 04.10.35); Klaus Herrmann, Augustus Potter (Studio der Kammerspiele, 06.10.35). – „Schminke – so nennt sich ein Theaterstück mit Musik von Willi Kollo, Walters Sohn, und es ist ein Stück Theater, das sich da auftut. Wieder einmal wird dem Publikum ein Blick hinter die Kulissen gewährt, und die erwachsenen Kinder sehen es gerne: den Betrieb in der Agentur, das Privatleben der Schauspieler in einer von der Souffleuse geleiteten Pension, die Aufregung am Premierenabend. Alles schon dagewesen, schon oft dagewesen, aber es behält augenscheinlich seine Anziehungskraft. Das Neue bei dem jungen Kollo ist, daß die zu Weltruhm in der Hauptstadt aufsteigende Sängerin und der in dem Provinznest hängen bleibende Schauspieler sich nicht kriegen. Er ist ihr Freund, sie setzt sich für ihn ein, aber er ist ein solches ‚Genie der Talentlosigkeit’, daß er trotz dieser Protektion nicht vorankommt. Hilflos bleibt er zurück, und die Zähre quillt… Schwerer zu sagen ist, worin das Neue bei dem Komponisten Kollo, Walters Sohn, besteht, denn er wird doch den Ehrgeiz gehabt haben, in einem Erstlingswerk eine eigene Handschrift zu offenbaren. Sagen wir also: er schreibt bewußt sentimentale Musik. Vielleicht wird das die Mode von morgen. Die Hörerschaft des Komödienhauses gab sich willig dem Zauber des Milieus hin und konnte in Reminiszenzen schwelgen. – Die Frau als Fliegerin oder die Fliegerin als Frau könnte über einer Komödie von Jochen Huth stehen, die, beides vereinigend, Himmel auf Erden heißt. Der Verfasser muß eine ausgesprochene Vorliebe für England haben; denn die Gestalten seiner Komödie tragen nicht nur englische Namen, sondern er bemüht sich auch, sie so sprechen zu lassen, wie das englische Lustspielautoren um die Jahrhundertwende taten. Sagen wir ruhig: der Ahnherr dieses Fliegerspiels ist Oscar Wilde, wenn es auch zu seinen Lebzeiten noch keine Flugzeuge gab. Und da die Tradition solcher Komödien mit wenig Handlung und viel Witz, der sich in antithetischen und paradoxen Aussprüchen entlädt, bis zum heutigen Tag in England nicht abgerissen ist, darf man den Deutschen neben Noel Coward stellen, ohne daß er freilich schon zu dessen Virtuosität gelangt wäre. Doch er hat Theaterblut, und wenn er Glück hat, wird ein Erfolg in London nicht ausbleiben. Von England hat Huth also gelernt; bemerkenswerter scheint es, daß nicht der geringste Niederschlag des Dritten Reiches bei ihm zu finden ist. Umso anerkennenswerter ist es, daß das Staatstheater (Kleines Haus) sich seiner Fliegerkomödie annahm. Der Intendant Gründgens führte selbst Regie, und der Schauspieler Gründgens konnte in der Rolle des smarten Journalisten Jack Warren einen Vetter seines Dr. Jura (bei [Hermann] Bahr [Das Konzert]) auf die Bühne stellen. Maria Bard überzeugte mehr von der liebenden als von der fliegenden Frau. Die Hörer, der Gegenwart entrückt, spendeten reichen Beifall. – Von Otto Erich Hartleben (wer kennt ihn noch? wer nennt ihn noch?) gibt es eine Komödie Ein wahrhaft guter Mensch [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 01.11.04, Nr. 304]. Das wäre mit dem leicht ironischen Beiklang der rechte Titel gewesen für eine Komödie von Klaus Herrmann, die, wenig bezeichnend in der Wahl des Namens, nach der Zentralgestalt Augustus Potter heißt und dazu ausersehen war, den Reigen der Studio-Veranstaltungen des Deutschen Theaters in den Kammerspielen zu eröffnen. Hilperts Dramaturg bekennt, man werde in der neuen Spielzeit nur solche Werke bringen, die, ohne zweifelsfrei gut oder gar vollendet zu sein, ‚durch die Originalität ihrer Themenstellung, ihrer Konzeption und ihres Stils anregend wirken’. Wo oder wie diese hier hervortritt, bleibt das Privatgeheimnis des Herolds. […] Das Publikum der Matinee schien nicht recht zu wissen, wie es sich verhalten solle; teils lachte es über, teils mit dem Verfasser, doch zum Schluß kam ein Erfolg zustande. Er galt gewiß auch den tüchtigen Schauspielern, die sich für das Stück selbstlos einsetzten.“

Ein Schlüter-Drama. NZZ, 19. Oktober 1935, Morgenausgabe, Nr. 1811.
Otto Rombach, Ein Mann an der Wende (Deutsches Theater, 08.10.35). – „Wenn Newton nicht unter dem berühmten Apfelbaum gelegen hätte, wäre das Gravitationsgesetz vielleicht nicht entdeckt worden. Wenn Otto Rombach in Berlin nicht in der Schlüterstraße gewohnt hätte, wäre er vielleicht nicht auf den großen Barockbaumeister und Bildhauer Andreas Schlüter aufmerksam geworden und hätte sein ihm geltendes Schauspiel Ein Mann an der Wende ungeschrieben gelassen. Weil sich in Schlüters Leben einige noch heute nicht ganz geklärte Tatsachen finden, empfahl er sich vielleicht für die Dichtung; aber dann hätte ein wirklicher Dichter an ihn herankommen müssen, eine verwandte Natur, die das Einmalige der Persönlichkeit herauszuarbeiten und zu gestalten vermocht hätte. – Was Rombach gibt, ist ein Intrigenstück. Der geniale Bildhauer, dem Berlin das Denkmal des Großen Kurfürsten dankt, der Erbauer des Berliner Schlosses, fällt durch die Mißgunst und die Ränke des Barons Eosander [Freiherr von Göthe], der zu seinem Vorgesetzten ernannt wird, beim König in Ungnade. Recht wie der Secretarius Wurm schleicht dieser Herr von Goethe durch die Handlung. (Was mag der glorreiche Name für Verwirrungen in den Köpfen vieler Theaterbesucher anrichten!) Zu allem Unglück senkt sich auch noch der im Bau begriffene Münzturm, was Schlüter zu dem wehmütigen Ausruf veranlaßt: ‚Es ist die Tragik von Berlin, auf Schlamm zu stehen’, und was Volk und Arbeiter dahin treibt, zu rebellieren und die Fensterscheiben in der Werkstatt des Künstlers einzuwerfen. Er selbst verschwindet, unbekannt wohin, doch es wird ihm die Genugtuung zuteil, daß der Kronprinz in sein Atelier kommt und mit erhobener Stimme verkündet: ‚Wir haben ein Ehrenmal gewonnen, aber ein Genie verloren.’ (War der Thronfolger damals wirklich schon so einsichtig?) Ein Genie auf die Bühne zu bringen, ist immer eine heikle Sache. Von der Wesensart eines genialen Dichters eine Vorstellung zu geben, das [hat] der andere Herr v. Goethe unternommen [im Torquato Tasso]; dem genialen Komponisten hat Pfitzner Lebensglut eingehaucht [in seiner Oper Palestrina]. Doch einen genialen Baumeister zu zeichnen, ist schlechterdings eine Unmöglichkeit. Wir müssen es auf Treu und Glauben hinnehmen – nicht nach dem, was wir über ihn erfahren, sondern nach dem, was wir von ihm wissen. Die voraussetzungslose Wissenschaft findet ihr Gegenstück in der voraussetzungslosen Dichtung, die den Bildungsballast mitschleppt. – Wie wenig damit indes dem großen Publikum gedient ist, bewies die laue Aufnahme, die das Schlüter-Drama im Deutschen Theater fand. […] Was bleibt am nächsten Morgen von diesem Mann an der Wende übrig? In Erinnerung an die erst wenige Wochen zurückliegende Baukatastrophe am Brandenburger Tor der eine Satz: ‚Es ist die Tragik von Berlin, auf Schlamm zu stehn’(und der sollte den Genitiv ‚Berlins’ nicht gemieden haben).“

Hauptmann redivivus. NZZ, 22. Oktober 1935, Abendausgabe, Nr. 1835.
Gerhart Hauptmann, Die Jungfern vom Bischofsberg (Kleines Haus des Staatstheaters, 15.10.35). – „In der Besprechung von Gerhart Hauptmanns Lustspiel Die Jungfern vom Bischofsberg (9. Okt. 1921 [Nr. 1444]) stand u.a. zu lesen: ‚Wiederaufnahmeverfahren haben nicht nur im Gerichtssaal, sondern häufig auch im Theatersaal überraschende Ergebnisse… Aus unsern Tagen genüge der Hinweis auf den Biberpelz von Gerhart Hauptmann. Demselben Dichter konnte jetzt gemeldet werden, daß sein vor vierzehn Jahren bei Brahm [am 02.02.07] angefauchtes, schwächliches nebensächliches Lustspiel Die Jungfern vom Bischofsberg [s. MMs Kritiken in der NZZ vom 04.02.07 / Nr. 35 und 20.02.07 /Nr. 51] sich in den Berliner Kammerspielen einer völlig widerspruchslosen, durchaus günstigen Aufnahme erfreute…’ Und abermals nach vierzehn Jahren wird dieses Lustspiel jetzt im Kleinen Haus des Staatstheaters mit solchem einhelligen Jubel begrüßt, daß der anwesende Dichter schon nach dem dritten Akt von der Proszeniumsloge aus dafür danken konnte, und zum Schluß vereinigten sich die auf der Bühne aufmarschierten Schauspieler mit den dankbaren Hörern zu einer lange währenden Huldigung. Es war – nehmt alles nur in allem – ein Triumph. Gleichwohl hat das Wiederaufnahmeverfahren am Tatbestand nichts geändert, nichts ändern können. – Andere Zeiten, andere Zeitgenossen. Unleugbar sind heutige Theaterbesucher in ihren Kunstansprüchen weniger kritisch, genügsamer, bescheidener geworden. Vor 28 Jahren wurde dieses Lustspiel vom Publikum des Lessing-Theaters nicht ernst genommen; jetzt wurde das Ernste lustig genommen, und keine kritische Erwägung trübte die Heiterkeit des Abends. Lothar Müthel hatte sich mit der Inszenierung ersichtliche Mühe gegeben, ohne daß sie schon zu spielender Absichtslosigkeit gediehen wäre. Die meisten Rollen waren vorzüglich besetzt. Es ist das Verdienst der wohlgelungenen Darstellung, einem mäßigen Stück von Gerhart Hauptmann zu einer glänzenden Aufnahme beim Publikum verholfen zu haben.“

Berliner Theater. NZZ, 29. Oktober 1935, Morgenausgabe, Nr. 1881.
Alfred Möller und Hans Lorenz, Christa, ich erwarte dich! (Agnes-Straub-Theater am Kurfürstendamm, 24.10.35). – „Vom Erhabenen zum Unterhaltsamen ist nur ein Schritt … Gestern verkündete noch Mme Straub, unsere zeitgenössische Neuberin, die am Kurfürstendamm ihren Thespiskarrn aufgeschlagen hat, in ihrem Programm oder Pronunciamento den Satz: ‚Die ich um mich geschart habe, sind jung und wollen dem Erhabenen dienen’; heute steigt sie vom hohen Roß herab und huldigt, kleinere Brötchen backend, der platten Belustigung. Mit dem Lustspiel Christa, ich erwarte dich! von Alfred Möller und Hans Lorenz (nach der Sappho, der Dame Kobold und den Gespenstern). Das könnte von Blumenthal und Kadelburg (nein, dann wäre es witziger) oder von Rudolf Presber (nein, dann wäre es gemütvoller) oder von Max Dreyer herrühren (nein, dann wäre es bodenständiger ausgefallen); es ist aber nur alt, harmlos und flach. Nichts deutet auf die gärungsreiche Gegenwart hin – es sei denn der Satz, man müsse heut ein ganzes Quantum Kinder haben. […] Der schauspielerische Nachwuchs hatte wiederum Gelegenheit zur Betätigung: Sabine Peters, Irmgard Nowak und Hugo Schrader machten ihre Sache brav, wurden aber von dem zur alten Garde gehörenden Heinz Salfner überstrahlt. Der Kurfürstendamm, die allgemeine Anspruchslosigkeit teilend, schien mit dieser Unterhaltung zufrieden.“

Berliner Theater. NZZ, 11. November 1935, Abendausgabe, Nr. 1969.
William Shakespeare, Maß für Maß (Deutsches Theater, 30.10.35). – „So oft man sich auch (freilich nicht allzu oft) um dieses Drama bemüht hat, es ist nie für die heutige Bühne dauernd erobert worden. Und wird es auch nie. Zu vieles darin geht uns feiner besaiteten Nachfahren wider den Strich. Andrerseits enthält gerade diese Dichtung einige der tiefsten und schönsten Stellen, die sich in Shakespeares Gesamtschaffen finden; sie enthält überdies Zeilen, die für die Gegenwart gemünzt sein könnten. – Die Vorstellung im Deutschen Theater, unter Erich Engels Regie, fing ausgezeichnet an. Theodor Loos brachte für den Herzog Hoheit, Menschlichkeit und Sprechkunst mit. Als Bösewicht Angelo wußte ein für Berlin neuer Mann, Friedrich Domin, zu fesseln: man glaubte ihm den Vulkan, der unter der Asche glüht. Als Claudio machte Paul Klinger gute Figur und bewährte sich wieder als Sprecher. Dahinter blieben die Frauen empfindlich zurück. Karin Evans war in der Erscheinung eine ideale Isabella; auf die Dauer wirkte sie aber wie ein Eisberg, der nicht schmelzen will. Die komischen Rollen fanden in Otto Wernicke und Hans Brausewetter aufgeräumte Vertreter. Nach der Pause ließ jedoch die Stimmung spürbar nach. Je mehr sich die Unwahrscheinlichkeiten häuften, desto spröder wurden die Hörer. Am meisten belacht wurden – armer William! – die stilistischen Entgleisungen Hans Rothes, der konsequent und unbeirrt, anscheinend auch unbelehrbar, Shakespeares komische Gestalten mit moderner deutscher Umgangssprache, mit möglichst saloppen Wendungen aufzupolstern sucht.“

Berliner Theater. NZZ, 17. November 1935, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1999.
Johann Wolfgang von Goethe, Egmont [mit Beethovens Egmont-Ouvertüre unter Leitung von Wilhelm Furtwängler] (Staatstheater, 07.11.35); Heinrich Zerkaulen, Sprung aus dem Alltag (Volksbühne, 01.11.35); Paul Schurek, Weiße Wäsche (Komödienhaus, 04.11.35); Fritz Schwiefert, Der Stich in die Ferse (Komödie, 31.10.35). – „Zur Eröffnung des umgebauten Staatlichen Schauspielhauses in Berlin war Goethes Egmont unter szenischer Leitung des Intendanten Gustaf Gründgens mit Beethovens Musik unter Führung Wilhelm Furtwänglers ausersehen. Das Paar Furtwängler-Beethoven siegte mühelos über das Paar Gründgens-Goethe, will sagen: das Freiheitslied, als welches die Dichtung gedacht ist, kam in den hinreißenden Tönen stärker zum Ausdruck als in den bedächtig abgewogenen Worten. Am lautesten gefeiert wurde der Dirigent, als hätte noch kein Kapellmeister vor ihm die himmelhoch jauchzende Fanfare dieser Ouvertüre erschlossen oder erschöpft. […] – Egmont mit seinem Gemisch von Politik und Liebe bietet dem Regisseur eine ungewöhnlich schwere Aufgabe. Man denkt Jahrzehnte zurück, ohne sich einer vollendeten Aufführung erinnern zu können, obwohl man Matkowsky, Clewing, Kayßler, Bassermann, Forster (Irrtümer nicht ausgeschlossen) in der Titelrolle gesehen hat. […] Auch Gründgens, dieser ausgesprochen moderne Regisseur, der sich wohl zum erstenmal an einem historischen Stoffe versuchte, kann nicht die Vollendung für sich beanspruchen. […] Wie ein Erbteil des Meiningertums mutete es an, daß Egmont samt seinem Gefolge hoch zu Roß erschien, daß die Bürger allesamt in funkelnagelneuen Wämsern einherschritten, daß die Prospekte einen so frisch gemalten Eindruck machten, als wären die Jahrhunderte spurlos an ihnen vorübergegangen. Auch die Besetzung der Hauptrollen war teilweise problematisch. […] Zuletzt sei die beste Leistung des Abends genannt: Hermine Körner als Regentin (wenn auch ohne Schnurrbärtchen auf der Oberlippe); wie vorbildlich spricht diese Frau!“ ● Zu Zerkaulens Komödie: „Die Volksbühne, die sich jetzt auch im Theater am Nollendorfplatz niedergelassen hat, hätte kaum ein geeigneteres Stück oder Volksstück finden können. Es wird, unter Führung des Grafen Solms, der damit seinen ersten nachhaltigen Erfolg buchen kann, hervorragend gut gespielt […]. Kein Wunder, daß der Beifall geradezu überschwengliche Formen annimmt; er klingt am verständnisinnigsten, als von frischer Butter die Rede ist und der rheinische Jong sein Mädel fragt: ‚Wo haste denn die her?’ […] Wieviel hundert Aufführungen werden folgen? Mögen sie für alle Besucher ein Sprung aus dem Alltag oder Ferien vom Ich sein.“ ● Zu Paul Schureks Komödie: „Viel bedeutet uns das nicht.“ ● Zu Fritz Schwieferts Lustspiel: „Jochen Huth führte uns vor kurzem mit seiner Komödie Himmel auf Erden in britische Flieger- und Journalistenkreise, ohne daß ihm das Staatstheater das verübelt hätte, sintemal er dankbare Rollen schrieb [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 13.10.35, Nr. 1774]. Das gilt auch von Fritz Schwiefert, der die Eheguerilla seiner Komödie Der Stich in die Ferse in englisches Milieu verlegt. Wenn er Glück hat, wird sie die Fahrt über den Kanal, vielleicht sogar über den Ozean antreten, und ihr Verfasser wird Tantiemen scheffeln. Ganz sicher scheint es allerdings nicht, weil er mehr Marionetten als Menschen geknetet hat, weil die Handlung unglaubhaft wirkt, da sie im Realen bleibt, statt sich ins Spielerische zu steigern, und weil der in schmalen Dosen verwendete Geist mehr nachempfunden als selbständig ist. Aber man darf sich schon freuen, daß einer die Technik solcher Konversationsstücke beherrscht und auf dem fremdländischen Parkettboden nicht ausgleitet. Es gibt dankbare Rollen für Erika v. Thellmann, ein liebreizendes  Weibsteufelchen, und namentlich für den vollendet diskreten Butler Walter Steinbecks. Die Hörerschaft der Berliner ‚Komödie’ machte gute Miene zum guten Spiel.“

Berliner Theater. NZZ, 28. November 1935, Mittagausgabe, Nr. 2075.
Richard Billinger, Die Hexe von Passau (Deutsches Theater, 13.11.35). – „,So süß ist zu leben, so bitter der Tod, / Und Feuers zu sterben, ist schreckliche Not’ – heißt es in Ernst v. Wildenbruchs Hexenlied, das vor einem Menschenalter das beliebte Paradestück aller deutschen Vortragsmeister war und, von Max v. Schillings musikalisch untermalt, sich bis in unsere Tage hinein gehalten hat. – Von der Süßigkeit des Lebens durchdrungen ist auch die Valentine Ingold aus Passau, eine fahrende Schauspielerin oder, wie man in grauer Vorzeit sagte, Komödiantin, die Richard Billinger zur Heldin seines Dramas Die Hexe von Passau gemacht hat […]. Mit ihrem Spiel vom Leiden Christi, worin sie auf Jahrmärkten die große Hure Maria Magdalena agiert, hat sie den Unwillen der Kirche erregt und soll als ‚Hexe’, gleich jenem mit übernatürlichen Kräften begabten Heldenmädchen aus Domrémy, den Flammentod erleiden. Nichts vermag mehr ihr Schicksal abzuwenden, es sei denn, daß ein rechtschaffener Mann sie auf dem Richtplatz noch zum ehelichen Weibe begehre. Und wirklich, der findet sich in Gestalt eines braven Müllers, der ein früherer ‚Herzmann’ von ihr gewesen, eh er Weib und Kind im ersten Jahr der Ehe verlor. […] Valentine lehnt das Gesuch des redlichen Freiers lächelnd ab, weil sie in heißer Lieb’ zum Grafen Klingenberg, dem Obristen des Erzbischofs, entbrannt ist und weil sie fühlt, daß der Funke in sein Herz übersprungen ist. Die Angst vor dem Scheiterhaufen fällt von ihr ab, denn sie hofft bis zum letzten Augenblick, der Graf werde um die Hexe von Passau werben. Der Gedanke leiht ihr gleichsam Flügel, sich über die bittere Erdennot zu erheben, und ‚wie zu einer Himmelfahrt’ schwebt sie verklärt zum Richtplatz davon. – Ja, sehr schön, sehr dichterisch, aber […] es ist nicht zu glauben, es ist wirklichkeitsferne Poesie, zu sehr der Wirklichkeit entrückt, als daß sie uns in ihren Bann zwingen könnte. Mag das happy end oft noch so abgedroschen sein: in diesem Falle, will mich dünken, wäre es einem gar zu verstiegenen Ende vorzuziehen gewesen. – Das Schicksal der Passauer Komödiantin ist mit einer Bauernrevolte verquickt, ohne daß dieser Strang der Handlung sonderlich tiefen Eindruck hinterließe. […] – ‚O mein Gott, ist das ein Kreuz auf der Welt!’ stöhnt eine Person des Schauspiels. Sein Schöpfer hat diese finstern Aspekte überzeugend herausgearbeitet. Es bleibt sein besonderer Stil, wie er sie mit bodenständiger, humorvoller Mundart umrankt. Billingers Prosa, die bisher nur in modernen Stücken zur Geltung kam, ist von quellfrischer Unverbrauchtheit, dem Derben wie dem Zarten gleich gewachsen, und seine Verse erinnern in ihrer Schlichtheit und Innigkeit nicht selten an Des Knaben Wunderhorn. Mag man auch gegenüber den dramatischen Mängeln des Bühnenwerks nicht blind sein – hier steht wenigstens eine Dichtung zur Diskussion. – Die Aufführung des Deutschen Theaters, von Heinz Hilpert mit aller Erfahrung des szenischen Praktikers geleitet, war so gut, wie sie bei solcher Fülle der Gestalten nur sein konnte. Es will schon etwas besagen, an vierzig Personen, die Dialekt zu sprechen haben, unter einen Hut zu bringen. Käthe Dorsch war die Hexe, vom ersten Auftreten an entmaterialisiert, mit dem Blick gleichsam über diese kaffrige Welt hinausschauend, so daß sie von sich aus den schwierigen Schluß genügend vorbereitet hatte. Diese schauspielerische Leistung läßt sich nur in höchsten Tönen preisen. Nicht unwürdig standen ihr zur Seite der epikureische Erzbischof Heinz Salfners und der behexte Graf in Siegfried Breuers bis zum Äußersten gespannter Darstellung. Auch die kleinen Rollen waren meist vorzüglich besetzt. Der Erfolg war nicht überwältigend, aber völlig unbestritten.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Dezember 1935, Mittagausgabe, Nr. 2136.
Hanns Johst, Thomas Paine (Staatstheater, 16.11.35); Felix Lützkendorf, Charlotte (Theater in der Saarlandstraße, 20.11.35). – „Aus den vierzehn Monaten, die der englische Publizist Thomas Paine auf Veranlassung Robespierres in Haft gesessen, weil er gegen die Hinrichtung Ludwigs XVI. stimmte, hat Hanns Johst siebzehn Jahre gemacht. Warum nicht? Es ist sein gutes Dichterrecht: denn Thomas Paine ist keine so populäre Persönlichkeit, daß ein Verstoß gegen die Chronologie in die Waagschale fiele. Sein Pamphlet über den Gesunden Menschenverstand, wodurch er die nordamerikanischen Insurgenten zum Kampfe gegen England anspornte, wird von Johst des öftern erwähnt, dagegen ein berühmtes, als staatsgefährlich geltendes Werk über die Menschenrechte mit keiner Silbe. Auch das ist des Dichters gutes Recht. Mit so viel Rechten hätte er uns aber für seinen ‚Helden’ menschlich erwärmen müssen oder sollen: doch der steht ohne Gegenspieler in einem sozusagen luftleeren Drama, dem am Schluß ein fabula docet angehängt wird, nicht moralischer, sondern eher politischer Art: die private Existenz eines Menschen ist belanglos, sofern er in das Volksganze eingeht. – Dieses weltanschauliche Szenarium sollte schon vor mehr als acht Jahren zum Bühnenleben erweckt werden (in Köln), hat aber erst jetzt in Berlin durch eine hervorragende Aufführung des Staatlichen Schauspielhauses, die als Festvorstellung der Reichskulturkammer in Szene ging, ihr zeitgemäßes Echo gefunden. Erstaunliches hatte der Regisseur Jürgen Fehling geleistet, indem er, von Mark Lothars aufpeitschender Musik unterstützt, jedes dramatische Fünkchen zur Flamme anblies. […] Das Haftendste ging von Gustaf Gründgens aus, der mit sparsamsten Mitteln erschütternd wirkte. Wie der vom Pöbel zum Tode verurteilte König mit erstarrter Maske und jenseitiger Miene dastand, jeder Zoll ein Monument, das vergißt man nicht wieder.“ ● Zu Lützkendorfs Drama: „Vergessen scheint das Schauspiel Charlotte Stieglitz von Hans Kyser, das wir vor achtzehn Jahren (mit Lina Lossen) im Lessing-Theater sahen [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 10.02.17, Nr. 247]. Den gleichen Opfertod einer schwärmerischen Schriftstellersgattin, die freiwillig aus dem Leben schied, um durch großes Leid die erloschenen Dichterkräfte ihres Mannes wieder zu erwecken, behandelt jetzt Felix Lützkendorf. Seine Bilderfolge hieß in Dresden bei der Uraufführung Opfergang (und der Titel will uns treffender scheinen), heißt nun im Theater in der Saarlandstraße Charlotte – nichts weiter. Als ob die Zeitgenossen noch eine Ahnung hätten, wer Heinrich Stieglitz gewesen und was seine Frau Charlotte für ihn getan! Indem der Verfasser den Nachnamen unterschlug, dachte er wohl, den Fall verallgemeinern zu können, und glaubte das Recht zu haben, Charlotte, nicht wie es in Wirklichkeit geschah, durch einen Dolchstoß, sondern durch einen Revolverschuß enden zu lassen. Seltsam, umso seltsamer, als der Freund, der später Charlotten ein literarisches Denkmal setzte, mit seinem richtigen Namen Mundt genannt wird (man kennt ihn aus Heines Schriften). Daß das Schicksal dieser drei Menschen, die sich und einander quälen, heutigen Theaterbesuchern besonders nahe gehe, wird keiner behaupten wollen. Es war darum auch nicht verwunderlich, daß ihnen einige taktlose Bemerkungen eines Arztes am meisten Spaß machten, während ihnen Lotte Stieglitz Hekuba blieb. Dabei hatte die Aufführung Niveau. […] Das Spiel war durchaus auf den Kammerton abgestimmt; doch ist es ein Irrtum anzunehmen, daß es innerhalb dieser Gattung nur piano und pianissimo gebe.“

Oscar Wilde-Renaissance in Berlin. NZZ, 12. Dezember 1935, Morgenausgabe, Nr. 2184.
Die Rezeptionsgeschichte von Wildes Gesellschaftskomödien in Berlin. – „Paul Lindau war der erste Berliner Bühnenleiter, der für die Gesellschaftskomödien Oscar Wildes eintrat. Als er das Deutsche Theater im September 1904 übernahm, begann er zwar, einer streng literarisch eingestellten Kritik seinen Tribut zollend, mit Shakespeares Troilus und Cressida […], aber schon wenige Tage darauf brachte er Wildes erstes Gesellschaftsstück Lady Windermeres Fächer heraus [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 29.09.04, Nr. 271]. Er hielt es für seinen höchsten Trumpf, und es sollte ein ausgesprochener Fehlschlag werden. Lindau, der sich selbst, nach französischem Vorbild, so manches Mal als Gesellschaftskritiker in seinen Bühnenwerken versuchte, erkannte in Wilde auf den ersten Blick den überlegenen Techniker und glitzernden Pyrotechniker. Die Kritiker dagegen, die auf die Dramen Henrik Ibsens schwuren und im deutschen Naturalismus befangen waren, wollten in den geistsprühenden ‚Reißern’ des irischen Dichters lediglich eine Nachahmung oder eine Fortsetzung der überwundenen französischen Gesellschaftskomödien sehen, worin sie insofern unbestreitbar das Richtige trafen, als Wilde mehr von dem Macher Sardou als von dem nordischen Magus gelernt hatte. Lady Windermere wurde damals einstimmig abgelehnt. Der rechte Mann war zur unrechten Zeit gekommen. Wenn er sich später trotzdem durchsetzte mit dem Idealen Gatten im Kleinen Theater [226 Aufführungen: Premiere am 16.06.06] und mit der rein parodistischen Komödie Bunbury in verschiedenen Berliner Bühnenhäusern, so geschah es eigentlich mehr gegen die Kritik als mit der Kritik. – Danach trat eine lange Pause ein. Es kam der Weltkrieg: es kam die Inflation: es kam die Revolution. Ausländische Theaterstücke waren unerwünschte Gäste. Da griff im September des vorigen Jahres das von Alfred Bernau geleitete Renaissance-Theater (nomen atque omen) auf Lady Windermeres Fächer zurück, wohl um der Schauspielerin Hilde Hildebrand, die bisher hauptsächlich als Chanteuse geglänzt hatte, eine große Rolle zu geben. Stück und Darstellung hatten ungeahnten Erfolg oder vielmehr, weil das der Wahrheit näher kommt: die Darstellerin konnte das Stück an mehr als zweihundert Abenden hintereinander spielen, womit betont sein soll, daß Hilde Hildebrand den größten Anteil am Erfolg hatte. [Vgl. MMs Theaterkritiken in der NZZ vom 20.09.34 / Nr. 1682 und 05.04.35 / Nr. 597.] 1904 abgelehnt, zum alten Eisen geworfen, begraben; 1934 glorreich auferstanden. Welche Wandlung durch die Gnade Seiner Majestät des Zufalls, wie der Alte Fritz ihn zu nennen beliebte! Ob auch eine Wandlung zum Bessern, bleibe hier unerörtert. Die Welt hat in den letzten dreißig Jahren ihre Uhren zurückgestellt. – Natürlich mußte ein solcher Erfolg seinen Nachhall finden. Die Kinoleute machten sich flugs darüber her. Kein Jahr war noch verstrichen, und es gab Lady Windermeres Fächer als Tonfilm zu sehen (mit der schönen, leider nur schönen Frau Lil Dagover) [1935: Regie Heinz Hilpert], nachdem man schon vor einem Jahrzehnt die Hochstaplerin (Irene Rich) in einem stummen Film unter Lubitsch [1925] bewundert hatte. Vor dreißig Jahren war das Stück für veraltet erklärt worden: jetzt operieren die Kurbelmänner ohne Bedenken mit so neuzeitlichen Erfindungen wie Automobil und Flugzeug, die damals noch gar nicht existierten, und kein Mensch nimmt daran Anstoß. Auch der Ideale Gatte brauchte nicht lange auf seine Verfilmung zu warten (mit der reizvollen Sybille Schmitz, mit Georg Alexander, der sich als Goring einmal trocken geben wollte, und mit Karl Ludwig Diehl, dessen Marke extra dry ist) [1935: Regie Herbert Selpin]. – Doch Wildes Berliner Triumph erreichte den Höhepunkt mit dem Einzug seines Idealen Gatten in das Staatstheater (Kleines Haus) [07.12.35]. Die Spiellust auf der Bühne war nicht geringer als die Lachlust im Zuschauerraum, und die Brücke war bald geschlagen. Maria Bard freilich hatte nicht ganz das Format für die abgefeimte Mrs Cheveley und suchte der Kanaille durch unterstrichene Liebenswürdigkeit beizukommen: aber Viktor de Kowa gab dem Lord Goring eine durchaus eigene, melancholische Note, und in Otto Graf und Annemarie Holtz stand ein Ehepaar Chiltern von typisch englischer Haltung auf den Brettern. Wildes Komödie wurde in einer nicht pietätlosen Bearbeitung von Karl Lerbs gegeben, der auch die Frage aufwirft: ‚Warum spielen wir heute Oscar Wilde?’ und ihr die Antwort findet: ‚Nicht der Nachahmung wollen wir das Wort reden – wohl aber der Erkenntnis des klassischen Beispiels und seiner Nutzung, seiner übertragenden Weiterführung in volkhaft eigengewachsener Atmosphäre.’ Da kann man nur mit einer Wildeschen Gestalt fragen: ‚Verstehen Sie eigentlich selbst, was Sie sagen?’“

Berliner Theater. NZZ, 12. Dezember 1935, Morgenausgabe, Nr. 2184.
Eberhard Foerster, Rivalinnen [nach Eugène Scribe und Ernest Legouvé, Adrienne Lecouvreur] (Agnes-Straub-Theater am Kurfürstendamm, 25.11.35). – „Scribe – das war in der vorigen Spielzeit der Schlager, der Treffer, der Trumpf. Mehr als fünfzigmal wurde das Glas Wasser im Staatlichen Schauspielhaus dargereicht. [Siehe MMs Theaterkritiken in der NZZ vom 05.11.34 / Nr. 1989, 05.04.35 / Nr. 597 und 12.04.35 / Nr. 643.] Warum sollte, was am Gendarmenmarkt solchen Erfolg hatte, sich nicht am Kurfürstendamm im Agnes-Straub-Theater wiederholen? Leider hatte die Wahrscheinlichkeitsrechnung ein Loch. Der alte Scribe entzückte die Leute nicht so sehr wie das modern funkelnde Spiel, der szenische Techniker von ehedem nicht so sehr wie die darstellerischen Techniker von heute. Deshalb erwies es sich als Fehlschluß, nur auf den alten Scribe zu bauen. Mit Legouvé zusammen hat er eine Tragödie Adrienne Lecouvreur geschrieben (stand sie nicht auf dem Repertoire der Duse?); daraus machte Eberhard Foerster eine Komödie Rivalinnen. Der Bearbeiter muß wohl manches aus Eigenem hinzugetan haben. Trotzdem klingt sein Text oft wie eine mäßige Übersetzung aus dem Französischen. Aber selbst die will noch gespielt sein. Die Selbstlosigkeit der Prinzipalin Agnes Straub, die nicht nur nach Rollen für sich angelt, sondern ihrem Nachwuchs eine kaum je dagewesene Entfaltung einräumt, verdient alle Anerkennung. Nachwuchs ist etwas sehr schönes, ihn zu pflegen, Ehrenpflicht, doch er muß auch danach sein. Eine ausschließlich vom Nachwuchs bestrittene Vorstellung darf nicht wie eine Konservatoriumsaufführung wirken, wie ein Attentat auf den Ruhm der Theaterstadt Berlin. Darum sollte die uneigennützige Bühnenleiterin dafür sorgen, daß in ihrem Hause nicht so dilettantisch Komödie gespielt wird (mit einziger Ausnahme von Hugo Schrader).“

Berliner Theater. NZZ, 16. Dezember 1935, Abendausgabe, Nr. 2224.
Juliane Kay, Das Dorf und die Menschheit (Agnes-Straub-Theater, 11.12.35). – „Juliane Kay hat vor Jahren für einen Roman [Abenteuer im Sommer (1927)] den Preis des Verbandes deutscher Erzähler davongetragen. Jetzt versucht sie sich mit dem Schauspiel Das Dorf und die Menschheit auf szenischem Gebiet. Ebenso wie sie als Dramatikerin versagt oder kein eigenes Gesicht gewinnt, behauptet sie sich in Ehren als Dichterin. Sie hat kein Theaterstück nach landläufigen Regeln geschrieben, wohl aber eine vom Herkömmlichen abweichende Gestalt ins Leben gerufen. Es handelt sich um ein tirolisches Dorfmädchen, das die Sünden und die Schlechtigkeit der Menschen als Verkünderin des Bibelwortes aus der Welt treiben will und selbst das Schicksal der Marquise von O. erleidet: doch am Schluß bekennt sich der schuldige Bauernbursch, der ihr im Rausch Gewalt angetan, zur Vaterschaft und nimmt sich des Sprößlings an. Der heikle Stoff fordert mehr Schönherrsche Knorrigkeit als Defreggersche Gelecktheit. Darüber hinaus ist er so reinen Herzens angefaßt, daß die Zuschauer im Agnes-Straub-Theater willig Gefolgschaft leisteten. Daran hatte auch die bis in die kleinste Rolle hinein echte, von lauter süddeutschen Schauspielern bestrittene Darstellung, die geradezu wie eine Dialekt-Truppe wirkte, ihren vollen Anteil. Den stärksten indes Hilde Körber, die sich mit der Verkörperung und Verkörberung der Graßner-Resl in die vorderste Reihe gespielt hat. Sie bezwang vom ersten Augenblick an durch ihre seelische Lauterkeit und wußte den suggestiven Ton glücklich festzuhalten. Lady Windermere [in der Aufführung des Renaissance-Theaters vom 14.09.34 (s. MMs Kritiken vom 20.09.34 / Nr. 1682 und 05.04.35 / Nr. 597)] und eine tirolische Dorfheilige – das macht ihr so bald keine nach. Ihre Leistung erhielt und verdiente stürmischen Beifall.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Januar 1936, Mittagausgabe, Nr. 25.
Joseph Maria Lutz, Der Brandner Kaspar schaut ins Paradies (Volksbühne, 16.12.35). – „Wenn man höflich sein will, kann man das im Reich schon mehrfach gespielte Volksstück […] als sublimiertes Kasperle-Theater bezeichnen; ist man weniger höflich, so mag man daran erinnern, daß Voltaire alle dramatischen Gattungen gelten lassen wollte, nur nicht das Langweilige. Dichterische Substanz nennt Lutz wohl sein eigen, aber mit der Ballung, der Formung, der Fassung hapert es noch empfindlich. Ein Minimum von Stoff wird zu einem abendfüllenden Stück ausgeweitet. Der Brandner Kaspar, am Tegernsee beheimatet, seines Zeichens Schlosser und Forstheger, will durchaus neunzig Jahr’ alt werden, er will nicht hinter seinem Vater, der so alt geworden ist, ‚z’ruckstehn’. Sein Weib stirbt ihm, seine beiden Buben fallen im Kampf gegen Andreas Hofer (wir schreiben 1809). All das tut seiner Lebenslust keinen Eintrag, und als der Tod an die Pforte des Achtzigjährigen klopft, weiß er dem Unerbittlichen ein Schnippchen zu schlagen, indem er ihn durch Schnaps erweicht. Petrus selbst muß sich nach dem Verbleib des Säumigen umtun. Und als der Kaspar endlich im Paradies landet, findet er dort die große Seligkeit. Mit andern Worten: wenn man steinalt ist, dünkt einen der Himmel schöner als das irdische Jammertal. Muß man so alt werden, um dieser Weisheit letzten Schluß zu erwerben? Wie dem auch sei: Kaspar hängt mit allen Fasern am Leben, und er ist so wenig unterzukriegen wie sein großer Ahnherr im Puppenspiel. Josef Sieber stellte ihn in der Aufführung der Volksbühne auf zwei feste Beine, Paul Hörbiger, dem die Regie anvertraut war, gab einen ergötzlichen Tod, mit dem sich reden läßt. Das Paradies in Caspar Nehers Bühnenbild sollte möglichst entkitscht werden, hatte aber wenig Märchenhaftes. Die Zuschauer waren, wie neuerdings immer, redlich begeistert.“

Berliner […] Theater. NZZ, 22. Januar 1936, Abendausgabe, Nr. 123.
Friedrich Forster, Die Weiber von Redditz (Volksbühne, 10.01.36); Heinrich Bitsch, Das Kreuz im Brunnen (Studio der Kammerspiele, 12.01.36). – „Für neue Menschen in Deutschland werden neue Bühnenwerke geschrieben, gesucht, gespielt. Zwei Wege gibt es, ihnen den Zugang zur Kunst zu erschließen: man hebt sie hinan und hilft ihnen in langwierigem, mühsamem Prozeß zum Verständnis und zur Würdigung dramatischer Kunstwerke, oder man senkt das Niveau, so daß sie sich auf der Stelle unter ihresgleichen fühlen. Der zweite Weg ist der leichtere, ohne daß er darum schneller zum Ziele führte. – Ihn wählte wiederum der durch ein Defoe-Stück [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 27.09.33, Nr. 1742] bekannt gewordene Friedrich Forster für sein Lustspiel Die Weiber von Redditz. Folgendes Rezept mag ihm vorgeschwebt haben: man nehme eine Sandrock-Schallplatte oder -Filmrolle (so eine Art weiblicher Blücher mit Basses Grundgewalt, mit Gicht und Krückstock, bärbeißig nach dem Schema ‚goldener Kern in rauher Schale’), vermenge dieses Sandtörtchen mit einer tüchtigen Portion von [Heinrich] Claurens Mimili, tue eine Prise vaterländischer Geschichte hinzu und bestreue das Ganze mit Eichendorffschem Zuckerguß. Die Weiber von Redditz sind ein echtes, rechtes Lustspiel für die reifere Jugend geworden. Zwei dankbare Rollen sind darin: für die komische Alte und für die Naive (nach früherer Facheinteilung). Die jungen Leute kommen auf ihre Kosten, und die Schauspieler gehn nicht leer aus. Beglückt aber sind die Besucher der Volksbühne, denen dieser szenische Gustav Nieritz – [populärer Jugendschriftsteller (1795-1876)] – im Theater am Nollendorfplatz vorgesetzt wird und herrlich mundet. ● Jubel füllt seit etlichen Jahren eigentlich immer das Haus, weil die neuen Theaterbesucher noch lernen müssen, sich kritisch einzustellen. Auch das Ablehnen will gelernt sein. Wenn der Beifall aber so gezwungen klingt wie in den Kammerspielen nach einer zweiten Studio-Vorstellung, die der Intendant Hilpert veranstalten zu sollen glaubte, so muß man das schon als Ablehnung werten. Davon betroffen wurde ein Schauspiel Das Kreuz im Brunnen von Heinricht Bitsch, der als sehr verspäteter Nachzügler des Expressionismus kommt. Die Frontsoldaten, die aus dem Kriege heimkehren, verstehn die Heimat nicht mehr. Die Kommunisten verhetzen die Bevölkerung, und schließlich wird der unbekannte ‚ewige Soldat’ post eventum prophezeit. Das haben wir in ungezählten Stücken anderthalb Jahrzehnte lang bis zum Überdruß gesehn. Die Stücke waren samt und sonders nicht gut: aber wer zuletzt kommt, darf es nicht noch schlechter machen als seine Vorgänger. Die Leitung des Deutschen Theaters hat entschieden keine glückliche Hand in der Auswahl von Werken, die ihre Feuerprobe für den Abendspielplan bestehn sollen.“

Shakespeare up to date. NZZ, 16. Februar 1936, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 269.
William Shakespeare, Hamlet (Staatstheater, 21.01.36); ders., Romeo und Julia (Deutsches Theater, 24.01.36). – „Unleugbar hat das Staatstheater ein emsiges, redliches Bemühen an das traurige Los des Dänenprinzen gesetzt. Von Lothar Müthels Inszenierung ist aber am Anfang und am Ende aller Dinge zu sagen, daß sie vielfach befremdet hat. Sie befremdet am meisten im Architektonischen. […] Weniger als im Dekorativen machte sich der Einfluß des Regisseurs (von einer Ausnahme abgesehen) im Darstellerischen bemerkbar. Polonius blieb in der Verkörperung durch den sonst so vortrefflichen Hans Leibelt ganz farblos; Horatio kam kaum zur vollen Geltung; Laertes nicht minder; Rosenkranz und Güldenstern waren von der allgemeinen Blässe angesteckt; der erste Schauspieler konnte befriedigen, sofern man nicht an leuchtendere Sprecher wie Hartau, Ludwig Wüllner, Schildkraut zurückdachte. Nur Käthe Gold als Ophelia hatte keine Vorgängerin zu scheuen: in der Wahnsinnsszene griff sie mit einer packenden psychopathischen Studie ans Herz – das war zeitlose Kunst ersten Ranges. Gustaf Gründgens, der Intendant, schien mit seinem Hamlet noch nicht ganz fertig geworden (Kainz ist es nie); doch was er auf den ersten Anhieb bot, war schon bewundernswert. Hat er sich erst in die Rolle eingelebt, so wird er auch seine Auffassung deutlicher projizieren können. Was er jetzt gibt, ist fast ein Widerspruch in sich selbst: ein mit Brio, mit einem furiosen Brio geladener Melancholiker, dem man nicht recht glaubt, daß er so viel Umstände bei der Vollziehung seiner Rache machen werde, doch kein von ethischen Rücksichten gehemmter Träumer.“ ● „Während für den Hamlet im Staatstheater Schlegels Übersetzung zugrunde gelegt wurde, zog Hilpert für seine Aufführung von Romeo und Julia im Deutschen Theater den Text von Hans Rothe heran. Ich habe mich hier schon mehrfach über diese halb aufbauende, halb ikonoklastische Arbeit geäußert und gehe nicht davon ab, daß durch die Seitensprünge des Rotheschen Pegasus ein wesensfremdes Element in Shakespeare hineingetragen wird, und das scheint mir überhaupt die schwerste Sünde, die ein Übersetzer begehen kann. In seiner Art ist es auch ein wesensfremdes Element, wenn die Handlung der Shakespeareschen Tragödie von Schubertschen Melodien umrankt wird, wobei auf den Anachronismus gar nicht besonderes Gewicht gelegt werden soll. […] So wundervoll das Lied ‚Der Tod und das Mädchen’ ist – wenn es erklingt, ehe Julia das Giftfläschchen leert, so ist das für meinen Geschmack eher amerikanisches Kino als deutsche Kunst. Täuscht die Erinnerung nicht, so hat Barnowsky als erster diesem bedenklichen Gedanken Vorschub geleistet, als er Shakespeares Lustspiel Wie es euch gefällt mit Mozartscher Musik verbrämte [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 03.05.23, Nr. 600]. Sollte das Brauch werden, so wäre sein Bruch mehr zu wünschen als seine Befolgung. […] Es war eine anständige Vorstellung, die sich in schönen Bühnenbildern von Ernst Schütte bewegte, doch Höhen und Tiefen fehlten ihr gleichermaßen. – Als Granville Barker, Englands bedeutendster Regisseur, vor mehr als einem Vierteljahrhundert die Aufführung von Romeo und Julia im Deutschen Theater sah, meinte er, die Reise von London nach Berlin habe sich für ihn gelohnt, weil er Hans Pagay als Mönch gesehen. [Siehe zu dieser Inszenierung MMs Theaterkritik in der NZZ vom 21.02.07, Nr. 52.] Wie gerne möchte man recht viele Hans Pagays in der Schumannstraße entdecken!“

Ein Bismarck-Stück. NZZ, 27. Februar 1936, Mittagausgabe, Nr. 337.
Wolfgang Goetz, Der Ministerpräsident (Kleines Haus des Staatstheaters, 18.02.36). – „Bisher, wenn Bismarck auf die Bretter gestellt wurde, handelte es sich um seinen Konflikt mit dem Kaiser. Schon vor der Jahrhundertwende tat dies Felix Philippi mit der gebotenen Vermummung in seinem Schauspiel Das Erbe [Uraufführung am 27.09.98 am Hamburger Thalia-Theater], bald nachher (niemand will es heute mehr recht glauben) Oscar Blumenthal in seinem Schauspiel Der tote Löwe, das immerhin so offen Farbe bekannte, daß es nur in der Freien Hansestadt Hamburg (bei Baron Bergner) gespielt werden konnte [Premiere am 12.10.04 im Deutschen Schauspielhaus]. – Seitdem ist ein Menschenalter vergangen. Der Hauptakteur ist von der Schaubühne des Lebens abgetreten, der Gegenspieler genießt einer vita privata, die durch nichts gestört werden soll. Der Ablauf der Zeit hat für die nötige Distanz gesorgt, die dem dichtenden Dramatiker unentbehrlich ist. Mögen die Ereignisse auch vielfach mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckt sein – das politische Genie hat nichts von seinem Glanz eingebüßt und leuchtet noch in die Gegenwart hinein. – Diesen überragenden Geist mit all seinen Widersprüchen, die ihn (mit einem Romantitel der Zeit) als problematische Natur erscheinen lassen, hat sich Wolfgang Goetz für sein Schauspiel Der Ministerpräsident zunutze gemacht. Der Name Bismarck wird nicht ein einzigesmal genannt, es werden überhaupt keine Namen, sondern nur Titel genannt; die agierenden Personen sind aber zu einem großen Teil so porträtähnlich gezeichnet, daß jeder auf der Stelle weiß, wer gemeint ist. […] – Die Aufführung im Kleinen Haus des Staatstheaters in Berlin, von Richard Weichert mit Fingerspitzengefühl geleitet, mußte allerhöchste Ansprüche befriedigen. Noch die kleinste Rolle lag in den besten Händen. Der Erfolg für alle Mitwirkenden, den Kompilator eingeschlossen, der dieses Bismarck-Stück und dieses Stück Bismarck gespendet, war einhellig.“

Historie in Berliner Theatern. NZZ, 28. März 1936, Morgenausgabe, Nr. 529.
Hermann Burte, Warbeck (Volksbühne, 11.03.36); Liliane Wied, Die Wanderkönigin Christine von Schweden (Agnes-Straub-Theater, 12.03.36). – „Selten hat wohl der europäische Kontinent eine so mit Geschehnissen vollgepackte Zeit durchgemacht wie unsere Gegenwart. Seit dem Ausbruch des Weltkrieges ist dieser Stern nicht mehr zur Ruhe gekommen, und es hat leider den Anschein, als stünden seiner Befriedung noch immer schwere Hindernisse gegenüber. Man sollte vermuten, die Stoffe lägen für den dramatischen Dichter nur so auf der Straße; er brauche bloß in das Gewimmel hineinzugreifen, und wo er es packe, müsse es interessant sein. Verantwortungsvolle Gestalter sind indes der Tatsache eingedenk, daß das Drama, welches die objektivste Dichtform bleibt, vor allem Distanzierung braucht, wenn es seine hohe Aufgabe der Unparteilichkeit erfüllen soll. Es ist nicht damit getan, den Sprung in die Zeitereignisse zu wagen, wenn dadurch nur ein einseitiges Bild erzeugt wird. Anderseits hat die Flucht in die Vergangenheit, die sich manchem Bühnenschriftsteller aus leicht erkennbaren Gründen empfehlen mag, heute nur einen Sinn, wenn sich von ihr ungezwungen Fäden zur Gegenwart mit ihren ungelösten Streitfragen spinnen. ● An zwei aufeinanderfolgenden Abenden konnte man in Berlin historische Schauspiele sehn: am Horst-Wessel-Platz im Hause der Volksbühne einen Warbeck von Hermann Burte, am Kurfürstendamm im Agnes-Straub-Theater Die Wanderkönigin Christine von Schweden der Liliane Wied. In Malerkreisen ist für geschichtliche Darstellungen großen Formats der nicht sehr ehrerbietige Ausdruck ‚Schinken’ gang und gäbe. Er soll beileibe nicht auf diese historischen Dramen Anwendung finden; wohl aber darf die Frage aufgeworfen werden, ob sie uns und was sie uns zu sagen, ob sie eine Botschaft für heutige Menschen haben – das eine, indem es die Kämpfe zwischen der Weißen und der Roten Rose in England aufleben läßt, das andere, indem es eine ehrgeizige Königin, die Semiramis des Nordens, hinstellt, die eine Krone ohne äußern Zwang ablegt und dann auf die Suche nach einer neuen Krone ausgeht. Bei aller Verschiedenheit des Stoffes wie der Bearbeitung haben die beiden Werke das eine gemeinsam, daß sie die behandelten Vorgänge nicht zu ballen, nicht leidenschaftlich zu steigern vermochten. Hermann Burtes dichterische Fähigkeiten, die sich in der epigrammatischen Zuspitzung, im antithetischen Schliff mancher Zeilen offenbaren, täuschen nicht über die undramatische Führung der Handlung hinweg, und Liliane Wied bringt nicht einmal Vorzüge der Formgebung mit. – In Schillers literarischem Nachlaß findet sich das szenische Skelett des Warbeck. Je weiter die Arbeit am Demetrius voranschritt, umso mehr trat natürlich die Beschäftigung mit dem englischen Thronanwärter zurück, denn zwei Kronprätendenten aus derselben Werkstatt hätten einander im Lichte gestanden. Schiller benutzte, eigener Angabe zufolge, als Hauptquelle für seinen Warbeck Rapin de Thoyras’ Allgemeine Geschichte von England in Baumgartens Übersetzung. Dort steht zu lesen, daß Perkin Warbeck der Sohn eines bekehrten Juden von Tournay war, ‚welcher sich lange zu London aufgehalten hatte. Eduard IV. hatte Gelegenheit gehabt, diesen Juden kennen zu lernen und von ihm einen Dienst zu erhalten. Es hatte ihm beliebet, demselben die Ehre anzutun, bei einem von seinen Söhnen Patenstelle zu vertreten, welchem er den Namen Peter hatte geben lassen, davon das Verkleinerungswort Peterkin oder Perkin entstanden. Einige Jahre später kehrete der Vater wieder nach Flandern zurück und ließ den jungen Perkin bei einem von seinen Verwandten zu Antwerpen, welcher ihn einige Zeit bei sich behielt. Dieses Kind war so schön und hatte solche Eigenschaften, die über seine Geburt gingen, daß Viele mutmaßten, es dürfte wohl Eduard IV. selbst sein Vater sein’. – Nur zu begreiflich, daß Burte diese Abstammungsfrage nicht aufgerollt hat. Bei ihm ist Warbeck kein Betrüger, der um den Nachweis seines königlichen Blutes bemüht ist, sondern er wird als der dem Meuchelanschlag seines Oheims entronnene Richard von York allgemein anerkannt. Doch seine Herkunft verleugnet sich nicht in der Art, wie er das Königtum ablehnt, weil der Weg zu ihm durch Mord führt, und wie er die Überzeugung ausspricht, daß, wer nicht zu morden weiß, nicht König werden kann. Burte selbst hat den Kern seines Werkes in guten Worten also herausgeschält: ‚Hier ist das Spiel von einem Menschen, der, zur Krone durch Blut und Recht berufen, königlich gesinnt und menschlich begabt, vor den Mitteln zurückschreckt, deren er sich in seiner Zeit mit ihren Meinungen und Spannungen bedienen müßte, um seinen rechtlichen Anspruch in der Welt zu verwirklichen. Herzog Richard von York, der letzte Plantagenet, den seine Feinde Warbeck nennen, ist im Wesen und Charakter ein entfernter Vetter des Prinzen Hamlet, geistig seiner Umwelt überlegen, aber tatenscheu... Er unterliegt als „ein König derer, die da kommen werden“.’ – Aus diesem Gegensatz zwischen höherer ethischer Einstellung und rückständigem Barbarentum hätten sich ganz anders dramatische Funken schlagen lassen, wenn Burte ein Beherrscher der Bühne wäre. Die geistige Kraft ist ihm eigen, der Zauberstab des Gestalters wäre ihm zu wünschen. So erweckt er nicht sonderlich unsern seelischen Anteil am Schicksal seines hamlethaften Prinzen, so gerne wir für ihn, das Edelgewächs einer rohen Zeit, Partei nehmen möchten. ● Völlig unberührt ließ uns die schwedische Christine in der Umformung durch ihre deutsche Geschlechtsgenossin. Es gehört schon eine ordentliche Portion – also sagen wir: Mut dazu, daß sich eine dramatische Novize an diesen Vorwurf herangetraut, den selbst der schwedische Meister Strindberg nicht zu meistern vermochte. Wie hätte sich der Misogyn über diese Kühnheit einer Frau erbost oder erlustiert! Sie sah das Wesen der Nordlandkönigin unter dem Gesichtswinkel einer Paraderolle, nach der Agnes Straub, schlecht beraten, mit beiden Händen griff, ohne freilich die brüchige Psychologie der die Szene durch alle Akte hindurch in immer neuen Gewändern beherrschenden Herrscherin verkitten zu können.“

Berliner Theater. NZZ, 4. April 1936, Morgenausgabe, Nr. 577.
Die Theatersituation im allgemeinen; Theodor Haerten, Der tolle Christian (Deutsches Theater, 27.03.36). – „Auch das Deutsche Theater unter seinem Intendanten Heinz Hilpert hat, dem Muster der Staatsbühnen folgend, mit der mechanisierenden Serienspielerei gebrochen. Seine Arbeitsleistung ist erstaunlich. Fast jede Woche der letzten Zeit brachte eine Neuaufführung. Je weniger die modernen Dramatiker spontanen Anklang oder ein über den Tag hinaus währendes Echo fanden, desto beruhigter durfte man zu den Kronjuwelen der Vergangenheit greifen. Aber seltsamerweise wollten auch diese nicht recht einschlagen, weder Goethes Iphigenie [06.12.35] noch Schillers Kabale und Liebe [29.02.36], weder Shakespeares Wintermärchen [22.12.35] noch Gogols Heirat [20.03.36]. Es kommt hinzu, daß Hilpert, um die Bildung eines Ensembles bemüht, den schauspielerischen Nachwuchs mit allen Kräften zu fördern bestrebt ist; allein die Erfahrung lehrt, daß Nachwuchs nicht ‚zieht’, wodurch die Gefahr nahe gelegt wird, sich wieder dem Startum in die Arme zu werfen. Vorurteilslose Betrachter werden geneigt sein, das finanzielle Versagen der klassischen Werke darauf zurückzuführen, daß die heutigen Vorstellungen keinen Vergleich mit den frühern aushalten. Die heutigen Hörerschaften in der Schumannstraße machen freilich nicht den Eindruck, daß sie diese Vergleichsmöglichkeiten besitzen oder benutzen. Ein anderes Geschlecht bevölkert heute Berlins Schaustätten, und Erinnerungen sind schwerlich seine starke Seite. So dankbar und so freigebig mit ihrem Beifall die Neulinge sind, sie haben noch manches zu lernen, nicht am wenigsten, ihre Sympathiebezeugungen zu stufen. Ref. kann sich nicht erinnern, in irgendeinem Berliner Theater, seit dem Umschwung, der Ablehnung eines Werkes beigewohnt oder auch nur zischen gehört zu haben; aber schon Lessing bemerkte, daß auch das Zischen gelernt sein will. – Das wäre vielleicht die positivste Kritik gewesen, die Der tolle Christian von Theodor Haerten verdient hätte – ein Schauspiel aus den Anfängen des dreißigjährigen Kriegs mit dem Herzog Christian von Braunschweig als Zentralgestalt, der aus toller Liebe zur vertriebenen Königin von Böhmen in die Dienste ihres Mannes tritt, von dem Rausch besessen, alles ‚pour elle’ zu unternehmen und ihr die verlorene Königskrone wieder zu holen, bis ihn eine Kugel der Tillyschen Soldaten niederstreckt. Politik und Liebe sind einmal wieder verkoppelt: der Held opfert sich einer Unwürdigen. Das Historische bleibt durchaus belanglos, und das Amouröse hat etwas schülerhaft Überschwengliches. Das alles ist in einen Dialog gekleidet, der an Dagewesenheit seinesgleichen sucht oder sich in Landsknechtswendungen ergeht, die keine Zeitung nachzudrucken sich unterfänge. Kenner des gedruckten Textes behaupten, darin läge die Stärke des Autors; dann war es von ihm eine Schwäche, sich widerspruchslos sterilisieren zu lassen. Wenn Heinz Hilpert sich durch den Darmstädter Erfolg [1935] bewegen ließ, das Stück nach Berlin zu bringen, hat er den Menschenschlag an der Spree bedauerlich unterschätzt. Das wird ihm die Temperatur des Beifalls bewiesen haben. Lernt zischen, Zeitgenossen!“

Berliner Theater. NZZ, 8. April 1936, Morgenausgabe, Nr. 604.
Friedrich Forster-Burggraf, Fräulein Turandot (Theater am Schiffbauerdamm, 01.04.36); Hermann Burte, Der letzte Zeuge (Theater in der Saarlandstraße, 02.04.36). – „Nach Vollendung der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans durfte sich Schiller eine wohlverdiente Pause gönnen; aber sein nimmer rastender Geist fahndete auch für die hours of idleness (wie Lord Byron seine erste Gedichtsammlung nannte) nach einer Nebenbeschäftigung. Seine Wahl fiel auf Turandot, das tragikomische Märchen des Italieners Carlo Gozzi, und er hoffte damit der deutschen Bühne eine neue Gattung zu schenken, worin er durch Goethes aufmunternden Rat bestärkt wurde. Diese Hoffnung erfüllte sich freilich nicht. Turandot, in ihrer Mischung von seriösen und Buffoszenen, von Pathos und commedia dell’arte, vermochte weder zu Schillers Zeit festen Fuß auf der deutschen Schaubühne zu fassen, noch später, so viele Bearbeiter sich auch um den Stoff bemüht haben. (Der vorletzte war wohl Karl Vollmoeller, dessen von Busonis burlesker Musik untermalte Fassung vor einem Vierteljahrhundert in Reinhardts Deutschem Theater gespielt wurde [am 27.10.11].) – Nun tritt aus dem Chor der Heutigen ein kecker Geselle hervor: Friedrich Forster-Burggraf und kleidet sein Fräulein Turandot als ‚heiteres Spiel’ ein. Unter den Händen des Inszenators Helmut Käutner, der schon als Münchner Nachrichter seinen Übermut springen und singen lassen konnte, wurde die Heiterkeit bis zum Bierulk mit aktuellen Anspielungen gesteigert. In meiner alten Schiller-Ausgabe steht im Vorwort zur Turandot der Satz: ‚Allein je übermütiger man den Humor spielen läßt, um so weniger ist es möglich, für die ernsteren Situationen lebhafte Teilnahme zu gewinnen.’ Das trifft auf die neue Bearbeitung durchaus zu. Vom Ernst ist so gut wie nichts geblieben, und wo er in Aktion tritt, macht er sich nur störend bemerkbar. Dafür werden mit innigem Wohlbehagen alle Schleusen der Komik geöffnet. In seinem Revier der Parodistik ist Käutner ein überaus einfallsreicher Regisseur, der mit Scherzen und Scherzchen nur so um sich wirft, ohne besonders wählerisch in seinem Klamauk zu sein. Die Vorlage ist nur Vorwand für ‚entfesseltes’ Theater. […] Schade, daß man dieses Publikum nicht an Ort und Stelle auf seine Literaturkenntnisse hin untersuchen kann, um festzustellen, wie vielen oder wie wenigen bekannt ist, daß auch ein gewisser Schiller an dieser Turandot Anteil genommen hat. Hauptsache bleibt: die Leute vergnügen sich; was kommt es da viel auf die Mittel an! [August Hinrichs] Krach um Jolanthe [s. MMs Besprechungen in der NZZ vom 26.05.33 / Nr. 954 und 12.02.34 / Nr. 249] und [Maximilian Böttchers] Krach im Hinterhaus sind die beiden volkstümlichen Schlager seit dem Umsturz. Vielleicht gesellt sich jetzt Krach um Turandot hinzu… ● Es hat nicht viel gefehlt und es wäre zum ‚Krach’ gekommen, als das Theater in der Saarlandstraße den schon fünfzehn Jahre alten Kriminalreißer Der letzte Zeuge von Hermann Burte aus dem Schutt der Verschollenheit hervorzog. Wieso mag man auf dieses ‚Bühnenstück’ von Anno dunnemals verfallen sein? Burte hat eben mit seinem Warbeck an der Volksbühne beachtlichen Erfolg gehabt [s. MMs Rezension in der NZZ vom 28.03.36, Nr. 529]; der sollte vermutlich, solang er frisch war, fruktifiziert werden. Allein er weckte weniger Ehrfurcht als Lachlust, weil der kriminelle Teil der Handlung in vielen Punkten unglaubwürdig anmutet und der philosophische Kommentar die Sache eher schlechter als besser macht. […] Gleichwohl soll nicht verkannt sein, daß ein Dichter hier bestrebt war, eine geringere literarische Gattung auf eine höhere Rampe zu heben. Und war es auch ein Versuch mit untauglichen Mitteln, so braucht man deshalb den Versuch nicht zu schmähen.“

Berliner Theater. NZZ, 23. April 1936, Morgenausgabe, Nr. 689.
Paul Verhoeven u. Toni Impekoven, Das kleine Hofkonzert (Kleines Haus des Staatstheaters, 17.04.36). – „Serenissimi Seitensprung oder die Sängerin auf der Suche nach ihrem Stammbaum könnte das ‚musikalische Lustspiel’ (warum nicht Singspiel?) Das kleine Hofkonzert heißen, das zwei Frankfurter Schauspieler, Paul Verhoeven und Toni Impekoven, ‚aus der Welt Carl Spitzwegs’ geschöpft und Edmund Nick mit gefälligen Liedern illustriert hat. Schwerer ist es, einen Begriff davon zu geben, mit welchem Jubel ohnegleichen dieses Kleine Hofkonzert im Kleinen Haus des Staatstheaters begrüßt wurde. Die Leute schwammen in Wonne. – Viel zu diesem Triumph, wenn nicht das meiste, trug die reizende Aufführung unter Hans Leibelts schirmender Hand bei. An erster Stelle verdienen die Bühnenbilder von Cesar Klein genannt zu werden, die wie Kopien Spitzwegscher Originale wirkten. Doch der Löwenanteil am Erfolg entfiel auf Käthe Dorsch, die mit ihrem ersten Auftreten im Staatstheater in altem Glanz erstrahlte. Von der Operette ist sie einst gekommen; bis zur Iphigenie und Candida hat sie sich emporgespielt, nicht weniger ‚Komödiantin’ von Geblüt als die große Corona Schröter; und nun, da sie zur Operette zurückkehrt, scheint es fast, als seien hier die starken Wurzeln ihrer Kraft. Ebenbürtig stand ihr Hans Leibelt als regierender Fürst des Miniaturstaates zur Seite.“

Preußische Dichtung. NZZ, 22. Mai 1936, Abendausgabe, Nr. 882.
Hans Rehberg, Friedrich Wilhelm I. (Staatstheater, 19.04.36). – „In der antediluvianischen Vorkriegsära hat es einen heute vergessenen Rheinländer, den Major a.D. Josef Lauff gegeben, einen Wildenbruch-Epigonen, der die Geschichte des Hauses Hohenzollern in höherm Auftrag für die Schaubühne eindichtete. Als sein Antipode geradezu kann Hans Rehberg gelten, der im unbeirrten Verfolg seines Hohenzollern-Zyklus nun schon beim dritten Drama dieser Dynastie angelangt ist: beim Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (Buchausgabe: Verlag S. Fischer, Berlin). Auch Rehberg schafft in höherm Auftrag, aber weder eines Potentaten noch von Politik und Partei, sondern sozusagen am Gängelbande der Poesie, einzig und allein seiner Vision untertan, die keinem landläufigen Patriotismus entsprungen, sondern bei aller skeptischen Einstellung von tiefer Heimatliebe durchtränkt ist. – Wieder einmal, wie schon im Großen Kurfürsten [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 08.12.34, Nr. 2215], stehen sich Vater und Sohn gegenüber: der ganz von der Idee des Dienstes am Staat erfüllte, pflichtenstrenge, den Musen abholde, dem Mars verfallene König und der genialische Thronfolger, der sich das Recht auf Eigenleben nicht schmälern lassen will. ‚Du hast zu viel nachgegrübelt’, sagt der König einmal zu seinem Sohn, um dessen Liebe er vergeblich ringt. Das ist, will es scheinen, auch Rehbergs Fall. Nachgrübeln und Austüfteln sind die gefährlichen Gaben, welche dieser Dramatiker mitbringt, ohne daß ihm die Bühne mit bedingungsloser Gegenliebe antwortete. Die geschichtlichen Vorgänge und ihre dichterische Füllung liefern stärkste dramatische Situationen, aber sie werden von dem Wortbehang um ihre tiefste Wirkung gebracht, ja fast erstickt. Man möchte Rehberg einen Schuß mehr Schiller und eine Handvoll weniger Hebbel wünschen. Immerhin, er ist wer. – Daß das Staatliche Schauspielhaus in Berlin sich dieses tendenzlosen Werkes, das gewiß nicht nach dem Geschmack vieler Besucher ist, weil es schmerzhaft über ihren Horizont hinausgeht, mit dem Aufgebot bester Kräfte annahm, verdient auf der Plusseite der Kunst dankbar gebucht zu werden. Jürgen Fehlings Regietat erwies sich als wundervolle Helferin. Eugen Klöpfer setzte sich mit dem Vollgewicht seiner Persönlichkeit für den von Skrupeln hin und hergerissenen König ein; aber er setzte so fortissimo ein, daß er schon im ersten Akt heiser wurde und keiner Steigerung mehr fähig war. Noch schwerer war die Aufgabe, die Bernhard Minetti als keimendes Genie zu lösen hatte; den achtzehnjährigen Jüngling kann er heute nicht mehr verkörpern. In den Nebenrollen standen zum größten Teil vorzügliche Darsteller auf dem Posten. Das Publikum spendete temperierten Beifall, der die oben geäußerte Vermutung durchaus bestätigte.“

Berliner Theater. NZZ, 9. Juni 1936, Morgenausgabe, Nr. 989.
Erich Ebermayer, Sonne für Renate (Kleines Haus des Staatstheaters, 10.05.36). – „Erich Ebermayer, der sein Dichterrößlein schon in den verschiedensten Gattungen getummelt hat, kommt in dieser Spielzeit zum zweitenmal aufs Tapet: nachdem er vor wenigen Monaten mit einem unmöglichen, weil gar zu unwahrscheinlichen Kriminalstück Der Fall Claasen bei Agnes Straub Schiffbruch erlitten, zieht er jetzt mit einem Lustspiel Sonne für Renate ins Kleine Haus des Staatstheaters. Die Idee, daß drei junge Burschen für ihre angeschwärmte Renate, Empfangsdame bei einem Zahnarzt, eine G.m.b.H. gründen unter der Voraussetzung, daß wer zuerst Karriere macht, die Braut heimführen soll, kann einen wohl zehn Minuten beschäftigen; dann ertappt man sich ständig auf der Suche nach den Vätern und Verwandten, als welche zu nennen wären: Drei von der Tankstelle, Fünf von der Jazzband, Quadratur des Kreises, Man kann nie wissen und eigentlich an erster Stelle Ludwig Fulda, der hier einen Epigonen gefunden hat. Technisch hat Ebermayer wohl hinzugelernt, aber im Gestalten ist er flach und leer. Dieses Mädel, das solche Anziehungskraft auf simulierende Zahnpatienten ausübt, bleibt anonym und ihre drei jugendlichen Verehrer nicht minder. Daß man bis zum Schluß nur vermuten kann, welchem von den dreien die Vergötterte sich an den Hals werfen wird, ist keine befriedigende Lösung: ein gewitzter Dramaturg hätte Renate dem Zahnarzt zur Frau gegeben. Viel helfen konnte auch die Darstellung nicht, obwohl Marianne Hoppe sehr lecker aussah (wenn sie keinen Hut aufhatte).“

Berliner Theater. NZZ, 12. Juni 1936, Abendausgabe, Nr. 1015.
Pierre Augustin Caron Beaumarchais, Der tolle Tag (Staatstheater, 03.06.36). – „,Ende gut, alles gut’ – lassen wir es bei diesem Euphemismus, wenn er häufig auch so verlogen ist wie Hollywoods happy ending. Während die übrigen Berliner Bühnen, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, ihren Sommerschlaf dieses Jahr einige Wochen früher als sonst angetreten haben, um erfrischt und gestärkt zur Stelle zu sein, wenn des Sports gesellige Glocke zur Olympiade ruft, damit sie den auswärtigen Besuchern in ihrer Klausur etwas Zeitvertreib bieten können, blühen in den Staatlichen Schauspielhäusern trotz vorgerückter Jahreszeit Kunst und Kasse gleichermaßen. Noch immer bringt dem Haus am Gendarmenmarkt der von Gründgens getragene Hamlet ausverkaufte Häuser, wobei die Frage offen bleiben mag, ob der Prinz von Dänemark oder der Prinz von Dänemark, also Shakespeare oder Gründgens die stärkere Anziehungskraft ausübt, und das Kleine Haus in der Nürnberger Straße hat mit einer Serenissimus-Harmlosigkeit im Spitzweg-Rahmen ein Glückslos gezogen [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 23.04.36, Nr. 689]. – Weniger harmlos, aber nicht minder erfolgreich ist Beaumarchais’ als Wetterleuchten der Französischen Revolution bezeichnete Komödie Der tolle Tag, die mit ihrem Untertitel Figaros Hochzeit in Dapontes Fassung durch Mozarts Musik unsterbliches Leben genießt. Gründgens, der Inszenator am Schauspielhaus, hat sein Bestes von Reinhardt gelernt. Er teilt mit ihm die Liebe fürs Detail; wie Reinhardt streckt er die Spieldauer, aber wie dieser holt er auch das Letzte an Ausgelassenheit aus den Mitspielern heraus. Wie dieser legt er Gewicht auf leckere Szenerie und schmucke Kostümierung. Das Geistige kommt diesmal bei Gründgens etwas zu kurz, weil sein Figaro, der Filmliebling Viktor de Kowa, so gar nichts Aufrührerisches hat: er ist ein gemütlicher Schaumschläger, mit dem sich reden läßt, wenn auch das Sprechen nicht oder noch nicht seine starke Seite ist. Hinzukommend, daß der Almaviva Paul Hartmanns so gar nichts vom Libertin hat: er ist sozusagen ein gutbürgerlicher Graf. Die Damen Käthe Dorsch und Käthe Gold bringen eine gewisse Ähnlichkeit mit, die den Verwechslungsszenen förderlich ist. Käthe-Rosine gewinnt (in des Wortes doppelter Bedeutung) durch überlegene Heiterkeit, Käthe-Susanne ist ein Racker. Der sonst fast immer von einer Dame verkörperte Page Cherubin fand in Wolfgang Liebeneier einen Darsteller von kadettenhafter Keßheit, der sich nicht scheute, dem wehrlosen Susannchen unter den Rock zu greifen. Als Kuriosum sei noch angemerkt, daß Figaros Satz: ‚Geist und Karrieremachen – der Herr Graf spottet’ spontan beklatscht wurde. Zuweilen erlebt man im Theater doch drollige Dinge.“

Berliner Olympia-Festspiele. NZZ, 9. August 1936, Erste Sonntagausgabe, Nr. 1360.
Oper und Theater während der Olympischen Spiele, unter besonderer Berücksichtigung von Aischylos’ Orestie (Staatstheater, 03.08.36). – „Die Staatsoper Unter den Linden, die nicht die Linden, aber ihren internationalen Ruhm behalten hat, ist gegenwärtig geschlossen, weil eine erkleckliche Zahl ihrer Mitglieder an den zurzeit stattfindenden Bayreuther Festspielen teilnimmt. Dafür gibt das Deutsche Opernhaus in Charlottenburg einen Zyklus der Musikdramen Richard Wagners, der als einziger von allen Unsterblichen ein Slogan geblieben ist. Die Sprechbühnen scheinen sich besonders an das angelsächsische Publikum zu wenden. So kann man heut, am 5. August, den bisher immer ausverkauften Hamlet (mit Gustaf Gründgens) im Staatlichen Schauspielhaus sehen, im Deutschen Theater Shaws Heilige Johanna (mit Paula Wessely), im Renaissance-Theater Wildes Frau ohne Bedeutung (mit Leopoldine Konstantin), und auf daß die Lacher nicht leer ausgehen, servieren die English Players Charleys Tante, die nie fehlen darf, in der Ursprache. ● Speziell das Deutsche Theater ist fast ganz auf Englisch eingestellt. Es bringt im Laufe der Olympia-Wochen, neben Shaw, von Shakespeare Das Wintermärchen (mit Lil Dagover) und Romeo und Julia (mit Angela Salloker), außerdem das moderne schottische Lustspiel Regen und Wind von Merton Hodge, das gewiß in Glasgow oder Aberdeen bodenständiger, also echter gespielt wird, so daß nicht recht einzusehen ist, worin für Ausländer die Anziehungskraft dieses aus schlechtem Wetter und billigem Alkohol gemischten Stückchens bestehen soll (für das schlechte Wetter sorgt Petrus ohnehin, und selbst teurer Alkohol ist für Sportsleute tabu). Einzig Schiller mit Kabale und Liebe rettet den Namen des Deutschen Theaters. Was sich dagegen die der Zahl nach und nicht nur der Zahl nach immer mehr zurückgehenden Privatbühnen an Niveaulosigkeit leisten, wird nicht einmal durch den festlichen Anlaß entschuldigt. ● Um so erfreulicher sind die künstlerischen Anstrengungen der staatlichen Sprechbühnen, die ihre Erfolge der letzten Spielzeit in die beiden Festwochen zusammendrängen, also eine Art Generalrevue des Geleisteten veranstalten. Hinzukommt die Orestie des Aischylos, der im Schauspielhaus eine glanzvolle Aufführung zuteil wurde; sie darf sich gut und gern mit den früher in Berlin gezeigten, auch der des Großen Schauspielhauses, vergleichen [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 08.12.19, Nr. 1910]. Zugrundegelegt ist der Text von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, der an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt, wohl aber an dichterischem Schwung. Wie heutig mutet uns, bei aller Sagenhaftigkeit, der wuchtigste Tragiker an, etwa wenn er den Satz sprechen läßt: ‚Der gefallenen Größe gibt die menschliche Gemeinheit gern noch einen Tritt.’ Lothar Müthels Bearbeitung weiß die drei Dramen zu einem Theaterabend von nicht übermäßiger Länge zu komprimieren. Der Regisseur Müthel bewährt sich wiederum vornehmlich als Leiter der Sprechchöre. Er hatte an dem Bühnenbildner Traugott Müller einen vorzüglichen Helfer. Der altersgraue Palast in Argos sah zwar aus, als sei er für die Olympiade frisch gestrichen worden, aber er sowohl wie das Innere des Athenetempels sind wahre Augenweiden. Die darstellerischen Leistungen standen durchweg auf hoher Stufe. Doch eine Klasse für sich bildete die Klytämnestra Hermine Körners. Das war die Vollendung: hinreißendes Gemisch von Fürstin und vâlandinne, wie man im Mittelalter sagte, eine grandiose Vorstudie zur Lady Macbeth, kein Strich zu viel, kein Strich zu wenig. Hätten die Preisrichter an diesem Abend eine Goldenen Medaille zu verleihen gehabt, sie hätten insgesamt für Hermine Körner stimmen müssen.“

Das Frankenburger Würfelspiel. NZZ, 11. August 1936, Abendausgabe, Nr. 1377.
Eberhard Wolfgang Möller, Das Frankenburger Würfelspiel (Dietrich Eckart-Bühne, 02.08.36). – „,Zum Kampf der Wagen und Gesänge…’ Es ist erfreulich, daß den olympischen Festspielen, die mit einer Begeisterung und einer Bravour ohnegleichen in Berlin einsetzten, nicht nur die heilige, aus Hellas hergetragene Flamme leuchtet, sondern es ist auch Gelegenheit geboten, einen Schluck aus dem heiligen kastalischen Quell zu tun. Zwar walten die Musen im Zeichen der fünf verschlungenen Ringe nicht als Schutzgöttinnen eines Sängerkrieges, aber zugleich mit dem Reichssportfeld wurde für die Freilichtaufführungen die Dietrich Eckart-Bühne geweiht, die, antiker Form sich nähernd, mit ihren zwanzigtausend oder noch mehr Sitzplätzen durch das Riesenmaß ihrer Anlage für besondere Anlässe einen besonderen Rahmen zu bilden bestimmt und geeignet ist. In wunderbarer Rundung steigt das steinerne Oval himmelwärts, und das Allerschönste ist, wie sich dieses hellenisch heitere Amphitheater in die melancholische märkische Landschaft einfügt. Kiefern und Föhren, diese Wahrzeichen brandenburgischer Erde, ragen über die Skene hinaus und bilden den lyrischen Abschluß des Schauplatzes für die dramatischen Begebenheiten. ● Wird sich hier das Schau-Spiel oder das Schauspiel entfalten – das ist die Frage. Werden hier Massenaufzüge, Mummenschänze in historischer Gewandung, die in England so beliebten pageants oder das von einer künstlerisch anspruchsvolleren Zeit ausgebildete emotionelle Spiel, das Seelendrama, zur Geltung kommen? Schon einmal wurde diese Frage für Berlin akut, als das Große Schauspielhaus mit seinen viertausend Sitzplätzen sich als ernsthafter Konkurrent neben das ‚Guckkastentheater’ stellte. Die übertriebenen Hoffnungen, die man an das neue, von Poelzig erbaute Haus knüpfte, schrumpften von Mal zu Mal ein. Mit Ausnahme der Orestie vielleicht erhielt kein Werk der Weltliteratur dort zwingendere Gestaltung. Das Theater älteren Stils, weit davon entfernt, sich entthronen zu lassen, stand fester denn je; der Schauspieler konnte sich an der gewohnten Stätte seines Wirkens eher durchsetzen und ungleich eindringlicher gestalten. Gegenwärtig hat in dem mit höchsten Erwartungen begrüßten Großen Schauspielhaus die Ausstattungsrevue ein Heim. ● Als erster auf dem Reichssportfeld kam Eberhard Wolfgang Möller, der Träger des nationalen Buchpreises im vorigen Jahr, mit dem Frankenburger Würfelspiel zu Gehör, einem historischen Stoff, der aus dem Dreißigjährigen Krieg geschöpft ist. Kaiser Ferdinand II. steht wegen Mißregierung vor seinen Richtern. Doch er, das willenlose Werkzeug in der Hand seiner Beichtväter und Ratgeber, wälzt die Schuld auf den von ihm zum Verweser Oberösterreichs eingesetzten Bayernherzog Maximilian ab. Der wiederum verschanzt sich hinter dem von ihm ernannten Statthalter Adam v. Herbersdorf. Dieser dreht den Spieß um, indem er Gegenklage erhebt wider dreißigtausend österreichische Bauern, die, getreu ihrem Lutherschen Glauben, einen Priester davongejagt, wegen rebellischer Gesinnung. Der Richter entscheidet: ‚Es wiederhole sich, was längst verjährt.’ Waffenlos rücken, wie ausbedungen, siebentausend Bauern heran. Wenn sie die Führer und Schürer angeben, sollen die andern frei ausgehen. Aber keiner will seinen Bruder verraten. Alle stehen für einen. – (Kleine Zwischenbemerkung: In der Buchausgabe des Würfelspiels […] sagt der Paur-Bauer: ‚Es gibt im ganzen weiten Deutschen Reich nicht bessre Deutsche, als in Österreich sind.’ Als man das las, dachte man: an dieser Stelle wird ein Beifall losbrechen, daß die Erde dröhnt. Am Abend der Aufführung hieß es indes: ‚Es gibt im ganzen weiten Deutschen Reich nicht bessre Deutsche, als wir Bauern sind.’ Und keine Hand rührte sich. Warum wohl diese Textänderung?) – Statt der siebentausend Schuldigen sollen nur die 36 Hauptrebellen mit dem Tode bestraft werden, und die dürfen um ihr Leben paarweise würfeln. Es gibt da einen dramatischen Höhepunkt: wenn zwei Bauern die gleiche Zahl 2 würfeln und das ekle Spiel des Zufalls wiederholen sollen. Gegen diese Art der Gnade wehren sie sich und ziehen mit den übrigen singend in den Tod. Herbersdorf aber ruft nach dem Henker. Statt dessen erscheint eine Gestalt in schwarzer Rüstung, gedacht als Sendbote des ewigen Rechts, das jeden mit den eigenen Maßen mißt. Kaiser, Herzog, Priester, Ritter müssen mit diesem Vertreter der göttlichen Gerechtigkeit würfeln und verlieren, da über seinen Wurf ‚Unendlichkeit’ nichts hinausgeht. – Hat dieses einer rauhen, rohen Zeit entlehnte Spiel, wird sich jeder fragen, für heutige Menschen eine Bedeutung? So könnte es nur die sein: daß weltliche Machthaber samt ihrem Anhang darauf gefaßt sein müssen, nicht erst am Jüngsten Tage zur Rechenschaft gezogen zu werden, und daß ihre Erfolge, deren sich der Beichtvater Lamormaini (warum übrigens nicht richtig: Lamormaine?) besonders rühmt, vor dem höchsten Richter Himmels und der Erden nichts gelten. – Wie dem auch sei – heutige Hörer, nicht nur Hörende, sondern auch Verstehende, die dank einer vollendeten Mikrophon-Anlage in der vierzigsten Reihe mehr verstanden als der Parkettbesucher des gewöhnlichen Theaters in der zehnten, schienen, dem Beifall nach zu schließen, keinen sehr nachhaltigen Eindruck davonzutragen. Als das Spiel vorüber war, brauste für den Bruchteil einer Minute eine Applauswelle auf; danach wurden noch zwei kleinere Anstrengungen zum Klatschen gemacht, die jedoch rasch im märkischen Sande verliefen. Das ungeheure Maß von Arbeit, das der Inszenator Mathias Wieman, der auch als schwarzer Ritter sein bester Sprecher war, an diese Aufführung verwandt hatte, fand kaum die gebührende Anerkennung.“

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1936 / 1937

Berliner Theater. NZZ, 21. September 1936, Morgenausgabe, Nr. 1609.
Beginn der neuen Spielzeit; Alma Rogge, Wer bietet mehr? (Lessing-Theater, 11.09.36). – „Später, wesentlich später als sonst kommt die neue Spielzeit in Gang. Das hängt wohl mit der Olympiade zusammen, die eine Verlängerung der vorigen Spielzeit bis Mitte August brachte, wenigstens in den beiden repräsentativen Theatern Berlins: dem Deutschen und dem Staatlichen Schauspielhaus. Während früher, nach einem guten Brauch, Goethes Geburtstag als Auftakt der Saison gefeiert wurde, fiel dieses Datum jetzt in die Freizeit. – Von wichtigeren personellen Veränderungen wäre zu melden, daß der zum Generalintendanten avancierte Staatsschauspieler Eugen Klöpfer mit der Leitung dreier Theater betraut wurde: der Volksbühne, des Theaters am Nollendorfplatz und des Theaters in der Saarlandstraße, wo, der Vergangenheit dieser Bühnen entsprechend, das klassische Drama, die Operette und das Kammerspiel gepflegt werden sollen. Die zuletzt genannte Bühne, die bisher unter privater Ägide einen braven Existenzkampf führte, ist damit also auch in staatliche Obhut gelangt. – Der als Direktor des Lessing-Theaters amtende Richard Handwerk scheint dieses zum Tummelplatz für das niederdeutsche Lustspiel ausersehen zu haben. Nachdem es neunhundertmal Krach um Jolanthe gegeben hatte, konnte das beliebte Schwein seinen Dauerlauf beenden [vgl. MMs Theaterkritiken in der NZZ vom 26.05.33 / Nr. 954 und 12.02.34 / Nr. 249]. Ihm auf dem Fuße folgte die plattdeutsche Komödie De Verganschoster von Alma Rogge; doch leider nicht in der vermutlich saftigern Urform, sondern in einer hochdeutschen Fassung unter dem Titel Wer bietet mehr? Die Handlung ist ebenso dünn wie durchsichtig: der vom Auktionsfimmel besessene Schuster in einem größern norddeutschen Dorfe bietet auf einer Versteigerung im Rausch seine Frau, die er gern lossein möchte, zum Verkauf an; natürlich ist er heilfroh, als sie zu ihm zurückkehrt, nachdem er erkannt hat, daß Kohlkochen und Pfannkuchenbacken nicht so leicht ist, wie er sich das vorgestellt hat. Daneben die Liebe des Gesellen zum Schustertöchterchen. Die Sprache, durch die solche Dialektstücke ihre Kraft und ihren Saft beziehen, hat nach der Umformung kaum noch viel eigenes Gesicht. Aber die Verfasserin – seltene Gabe bei einer Frau – scheint Sinn für Humor zu haben, und der fand ohne weiteres den Weg zu den Händen eines harmlos belustigten Publikums, das sich keine Gelegenheit zum Beifallspenden entgehen ließ, wenn es auch nur das Rotieren der Drehbühne war.“

Raimund in Berlin. NZZ, 1. Oktober 1936, Abendausgabe, Nr. 1682.
Ferdinand Raimund, Die gefesselte Phantasie (Kleines Haus des Staatstheaters, 26.09.36). – „War es auch nicht, wie im Burgtheater in Wien, eine Festvorstellung, die Berlin zur hundertsten Wiederkehr von Ferdinand Raimunds Sterbetag im Kleinen Haus des Staatstheaters bot, so ließ doch eine sehr aufgeräumte Vorstellung seines romantischen Zauber-Lustspiels Die gefesselte Phantasie in der Bearbeitung durch Karl Etlinger erkennen, was an dem Wiener Lokalpoeten, der sich zum österreichischen Nationaldichter aufgeschwungen, noch lebendig geblieben und was an ihm tot ist. Versunken ist die Zauberwelt der allegorischen Figuren, die aus der griechischen Mythologie paßlos in die Pratergemütlichkeit eingebrochen; am Leben geblieben ist die Gestalt des versoffenen Harfenisten Nachtigall aus Wien, der die Phantasmagorie ins Volksstückhafte überleitet. Von dem Augenblick an, wo Karl Etlinger selbst, innig verbunden mit der Tradition der Donau-Stadt oder ihrer Vorstädte, sich nach Herzenslust geben konnte, war der Anschluß an das norddeutsche Publikum vollzogen. Das Romantische, das ‚Poetische’, das Schikanederische an Raimund ist von der Zeit verschlungen worden, während die realistischere Weise seines vermeintlichen Todfeindes Nestroy auch ihm zustatten kommt. Jürgen Fehling, der Regisseur, weiß, wie man solche Antiquitäten behandelt, und hat sich diesmal auch nicht in seinen Gegenstand vernarrt. Wackerste Unterstützung fand er bei Käthe Golds ebenso anmutiger wie sanft ironischer Phantasie, die von den Komikern umschwärmt wird wie Zerbinetta in Richard Straußens Ariadne. Die Begleitmusik hat nach alten Wiener Weisen Mark Lothar zusammengestellt; sie hätte noch eine Probe mehr vertragen, um den Sängern nicht davonzulaufen. Alle Mitwirkenden waren mit solcher Liebe bei der Sache, daß ihre Frohlaune zündete. Das Staatstheater, das für diese Spielzeit über 21 weibliche und 44 männliche Darsteller verfügt, kann mit einer solchen Fülle hervorragender Kräfte jeder Tonart gerecht werden. Der Anfang war vielverheißend.“

Hamlet in Wittenberg. NZZ, 14. Oktober 1936, Morgenausgabe, Nr. 1764.
Gerhart Hauptmann, Hamlet in Wittenberg (Deutsches Theater, 30.09.36). – „Hamlet in Wittenberg und Hauptmann in Berlin. Nun stand er wieder auf den Brettern des Deutschen Theaters, wo er schon als Dreißigjähriger so manchen Sturm erlebt hat, und während der Beifall zu dem Greis im Silberhaar aufrauschte, mag er sich voll Wehmut gefragt haben, ob es vielleicht das letztemal sei, daß er mit einem neuen Bühnenwerk diese erinnerungsreiche Stätte betreten habe. Verschwunden sind die Paladine von einst, in alle Winde zersprengt die begeisterten Anhänger, ‚es lebt ein anders denkendes Geschlecht’ [Wilhelm Tell, II.1]. Klang die Huldigung, die der Dichter für seine Hamlet-Paraphrase am Schluß des Abends entgegennehmen konnte, auch stark und echt, so war sie doch nicht frei von einem elegischen Unterton, weil sich der Gedanke schwer zurückdrängen ließ, daß es mehr ein Generaldank für Gerhart Hauptmanns dramatisches Schaffen war als ein besonderer Dank für dieses Schauspiel, das nicht an den Sitz der Seele zu greifen vermag. – […] Das Deutsche Theater bot unter Heinz Hilperts Spielführung in Ernst Schüttes sehenswerten Bühnenbildern eine hochachtbare, wenn auch keine strahlende Aufführung. Es war alles schön und gut, auch die Striche: nur das Beglückende fehlte. Albin Skoda ist kein alltäglicher Sprecher, aber es geht von ihm so wenig das gewisse Etwas aus wie von Lizzi Waldmüller. Der junge Moissi und die junge Orska wären für Hamlet und Hamida die ideale Besetzung gewesen.“

Berliner Theater. NZZ, 23. Oktober 1936, Morgenausgabe, Nr. 1822.
Hermann Burte, Katte (Deutsches Theater, 03.10.36); Jacob Michael Lenz, Amor Vincit Omnia [Bearbeitung von Shakespeares Komödie Verlorene Liebesmüh] (Deutsches Theater, 06.10.36); Knut Hamsun, An des Reiches Pforten (Staatstheater, 02.10.36). – „Burtes Katte […] verdankt seine Urständ, abgesehen von der politischen Konstellation, wohl dem Umstand, daß Burte mit seinem Warbeck in der vorigen Spielzeit an der Volksbühne beachtlichen Erfolg hatte [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 28.03.36, Nr. 529]. Wir sahen den Katte schon vor dreizehn Jahren in einem Peripherie-Theater (in der Kommandantenstraße), wo Gustav Gründgens (damals noch ohne das f am Schluß seines Vornamens) den störrischen Prinzen verkörperte [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 19.02.23, Nr. 233]. […] Burtes Historie hat sich in ihrer ersten Darbietung nicht allzu tief eingeprägt, und seitdem ist ihm in Hans Rehberg, der den gleichen Stoff in seinem Friedrich Wilhelm I. behandelte, ein scharfer Konkurrent erstanden [vgl. die Theaterkritik in der NZZ vom 22.05.36, Nr. 882]. Eine Revision des Urteiles erster Instanz vermochte die Vorstellung im Deutschen Theater nicht zu bewirken. […] Welch ein Sprung nach dreizehn Jahren von der Kommandanten- in die Schumannstraße! Da sage einer noch, es geschähen keine Zeichen und Wunder mehr. Freilich, eine Welt ist inzwischen versunken.“ ● Zu Lenz / Shakespeare: „Auch an dem Urteil über Shakespeares frühestes Lustspiel wird kaum etwas geändert werden, wahrscheinlich zu ändern sein. Verlorene Liebesmüh, während der letzten vierzig Jahre in Berlin ein- oder zweimal aufgeführt, beweist schlagend, wenn es dieses Beweises noch bedurft hätte, daß kein Meister vom Himmel gefallen ist.“ ● Zu Hamsuns Schauspiel: „Selbst die korybantenhaftesten Verehrer Knut Hamsuns werden ihn schwerlich als Dramatiker von Geblüt in Anspruch nehmen wollen; jedenfalls hat er mit keinem seiner Theaterstücke hierzulande nennenswerten Erfolg gehabt. Auch nicht mit dem Schauspiel An des Reiches Pforten, nach welchem schon vor vierzig Jahren der neugebackene Dr. Martin Zickel griff, um es in einem Stall hinter dem Alexanderplatz zu inszenieren. Das war ein Literatenstück, damals an der Tagesordnung, worin eine Ehe zerbrach. Was mag justament das Staatstheater zu dieser Ausgrabung bewogen haben? Ganz am Schluß scheint sich des Rätsels Lösung zu offenbaren: da verrät der junge Schriftsteller, er sei gegen Wahlen und Liberalismus, er sei für die großen Befehlshaber, die Terroristen. Man mag darin eine Vorahnung des Faschismus sehen. […] Der Beifall trug die unverkennbaren Merkmale des Achtungserfolges.“

Berliner Theater. NZZ, 25. Oktober 1936, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1837.
Hjalmar Bergman, Dollars (Theater in der Saarlandstr. / Volksbühne, 14.10.36). – „Als Bernard Shaw vor zehn Jahren den Nobel-Preis für Literatur zugesprochen bekam, schlug er ihn bekanntlich für seine Person aus, legte ihn jedoch für eine Stiftung an, die sich die Pflege der englisch-schwedischen literarischen Beziehungen zur Aufgabe machen sollte. Wie diese von Fall zu Fall gelöst wird, davon ist nicht allzu viel in die Öffentlichkeit gedrungen; nur von der Fortführung der englischen Strindberg-Ausgabe wurde gelegentlich in den Zeitungen berichtet, ohne daß in der zeitgenössischen englischen Literatur sich bis jetzt ein wesentlicher Strindberg-Einfluß bemerkbar gemacht hätte. – Um so überraschter war man, in der Komödie Dollars des vor sechs Jahren verstorbenen, in Deutschland neuerdings eifrig gepflegten schwedischen Bühnenschriftstellers Hjalmar Bergman den Shaw-Einfluß mit Händen greifen zu können. Das ist geradezu eine Shaw-Dublette. Shaw, wie er leibt und lebt, in der Struktur des Stückes. Echtester Shaw in der Handlung, deren hervorstechendster Zug die Handlungslosigkeit ist; im Milieu, das den müßigen Reichen den Text liest; in der Gegenüberstellung von europäischer Unmoral, an drei schwedischen Ehepaaren dargetan, und amerikanischer Moral, vertreten durch eine Millionenerbin aus Chicago; in der Lösung, die für die Predigerin wie die Angeprangerten ‚Omnia vincit amor’ heißt; nicht zuletzt in der uferlosen Suada, ohne daß sich Bergmans Dialog freilich bis zum Brillantfeuerwerk Shawschen Witzes oder bis zu seiner Lust am Paradoxen verstiege. Die schwedisch-englischen Beziehungen haben hier also reichlich Frucht getragen. – Mit dieser Komödie hat das nunmehr der Volksbühne angegliederte, unter der Obhut des Staates und des von ihm bevollmächtigten Generalintendanten Eugen Klöpfer stehende Theater in der Saarlandstraße, das seiner ehemaligen Bestimmung als Kammerspielhaus zurückgewonnen werden soll, seinem Publikum einen fröhlichen Abend in sauberer Darstellung geboten.“

Berliner Theater. NZZ, 17. November 1936, Morgenausgabe, Nr. 1980.
Carlo Goldoni, Mirandolina (Kleines Haus des Staatstheaters, 18.10.36); ders., Der Diener zweier Herren (Tribüne, 15.10.36); Oliver Goldsmith, Der gutmütige Mann [The good-natured Man] (Komödienhaus, 20.10.36); Hans Rehberg, Friedrich I. (Deutsches Theater, 30.10.36); Charlotte Rißmann, Versprich mir nichts (Kleines Haus des Staatstheaters, 10.11.36). – Zu Goldoni: „Ist es Zufall, ist es Fügung, daß man gleichzeitig mit dem Besuch des italienischen Außenministers in der deutschen Reichshauptstadt zwei altitalienische Lustspiele sehen kann? Beide stammen von Goldoni, von dessen beinahe Lopesker Fruchtbarkeit auf deutschen Bühnen freilich nur noch diese beiden Lustspiele zeugen. Das Kleine Haus des Staatstheaters gab Mirandolina in einer Übersetzung und Bearbeitung von Fritz Knöller mit Käthe Dorsch in der Hauptrolle. […] Die ganze Aufführung war mehr laut als lustig. Der andere Goldoni, Der Diener zweier Herren, tollte sich auf den Brettern der seit langem brach liegenden, jetzt von Rudolf Platte übernommenen ‚Tribüne’ aus. Wahrlich, es gehört Mut und Selbstvertrauen dazu, in dieser Zeit, die ein Berliner Privattheater nach dem andern hinsinken oder schwer um seine Existenz ringen sieht, sich mit der Parole ‚Vestigia non terrent’ [nach Horaz, Briefe, I.i.74] zu wappnen; hoffentlich schafft es der wackere Platte.“ ● Zu Goldsmith: „Ein neuer Mann, Hanns Horak, ist auch ins Komödienhaus eingezogen und begann mit einer in Deutschland nie gespielten Komödie Der gutmütige Mann von Oliver Goldsmith, die Friedrich Wilhelm Hoboiken für den modernen Geschmack nicht übel hergerichtet hat. Es galt wohl, für den beliebten Filmdarsteller Paul Kemp, der schon lange der Sprechbühne fern geblieben, eine Rolle zu finden, und so verfiel man auf den alten, von Goethe für seinen Roman Der Landprediger von Wakefield in Dichtung und Wahrheit gepriesenen englischen Dichter. Kemp gab der Rolle alles, aber die Rolle gab dem Kemp nicht viel. Ewig Treuherzigkeit – das grenzt an Trotteltum.“ ● Zu Rehbergs Schauspiel: „Wenn Hans Rehberg, bisher Verfasser dreier Hohenzollernstücke, ein Wildenbruch-Pathetiker, ein Lauff-Epigone oder gar ein hohler Hurrapatriot wäre, dessen Gesinnung seine mangelnde Leistung decken müßte, wären seine vaterländischen Dramen nicht unter der Flagge des Verlags S. Fischer in Berlin an die Öffentlichkeit getreten. Der Ruf der Firma bürgt für die Reinheit des Autors. Sein Großer Kurfürst und sein Friedrich Wilhelm I. sind im Schauspielhaus mit dem ihnen gebührenden Achtungserfolg aufgeführt worden [s. MMs Besprechungen in der NZZ vom 08.12.34 / Nr. 2215 und 22.05.36 / Nr. 882]. Doch die Tatsache, daß man dort Rehbergs Mittelstück, den nicht ganz zutreffend ‚Komödie’ etikettierten Friedrich I., vorübergehen ließ, ohne zuzugreifen, verrät eine richtige Einschätzung des Werkes, mit dem sich auch im Staatstheater kein Staat hätte machen lassen. Denn es hat keine dramatische Handlung, es spitzt sich nicht zu, es steigert sich nicht, es vermag keinerlei seelischen Anteil zu wecken, es erwärmt weder für seine geschichtlichen noch für seine fiktiven Figuren, von denen der Hofnarr Oliphant an der Spitze steht. Rehbergs unleugbare Begabung wenn auch keine ausgesprochene Bühnenbegabung, offenbart sich nur in Sentenzen und ungewöhnlich formulierten Sätzen. Das Deutsche Theater vermochte trotz guter Darstellung die Historie heutigen Hörern nicht näher zu rücken.“ ● Zu Charlotte Rißmann: „Charlotte Rißmann erzählt im Programmheft, wie ihr der Gedanke zu ihrer Komödie Versprich mir nichts in einem ‚gesegneten’ Augenblick kam. Es bleibt jedoch festzustellen, daß zwischen ihrer Eingebung und Strindbergs Komödie Kameraden eine unverkennbare Ähnlichkeit besteht (womit noch nicht nachgewiesen ist, daß sie das ältere Werk gekannt hat). Bei Strindberg sind die Kameraden, ein Malerehepaar, Konkurrenten, die ihre künstlerischen Eifersüchteleien austragen; bei Ch. Rißmann wird ein häuslicher Kleinkrieg durchgefochten. Strindberg behauptet sich auf Komödienhöhe; Ch. Rißmann rutscht des öftern in kindliches Spiel aus. Daß sich das Staatstheater (im Kleinen Haus) dieser Frauenarbeit annahm, zeigt, wie sehr man auf der Suche nach dem deutschen Lustspiel ist. Sie hat indes hier nicht mehr als eine Studio-Aufführung am Abend gezeitigt.“

Gründgens Triumphator. NZZ, 29. November 1936, Erste Sonntagausgabe, Nr. 2057.
Paul Apel, Hans Sonnenstößers Höllenfahrt (Staatstheater, 27.10.36); Eine Frau ohne Bedeutung (Film nach Oscar Wilde) [Regie: Hans Steinhoff; mit Gründgens als Lord Illingworth], Premiere 26.10.36. – „Er kann zwar nicht mit Cäsarwahn von sich sagen, daß er kam, sah und siegte, doch sein Aufstieg bleibt noch immer wunderbar genug. Drei Lustren mögen es etwa her sein, daß er auf einer Berliner Peripheriebühne zuerst erschien; allein die Besonderheit seines Wesens wurde mehr verspottet als vergottet. Theaterbesucher mit untrüglichem Gedächtnis werden sich daran erinnern, daß er wegen seiner mimischen Besessenheit, seiner tänzerischen Beweglichkeit von Banausen ausgelacht wurde. Als er nach ein paar Jahren wieder auftauchte, hatte er sich noch nicht durchgesetzt, aber er rückte langsam in die erste Reihe vor, soweit ihm belanglose Rollen dazu Gelegenheit boten. Und dann kam sein Mephisto im Staatstheater, der ihn mit einem Schlag an die allererste Stelle versetzte. Sein Partner Faust, in der Verkörperung durch Werner Krauß, wurde, wie es im Bühnenjargon heißt, an die Wand gespielt. [Vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 10.12.32, Nr. 2315.] Daneben betätigte sich Gründgens als Regisseur für Schauspiel und Oper, und jede neue Leistung brachte ihm berechtigten Erfolg. So konnte es nicht wundernehmen, daß man ihn zum Leiter der Staatlichen Schauspiele berief. Durch ihn wurde Hamlet zum Zugstück [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 16.02.36, Nr. 269], und man muß hervorheben, daß dieser Intendant nicht nur seine stärkste künstlerische Kraft, sondern auch seine Zugkraft, sein Kassenmagnet geworden ist. Das Schauspielhaus blüht und gedeiht unter ihm. – Jetzt hat der Tausendsassa wiederum einen Triumph davongetragen mit seiner Neufassung und Inszenierung von Paul Apels heiterem Traumspiel Hans Sonnenstößers Höllenfahrt. Das Werkchen mit seiner glücklichen Mischung von Traum und Wirklichkeit hatte vor einem Vierteljahrhundert einen ganz guten Erfolg, dem indes schwerlich jemand eine so triumphale Auferstehung hätte weissagen können. Gründgens hat sich die Rolle des Dichterlings, der in einer philisterhaften Ehe zu scheitern droht, auf den Leib geschrieben, d.h. er kommt, wonach das Herz jedes Schauspielers giert, überhaupt nicht von der Bühne. Aus dem Traumspiel ist eine Traumrevue geworden (mit Jazz-Musik von Mark Lothar). Zum erstenmal kann sich die erweiterte Bühne am Gendarmenmarkt, die ‚Prospekte nicht und nicht Maschinen’ schont [Faust: Vorspiel auf dem Theater], in ihrer ganzen Tiefe bewähren. Gründgens springt wie Nijinski, Gründgens singt mit geliehener Tenorstimme, auch mit der eigenen, weniger wohllautenden, Gründgens spielt wie ein Schulbub am Boden Eisenbahn, Gründgens bläst auf der Gießkanne Saxophon – was tut er nicht? Aber was er macht, macht er mit unwiderstehlicher Bravour. – Was Gründgens für ein singulärer Schauspieler ist, das konnte man am Abend vorher auch durch den Film Eine Frau ohne Bedeutung erfahren, worin die Vorgeschichte des Wildeschen Gesellschaftsstückes mit kräftiger Benützung von Hauptmanns Dorothea Schwangermann aufgerollt wird. Es galt, den blutjungen Springinsfeld und den nach zwanzig Jahren aus Indien heimgekehrten Mann von Welt darzustellen. Gründgens ist in beiden Lebensabschnitten so großartig, daß die deutsche Filmkunst fortan neben Jannings und Marlene Dietrich einen dritten Darsteller von Weltformat stellen kann: Gustaf Gründgens.“

Charlotte Corday. NZZ, 2. Dezember 1936, Abendausgabe, Nr. 2083.
Walter Gilbricht, Marie Charlotte Corday (Deutsches Theater, 13.11.36). – „Neben der Jungfrau aus Domrémy steht in der französischen Geschichte das Edelfräulein aus Caen, das dem Unhold Marat, als er sich in der Badewanne befand, einen Stich ins Herz versetzte und damit die Menschheit von einem Unmenschen befreit zu haben glaubte. (Einmal hat er ein Bad genommen, scherzen die Engländer, und das hat er mit seinem Leben bezahlen müssen.) Diese unverzagte Patriotin erfreut sich gegenwärtig auf der Bühne großer Beliebtheit: in England sind zurzeit zwei Dramen im Umlauf, die das Schicksal des Heldenmädchens behandeln [von John W. Klein und Helen Jerome], und nach François Ponsard, der dies als erster getan [1850], hat nun auch der Deutsche Walter Gilbricht eine Marie Charlotte Corday in fünf Akten geschrieben. Alle diese Theaterstücke – das kann man feststellen, ohne sie zu kennen – haben eins gemeinsam: sie können das verhängnisvolle Bad nicht auf die Bühne bringen. Die ersten vier Akte Gilbrichts zeichnen sich durch wohltuende Knappheit aus; der Regisseur scheint da gute Arbeit geleistet zu haben. Alles spitzt sich zu der Gerichtsverhandlung zu, und die hat entschieden von der Parallelszene in Shaws Heiliger Johanna gelernt. Charlotte, obwohl eine Mörderin, steht als eine Märtyrerin, wie Johanna, vor ihren irdischen Richtern und ist dem Gelächter des Pöbels preisgegeben. Eine Gloriole umschwebt ihr Haupt, und als Heldin geht sie in den Tod. Wenn es ihrem Nachdichter nur gelungen wäre, uns an dem tapfern Mädchen seelischen Anteil nehmen zu lassen! Sein Dichten ist jedoch mehr ein Verdichten, was alles Dichten eo ipso sein sollte, und sein Schauspiel gehört zu jener weitverbreiteten Gruppe, über die sich nicht viel im schlechten, freilich auch nicht im guten Sinne sagen läßt. Der vom Archivalischen herkommende Autor versucht auch, die mehr oder minder scheusäligen Heroen der Revolution mit wenigen Strichen zu zeichnen; an Büchner darf man dabei nicht denken. Wenn das (schon an anderm Ort erprobte) Werk trotzdem im Berliner Deutschen Theater mit starkem Beifall begrüßt wurde, so ist dies das Hauptverdienst der Darstellerin Angela Salloker, die noch nie so überzeugend wirkte wie hier als überzeugte Freiheitskämpferin und als schwärmerische Lichtgestalt.“

Zweimal Grabbe. NZZ, 15. Dezember 1936, Morgenausgabe, Nr. 2186.
Christian Dietrich Grabbe, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (Deutsches Theater, 29.11.36); ders., Don Juan und Faust (Staatstheater, 05.12.36). – „Am Beginn der Woche stand in Berlin Christian Dietrich Grabbes Komödie Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung im Deutschen Theater, an ihrem Ende seine Tragödie Don Juan und Faust im Schauspielhaus. Als Viktor Barnowsky vor elf Jahren das verschollene Werk zu kurzem Scheindasein im Theater in der Königgrätzerstraße erweckte, war hier das scharfe Urteil Wilhelm Scherers zitiert: ‚Der törichte Grabbe glaubte etwas Großes zu tun, wenn er Faust und Don Juan in demselben Drama auftreten und um ein Mädchen kämpfen ließ.’ Und der Referent hatte sein eigenes Urteil in die noch heute gültigen Sätze zusammengefaßt: ‚Es ist ein vermessener, abenteuerlicher Gedanke, die tiefste Gestalt des germanischen Dramas mit der bestechendsten des romanischen zu verkoppeln. Nach Goethe, nach Molière und Mozart – um nur die Allergrößten zu nennen – das geistige Ringen des von Zweifeln angenagten Grüblers und das sinnliche Begehren des von Zweifeln unbeschwerten Genußmenschen noch einmal zu dichten – man möchte darauf Wallensteins Wort anwenden: „Wär’ der Gedank’ nicht so verwünscht gescheit, man wär’ versucht, ihn herzlich dumm zu nennen.“ Ein solches Unterfangen läuft auf eine Ilias post Homerum hinaus. Daß Faust sich dem Teufel nur deshalb verschrieb, um in den Besitz eines Mädchens zu gelangen, heißt den Kampf mit dem Universum in die partie honteuse verlegen. Daß er dabei als Konkurrent des berüchtigten Schürzenjägers auftritt und nicht einmal die Liebe des Mädchens erringt, nähert ihn der Grenze der Lächerlichkeit. Will man den ganzen Abstand zwischen Größe und Wichtigtuerei ermessen, so braucht man bloß Goethes Mephisto neben Grabbes ‚Ritter’ zu halten. Will man den ganzen Abstand zwischen Potenz und Possenreißertum ermessen, so braucht man bloß Mozarts Leporello neben Grabbes Diener zu halten.’ [NZZ, 06.10.25, Nr. 1561] – Daran wird auch die glanzvollste Aufführung nichts zu ändern vermögen. Der Regisseur des Staatstheaters, Jürgen Fehling, hatte die Vorgänge weniger in sinnlichen Glanz als in ein interessantes Helldunkel gehüllt und der tiefern Bedeutung durch die Tiefe der Bühne nachgeholfen. Erlesene schauspielerische Kräfte wie Gustaf Gründgens (Don Juan), Eugen Klöpfer (Faust), Friedrich Kayßler (Gouverneur), Käthe Dorsch (Donna Anna) standen ihm zur Verfügung. Das 150-jährige Bestehen des Schauspielhauses sollte durch diese Ehrung Grabbes gefeiert werden. Zwölf Stunden später fand im Haus am Gendarmenmarkt noch eine besondere Feier statt, gipfelnd in einer Ansprache des Preußischen Ministerpräsidenten, welche die ‚heilige Theaterbesessenheit’ und den neuen Geist der Kameradschaftlichkeit unter den Künstlern in eindringlicher Weise pries.“

Berliner Theater. NZZ, 5. Januar 1937, Abendausgabe, Nr. 21.
George Bernard Shaw, Die Millionärin (Theater in der Saarlandstraße, 17.12.36); George Bernard Shaw, Androklus und der Löwe (Deutsches Theater, 23.12.36). – „Wie kommt es, daß Bernard Shaws Knockabout-Komödie Die Millionärin, von ihm selbst ‚Jonsonian’, von seinem Übersetzer ‚turbulent’ genannt, trotz einem brillanten ersten Akt, an den höchstens Noel Cowards Verve heranreicht, ein so verboten schlechtes Stück geworden ist? Man mag die Antwort bei Macaulay finden in einem Satze, den er über Shakespeare geschrieben hat: ‚So bewundernswert er in allen Gattungen seiner Kunst gewesen ist, wir bewundern ihn darum am meisten, daß er uns zwar eine größere Zahl treffender Porträte hinterlassen hat als alle andern Dramatiker zusammengenommen, uns aber kaum eine einzige Karikatur hinterlassen hat.’ Bei Shaw liegt der Fall fast umgekehrt: von ihm wird es einmal heißen, daß er uns mehr Karikaturen hinterlassen hat als sämtliche Dramatiker unserer Zeit, daß er aber kaum je ein treffendes Porträt gezeichnet hat (natürlich gibt es glorreiche Ausnahmen wie Candida, Eugene oder den halbirren Keegan in John Bull’s Other Island). Das Seltsame, das Seltene, ja das Einmalige an dem Fall ist, daß diese Neigung zum Karikaturistischen mit den Jahren keineswegs abnimmt. Wer achtzig ist und darüber, sollte die Welt eigentlich nur noch mit einem Faust II. oder seiner zehnten Sinfonie beglücken, sollte mehr für die Nachwelt als die Mitwelt schaffen. Aus albernen Voraussetzungen eine Clownerie anrühren – wo liegt da der Humor? Er trat dadurch nicht deutlicher in Erscheinung, daß die Schauspieler des Theaters in der Saarlandstraße, mit einer Ausnahme vielleicht, mit der verzerrten Menschenzeichnung nichts Rechtes anzufangen wußten. – Umso glücklicher war die Darstellung von Shaws Märchenkomödie Androklus und der Löwe im Deutschen Theater. Hilpert hat an dieser Stätte seines Wirkens noch nichts Besseres gezeigt. Man konnte für Minuten sogar vergessen, daß hier mit Entsetzen Spott getrieben wird und daß der Autor alles tut, sein Herz zu verbergen.“

Berliner Theater. NZZ, 19. Januar 1937, Morgenausgabe, Nr. 101.
Friedrich von Schiller, Maria Stuart (Staatstheater, 18.12.36); Pedro Calderόn de la Barca [in der Nachdichtung von Wilhelm von Scholz], Der Richter von Zalamea (Schiller-Theater, 08.01.37). – „Über allen Gipfeln ist Ruh: auf dem Höhepunkt der Spielzeit spürest du kaum einen Hauch, der von der Sucht nach Neuem zeugt. Beliebte Schauspieler zeigen sich im Glanze von Paraderollen. Paul Kemp brilliert als Charleys Tante, Rudolf Platte als Diener zweier Herren, Ida Wüst als polnische Schankwirtin Frau Polenska, Leopoldine Konstantin (schon fast ein halbes Jahr lang) als Frau ohne Bedeutung. Hinzu kommen so alte Operetten wie Eine Nacht in Venedig und der Zarewitsch oder das Volksstück Wie einst im Mai. Das Alte stürzt nicht, sondern erhebt sich zu frischem Leben. Im Staatlichen Schauspielhaus wird die Reihe der klassischen Neueinstudierungen fortgesetzt. Bei der Fülle darstellerischer Begabungen ist man in der glücklichen Lage, Schillers Maria Stuart in doppelter Besetzung der Hauptrolle zu bieten. An einem Abend bekämpfen sich Käthe Dorsch und Hermine Körner als feindliche Königinnen, am andern Hilde Weißner und Maria Koppenhöfer. Es ist ein edles Ringen um die Palme, und die Frauen erweisen sich als das stärkere Geschlecht.“ ● „Als Calderons Richter von Zalamea in einer freien Nachdichtung durch Wilhelm v. Scholz schreitet Heinrich George wuchtig und weich über die Bretter des Schiller-Theaters. Es ist eine großartige, im Scherz wie im Schmerz gleich starke Leistung, wenn man sich natürlich auch den Bauer Pedro knorriger vorstellen könnte. Der Bearbeiter hat mit viel Sprachgeschick das Original oder die Gries’sche Übersetzung – wie man heute zu sagen pflegt – aufgelockert. Wo er, den Calderon aus dem Sattel hebend, eigene Verse unterschiebt, braucht man keineswegs mit seiner Theorie einverstanden zu sein. Es kommt nicht darauf an, die Gefühlsweise des alten Spaniers heutigen Begriffen zugänglicher zu machen, sondern sie in ihrer Bodenständigkeit mit allem verstiegenen Ehrenkodex zu erhalten. Scholz gibt folgendes Beispiel für seine Stellung zur Vorlage: ‚Daß ein in den Wald verschlepptes, vergewaltigtes Mädchen die Sonne bittet, nicht aufzugehen, und dann schilt, weil sie es doch tut, das ist so ohne Empfindung für die Wirklichkeit menschlichen Erlebens in der Dichtung geschrieben, daß ein ganz neuer Monolog … geschaffen werden mußte.’ Mit Verlaub: was ist natürlicher, als daß ein junges Menschenkind in namenlosem Gram den Wunsch äußert, den kommenden Tag nicht mehr zu erleben? Recht im Gegensatz zu Goethe, Calderons begeistertem Fürsprech, behauptet Wilhelm von Scholz, ‚daß sich der große Spanier oft gar nicht in die Seelenverfassung seiner Gestalten versetzt’, woraus er für sich das Recht ableitet, ihm unter die Arme zu greifen. Will Scholz für Calderon werden, was Rothe für William Shakespeare zu werden drohte?“

Berliner Theater. NZZ, 16. Februar 1937, Morgenausgabe, Nr. 280.
Otto Brües, Papa Wrangel (Volksbühne, 03.02.37); Just Scheu u. Horst Sommer, Eintritt frei (Tribüne, 05.02.37); Roland Schacht, Die Schauspielerin (Renaissance-Theater, 01.02.37). – „Hauptsache war von jeher, Hauptsache ist und bleibt: es gefällt dem Publikum. Und es gefällt ihm neuerdings eigentlich immer. Von sich aus hat die NS-Kulturgemeinde längst die Kunstkritik praktisch abgeschafft, ehe diese ministeriell auf die Kunstbetrachtung reduziert wurde. Durchaus kritisch eingestellt dürfte noch am ehesten sein, wer den vollen Kassenpreis für eine Theateraufführung entrichtet hat, wer also in der künstlerischen Darbietung den Gegenwert für den von ihm bezahlten Betrag zu sehen erbötig ist. Wer dagegen bloß einen Bruchteil ausgegeben hat, wird sich nicht abgeneigt fühlen, seine Anforderungen herunterzuschrauben, und bei einem Vergleich fast immer finden, daß er auf seine Kosten gekommen ist. – Nach dieser nationalökonomischen Abschweifung können die gebotenen Neuheiten der letzten Wochen in aller Kürze behandelt werden, da sie zu kritischen Auslassungen keinen Anlaß gewähren. Mit dem Berliner Volksstück Papa Wrangel hat Otto Brües den Geschmack der Zeitgenossen entschieden getroffen. Der Feldmarschall Wrangel ist weniger durch militärische Heldentaten als durch seine berlinischen Redensarten und Kraftausdrücke volkstümlich geblieben. Er wird in eine kleine Handlung gestellt, die ihm Gelegenheit gibt, seine saftigen Wendungen an den Mann zu bringen, und der alte Haudegen bekundet noch in weit vorgerückten Jahren einen starken Hang zum weiblichen Geschlecht. Er selbst empfindet die Art, wie er mit seiner treu um ihn besorgten Gattin umgeht, nicht gerade als zartfühlend, tröstet sich aber damit, daß es das Volk so von ihm verlange. Wenn er dauernd von seiner ‚Ollen’ spricht, fühlen sich die Mitglieder der Volksbühne angeheimelt, und wenn er gar ein Wort in den Mund nimmt, das in guter Gesellschaft verpönt ist, kennt der Jubel keine Grenzen. – Gedämpftere Heiterkeit herrscht in der Tribüne vor, wo sich der Schauspieler Rudolf Platte nach Art von Ralph Roberts als Actor-Manager etabliert hat. Zwei Kollegen vom Staatstheater, Just Scheu und Horst Sommer, haben ihm ein Lustspiel übergeben: Eintritt frei, das in der Gestalt eines Dichterlings Ansätze zu einer Komödie bringt, gegen den Schluß hin aber in Bierulk ausartet. Die Handlung ist denkbar unwahrscheinlich, und es bleibt verwunderlich, daß zwei Leute vom Fach sich so wenig als Meister im Handwerklichen offenbaren. – Darin ist ihnen der Bühnenschriftsteller Roland Schacht weit überlegen. Seine Komödie Schauspielerin, bietet sie auch im Milieu nichts Neues, ist wenigstens gut gemachtes Theater und hat dankbare Rollen. Mutter und Tochter stehen sich nicht nur auf den Brettern als Konkurrentinnen gegenüber, sondern auch im Leben als Rivalinnen. Die Tochter spannt natürlich der Mutter den Geliebten aus, welcher ein russischer Fürst ist. Agnes Straub gibt im Renaissance-Theater die große Tragödin mit der erwachsenen Tochter so lustig und so selbstbewußt, als wolle sie andeuten, daß sie sich ein wenig über die Rolle lustig macht. Höchste Bravour konnte durch etwas Diskretion gemildert werden.“

Entzückendes Lustspiel in entzückendem Spiel. NZZ, 1. März 1937, Mittagausgabe, Nr. 362.
André Birabeau, Mein Sohn, der Herr Minister (Komödienhaus, 16.02.37). – „Towàrisch (nach Curt Götz, mit Curt Götz) von Jacques Deval war in Berlin ein echter, großer Lustspielerfolg, der es auf mehrere hundert Aufführungen brachte. Fast hat es den Anschein, als sollte jetzt das gleiche Schicksal in Berlin dem Lustspiel Mein Sohn, der Herr Minister von André Birabeau zuteil werden, woraus zu schließen wäre, daß für so reizende französische Komödien an der Spree noch immer ein Publikum vorhanden ist. Jedenfalls unterhielten sich die Hörer im Komödienhaus so gut wie schon lange nicht mehr, und das politische Spottlied, durchaus kein garstiges, stieß nirgends auf Widerspruch. Mancher aktuelle Satz wie dieser etwa: ‚Wenn man über die Politik nicht mehr lacht, fängt es an, ernst für sie zu werden’, erregte baß Verwunderung, und wenn ein Augur die Politik als Kasperletheater bezeichnete, hatte man immerhin den Trost, daß damit lediglich eine westliche Demokratie getroffen werden sollte. Birabeaus Dialog ist so mit feinsten Nadelstichen gespickt, so mit attischem Salz gewürzt, daß ihm nur ein gräßlicher Griesgram grollen könnte, und selbst dazu muß ihm die Lust vergehen angesichts des von Erich Pabst geleiteten vorzüglichen Spiels, aus dem Paul Henckels als der wiedergefundene Vater, Hansi Arnstadt als die Treppe hinuntergefallene Spießerin und Alf v. Sivers als Minister mit englischem Schliff hervorragten. Es liegt kein Grund vor, an der Zukunft des Theaters zweifeln oder gar verzweifeln zu wollen: ein solcher Gewinn entschuldigt für hundert Nieten.“

Berliner Theater. NZZ, 4. März 1937, Abendausgabe, Nr. 385.
Hans Rowalt, Die Frau ohnegleichen (Komödie, 19.02.37); Kurt Heynicke, Frau im Haus (Staatstheater: Kleines Haus, 24.02.37). – „Tatsächlich hat es das einmal gegeben (das Konversationslexikon ist dessen Zeuge): einen Froschmäusekrieg zwischen den Meiningern und den Gothaern (November 1746 bis Februar 1747) infolge des Rangstreites zweier Damen am Meininger Hofe; da die Landjägermeisterin, Frau v. Gleichen, nicht klein beigeben wollte, rückte auf Befehl des Reichskammergerichtes gothaisches Militär in Wasungen ein, und es hätte beinahe sogar einen Verwundeten gegeben. Riecht das nicht förmlich nach Operette? Es ist das Milieu, in dem der selige Rudolf Presber mit Vorliebe pirschte, und in dieser Luft der deutschen Duodezhöfe gedeiht eine resolute Frau vom Stamme jener Liselotte, die Presber zur Komödienheldin erkoren hatte [in Liselott von der Pfalz], eine Frau mit gesundem Menschenverstand und Mutterwitz, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die ein kesses Maulwerk und ein warmes Herz hat, deren Devise lautet: ‚Ohne Lachen wäre das ganze Leben eine Lumperei.’ Diese Frau v. Gleichen, übrigens keine Verwandte des bigamistischen Ritters zur Zeit der Kreuzzüge, ist der Mittelpunkt des in der ‚Komödie’ aufgeführten historischen Lustspiels Die Frau ohnegleichen von Hans Rowalt und eine Bombenrolle für Ida Wüst, die neben einer gut geölten Suada nicht weniger als fünf kostbare Toiletten zeigen darf. Schauspielerinnen der Sprechbühne sollten es ihren Kolleginnen vom Film überlassen, Schaustellerinnen zu werden, ganz abgesehen davon, daß eine Oberhofjägermeisterin in einem mitteldeutschen Nest damals doch schwerlich solchen Aufwand treiben konnte.“ ● „Nicht von der Historie, sondern von der Gegenwart angeregt, stellt sich im Kleinen Haus des Staatstheaters Kurt Heynicke mit dem Lustspiel Frau im Haus vor als zweiter der von der Intendanz mit einem Auftrag zur Schaffung des deutschen Lustspiels bedachten sechs Autoren. Aus praktischer Gemeinschaftsarbeit zwischen Theater und Theaterdichter ist das Opusculum hervorgegangen. Seine Substanz ist spärlich, seine Ornamentik primitiv; den Preis der Treuherzigkeit kann ihm indes keiner mehr nehmen. Wir werden in einen Junggesellenhaushalt eingeführt, den zwei Brüder teilen und in dem eine etwas verschrobene ‚Stütze’ den Ton angibt. Bis eine Verwandte aus Übersee auftaucht, die zwar Ordnung, aber auch allerlei Verwirrungen stiftet, bis sie sich durch die Ankunft ihres Mannes als verheiratet erweist. Man lacht gelegentlich, wie man über ein Kind lacht, das die Kleider von Erwachsenen angezogen hat. Kurt Heynicke scheint bewußt den Ingénu zu spielen. Das Erfreulichste an seinem zeitlosen Scherzo ist die Art, wie es an der †† [sic] Gegenwart vorübergeht. Der Gewinn des Abends war die kleine Komikerin Charlotte Witthauer: läßt sie ihre Kulleräuglein auch noch zu oft ins Parkett schweifen, so scheint doch in diesem Persönchen eine Persönlichkeit zu stecken.“

Berliner Theater. NZZ, 11. März 1937, Morgenausgabe, Nr. 431.
William Shakespeare, König Richard der Dritte (Staatstheater, 02.03.37). – „Eine Darstellung von Shakespeares Historie König Richard der Dritte, die fünf geschlagene Stunden währt, sich also zu Götterdämmerung-Länge erwächst, böte des Guten zu viel, selbst wenn sie nur Bestes, Allerbestes zu bieten hätte. Wem sagt man das? Natürlich weiß ein alter Praktikus wie Jürgen Fehling, der Regisseur des Berliner Staatstheaters, daß man heutige Hörer nur drei Stunden, allerhöchstens drei und eine halbe, mit einem Wortdrama regalieren darf, wenn man das Auditorium bis zum Schluß im Bann halten will. Mehr erträgt der Nervenmensch nicht; der Muskelmensch ist längst knockout geschlagen. Gleichwohl setzt sich Fehling, die Wohltat des Rotstifts verschmähend, über eine unbestreitbare Erfahrungstatsache souverän hinweg! Er kann sich auch nicht auf die zahlreichen, viel Zeit beanspruchenden Verwandlungen berufen, denn erstens stellt die Bühne des Schauspielhauses, seit dem Umbau, das letzte an technischer Vollendung dar, und zweitens benutzt er zum größten Teil eine neutrale Örtlichkeit, die durch ein paar Requisiten im Nu ihr Gepräge empfängt oder empfangen soll. – Man hatte dieses Stilprinzip, das einer archaisierenden Neigung entspringt und eine Rückkehr zur Primitivität der elisabethanischen Schaubühne bedeutet, eigentlich für überwunden gehalten, war es doch in den letzten Jahren immer mehr abgekommen. Es ist auch nicht recht ersichtlich, warum man sich künstlich zurückschrauben will, wenn man alle Errungenschaften der Neuzeit zur Verfügung hat. Warum wird eine Straße durch einen abgeschlossenen Raum versinnbildlicht, um den sich oben Stoffgirlanden schlingen? Warum muß diese selbe Dekoration, mit Verwendung einiger Gitterstäbe, das Gefängnis andeuten? So geräumige Zimmer gibt es wohl kaum im Tower; und wenn es sie gibt, entsprechen sie hier nicht ihrem Zweck. Aber man ist noch gut daran, wenn man den Ort der Handlung überhaupt errät. Stehn ein paar zweifarbig gestrichene Grenzpfähle herum, so kann man auch falsch raten. Dann noch lieber das (wirkliche oder fiktive) Holzbrett an der Stange wie anno Elisabeth, das wenigstens keinen Zweifel läßt. Auch die damals gebräuchliche, nur in den Hintergrund verlegte Oberbühne wird herangezogen, wenn der König nach der Krönung, von zwei Bischöfen flankiert, in halber Höhe der Bühne erscheint. Im übrigen schafft der weiße Riesenraum im Bunde mit den Scheinwerfern bisweilen zauberhafte Bilder. – Es liegt an den Rollen, wenn der Abend menschlich nicht stärker wirkte. Werner Krauß gab den Gloster, ohne Maske beinah, in strohblonden Strähnen, fast schon einen Irren mit flackerndem Blick und offen stehendem Mund, und mehr einen Irren als einen Verbrecher. Wie kann uns auch ein solcher Massenmörder, ein Scheusal in Menschengestalt, zu dem von Aristoteles geforderten Mitleiden bewegen! Ohne den pathologischen Einschlag wäre das ‚wüste Schwein’ unerträglich: doch sollte noch ein Schuß Dämonie hinzukommen. – In der Pause trat eine dänische Journalistin an den Referenten heran und sprach die geflügelten Worte: ‚Erinnern Sie sich noch an die Jeßnersche Inszenierung von Richard III. [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 25.11.20, Nr. 1941]? Welch ein Unterschied! Man soll sie beide gelten lassen.’ Womit sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.“

Berliner Theater. NZZ, 27. April 1937, Abendausgabe, Nr. 753.
Sigmund Graff, Die Primanerin (Theater am Kurfürstendamm, 15.04.37). – „Sigmund Graff, Mitverfasser der Endlosen Straße, alleiniger Urheber des à la Enoch Arden heimkehrenden Matthias Bruck, hat eine Novelle von A. Turmayer zu dem Lustspiel Die Primanerin gestaltet, dessen Schauplatz wohl in der Schweiz zu suchen ist, weil einmal von der ‚eidgenössischen Schulordnung’ gesprochen wird; Pestalozzis Land indes dürfte sich rechtens dagegen verwahren, mit den Gefilden Ernst Ecksteins [in seiner Schulhumoreske Besuch im Carcer] verwechselt zu werden. Graffs Handlung: Eine Primanerin stellt sich aus Angst vor der lateinischen Stunde krank, wird von dem behandelnden Arzt durchschaut, alsbald geheiratet, findet in der Ehe nicht volle Befriedigung, möchte ihren Mann damit überraschen, daß sie das Abitur nachholt, meldet sich unter ihrem Mädchennamen in einer andern Schule, verstrickt sich in einem Lügennetz, bis sich alles in Wohlgefallen auflöst und das kommende Kind seine Schatten vorauswirft – diese Handlung mutet doch recht unwahrscheinlich an, und was an Episodenfiguren herumwimmelt, hat einen Stich ins Karikaturistische. Haften bleibt eine vertrocknete Schullehrerin, die ein mondänes Pariser Parfüm als ‚welsches Reizmittel’ bezeichnet: es ist der beste Witz des Abends. Er empfing seine lokale Besonderheit (im Theater am Kurfürstendamm) durch den Übertritt der Filmschauspielerin Magda Schneider zur Sprechbühne. Jung ist sie, hübsch ist sie, was will man mehr? Jedenfalls wollten die Gründlinge im Parkett nicht mehr.“

Berliner Theater. NZZ, 18. Mai 1937, Abendausgabe, Nr. 892.
Wiedereröffnung der Kammerspiele mit Dodie Smith, Der erste Frühlingstag (27.04.37). – „Am 9. [8.] November 1906 wurden die Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin mit Ibsens Gespenster eröffnet (Frau Alving: Agnes Sorma, Osvald: Alexander Moissi – beide schon tot; außerdem wirkten noch mit: Lucie Höflich, Friedrich Kayßler und Max Reinhardt). [Vgl. MMs Aufsatz ‚A Theatre for the Elect’ in der Tribune vom 20.11.06.] Aus einem nicht eben rühmlich bekannten Tanzlokal, ‚Embergs Ballsälen’, das vornehmlich von Studenten besucht wurde, war eines der schönsten Berliner Bühnenhäuser entstanden. Es wirkte apart in seinem Verzicht auf den herkömmlichen Farbendreiklang rot-weiß-gold durch die Verwendung edlen Palisanderholzes, das die Wände bedeckte; als einziger Schmuck hing in der Mitte des Raumes eine mächtige Kristallkrone. Sein Erbauer war der Architekt Oskar Kaufmann, dem Berlin noch außerdem das Hebbel-Theater (jetzt Theater in der Saarlandstraße), die Volksbühne (jetzt Theater am Horst-Wessel-Platz) und die völlig umgestaltete Kroll-Oper verdankt. [MM verwechselt hier die Kammerspiele mit der Komödie: der Erbauer der Kammerspiele war William Müller.] – Schon wenige Wochen nach seiner Eröffnung konnte das vornehme Theaterchen mit seinen dreihundert Klubsesseln dartun, daß es hohe künstlerische Aufgaben zu erfüllen hatte, für die es die geeignetste Heimstätte war, indem es den Dichter Frank Wedekind durchsetzte und seinem von der Zensur lange verbotenen Werk Frühlings Erwachen zu ungeahntem Erfolg verhalf. Zwar beruhte der Name ‚Kammerspiele’ (meines Wissens im Bureau des Deutschen Theaters gewählt) auf einem Irrtum, sofern ein bei Hofmusikern üblicher Bezahlungsmodus auf die dramatische Kunstgattung übertragen wurde; der Name hat sich indes schnell eingebürgert, und tatsächlich entsprachen die hier aufgeführten Theaterstücke dem, was die Kammermusikwerke im Reich der Töne bedeuten. – Nicht allzu lange hielten sich die Kammerspiele auf ihrer ursprünglichen Höhe. Sie bevorzugten mehr und mehr das internationale Unterhaltungsspiel: das espritvolle Dialogstück wurde von dem angelsächsischen sense of humour abgelöst. Schon bald nach dem Kriege verloren sie jedoch allmählich ihre Sonderphysiognomie, die im günstigsten Fall noch darin zum Ausdruck kam, daß in der Dependance des Deutschen Theaters besser Komödie gespielt wurde als in einer ganzen Anzahl von Bühnenhäusern, die das gleiche Genre pflegten. Seit dem nationalsozialistischen Umsturz wurden die leerstehenden Kammerspiele nur noch gelegentlich für Studio-Aufführungen verwendet; aber selbst die lautesten Vormittagserfolge vor begeisterter Hörerschaft wollten sich nicht beim wesentlich kühleren Publikum der Abendvorstellungen wiederholen. – Nun soll neues Leben, fern von Partei und Politik, in die Kammerspiele einziehen. Zu diesem Zweck hat man zunächst einmal das alte Haus von Grund aus gewandelt und gewandet, so daß von Oskar Kaufmanns Schöpfung kaum noch etwas übrig geblieben ist. Den Umbau von Raum und Rang, von Bühne und Foyer leitete Ernst Schütte, der bewährte Dekorationsmaler des Deutschen Theaters. Er hat – nach dem Grave das Scherzo – in Grau und Fraise einen lichten, gefälligen, graziösen Raum geschaffen, dessen pièce de résistance der handgestickte altgoldene Vorhang mit seinen Masken und Musikanten ist. Statt einer Krone in der Mitte hängen jetzt an den Seiten sechs Glaslüster herab. Die lauschigen Logen im Hintergrund sind durch eine weit ausladende Mittelloge, wie in Residenzstädten für den Regenten, ersetzt. Verschwunden ist aus dem Vorraum die Ibsen-Büste, deren früheren Platz frische Blumen einnehmen. Man könnte sich in diesem neuen Intérieur gut Mozart-Opern dargestellt denken; aber schon für ein Familiendrama wie die Gespenster wäre es schwerlich der richtige Rahmen, und gar eine Bergwerkstragödie wie Wiessallas Front unter Tage wäre hier durchaus fehl am Ort. – Um so eher paßte hierher das englische Lustspiel Der erste Frühlingstag von Dodie Smith, dieses in Zürich uraufgeführte, harmlos-heitere Stückchen. Heinz Hilpert, der Intendant der Kammerspiele, hat den Wunsch geäußert, daß im neuen Hause ‚mehr gelächelt als gelacht’ werde. Gleichwohl werden es für ihn nicht Mißtöne gewesen sein, daß mehr gelacht als gelächelt wurde. Man sagt das eine und meint das andere. Tatsächlich ist die Erziehung zum Lächeln noch für das Publikum und die Erziehung zum Sprechen für die Schauspieler zu leisten. Diesmal konnte Hilpert kein festgefügtes Ensemble, sondern eine etwas buntscheckige Truppe zeigen. Vom Film waren gekommen: Lida Baarova und Ursula Grabley, von der Operette: Lizzi Waldmüller, vom Kabarett: Blandine Ebinger. Ein Wunder fast, sie alle unter einen Hut zu bringen. Als Stützen der Schauspielkunst erwiesen sich Leopoldine Konstantin und Ernst Karchow.“

Berliner Theater. NZZ, 14. Juni 1937, Mittagausgabe, Nr. 1075.
William Shakespeare, Was ihr wollt (Staatstheater, 09.06.37). – Im Staatlichen Schauspielhaus gab es, noch kurz vor Torschluß, bei tropischer Glut, eine Neueinstudierung von Shakespeares Lustspiel Was ihr wollt unter dem Inspirator Gustaf Gründgens, und sie wurde bejubelt, als wären die früheren glanzvollen Aufführungen des Werkes, die Berlin unter Max Reinhardt erlebt hat, aus dem Buche der Zeitgeschichte gestrichen. Jede kunstkritische Erörterung oder auch nur sachliche Betrachtung geht aber von der möglichst objektiv gesehenen Vergangenheit aus. – In einem Aufsatz ‚Das Theater und die Zeit’ hat der jetzt an das ehemalige Berliner Tageblatt berufene Kunstkritiker Paul Fechter den Satz aufgestellt: ‚Wie jede Sinfonie unter jedem Dirigenten ein musikalisch neues Gebilde wird, das bisher ungehörtes Leben hörbar und fühlbar macht, so können auch die Dramen der Klassik und Nachklassik, unter dem richtigen Dirigenten von heute, die Klänge vernehmbar werden lassen, die, auf die Gegenwart hinweisend, bereits in ihnen leben.’ Der Vergleich mit der Musik gibt eine heute weit verbreitete Ansicht wieder, die, auf die Überschätzung des Stabführers fußend, diesem eine Art Generalvollmacht gegenüber dem Komponisten einräumt. Gleichwohl ist sie anfechtbar, weil von hundert Hörern der Konzertsäle noch nicht einer imstande ist, zu präzisieren, worin – um zwei Schweizer Dirigenten zu nennen – die Interpretation einer Sinfonie etwa durch Denzler sich von der Ausdeutung durch Ansermet unterscheidet, und noch nicht einer von tausend Hörern wird mit zugebundenen Augen angeben können, ob eine Aufführung des Don Juan von Furtwängler oder von Fritz Busch geleitet wird. Nicht der verdient den Preis, welcher am meisten von sich in die ursprüngliche Schöpfung hineinfiltert, sondern wer die Eigenart des Kunstwerks am stärksten nachlebt und nachzeichnet, in diesem Fall also der Mozartschen Welt am nächsten kommt, womit wir wieder bei der möglichst objektiv gesehenen Vergangenheit angelangt sind. – Was hat der Regisseur Gründgens getan, um neue, auf die Gegenwart hinweisende Klänge vernehmbar zu machen? Was ihr wollt besteht bekanntlich aus zwei Handlungskomplexen: aus Liebeswirren und den Streichen eines ausgelassenen Trios; aus Sentimentalität und Übermut; aus Melancholie und Clownerie. Sie wollen beide zu ihrem Rechte kommen. Gründgens aber hatte kein Mitleid mit den amourösen Begebenheiten, sondern bog sie ins Parodistische um. Schon von der ersten Szene an: der liebeskranke Herzog, der sich einer dolce tristezza hingibt, muß so übertrieben seufzen und stöhnen, daß das Publikum, statt mit ihm zu fühlen, über ihn lacht. Orsino nimmt sich selbst nicht ernst. Das widerspricht offenkundig dem Dichter, gefällt aber den Gründlingen. Und auch Olivias Leid wird nach Möglichkeit ins Lustige gewendet. – Das Glück der Aufführung entsprang nicht dieser Verschiebung des Kontrapunkts, sondern den schönen Bühnenbildern Traugott Müllers und einer Anzahl junger, wohlgebildeter Schauspielerinnen, die anzuschauen eine Freude war. Zwei Filmkünstler halfen mit: Theo Lingen als Malvolio und Hannes Stelzer als Sebastian. Lingen war wie immer in seiner Grandezza überaus komisch, doch von der Tragik der Gestalt, die Beerbohm Tree so unvergeßlich durchbrechen ließ [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 10.07.01, Nr. 189], wehte kein Hauch herüber. Stelzer empfahl sich wohl durch seine Ähnlichkeit mit der Zwillingsschwester Viola in Marianne Hoppes holdherber Verkörperung. Die komischen Käuze durften sich nach Herzenslust austollen: das war fast schon Tairoff am Gendarmenmarkt. – Am stärksten streifte die Gegenwart ein Satz, der bisher, in mehr als dreihundert Jahren, wohl nie Beachtung gefunden hat, jetzt aber demonstrativ beklatscht wurde. Das Kammermädchen Maria bringt einen Mantel mit Kapuze, damit der Narr in der Verkleidung eines Pfarrers zu Malvolio gehe. ‚Ich will ihn anziehen’, sagt der Narr, ‚und mich darin verstellen, und ich wollte, ich wäre der erste, der sich in solch einem Mantel verstellt hätte.’ Das Haus brüllte.“

Berliner Theater. NZZ, 15. Juni 1937, Abendausgabe, Nr. 1084 [unsigniert].
Hermann Roßmann, Heiraten ist besser! (Deutsches Theater, 15.05.37). – „Mit den vom Staat in Auftrag gegebenen sechs Lustspielen war bisher, soweit wir sie kennen gelernt, nicht sonderlich Staat zu machen. Nun hat das Deutsche Theater, auf der Schwelle des Sommers, zu einem außerhalb dieses Wettbewerbs entstandenen Lustspielchen Heiraten ist besser von Hermann Roßmann gegriffen, ohne daß es eine wesentlich wertvollere Wahl getroffen hätte. Der Verfasser rollt in neun Bildern eine Liebesgeschichte zwischen einem kleinen Bankbeamten, der sich in seinen Mußestunden als Bühnenautor versucht, und einem Bureaumädel vom ersten Ausflug bis zur Verlobung auf. Anfänglich verkündet der Dichterling nach der Strindberg-Weis’ ‚die Hölle der Ehe’, nachher bekennt er sich gegen die Bibel zu der Einsicht ‚Heiraten ist besser’. Roßmann hat den Mut zur Trivialität, ohne daß sich dieser mit dem Grauen vor der Trivialität paarte. Er möchte wohl ein solches G’spusi sub specie aeternitatis sehen, also dartun, wie unendlich wichtig sich jedes Pärchen nimmt und wie wichtig es dem Zuschauer erscheint; aber mit der Häufung von Platitüden ist es nicht getan, weil sie eher breit als stark wirken (vergl. Goethe). Die Handlung ist auf ein bestimmtes Jahr – 1928 – festgelegt, und schon das macht es schwer, Ewigkeitszüge hervorzuheben, wenn sie an zeitgebundene Typen gekettet sind, gibt aber Gelegenheit, dem Prügelknaben Liberalismus eines auszuwischen. Derartige Erwägungen hemmten indes weder die Lachlust noch die Klatschfreudigkeit des Publikums, das an einer witzigen Darstellung sub specie aestatis ersichtlich Gefallen fand.“

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1937 / 1938

Berliner Theater. NZZ, 23. September 1937, Abendausgabe, Nr. 1706.
Beginn der Theatersaison; Michael Egan, Er soll dein Herr sein! (Kammerspiele, 15.09.37); Hans Schweikart, Lauter Lügen (Staatstheater: Kleines Haus, 19.09.37). – „Später als früher hat die Spielzeit diesmal begonnen. Mustert man unbefangen die Vorankündigungen, so wird man gestehen müssen, daß große Anstrengungen unternommen werden, den einstigen Glanz der Theaterstadt Berlin zurückzuerobern, besonders von den staatlichen Berliner Bühnen, deren Zahl – die drei Opernhäuser nicht mitgerechnet – schon auf acht gestiegen ist. Darunter befinden sich die Kammerspiele und das Deutsche Theater, ehedem glorreiche Privatunternehmungen, deren Ruhm oft genug an dieser Stelle verkündet worden ist. Es scheint sich allmählich bewahrheiten zu wollen, was ein Mitglied des Schauspielhauses bei Übernahme der Macht ausgesprochen hat: er sehe die Zeit kommen, wo es nur noch staatliche Theater gebe. (Vom sichern Port läßt sich’s gemächlich wünschen.) Das Schauspielhaus vornehmlich macht sich die Pflege des klassischen Dramas zur Aufgabe. Niemand wird bestreiten wollen, daß ein erkleckliches Maß von Arbeit aufgeboten wurde, wenn eine Bühne in der ersten Spielwoche zwei Shakespeare-Stücke (Hamlet und Was ihr wollt) sowie Molières Eingebildet Kranken [zu dem eigenwilligen Titel s. MMs Aufsatz ‚Le malade imaginaire. Zur Verdeutschung des Titels’, LE, Bd. 20, Nr. 12 (15.03.18), 701-703] parat hat und die auf einen Abend zusammengezogene Wallenstein-Trilogie in einer Elite-Besetzung neu herausbringt. Auch das zeitgenössische Ausland, eine Weile verbannt oder allzu stiefmütterlich behandelt, soll jetzt wieder in den betont heiter umgewandelten Kammerspielen eine Heimstätte haben, nachdem von hoher Stelle aus freimütig zugegeben wurde, daß die deutschen Unterhaltungskomödien sich nicht oder noch nicht in der Leichtigkeit der Technik mit denen der westlichen Länder messen können. – Beweis dafür waren die englische Komödie The Dominant Sex von Michael Egan, die unter dem Titel Er soll dein Herr sein! in den Kammerspielen, und die deutsche Komödie Lauter Lügen von Hans Schweikart, die im Kleinen Haus der Staatstheater vom Stapel lief. Michael Egan hat ersichtlich von Noel Cowards Intimitäten gelernt; er verdankt ihm die Art, wie der Dialog flitzt und sitzt. Nur des Meisters Prägnanz bleibt ihm noch zu erwerben. Durch Kürze profitiert nicht nur ein Witz, sondern auch ein witziger Dialog. Der Deutsche Hans Schweikart kommt vom Theater, ist im Kriminalroman bewandert und sollte daher mit den Geheimnissen des szenischen Aufbaus vertraut sein; aber er läßt sich von Anbeginn an in die Karten sehen. Es ist aber nicht wohlgetan für die Theaterspannung, wenn der Ausgang der Handlung von vornherein so eindeutig feststeht. – Darstellerisch zeichneten sich aus: im ersten Lustspiel der Filmstar Gustav Fröhlich, ein ruppiger Junge, und Lizzi Waldmüller, eine Darstellerin von sprudelndem Brio, im zweiten die Damen Maria Bard und Käthe Haack, denen der Komödienstil in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der junge Regisseur Wolfgang Liebeneier, auch vom Film her bekannt, scheint seine Kollegen gut zu befruchten; doch sollte er mit dem neuerdings aufkommenden Brauch brechen, aus jeder Komödie noch nebenbei eine Modenschau zu machen. Ein getragenes Kleid wird im Baedeker bald drei Sternchen erhalten.“

Berliner Theater. NZZ, 6. Oktober 1937, Abendausgabe, Nr. 1793.
Friedrich von Schiller, Kabale und Liebe (Volksbühne, 14.09.37); Friedrich von Schiller, Wallenstein [alle drei Teile] (Staatstheater, 16.09.37); Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti (Staatstheater: Kleines Haus, 29.09.37); Pierre Augustin Caron Beaumarchais, Figaro in Sevilla oder Die vergebliche Vorsicht (Deutsches Theater, 01.10.37). – „Was hat sich in den ersten Wochen der neuen Spielzeit ereignet, wofür man bei Lesern im Ausland Interesse voraussetzen kann oder wecken möchte? Zunächst wird es auffallen, daß sich unter den dargebotenen Bühnenwerken, von Spenden der leichtesten Muse abgesehen, keine Uraufführung befand. Sind keine neuen, erfolgverheißenden Stücke vorhanden, oder hebt man sie für einen späteren Termin auf? Ignoti nulla cupido, kein Verlangen nach Unbekanntem – das war bei den Berliner Bühnenleitern schon vor dem Anbruch des Dritten Reiches stark ausgeprägt, und diese Zurückhaltung entsprang weniger einem höheren Kunstmaßstab als der materiellen Erwägung, daß dramatische Versuche in der Millionenstadt mit größerem Risiko verbunden sind. ● Wenn die Zeitgenossen nicht in der vordersten Reihe kämpfen, müssen die Klassiker in die Bresche springen. Schiller ist zurzeit zweimal vertreten – mit der revolutionären Fanfaronade Kabale und Liebe an der Volksbühne, mit dem geschichtlichen Wallenstein-Drama im Schauspielhaus. – Die von dem Generalintendanten Eugen Klöpfer persönlich überwachte Inszenierung des Schillerschen Jugendwerkes bringt als Novum eine musikalische Umrahmung mit. Zugunsten dieser Neuerung läßt sich kaum etwas sagen; dagegen: daß die Zwischenaktmusik hier überflüssig ist, selbst wenn sie von Bach, Haydn und Dittersdorff stammt. Begleitmusik im Drama ist außerordentlicher Wirkungen fähig; man braucht etwa nur an Beethovens Egmont-Musik zu denken. Aber dann muß sie dem Inhalt der Dichtung entsprechen. Die hier gewählten Meister haben nichts mit dem Pathos des jungen Schiller gemein. Wo er stürmisch ist, sind sie bedächtig; wo er anklägerisch ist, sind sie eher besänftigend. Das ergibt natürlich eine Diskrepanz. ● Lothar Müthel, der Schauspieler-Regisseur, hat für das Staatstheater die Wallenstein-Trilogie zu einem (reichlich bemessenen) Abend zusammengezogen. Mit solchen Bearbeitungen geht es wie mit Anthologien: es ist schwer, ja schlechterdings unmöglich, es allen recht zu machen. Der wird dies, jener das vermissen, keiner alle Wünsche befriedigt sehen. Darum ist es wohl das Empfehlenswerteste, solche Prokrustesarbeit zu meiden. Müthel hat im übrigen den Rotstift sehr sinnvoll gehandhabt. Seine zentripetalen Striche lassen Wallenstein nicht aus dem Brennpunkt verschwinden. Während Schiller den zweiten Teil des Werkes mit Fug nach Walter und Sohn Piccolomini nennt, bleibt Wallenstein bei Müthel auch hier die Zentralgestalt. Dadurch hat es Werner Krauß leichter, an seinen Heerführer und Staatsmann glauben zu lassen, sofern man sich immer an seinen eigenen Ausspruch erinnert: ‚Es ist der Geist, der sich den Körper baut.’ ● Auch Lessing kam zu seinem Recht mit der Emilia Galotti (im Kleinen Haus). Es war das, was von den Angelsachsen als all star cast bezeichnet wird, d.h. jede Rolle hatte einen prominenten Darsteller. Gustaf Gründgens, der Inszenator, spielte selbst den verführerischen Prinzen, obgleich wir ihn, nach seinem sprühenden Mephisto, lieber als Marinelli gesehen hätten. Dieser lag bei Bernhard Minetti in guten, das Elternpaar Galotti bei Friedrich Kayßler und Hermine Körner in den besten Händen. Doch eine Klasse für sich bildete Käthe Dorsch als Orsina – eine der größten schauspielerischen Leistungen, die man auf der deutschen Bühne seit langem erlebt hat. Das war mehr als eine Rokoko-Favoritin, das war eine Gestalt von antiker Wucht, furchtbar wie eine Mänade in ihrer blind wütenden Rachsucht, mitleiderweckend in ihrem Seelenschmerz, erschütternd in den Anzeichen des Verfalls. In diesem Zeitalter des Superlativs ist kein Wort des Lobes für diese exorbitante Leistung zu hoch gegriffen, und sie wurde, worüber man sich bei der Zusammensetzung heutiger Hörerschaften besonders freuen konnte, als solche spontan erkannt und anerkannt. ● Vielleicht darf auch Beaumarchais unter die Klassiker gerechnet werden; jedenfalls ist zweien seiner Werker die Unsterblichkeit sicher durch die Musik, zu der Mozart und Rossini angeregt wurden. Nachdem das Staatstheater in der vorigen Spielzeit Figaros Hochzeit herausgebracht hatte [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 12.06.36, Nr. 1015], führte das Deutsche Theater jetzt den Barbier von Sevilla oder Die vergebliche Vorsicht in einer sprachlich gelockerten Textrevision seines Dramaturgen Wolfgang Drews mit gutem Gelingen auf. Freilich hat es der Wortkünstler schwer, sich neben dem Tonkünstler nachträglich wieder durchzusetzen. Nichts beleuchtet die Meisterschaft des Musikers heller, als daß er auch in der Abwesenheit glänzt.“

Billingers Gigant. NZZ, 29. Oktober 1937, Mittagausgabe, Nr. 1943.
Richard Billinger, Der Gigant (Staatstheater, 21.10.37). – „Von Clara Viebig könnte Richard Billinger den Stoff seines neuen, im Berliner Staatstheater uraufgeführten Schauspiels Der Gigant ausgeliehen haben. Ein Mädel vom Lande, die Tochter eines Großbauern in der Hannakei, dem fruchtbarsten Gebiet Mährens, kommt zum erstenmal in die Großstadt: hier nach Prag mit seinen goldenen Türmen (Slata Praha), wohnt bei der Tante, wird von deren Sohn, einem wurmstichigen Servierkellner, geschwängert, lehnt es ab, die Leibesfrucht beseitigen zu lassen, kehrt in ihr Heimatdorf zurück, wird vom Vater sowohl wie vom Gesinde mit Nichtachtung gestraft und geht wortlos in den nahen Sumpf – ist dieses Handlungsgerippe nicht ganz romanhaft? Scheint es nicht darauf zu warten, daß ihm Clara Viebig blühendes Fleisch ansetze? Und auch die Art, wie hinter den Geschehnissen, gleichsam symbolhaft und sie aus dem Alltäglichen emporreißend, das Moor dräut, ist bei der Eifeldichterin des öftern zu finden. – Wer ist nun eigentlich Der Gigant? Die Großstadt oder das Sumpfwasser? Hat sich das junge, unerfahrene Ding aus Prag, in dessen weltberühmtem Dom ihre Mutter einst getraut ward und nach dem sie eine ungeheure Sehnsucht hat, einen Wunschtraum gemacht? Ein befreundeter Ingenieur sucht ihn ihr auszureden: ‚Ich hoffe, Sie kehren bald in Ihre wunderbare Heimat zurück! Das vielgerühmte Prag, die große Stadt, ist nicht der Gigant, wie er in Ihren Träumen lebt. Hier finden Sie nur Zwerge.’ Die Großstadt ist also nicht der Gigant. Vielleicht das Moor? Das Moor wird von einem Dämon beherrscht, ‚der da im Moorwasser hausen soll und alle verschlingt, die die Heimat böswillig verlassen und verraten’. Wie der Nickelmann ein gewisses Rautendelein zu sich in die Tiefe zieht, fällt Anuschka dem Wassergeist zum Opfer. So muß er wohl als der Gigant gelten. – Weder die Handlung, mag sie auch noch so viele humoristische Lichter aufsetzen und symbolisch umrankt sein, wodurch sie tiefere Bedeutung anstrebt, noch ihr Duktus sind die Stärke des Dramatikers Billinger. Zum Glück versagt ihm der Heimatdichter, der folkloristische Poet, seine Dienste nicht. Der stellt fast zwei Dutzend Gestalten hin, die an Prallheit der Zeichnung keinen Vergleich mit Frantisek Langer oder Oedön Horvath zu scheuen brauchen. Diese Nebenfiguren haben ihre besondere Sprachmelodie, und man kann sich an ihr kaum satt hören oder besser noch: lesen, denn es wäre zu viel verlangt, wollte man von jedem Schauspieler die Beherrschung des böhmisch-mährischen Dialekts erwarten. Irgendeine Exl-Truppe kann sich da noch ein Verdienst erwerben. – Der Regisseur Jürgen Fehling ließ jeden nach seiner Idiom-Fasson selig werden. Norddeutschland, Bayern, Wien rangen um die Palme. Den vorgeschriebenen Tonfall traf am vorzüglichsten Annemarie Holtz als schmierige Tabakladenbesitzerin. Fehling hatte sich, wie wir es von Barlachs Blauem Boll her an ihm kennen [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 12.12.30, Nr. 2438], in dieses Kabinett von Charakterköpfen wieder so verliebt, daß er die Rollen ungebremst ausspielen ließ, ohne viel an Raffung und Straffung zu denken. Die exquisitesten Schauspieler standen ihm zur Verfügung in Eugen Klöpfer, dem Großbauern, der die Verhaltenheit und den naturhaften Brunftschrei gleich überzeugend von sich gab, und in Marie Koppenhöfer, der reschen Wirtschafterin. Für Käthe Gold mag es hohe Auszeichnung bedeuten, daß sie als Anuschka das ‚Windschimmernde’, das ihr nachgesagt wird, ahnen ließ (falls der Leser sich darunter etwas oder das Richtige vorstellen kann). – Die Hörerschaft im Schauspielhaus, weder vom Vorwurf noch vom Milieu befremdet, ging willig mit und bereitete dem Werk einen freundlichen Erfolg, an dem alle Mitwirkenden Anteil hatten.“

Berliner Theater. NZZ, 4. November 1937, Abendausgabe, Nr. 1987 [unsigniert].
Franz Woertz, Öl ins Feuer (Kammerspiele, 14.10.37). – „Kaum war hier festgestellt worden, daß den Berliner Bühnenleitern das richtige Fiduz zu neuen dramatischen Werken fehlt oder noch fehlt oder noch zu fehlen scheint, so meldet sich das erste prompt in den Kammerspielen. Es heißt Öl ins Feuer, sein Verfasser nennt sich Franz Woertz. Er möchte mit seiner Mischung von politischer und Gesellschaftskomödie neben Wilde und Shaw eingereiht sein, wozu das von ihm gewählte englische Milieu freilich noch nicht genügt. Alles dreht sich um eine im Stillen Ozean entdeckte kleine Insel, auf der Ölquellen vorkommen, und da das Öl der Götze unseres Zeitalters, der Ölgötze ist, entspinnt sich um die Quellen ein Kampf zwischen den ‚Haifischen’ des künftigen Weltkrieges. Ein kriegsbeschädigter Londoner Chefredakteur macht den Tanz um das kostbare Öl nicht mit und macht den Vertretern des sacro egoismo einen Strich durch die Rechnung, oder vielmehr seine Sekretärin tut es, indem sie wichtige Dokumente ins Feuer steckt. ‚Konservatives, altmodisches England!’ ertönt zum Schluß die Stimme des anständigen Menschen; wenn es den Kamin abgeschafft und die Zentralheizung eingeführt hätte, wäre das nicht möglich gewesen, und aus der Komödie wäre ein Drama geworden. Wie schade, daß der gescheite Verfasser, dessen Dialog Niveau zu halten bemüht ist, so gar kein Theaterblut hat! Schwerfällig kommt die Handlung in Gang, streckenweise bleibt sie undurchsichtig, und von einem Dutzend Personen trägt kaum eine Sonderzüge. Es ist darum nicht verwunderlich, daß der Zuschauer unberührt bleibt, selbst wenn sich die Gespräche ganz aktuell zuspitzen. – Die Aufführung der Kammerspiele suchte soviel wie möglich die Bodenständigkeit der Typen herauszuarbeiten; am besten war britisches Phlegma bei dem vom Film her ausgeliehenen Darsteller Karl Ludwig Diehl aufgehoben.“

Berliner Theater. NZZ, 10. November 1937, Abendausgabe, Nr. 2026.
Renaissance des historischen französischen Lustspiels; Victorien Sardou, Fedora (Renaissance-Theater, 26.10.37); Alexandre Dumas fils, Die Kameliendame (Staatstheater: Kleines Haus, 29.10.37). – „Mit Scribes Glas Wasser fing es vor drei Jahren an – das Tauchen nach den echten und unechten Perlen französischer Dramatik. Wer hätte gedacht, daß in einer Zeit, die das autarkische Prinzip auch für die Bühnenkunst in Anspruch nehmen wollte, justament das Berliner Staatstheater zu dieser vermotteten Auslandsware greifen würde! Wer hätte es für wahrscheinlich gehalten, daß in einem Lande, das von maßgebender Stelle aus die Kunst immer wieder ins Schlepptau der Politik nehmen und sie nur als ancilla rei publicae gelten lassen wollte, ein Intrigenspiel in historischer Gewandung, das nicht den geringsten Berührungspunkt mit der Gegenwart hat, der Vergangenheit und der Vergessenheit entrissen wurde! Wer hätte den geradezu sensationellen Erfolg dieses Lustspiels prophezeien können, das vor ausverkauften Häusern wohl mehr als sechzigmal in Szene ging! Die Berliner stellten sich Sonntag früh, fast noch zu nachtschlafender Zeit, am Gendarmenmarkt auf, um sich für den verblichenen Scribe eine Eintrittskarte zu sichern. Wenn das nicht wahre Kunstbegeisterung ist! [Vgl. MMs Besprechungen in der NZZ vom 05.11.34 / Nr. 1989, 05.04.35 / Nr. 597 und 12.04.35 / Nr. 643.] ● Nach ihm kam Beaumarchais an die Reihe: der für Mozarts Oper zugrundegelegte Text abermals im Schauspielhaus, der für Rossinis Oper benutzte Text vor kurzem im Deutschen Theater [vgl. MMs Theaterkritiken in der NZZ vom 12.06.36 / Nr. 1015 und 06.10.37 / Nr. 1793]. Es ist eine Renaissance des historischen französischen Lustspiels. ● Nun scheint die Urständ für das gallische Sittenstück anzuheben. In einer Woche kamen ihrer zwei heraus: Sardous Fedora im Renaissance-Theater und Alexandre Dumas’ Kameliendame im Kleinen Haus des Staatstheaters. Die betagte Fedora dürfte ihre Auferstehung wohl nur dem Umstand verdanken, daß eine Paraderolle für die virtuose Darstellerin Agnes Straub benötigt wurde. Man hat den Reißer ziemlich intakt gelassen. Nur im Schlußakt blieb es der alten, ehrlichen Fedora erspart, an Gift zu sterben; sie geht mit ihrem geliebten Lovis einer glücklicheren Zukunft entgegen, worin man eine Verbeugung vor dem Filmpostulat des happy end erblicken mag. In der Darstellung war das Effektvolle gedämpft, das allzu Krasse gemildert; der thriller tat auch so seine Schuldigkeit, und Agnes Straub darf sich bald die letzte jener Heroinen nennen, welche sterben oder vielmehr am Leben bleiben, wenn sie lieben. ● Zu einem triumphalen Erfolg wuchs sich im Kleinen Haus die vom Intendanten Gustaf Gründgens geleitete Inszenierung der Kameliendame von Dumas fils aus. ‚Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur seine ganze Stärke zeigen kann’ (Lessing, Hamburgische Dramaturgie). Es können auch Actricen sein, und die allergrößten haben der Rolle der schwindsüchtigen Marguérite Gauthier ihre Menschlichkeit, ihre Eigenart und ihre Eigenheiten geliehen. Noch hallt im Ohr der todeswunde Schrei ‚Armando! Armando!’ (mit leicht nasaler Färbung) der einzigen Eleonore Duse nach; noch glaubt man die voix céleste der phänomenalen Technikerin Sarah Bernhardt zu hören, die sich zu Tode hustende Violetta der singenden Tragödin Franceschina Prevosti (in Verdis Oper Traviata) den Krankheitsverlauf nachzeichnen zu sehn. Größeres Lob läßt sich der jetzigen Darstellerin, Käthe Dorsch, nicht spenden, als wenn man ihr nachrühmt, daß sie sich in dieser Gesellschaft höchster Sterne behaupten kann. Die reine Menschlichkeit der Halbweltlerin kommt am rührendsten zum Ausdruck, wenn sie dem Vertreter der bürgerlichen Welt (Friedrich Kayßler prachtvoll als père noble) opferbereit gegenübersteht. Leider ist ihr Armando nur ein sympathischer Hofschauspieler mit mehr Haltung als Gehalt. Gleichwohl ging die Dorsch mit Verzicht auf alles Klinische so sehr zu Herzen, daß die Hörer sich am Schluß ein paar Minuten schweigend verhielten, als ob sie ein Bühnenweihfestspiel genossen hätten, ehe sie mit ihrem Beifall losbrachen. Ich habe, selbst im Kino, nie so viele Männer um mich weinen sehn. Und das hat mit ihrem Leide die Edelhetäre getan.“

Hauptmann-Jubiläum in Berlin. NZZ, 24. November 1937, Abendausgabe, Nr. 2121.
Das (schwache) Berliner Bühnenecho auf Gerhart Hauptmanns 75. Geburtstag am 15.11.1937. – „Beim besten Willen läßt sich nicht behaupten, daß die reichshauptstädtischen Bühnen allzu große Anstrengungen gemacht haben, Gerhart Hauptmanns 75. Geburtstag geziemend zu feiern, wenn man bedenkt, welche Fülle dramatischer Werke er in einem halben Jahrhundert dem deutschen Theater geschenkt und welche Stellung er innerhalb dieses Zeitraumes auf dem Theater der Welt eingenommen hat. Dem vorurteilslosen Betrachter muß es auffallen, daß kein Direktor, kein Intendant sich getraut hat, nach einem der seltener gespielten Stücke zu greifen, die das Publikum auf den ersten Anhieb nicht gewinnen konnten, um womöglich eine Revision des Urteils anzubahnen. Zweimal hat es Hauptmann erlebt, daß große Niederlagen sich im Wandel der Zeiten für ihn zu großen Siegen auswuchsen: mit dem Biberpelz und dem Florian Geyer. Weltkrieg und Revolution haben nicht nur manchem Werk, sondern dem Gesamtwerk gegenüber eine andere Einstellung bewirkt. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß die sogenannten Jubiläumsartikel zum Teil recht flau ausgefallen sind, ja daß die Schreiber dem Dichter an seinem Ehrentag gewissermaßen in die Suppe spuckten oder doch eine eigenartige Würze zum Festbraten beisteuerten. Der am selben Tage geborene völkische Beobachter und Betrachter Adolf Bartels hat entschieden eine bessere Presse. Hauptmann muß es sich sagen lassen, daß er den Menschen des neuen Deutschlands unmittelbar nicht allzuviel mehr zu sagen habe. ‚Viel zu sagen, das heißt zukunftsträchtige Ideen zu verkünden, hatte Hauptmann eigentlich nie.’ Offenbar gehört es nicht zu den zukunftsträchtigen Ideen, für die Vermenschlichung des Menschen ein langes Leben hindurch eingetreten zu sein. – Befremden muß es vor allen Dingen, daß das Deutsche Theater in der Schumannstraße, wo die meisten Hauptmann-Premierenschlachten seit 1895 geschlagen wurden, im Reigen der Huldigenden fehlt, nicht einmal den Hamlet in Wittenberg, den es in der vorigen Spielzeit herausbrachte [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 14.10.36, Nr. 1764], wieder aufgenommen hat. An die Spitze der Gratulanten stellte sich das Rose-Theater – eine Vorstadtbühne oder, wenn man darin etwas Geringschätziges sehen will, eine Peripheriebühne – mit dem Biberpelz. Die Diebeskomödie mit der gutmütigen Spitzbübin, die dem verknöcherten Beamten ein Schnippchen schlägt, erweckt bei einem naiven Publikum noch immer diebische Freude. Das Rose-Theater wird Vor Sonnenaufgang folgen lassen, das Werk, worin der junge Dramatiker sich zum erstenmal sozialkritisch betätigte. – Die Volksbühne gibt als Geburtstagsspende Rose Bernd. – Das Staatliche Schauspielhaus beabsichtigte ursprünglich, die Versunkene Glocke aufzuführen, entschied sich dann aber für Michael Kramer (mit Werner Krauß und Minetti als Vater und Sohn Kramer). Da es dem Referenten beim besten Willen nicht möglich war, eine Karte käuflich zu erwerben, muß er sich mit der kahlen Registrierung der Tatsache begnügen.“

Berliner Theater. NZZ, 13. Dezember 1937, Abendausgabe, Nr. 2274.
Bruno Wellenkamp, Ich heiß Lülf! (Kleines Haus des Staatstheaters, 04.12.37); Gerhart Hauptmann, Elga und Hanneles Himmelfahrt (Deutsches Theater, 30.11.37). – „Nun haben wir im Berlin des Dritten Reiches den ersten Theaterskandal erlebt. Anlaß dazu bot die Komödie Ich heiße Lülf! von Bruno Wellenkamp, einem der sechs Autoren, die von der Generalintendanz der Staatlichen Schauspiele den Auftrag erhalten haben, ihren Beitrag zur Schaffung des deutschen Lustspiels zu liefern. Wellenkamp schien sich zu solcher Auszeichnung durch seine letzte, in Berlin mit Erfolg aufgeführte Komödie Die Frösche von Büschenbüll zu empfehlen. Offenbar hatte er den Ehrgeiz, mehr als ein harmloses deutsches Lustspiel zu geben, wie schon aus der Etikettierung als Komödie hervorgeht. Er griff auf das romantische Lustspiel der Tieck, Platen, Büchner zurück oder, wenn diese Dichter dem Zeitgeschehen zu entrückt sind, auf Essig und Eulenberg. Ihre Mängel sind bei ihm ohne weiteres zu ermitteln; daß sie aber den Vorzug besaßen, einen dünnen, oft brüchigen Vorwurf mit dem Überwurf des Geistes zu behängen, dünkte ihn weniger nachahmenswert. Eine fortlaufende Handlung zu bauen, dafür fehlte es ihm an Bühnenblick und -geschick. Er weiß alle fünf Minuten nicht ein noch aus, und wenn ihm ein Faden reißt, knüpft er ihn an einer andern Stelle an, indem er eine neue Figur aus der Luft holt. Rund zwei Dutzend Personen treten auf, ohne daß eine einzige Profil gewonnen hätte, nicht einmal der vielgeschäftige Herr Lülf, der ganz zuletzt in dem Gepäckträger Nr. 87 seinen Vater wiederfindet. – Das Publikum bewies diesem im Irrgarten der Bühnenkunst taumelnden Kandidaten gegenüber eine bemerkenswerte Nachsicht. Eine an sich ziemlich harmlose Stelle brachte aber den angehäuften Unmut zur Explosion. Irgendwer erzählt, bei irgendeiner Gelegenheit habe Seine Majestät der Kaiser in allernächster Nähe von ihm gestanden. Dagegen empörten sich patriotische Zuschauer. Nachdem der diesem wie allen voraufgehenden Bildern überschwenglich gezollte Beifall verebbt war, setzte ein regelrechtes Pfeifkonzert ein. Zum erstenmal seit 1933 wurde in Berlin wieder gepfiffen, und dazu noch in einem staatlichen Theater: dem ‚Kleinen Haus’. Darauf erhob sich verstärkter, demonstrativer Beifall. Als sich die Gemüter einigermaßen beruhigt hatten, rief einer von oben herab: ‚Grobe Geschmacklosigkeit!’ Und ein zweiter Zwischenruf erscholl aus den vordern Parkettreihen: ‚Tempi passati!’ Was der Rufer damit meinte, ist nicht ganz eindeutig; doch darf man vermuten, daß er gegen eine Verspottung der Monarchie protestieren, daß er die Person des Kaisers nicht ins Spiel, in dieses Spiel gezogen wissen wollte. – Das läppische Stück wurde dann ungestört fortgesetzt, und die Darsteller erhielten den üblichen Schlußbeifall, dem freilich die Überzeugtheit von den Qualitäten des Werkes durchaus fehlte. Nur ein Staatstheater, dem die Subsidien reichlich fließen, kann es sich leisten, neben zwei Zugstücken, die es gegenwärtig an Lessings Emilia Galotti und an der Kameliendame vom jüngern Dumas besitzt (jede Vorstellung kann als ausverkauft angezeigt werden), ein solches Experiment herauszubringen. Wird es auch keine Palastrevolution zeitigen, so hat es doch die Tatsache erwiesen, daß  die Berliner sich kein dramatisches X für ein U vormachen lassen. Als auf der Bühne der Satz gesprochen wurde: ‚Du bist nicht unbegabt, du bist ein völliger Dilettant’, fand diese Selbstcharakteristik Zustimmung. ● ‚Ick dementiere mir’, sagte der alte [preußische Generalfeldmarschall] Wrangel [1877], als er irrtümlich totgesagt wurde. Der Referent macht sich diesen Ausspruch zu eigen, sofern er kürzlich an dieser Stelle mitgeteilt hat, es müsse befremden, daß das Deutsche Theater von Gerhart Hauptmanns 75. Geburtstag überhaupt keine Notiz genommen habe [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 24.11.37, Nr. 2121]. Mittlerweile hat es sich anders besonnen und die beiden Traumdichtungen Elga und Hanneles Himmelfahrt verspätet seinem Spielplan einverleibt. Was hiermit richtig gestellt sei.“

Berliner Theater. NZZ, 3. Februar 1938, Abendausgabe, Nr. 205.
Heinrich von Kleist, Das Käthchen von Heilbronn (Staatstheater, 23.12.37); Franz Grillparzer, Hero und Leander (Deutsches Theater, 06.11.37); Victorien Sardou, Also gut! Lassen wir uns scheiden!  [Divorçons] (Kammerspiele, 23.12.37); etc. – „Auch ein nüchterner Tatsachenbericht kann ein Werturteil enthalten und fast einer Kritik gleichkommen. Der Leser sei hiermit eingeladen, sich seinen eigenen Vers zu machen. Ich nehme ihn behutsam an der Hand und führ’ ihn durch Berlins Theaterland. ● Fangen wir mit den Staatstheatern an. Das Schauspielhaus brachte zu Weihnachten eine Neueinstudierung von Kleists Käthchen von Heilbronn (mit Käthe Gold und Paul Hartmann) in der Regie von Jürgen Fehling, der das ‚große historische Ritterschauspiel’ ebenso ausspielen ließ wie das uns heute noch allein fesselnde psychologische oder besser: psychopathische Drama. Rüstungen klirrten, vier Pferde trabten über die Bretter, manches präsentierte sich in neuem Licht, etwa die Erzählung des Kaisers, der sein verflossenes Liebesabenteuer recht humoristisch zu nehmen schien. Derselbe Fehling soll nächstens im Kleinen Haus der Staatstheater Ibsens Stützen der Gesellschaft inszenieren. ● In Heinz Hilperts Häusern wird Altes unter neuem Namen gezeigt. So erschien (mit Paula Wessely) Grillparzers Drama Des Meeres und der Liebe Wellen im Deutschen Theater als Hero und Leander. Man kann sich darauf berufen, daß der Dichter selbst die Absicht hatte, sein Werk einfach Hero zu nennen; man mag den schließlich gewählten Titel für preziös halten: gleichwohl gehört er zum festen Bestand deutscher Literatur, nicht minder als der nicht minder schwulstige Kabale und Liebe. ● Nebenan in den Kammerspielen erscheint Sardous Lustspiel Divorçons, das vor einem halben Jahrhundert auf deutschen Bühnen Cyprienne hieß, in Hilperts Neubearbeitung als Also gut! Lassen wir uns scheiden! Statt eines Wortes deren sechs, statt dreier Silben neun. Der Erfolg in den Kammerspielen kommt wohl weniger auf das Konto der Autoren, als auf das der Schauspielerin Luise Ullrich, obwohl sich schwer etwas Unfranzösischeres als dieses Wiener Kind und etwas weniger Frauliches denken läßt. ● Bei Hilpert wird indes nicht nur bearbeitet, sondern auch gearbeitet. Alle vierzehn Tage kommt ein altes Stück in neuer Gewandung heraus. So griff man auf Schillers Turandot, die im Dekorativen chinesischer ausfiel als im Darstellerischen, legte einen Hauptmann-Abend ein (Elga und Hannele) und zog sogar die von den Weimaranern vor einer Reihe von Jahren abgelehnte Kassandra Paul Ernsts [Uraufführung am 11.04.31 am Deutschen Nationaltheater in Weimar] wieder ans Licht, als ob es für diese Blüte des Alexandrinismus eine Revisionsinstanz gäbe. Das dürfte die Dichtung deutscher Sprache sein, welche die meisten Participia praesentis hat. Schon wird, als nächste Neuheit, Shaws Kaiser von Amerika angekündigt. ● Was die Berliner Bühnen zurzeit an Unterhaltungsware bieten? Die alte Josephine von Hermann Bahr (Theater in der Saarlandstraße), den alten Blaufuchs von Franz Herczeg (Komödienhaus), ein dänisches Schauspiel Der kluge Mann von Paul Sarauw für Heinrich George (Theater am Kurfürstendamm), ein italienisches Lustspiel Alte Liebe rostet nicht von Giannini für Ida Wüst (Komödie), ein englisches Lustspiel Zweigespann von E.P. Montgomery (Volksbühne) und das so beliebte englische Schauspiel Lady Windermeres Fächer, daß damit das Kleine Theater wiedereröffnet werde. ● Nun braucht der Leser nur noch zwischen den Zeilen lesen zu können, dann hat er keine bloße Statistik vor sich.“

Victoria Regina. NZZ, 17. Februar 1938, Abendausgabe, Nr. 294.
Laurence Housman, Victoria Regina (Renaissance-Theater, 26.01.38). – „Mit der Internationalität des Erfolgs rechnet der Film, rechnete bis vor einem Lustrum auch die europäische Schaubühne, die sich inzwischen auf einen betont nationalen Standpunkt umgestellt hat. Es ist daher nicht ohne weiteres ersichtlich, welcher tiefere Grund den für die Bühne zugeschnittenen Bildern aus dem Leben der Königin Victoria von England den Weg nach Berlin geebnet hat. Während hier jetzt, am Renaissance-Theater, die ‚deutsche Uraufführung’ dieser historischen Kavalkade vom Stapel lief, haben in London, am Lyric Theatre, schon mehr als zweihundertfünfzig Aufführungen stattgefunden, und noch immer läßt sich kein Ende absehen. – Verfasser ist Laurence Housman, der schon einmal, um die Jahrhundertwende, mit den Liebesbriefen einer Engländerin (heute nicht mehr recht genießbar) einen durch die anfängliche Anonymität des Erscheinens gesteigerten, geradezu sensationellen Erfolg davontrug [vgl. MMs Buchbesprechungen in der FZ vom 26.03.01 / Nr. 85, in der NZZ vom 24.04.01 / Nr. 113, in der VZ vom 03.10.01 / Nr. 463 u.a.m.] – der Bruder A.E. Housmans, des Gräzisten und Poeten, von dem der berühmte Shropshire Lad herrührt. Laurence, mit der Herausgabe des dichterischen Nachlasses seines Bruders beschäftigt, droht für A.E. zu werden, was William Michael Rossetti für seinen Bruder Dante Gabriel geworden ist. – Immerhin hat er Zeit gefunden, Lytton Stracheys, von Voltaireschem Geist durchdrungene, von sanfter Ironie überstrahlte Biographie der Queen – oft nachgeahmt, nie erreicht – zu dialogisieren. Von der Thronbesteigung bis zum diamantenen Regierungsjubiläum reicht der Zeitraum. Das Kernstück der vielen Stückchen bildet Victorias Liebe und Ehe, Alberts Glück und Ende. Selten hat es wohl eine gesegnetere Ehe gegeben. Die Queen hat nicht nur mit dem lebenden Prinzgemahl einen wahren Kult getrieben, sondern ihn auf den toten, in einer fast an Fetischismus gemahnenden Art, ausgedehnt. Das sind heilige Blätter in Hymens oft recht lockern Büchern, und auch der zarteste Spott muß an ihnen abprallen. Hier, wo Housman ganz in Stracheys Spuren wandelt, weiß er uns auch gemütlichen Anteil zu entlocken, und wir haben unsere helle Freude daran, wenn Alberts als Freier abgelehnter Bruder Ernst seine schwarze Seele in reinstem Sächsisch bloßlegt. Aber sonst haben wir doch zu oft die Empfindung, daß wir in Castans Panoptikum oder wie das entsprechende Londoner Wachsfigurenkabinett heißt: bei Madame Tussaud zu Gaste sind. Man vergleiche etwa das meisterhafte Porträt, das Lytton Strachey von Lord Melbourne entwirft, mit der nichtssagenden Skizze bei Laurence Housman. Zum Schluß, wenn die Königin im Rollstuhl ihr Regierungsjubiläum feiert, marschieren alle Puppen auf, darunter auch eine ‚kaiserliche Hoheit’, und gruppieren sich um die Greisin: es ist Madame Tussaud, wie sie leibt und lebt, oder vielmehr: nicht lebt. – Die Besetzung dieses Generationen-Schauspiels hängt in erster Linie von der Ähnlichkeit mit den darzustellenden Personen ab. Mehr als das Agieren kommt hier beim Schauspieler das Aussehen in Betracht: Maske, nicht Kunst ist das Entscheidende. Die Königin selbst wurde zwischen den Damen Irene v. Meyendorff  und Erika v. Thellmann aufgeteilt, wobei es die jüngere leichter hatte, der Illusion nahezukommen: eine Darstellerin, die beiden Abschnitten gerecht wird, ist schwer vorstellbar, und doch ist sie in London vorhanden. Als Prinzgemahl machte der Filmschauspieler Hans Stüwe glänzende Figur. In Anbetracht dessen, daß diese Bilder doch eine vorwiegend britische Angelegenheit sind, wenn auch ein deutscher Prinz eine wesentliche Rolle darin innehat, war der Beifall stärker, als man vermuten durfte. Er galt auch dem Regisseur Alfred Bernau, der aus der kleinen ihm zur Verfügung stehenden Bühne das Menschenmögliche herausgeholt hat.“

Berliner Theater. NZZ, 21. Februar 1938, Abendausgabe, Nr. 320.
Eberhard Wolfgang Möller, Der Sturz des Ministers (Staatstheater, 04.02.38). – „Endlich, endlich hat sich Berlin einmal aufgerafft, das Bühnenwerk eines Heutigen herauszubringen (nachdem ihm Leipzig vor gut neun Monaten und kürzlich sogar Cottbus, wie glaubhaft versichert wird, zuvorgekommen). Und wirklich, es ist ein Heutiger, wenn er auch in historischem Habit einherschreitet, nicht der Zeit, sondern dem Gedankengut nach. Eberhard Wolfgang Möller setzt mit seinem Schauspiel Der Sturz des Ministers die Reihe der Struensee-Dramen, wie sie bereits von Michael Beer, Heinrich Laube, Otto Erler vorliegen, nur stofflich fort [vgl. MMs Besprechung von Erlers Schauspiel in der NZZ vom 19.06.34, Nr. 1104]. Ihm kam es in erster Linie weder auf den ‚Kampf eines bürgerlichen Ministers mit einer hochmütigen Aristokratie’ an – von Heinrich Heine in der Besprechung des Beerschen Trauerspiels als Gegenstand der Fabel bezeichnet – noch auf Struensees Liebe zur Königin Karoline Mathilde von Dänemark. Ihm war es, eigenem Geständnis zufolge, darum zu tun, den ersten ‚sozialen Revolutionär’ zu zeichnen, ‚der, gewaltig aus den geheimnisvollen Urgründen der völkischen Lebenskraft aufsteigend, der staunenden Welt gegenüber zum erstenmal das Recht der ungebrochenen rassischen und geistigen Berufung für sich in Anspruch nahm’. Die ‚nordische Führerschicht der europäischen Völker’ findet in ihm einen frühen Exponenten, und durch den Mund des Grafen Bernstorff wird aller Weisheit letzter Schluß also formuliert: ‚Der Staat ist stets im Recht, und niemand darf ihn je ins Unrecht setzen’ (ohne daß freilich in diese Worte eine Salve des Sonderbeifalls hineinprasselte). Wenden wir uns aber von den politischen Formationen den dramatischen Aspekten zu, so wäre zu sagen, daß Möllers Struensee-Drama der zahlreich vertretenen Klasse geschichtlicher Bühnenwerke angehört, die sich nicht recht entscheiden können, ob sie die historisch überlieferten Begebenheiten als bekannt voraussetzen oder einer damit nicht vertrauten Hörerschaft mitteilen sollen. Hie Historie – hie Theaterstück: ein Gebilde also, das zwischen zwei Stühlen oder Stilen sitzt. Und dem Hörer ergeht es nicht anders. Wenn er die Geschehnisse kennt, wundert er sich über ihre willkürliche Behandlung: wenn er sie nicht kennt, sind sie nicht so gestaltet, daß seelischer Anteil bei ihm aufkommt. Es ist eine ausgesprochene Verstandesarbeit mit einem eigenwilligen Stakkato-Dialog, kein Kunstwerk, das an den Sitz der Gefühle rührt. – Auch die Darsteller vermochten da von sich aus wenig nachzuhelfen, am meisten noch Friedrich Kayßler als treuer Hüter der Krone und Maria Koppenhöfer als rabiate Mutter des irren Königs. Der Hauptgestalt in Lothar Müthels Verkörperung hätte man einen Schuß äußern sowohl wie geistigen Glanzes gewünscht, denn ohne die Magie vermag sich kein Usurpator auf die Dauer zu halten. Müthel, der auch die Regie innehatte, schien in der breit ausgesponnenen Führung der Szenen dem Beispiel seines Kollegen Fehling nachzustreben. Die Aufnahme im Staatstheater war durchaus achtungsvoll.“

Berliner Theater. NZZ, 22. März 1938, Mittagausgabe, Nr. 512.
Ludwig Thoma, Der alte Feinschmecker (Theater in der Saarlandstraße, 28.02.38); Eberhard Foerster, Verwandte sind auch Menschen (Volksbühne, 25.02.38.); Richard Keßler, Der Mann mit dem Zylinderhut (Theater am Schiffbauerdamm, 04.03.38); Dietrich Loder, Das Horoskop seiner Lordschaft [nach Oscar Wildes Lord Arthur Saviles Verbrechen] (Kammerspiele, 04.03.38); George Bernard Shaw, Frau Warrens Gewerbe (Staatstheater, 06.03.38); Marcel Achard, Das Leben ist schön (Staatstheater: Kleines Haus, 09.03.38). – „,Wie machen wir’s, daß alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?’ [Faust, Vorspiel auf dem Theater] Und wie bringen wir alles unter einen Zylinderhut? Die letzten beiden Wochen haben uns eine Fülle leichter Ware beschert, die auch ohne tiefere Bedeutung bisweilen gefällig war; ja, das war gerade das Gefälligste an ihr, es sei denn, man wolle als noch gefälliger gelten lassen, daß sie am nächsten Morgen, wie weggeblasen, spurlos aus dem Hirnkasten verschwunden war. ● Da gab es (im Theater in der Saarlandstraße) einen Schwank von Ludwig Thoma: Der alte Feinschmecker, der, schon im Krieg entstanden [Uraufführung 01.11.16 in Nürnberg], nie den Weg zur Spree gefunden hatte und sich hier weitestgehender Unbekanntheit erfreute, so daß der Bearbeiter, Intendant Eugen Klöpfer, nach Gutdünken damit umspringen konnte, ohne Kontrolle fürchten zu müssen. Ein bajuwarischer Privatier in reichlich vorgerückten Jahren hat es auf ein blutjunges Berliner Ding abgesehen und begeht im Liebesrappel allerlei Dummheiten, bis ihm der Vater des Mädels, der auf den schönen Namen Poppendieck hört, den Star sticht. Nord- und südliches Gelände feiern Brüderschaft, bekräftigen sie mit bayrischem Bier, und der Berliner läßt einen Hymnus auf Minka los, bei dem man an den zweiten Akt von Charpentiers Louise denkt, wo das im Lichterglanz strahlende Paris ebenso gefeiert wird. (Man mag auch an die himmlische Huldigung für Florenz bei Puccini denken; so was bleibt dem Schwankdichter unerreichbar.) ● Ein Schwank ist auch nur das Lustspiel Verwandte sind auch Menschen von Eberhard Foerster, das durch die Volksbühne lanciert wurde. Wie Hockenjos und Schneider Wibbel Zuschauer ihres eigenen Leichenbegängnisses werden, wohnt hier der als Diener auftretende amerikanische Erbonkel der Eröffnung seines Testaments bei. Der erste Akt, der die Sipp- und Magschaft zusammenführt, ist ganz passabel geraten, doch bald hernach geht dem Verfasser die Puste aus. Von der Besonderheit der Schwanktechnik, die immer noch einen Trumpf in der Hand behalten muß und nicht gleich zu Beginn alle Atouts ausspielen darf, macht Foerster wenig Gebrauch. Statt dessen stopft er und stopft er, aber er steigert nicht. Ein Kunstwerk oder Kunststück wie Charleys Tante will studiert sein. ● Ganz als Burleske gibt sich die als ‚Hochzeitsabenteuer’ rubrizierte Posse Der Mann mit dem Zylinderhut von Richard Keßler. Sie war vom Theater am Schiffbauerdamm als Uraufführung angezeigt worden; aber Besitzer eines guten Gedächtnisses oder eines guten Zettelkastens – der Kürschner tat es auch – erinnern sich, daß dieser Keßler vor anderthalb Jahrzehnten ein Lustspiel Hochzeitsnacht geschrieben hat, und es ist zehn gegen eins zu wetten, daß dieses Hochzeitsabenteuer und jene Hochzeitsnacht identisch sind. Noch nie wurde so oft die bessernde Hand an Titel und nicht nur an Titel gelegt wie in diesen Läuften. Der Mann mit dem Zylinderhut ist wohl erst nachträglich hineinbugsiert worden, um dem Schauspieler Rudolf Platte Gelegenheit zu allerlei Hokuspokus und Klamauk zu verstatten: sein Träger hat mit den Vorgängen so wenig zu tun wie der Titel mit Lord Dunsanys Groteske Der Herr, der seinen Zylinder stehen ließ. (Sollte der Leser nicht mehr wissen, wer dies ist, so sei ihm ins Gedächtnis zurückgerufen, daß der irische Dichter-Lord von Pirandello, als dieser sein Theater in Rom einweihte, für die Eröffnungsvorstellung unter Europens Dramatikern auserkoren ward.) ● Da wir bei den Iren angelangt sind, sei mitgeteilt, daß Oscar Wildes satirische Novelle Lord Arthur Saviles Verbrechen den Stoff hergab für ein Lustspiel Das Horoskop seiner Lordschaft von Dietrich Loder (aufgeführt in den Kammerspielen). Auf dem Zettel steht zwar nur ‚nach einer Idee von Oscar Wilde’, aber es wird wenigstens nicht verschwiegen. Die Chiromantie muß der Astrologie weichen, die Linien der Hand werden durch das Horoskop ersetzt, doch es bleibt dabei, daß die Sternenkunst sich nicht frozzeln läßt und keiner gegen sein vorgezeichnetes Schicksal ankämpfen kann. Die erste Hälfte des Loderschen Lustspiels stellt die spleenigen englischen Menschen gar nicht übel hin; wenn indes nachher ein Liebespaar hinter dem Paravent lauschen muß, um sich zu vergewissern, daß sich bei der Konkurrenz nichts Abwegiges begeben hat, so geht das Raffinement der Geschichte (story) in Primitivität auf der Bühne über: Wildes funkelnder Dialog mit seinen Halbedelsteinen in Simili-Sätze. ● Da wir bei diesem Iren halten – o Zylinderhut! –, mag erwähnt werden, daß der zweite große Ire, Bernard Shaw, mit seinem ‚unerquicklichen’ Stück Frau Warrens Gewerbe ins Staatliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt eingezogen ist. Die Wahl dieses Theaters mochte befremden, weil es für die klassischen Bühnenwerke der Weltliteratur reserviert bleiben sollte, und darauf kann Shaws Anklagedrama bei allen Qualitäten keinen Anspruch erheben. Man spürte, daß die Hörerschaft anfänglich nicht aus dem Staunen herauskam, besonders über die unehrerbietige Haltung der Kinder gegenüber ihren Eltern, aber dann half die virtuose Darstellung der englischen Madame Tellier durch Hermine Körner über alle Bedenken hinweg. Zu verfehlen ist ja diese Mrs. Warren nicht, und es ist nur zu billigen, daß Frau Körner das Weib aus dem Volke betonte, wozu sie sich auch noch des rheinischen Dialekts bediente. Das mag psychologisch einleuchten, doch es bleibt ein logischer Fauxpas, denn jeder Dialekt bedeutet eine geographische Lokalisierung. Eine englische Puffmutter, die Köln’sch spricht – das ist lustig, aber irrig. ● In allen Irrungen bleibt das Leben lustig für Marcel Achard, von dem wir im Kleinen Haus der Staatstheater die vielfach heitere Tragikomödie Das Leben ist schön sahen. Viktor de Kowa, der jeune premier des Hauses, witterte wohl eine dankbare Rolle für sich und bearbeitete darum das Stück für seine Zwecke. Achard erwies sich der Empfehlung als durchaus würdig. Wie in früheren Werken von ihm, die zu uns gelangten, legitimiert er sich durch eine persönliche Note. Das realistische Märchen ist seine Domäne. Er steht mit einem Fuß im Rinnstein, und sein Blick ist auf die Sterne gerichtet. Himmel und Hölle liegen bei ihm Tür an Tür, Engel und Teufel ringen um die menschliche Seele. Er verklärt den schäbigen Alltag durch die Poesie der Liebe, fast wie ein deutscher Romantiker. Das ist das Seltsame an diesem Vollblutfranzosen Achard, daß deutsche Wesenszüge aus seiner Natur hervorzubrechen scheinen. Wir wollen ihm, mit einem Satz aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch, bestätigen: ‚Auch kleine Dinge können uns entzücken.’“

Berliner Theater. NZZ, 27. März 1938, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 544.
Sigmund Graff, Die einsame Tat (Deutsches Theater, 18.03.38). – „Wie stellt sich Sigmund Graff, Verfasser eines Stückes um den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand, der den russischen Staatsrat August v. Kotzebue erdolchte, zum politischen Mord? Er nennt es Die einsame Tat und gibt so schon im Titel zu erkennen, daß er einen Einzelnen für den Mord verantwortlich macht und nicht die Gesamtheit der Burschenschaften, die das Verbrechen zum Teil mißbilligten. Wäre man nicht darüber aufgeklärt worden, daß das jetzt im Deutschen Theater hervorgezogene Drama schon vor acht Jahren entstanden ist, man wäre versucht, an ein Attentat jüngern Datums zu denken, umso mehr, als des öftern von Hintermännern die Rede ist und auch sonst eine gegenwartsnähere Terminologie vorherrscht. Sand, der düstere Schwärmer, glaubt seinem Vaterland einen großen Dienst zu erweisen, wenn er den der Spionage verdächtigen, bis heute nicht überführten eitlen Lustspielfabrikanten aus der Welt schafft, und hat die gute Sache damit nur geschädigt. Er knallt einen Wehrlosen nieder (warum übrigens diese Abweichung vom Tatsächlichen?), unternimmt einen Selbstmordversuch und geht, nachdem er geheilt ist, heldenhaft den Weg zum Schafott. Diese Handlung rollt in neun Bildern ab, manchmal mehr Filmvorlage als dramatisches Gedicht. Hat uns der Sand nicht viel zu sagen, so rückt er uns näher in der Beseelung durch den Schauspieler Richard Häußler. Hier scheint ein Menschendarsteller heranzureifen, dem eine besondere Delikatesse des Seelischen eignet. Intendant Hilpert darf sich dieser Erwerbung freuen. Seine Inszenierung hielt auch sonst Niveau.“

Gramatica-Gastspiel in Berlin. NZZ, 7. April 1938, Abendausgabe, Nr. 632.
Cesare Giulio Viola, Jene Frau … (Gastspiel von Emma Gramatica im Komödienhaus, 01.04.38). – „Vor einem Jahrzehnt kam sie mit ihrer eigenen Truppe nach Berlin, ohne sich mit ihrer im Schatten der Duse stehenden Schauspielkunst weitere Kreise erobern zu können [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 14.10.27, Nr. 1727]. Jetzt tritt sie im Komödienhaus inmitten eines namenlosen deutschen Ensembles auf und agiert die tragende Rolle eines italienischen Schauspiels Jene Frau… von Cesare Giulio Viola in deutscher Sprache. Hut ab, zunächst, vor dieser linguistischen Leistung in vorgerückteren Jahren! Zwar beherrscht Emma Gramatica das Deutsche noch nicht mit jener Vollendung, mit der in Hollywood Greta Garbo, Marlene Dietrich, Nora Gregor das Englische meistern gelernt haben: aber wenn sie auch durch das fremde Idiom nicht spürbar behindert ist, so hat man doch das Gefühl, daß sie sich in den Gefühlsausbrüchen ihres heimischen Italienisch noch weit stärker auszugeben vermöchte. Sie gibt eine Frau aus dem Volke, eine neapolitanische Tingeltangelsängerin, dazu eine Frau mit Vergangenheit. Nach zwanzig Jahren sieht sie ihre Kinder erster Ehe wieder, nachdem sie in zweiter Ehe einen ungeliebten, verkommenen Anwalt geheiratet hat. Die Anagnorisis, die Krone des antiken Theaters, also die Wiedererkennung, kommt hier im Dualis vor. Die radikal moderne Tochter lehnt diese Mutter ab: der weltkluge Sohn begegnet ihr lau. Das könnten unsterbliche Szenen sein, wie sie es im Schlußakt der Femme X. von Bisson geworden sind, aber Viola gibt kaum das Zureichende. Er schreibt bewußt einen Reißer, hat jedoch nicht den Mut zum Äußersten. Die Gramatica spielt das frei von aller Koketterie mit einem Überschwang von Gesten, der die Innerlichkeit betonen soll. Dieser romanische Stil, durch eine Welt vom nordischen geschieden, stößt nicht gleich auf Anerkennung, weiß sich aber im Laufe des Abends durchzusetzen. Der Beifall der wenig zahlreich vertretenen Hörer nahm zuletzt begeisterte Formen an.“

Berliner Theater. NZZ, 3. Mai 1938, Mittagausgabe, Nr. 789.
Hans Rehberg, Der Siebenjährige Krieg (Staatstheater, 07.04.38). – „Hans Rehberg, der bald Anspruch auf den Ehrentitel eines preußischen William Shakespeare erheben darf, setzt die Reihe seiner Königsdramen aus der Hohenzollern-Geschichte mit dem Schauspiel Der Siebenjährige Krieg (Buchausgabe im Verlag S. Fischer, Berlin) fort. Und wieder werden wir von der Geistigkeit des Verfassers gepackt, ohne daß es ihm gegeben wäre, zum Sitz der Gefühle vorzudringen. Was hier vor anderthalb Jahren über sein vorletztes Werk, Friedrich I., stand: ‚Es hat keine dramatische Handlung, es spitzt sich nicht zu, es steigert sich nicht, es vermag keinerlei seelischen Anteil zu wecken, es erwärmt weder für seine geschichtlichen noch für seine fiktiven Figuren’ [NZZ vom 17.11.36, Nr. 1980] – wortwörtlich gilt das auch für dieses Werk, in dessen Mittelpunkt Friedrich II. steht. ● Stofflich stehn im Mittelpunkt einige Briefe, die viel böses Blut machen. Da ist der berühmte Phaethon-Brief des Prinzen Heinrich an seine Schwester Amalie über den königlichen Bruder, worin er ihm wohl das Schlimmste vorwirft, was einem Soldaten nachgesagt werden kann: ‚Phaethon hat für seine Person Sorge getragen und sich zurückgezogen, bevor der Verlust der Schlacht völlig entschieden war.’ Da ist der Brief des Königs an seinen Bruder August Wilhelm, worin es heißt: ‚Kommandieren Sie einen Harem, wohlan: aber so lange ich lebe, werde ich Ihnen nicht das Kommando über zehn Mann anvertrauen.’ Da ist ferner der Brief Friedrichs des Großen an die Kaiserin aller Reußen, worin er sie eine Hure nennt. Die Dominante all dieser Schriftstücke ist der Haß. Prinz Heinrich spricht es offen aus, daß sein großer Bruder Haß in ihm erzeugt habe und daß des Jugendfreundes Katte Tod die Saat der Hölle in Friedrichs Seele habe aufgehen lassen. Die Zarin Elisabeth schreit ihren Haß ob der ihr zugefügten Beschimpfung mit schnapsschwerer Zunge in die Lüfte. Sie denkt nicht nur immer daran, sie spricht auch immer davon, und die bloße Ähnlichkeit eines Bojaren mit dem Beleidiger genügt zu seiner Beseitigung. Von Haß erfüllt ist endlich Friedrichs stärkster Gegner auf dem Schlachtfeld: der österreichische General Laudon, der, ob seines roten Haares von Minderwertigkeitskomplexen heimgesucht, es nicht vergessen kann, daß er in Sanssouci einmal von dem König brüsk fortgeschickt wurde, als er ihm seine Dienste anbot. Man sieht: ein reiner Haßgesang. Doch die beiden erbitterten, verbitterten Gegner begegnen einander zum Schluß und machen ihren Frieden. Sie sind beide alt geworden. Friedrichs des Großen Herz hat für große Gefühle keinen Raum mehr, jetzt treibt nur noch Eis in ihm. So klingt diese kriegerische Historie in Moll und Müdigkeit aus. Man darf beileibe nicht von Hans Rehbergs Schauspiel die glatte und platte Oberflächlichkeit der Fridericus-Filme erwarten: es endet nicht mit patriotischem Hurragedröhn, mit heldenhafter Pose und verkitschtem Menzel, sondern mit unpathetischer Resignation. ● Das alles käme weit stärker zur Wirkung und zur Geltung, wenn der Dichter einen Tropfen Theaterblut in den Adern hätte. Dann gäbe er sich nicht damit zufrieden, Szenen aneinanderzureihen, sondern trachtete nach Ballung. So formuliert er mehr Gedanken, als daß er Gestalten formte. ‚Rehbergs unleugbare Begabung’ – stand hier vor anderthalb Jahren – ,wenn auch keine ausgesprochene Bühnenbegabung, offenbart sich nur in Sentenzen und ungewöhnlich formulierten Sätzen.’ Den Erfolg, den ihm seine Historie im Staatlichen Schauspielhaus eintrug, muß man als im höchsten Grade überraschend bezeichnen. Die musterhafte Aufführung hat ihn durchaus verdient. Gustaf Gründgens, der Intendant, hatte nicht nur die Inszenierung geleitet, sondern spielte auch selbst den großen König. Mit Verzicht auf alle Äußerlichkeiten, fern von Panoptikum, überall die geistige Potenz betonend. Vielleicht noch stärkeren Beifall hatte Hermine Körner als Zarin, ihrer Galerie entarteter Gunst ein neues Bild einfügend. Alle andern Mitwirkenden füllten ihre Plätze aufs vorzüglichste aus.“

Letizia. NZZ, 9. Mai 1938, Abendausgabe, Nr. 832.
Walter Gilbricht, Letizia (Deutsches Theater, 29.04.38). – „Nach einem Oliver Cromwell, einem Michael Kohlhaas, einer Charlotte Corday, die man alle im Zeitraum weniger Jahre auf Berliner Bühnen zu sehen bekam [vgl. MMs Besprechungen in der NZZ vom 01.01.33 / Nr. 2, 16.04.35 / Nr. 675 und 02.12.36 / Nr. 2083], hat Walter Gilbricht fünf Akte und einen Epilog um Letizia, die Mutter Napoleons, herum geschrieben. Man sollte meinen, daß man aus diesen Proben ein Profil des Dramatikers gewonnen hätte; allein es dürfte schwer fallen, etwas mit Bestimmtheit über seine geistige Einstellung zu sagen, falls man sich Gedanken darüber machen sollte, in welchem Lager er steht. Vielleicht ist es das Erfreulichste an ihm, daß er von keiner Partei in Anspruch genommen werden kann, sondern unbeirrt, nach der Objektivität der Geschichte strebend (wenn wir diesen unfrommen Wahn noch gelten lassen wollen), weder nach rechts noch nach links blickend, seine Straße zieht. ● Auf Letizias Grabmal steht die Inschrift: ‚Maria Letizia Ramolino Bonaparte. Mater regum.’ Dazu bemerkt ein berühmter Korsikafahrer: ‚Das sagt nichts (Mutter von Königen); sie war mehr. Die königlichste Mutter.’ Sie war noch mehr: die menschlichste Mutter. Und einiges vom Kern ihres der Frau Aja verwandten Wesens kommt in Gilbrichts Zeichnung zutage, am schönsten, wenn sie ihr Credo äußert, daß jede Madonna als Pietà ende. Doch am hellsten leuchtet ihre Menschlichkeit in ihren Briefen auf, auch dann noch oder dann besonders, wenn sie ihren kaiserlichen Sohn gehörig schröpft und ein Einkommen von fast einer halben Million Francs zwar für ihre persönlichen Bedürfnisse, aber nicht für Repräsentationszwecke ausreichend findet. ‚Madame Mère’, wie sie sich in ihren Briefen mit Vorliebe nennt, ist häufig geradezu eine Madame (Mère) sans gêne in der Art, wie sie kein Blatt vor den Mund nimmt und sich allen Ärger von der Leber spült, oder ein enfant terrible mit weißem Haar. Die starrköpfige Brut macht ihr viel zu schaffen und läßt sich nicht immer mit Humor bezwingen. Doch sie ist auch dem Ernst jeder Lage gewachsen, etwa wenn sie zwischen dem Kaiser und seinem rebellischen Bruder Lucien zu vermitteln sucht und, wie Shaws Candida in der Wahl zwischen zwei Männern, sich zu dem bekennt, der sie am meisten braucht, worauf Lucien als Sieger davonstürmt. (A propos Shaw: der Epilog, der den Kaiser trotz Niederlage die Unsterblichkeit ernten läßt, ist gar zu handgreiflich nach dem Epilog der Heiligen Johanna – wie man heute sagt – ausgerichtet.) ● Fünf Akte plus Epilog wären kaum mit Letizia zu füllen, wenn nicht hinter allem Geschehn der Riesenschatten Napoleons stünde: Er holt sich in Stunden des Glücks wie des Leids Rat bei der weltweisen Mutter, er läßt sich wie ein Schuljunge von ihr abkanzeln, er spielt mit ihr Karten, während Marie Louise in den Wehen liegt. So sind private Züge mit den politischen ansprechend gemixt; das gibt diesem geschichtlichen Vorwurf seine Menschlichkeit, ohne die alle Historie trotz dem Aufgebot aller Pathetik doch nur tönendes Erz bleibt. ● Diese Menschlichkeit wurde auch der Grundton der Aufführung des Deutschen Theaters. Man spürte die lockende, sanft ironisierende Art des Regisseurs Heinz Hilpert. Man spürte sie an dem Gängelband, mit dem er die Heroine des Wiener Burgtheaters, Hedwig Bleibtreu, lenkte. Eine Korsin war sie nicht, zum Glück auch keine Gracchenmutter, sondern eine mitfühlende mater familias, die zum Schluß, als sie erblindet und gelähmt ist, wirklich zur mater dolorosa emporwuchs, so daß ihr der stärkste Beifall des Abends galt. Den Napoleon mimte Paul Verhoeven, ein junger Schauspieler, der sich in der letzten Zeit auf verschiedenen Gebieten ausgezeichnet hat, nicht zum wenigsten als Mitverfasser des erfolgreichen Singspiels Das kleine Hofkonzert [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 23.04.36, Nr. 689]. Eigentlich war er vor eine unlösbare Aufgabe gestellt: denn abgesehen von der untersetzten Figur und der Haartolle hatte er wenig Ähnlichkeit mit der darzustellenden Gestalt. Verhoeven zog sich mit geistiger Intensität und explosivem Temperament aus der Affäre. Wie aber sollte er das Genie glaubhaft machen, das ihm dauernd nachgesagt wird?“

Berliner Theater. NZZ, 3. Juni 1938, Mittagausgabe, Nr. 997.
Henrik Ibsen, Peer Gynt (Staatstheater, 24.05.38). – „Geplant war, die Reihe dieser Theaterreferate mit dem vom Deutschen Theater für Ende Mai angesetzten Verlorenen Sohn von Ernst Wiechert zu beschließen, was eine willkommene Gelegenheit gewesen wäre, einem aufrechten Dichtersmann Reverenz zu erweisen. Es ist anders gekommen. Das Deutsche Theater hat das angezeigte Werk ‚wegen Erkrankung eines Hauptdarstellers’ zurückgezogen – eine Begründung, die, wenn es sich um politische Persönlichkeiten handelt, dem ‚angegriffenen Gesundheitszustand’ bedenklich ähnelt. So möge denn hier – ‚Ende gut, alles gut’ – die Wiederaufnahme von Ibsens Peer Gynt in den Spielplan des Staatlichen Schauspielhauses kurz verzeichnet werden, ‚in freier Übertragung für die deutsche Bühne gestaltet von Dietrich Eckart’. Diese Bearbeitung wurde schon im Februar 1914 am gleichen Orte gegeben, anfänglich an zwei Abenden, später in zusammengezogener Form an einem Abend (mit Carl Clewing, Helene Thimig, Paula Conrad-Schlenther) [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 24.02.14, Nr. 276]. Sie überschreitet jetzt kaum die Dauer von drei Stunden, woraus sich schließen läßt, wieviel gestrichen werden mußte. Was man auch gegen Eckarts Übersetzung einwenden mag – und es ist mit dem einen Namen ‚Christian Morgenstern’ zu sagen –, das eine kann ihr nicht abgesprochen werden, daß sie in ihrer leicht faßlichen Reimhandhabung den Boden zur Popularisierung des Ibsenschen Faust in Deutschland bereitet hat. Das meiste dazu hat freilich Edvard Griegs herrliche Begleitmusik beigetragen. Neben Beethovens Musik zum Egmont, neben Mendelssohns Musik zum Sommernachtstraum und Bizets Musik zu Daudets Arlésienne wird sie als eine der wenigen unsterblichen Begleitmusiken fortleben, wahrscheinlich sogar (es gehört nicht viel Prophetengabe dazu) die dichterische Vorlage überdauern. ● Grieg kam im Staatstheater, unter Mark Lothars Leitung, klangsprühender, farbenreicher zu Gehör als dies eine Privatbühne zu leisten vermöchte. Den Hauptanteil am Gelingen der Vorstellung hatten der Dekorationsmaler Rochus Gliese und der von den Hamburger Kammerspielen nach Berlin übergesiedelte Regisseur Erich Ziegel. Die norwegische Landschaft haben wir früher wohl schon bezwingender gesehen, aber im Phantastischen und Unheimlichen war Gliese ‚ganz groß’. Die Trolle in des Dovrealten Reich wirkten nicht anders als die Fangarme eines riesenhaften Polypen. Erich Ziegel führte sich auf das vorteilhafteste ein, weil er hinter seine Darsteller bescheiden zurücktrat und gar nichts von der Eitelkeit des modernen Dirigenten mitmachte. Paul Hartmann war Peer Gynt, d.h. er war es nicht, weil er für den jungen Peer nicht mehr jung genug, für den alten noch nicht alt genug ist. Er ist um zwanzig Jahre zu spät an diese Rolle gekommen, oder diese Rolle ist um zwanzig Jahre zu spät an ihn gekommen. Rein schauspielerisch bleibt der Peer Gynt ebenso ein Problem wie der Faust. Den stärksten darstellerischen Erfolg hatte mit Recht Elsa Wagner als Mutter Aase. Wie sie in der wundervollen, nie genug zu preisenden Sterbeszene sanft entschlummerte und dann im fahlen Dämmer des Lichtes immer mehr einzuschrumpfen schien, so daß zuletzt nur noch ein armseliges Knochenhäufchen übrig blieb – das war, wenn es nicht ein Wunder war, hohe Kunst.“

Berliner Theater. NZZ, 16. Juni 1938, Morgenausgabe, Nr. 1073.
Otto Erler, Struensee (Gastspiel des Kasseler Staatstheaters im Staatstheater am Gendarmenmarkt, 11.06.38). – „Während das Berliner Staatliche Schauspielhaus im Rahmen der Kunstaustauschwochen nach Wien gefahren ist, um in der Burg seinen Hamlet vorzuführen, gastiert das Kasseler Staatstheater in Berlin, um seinen Struensee von Otto Erler am Gendarmenmarkt zu zeigen. Vor ein paar Wochen sahen wir an der gleichen Stätte einen Struensee von Eberhard Wolfgang Möller unter dem Titel Der Sturz des Ministers (vgl. Nr. 320); das könnte reizen, die Werke des älteren und des jüngeren Dramatikers miteinander zu vergleichen. Als Erler vor zweiundzwanzig Jahren seine Historie schrieb, konnte er natürlich von dem, was heute den Ausschlag gibt, nichts ahnen. Ihm war es weniger um Gesinnung zu tun als um ein handfestes Theaterstück. Er unterstreicht nicht einmal das Deutschtum seines Helden, sondern endet geradezu mit einem Lobgesang auf das die Wogen beherrschende Britannien. Seltsam übrigens, daß meines Wissens Erlers Drama mit dem Untertitel ‚Der Engel aus Engelland’, als ob der Name England von den himmlischen Sendboten und nicht von dem germanischen Volksstamm der Angeln abzuleiten sei, in Berlin nie gespielt worden ist; so kritisch war man ehedem an der Spree. [Hier irrt MM: vgl. seine eigene Besprechung in der NZZ vom 19.06.34, Nr. 1104.] Kassel nahm sich des Verfassers mit spürbarer Hingabe an. Es wäre so schön gewesen, in der Spielgemeinschaft dieser Darsteller einen Kainz oder eine Sorma zu entdecken; allein es hat nicht sollen sein. Kassel bleibt Kassel, und Berlin ist Berlin. Demgemäß war der Beifall: anerkennend, aber nicht begeistert.“

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1938 / 1939

Berliner Theater. NZZ, 16. September 1938, Abendausgabe, Nr. 1636.
Beginn der Theatersaison; Henrik Ibsen, Die Frau vom Meer (Komödie, 01.09.38); Gerhart Hauptmann, Fuhrmann Henschel (Rose-Theater, 05.09.38); George Bernard Shaw, Mensch und Übermensch (Deutsches Theater, 06.09.38); Harald Bratt [Pseudonym des Erziehungswissenschaftlers August Christian Riekel], Ein großer Mann privat (Theater am Kurfürstendamm, 02.09.38). – „Auch der Kritiker sieht sich, gleich dem Theaterdirektor im Vorspiel zum Faust, vor die schwere Frage gestellt: ‚Wie machen wir’s, daß alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?’ – Frisch und neu präsentiert sich zunächst in einer ganzen Anzahl Berliner Bühnenhäuser der Zuschauerraum. Neue Beleuchtungskörper, neue Bestuhlung, neue Teppiche sorgen für festliches Gepräge oder Gepränge. Wo vor wenigen Jahren noch eine verblichene, verschlissene Herrlichkeit auffiel, da ist jetzt strahlender Glanz eingezogen, so daß der KdF-Mann, der mit seiner Ehehälfte das Theater besucht, schon äußerlich den Eindruck empfangen soll, an einer der Kunst geweihten Stätte zu sein, wenn er auch diesem Umstand einstweilen noch in seiner Gewandung kaum Rechnung trägt. ● Zu den neuen Hörerschaften, die ein so bedeutungsvoller, vielleicht der wichtigste Faktor im deutschen Theaterleben der Gegenwart geworden ist, kommen neue Schauspieler in Hülle und Fülle; und wenn erst der geplante Künstleraustausch zwischen Berlin und Wien richtig funktioniert, werden es die Theater im Reich noch schwerer haben, sich gegenüber diesem Sammelbecken histrionischer Begabungen zu behaupten. Im Punkte der Uraufführungen scheint Berlin allerdings nach wie vor den ‚Provinz’-Bühnen den Vorrang zu lassen, und ehrgeizige Intendanten machen gern davon Gebrauch. ● So kam es, daß man in der ersten Woche der neuen Spielzeit nur alte dramatische Werke von Ibsen, Hauptmann, Shaw, Niccodemi [Scampolo (1921)] sah. Mit einer gewissen Spannung durfte man erwarten, wie sich ein heutiges Publikum gegenüber einem schwachen Drama des Magnus aus Nordland, wie der Frau vom Meer, verhalten werde. Ibsens Konflikte fangen an, fadenscheinig zu werden; sie müssen durch vollblütige Schauspieler gestützt werden. Allzu viel Gutes läßt sich über die Darbietung in der ‚Komödie’ nicht sagen. Sie war von vornherein durch die winzige Tiefe der Bühne behindert. Dieser norwegische Fjord konnte so wenig von der Weite des Meeres einen Begriff geben wie ein Streifen Land von der Weite der Natur. Frau Ellida lief den ganzen ersten Akt in Pyjamas herum (Strandkostüm, Modell 1938), und ihre lackierten Nägel leuchteten ins Parkett hinein. O Duse! Ihr Mann, Emil Heß, Zürichs früherer Heldendarsteller, kam dem Ibsen-Stil vielleicht am nächsten, wenn er auch nicht ganz so tonlos zu sein brauchte. Es gab an einigen Stellen unangebrachtes Gekicher, was darauf schließen ließ, daß dieser Ibsen in partibus keinen rechten seelischen Anteil mehr zu erwecken vermochte. ● Ungleich besser aufgehoben war im Rose-Theater, das sich nach der Dynastie seiner Besitzer so nennt und erfreulicherweise vom Thespiskarren zur Pflegestätte ernster Kunst emporgestiegen ist, Hauptmanns Fuhrmann Henschel. Hier spürte man den innigen Konnex zwischen Agierenden und Zuschauern. Das stärkste naturalistische Bühnenwerk des schlesischen Dichters wirkte ungemindert durch die Meisterschaft seiner Menschenzeichnung. Den braven Fuhrmann gab Eduard v. Winterstein, längst als Meister anerkannt, der das Beste deutschen Wesens verkörpert; nun sahen wir ihn auf dem besten Wege zum – Baumeister (Bernhard). ● Ein anderer Bernard trat höchst persönlich auf: Shaw, zu Beginn seiner Komödie Mensch und Übermensch, in verblüffend ähnlicher Maske durch den Schauspieler Bruno Hübner im Deutschen Theater dargestellt, um in einigen witzigen Sätzen den Kern seines Werkes darzulegen. Zwar hätte der wirkliche Shaw gewiß eher einen Hymnus auf sich selbst gesungen als ein bißchen oberlehrerhaft erklärt, worauf es ihm angekommen; aber er durfte sich diese Form der Verehrung gefallen lassen, wie sie auch dem Publikum ausnehmend gefiel. Diese literarische Spielerei war ein glücklicher Einfall des Regisseurs Erich Engel, der sich auch sonst, zumal im Streichen des üppigen Dialogs, glänzend bewährte. Er hat es fertig gebracht, ein auf zwei Abende berechnetes Bühnenstück in drei und eine halbe Stunde zusammenzudrängen. Seinen wirksamsten Helfer hatte er an dem aus Wien geholten Schauspieler Ferdinand Marian, der über eine furiose Suada verfügt. ● Von den neuen Komödien, die sich schon in andern Städten erprobt haben, ehe sie hierher gelangten, sei an erster Stelle genannt Ein großer Mann privat von Harald Bratt. Das ist ein wahrer Tausendsassa, von einer chamäleontischen Wandlungsfähigkeit, der jedesmal in anderem Milieu erscheint. Man wäre versucht, an den leider verschollenen Georg Kaiser zu denken, wenn er einen Schuß von dessen Intellektualismus und Hintergründigkeit hätte; aber so hoch versteigt sich Bratts Ehrgeiz nicht. Diesmal hat er einen überaus glücklichen Griff getan, indem er das Doppelleben eines männlichen Kinostars zum Vorwurf nahm (Kaiser hätte das Stück wohl Zweimal Wendolin genannt). Wenn der umschwärmte Frauenliebling die Filmerei satt hat, flüchtet er zu seinem Weib, das irgendwo da unten im Süden einen Gasthof hat, und zu seiner erwachsenen Tochter. Hier soll, nach getaner Arbeit, das Privatleben zu seinem Rechte kommen; aber ein so berühmter Mann, der im Brennpunkt der Jupiterlampen und des Interesses steht, kann sich natürlich nicht lange verborgen halten, besonders wenn ihm die lieben Kolleginnen auf der Spur sind. Johannes Riemann spielt den Helden der Leinwand hinreißend, nicht zum wenigsten durch einen erfrischenden Zusatz von Selbstpersiflage; als Gastwirt ist er zu geschniegelt. Er sollte die süddeutsche Mundart zu Hilfe nehmen. Aber auch so bleibt es im Kurfürstendamm-Theater ein vergnüglicher Abend. Dieser Bratt hat entschieden mehr als einen Tropfen Theaterblut in den Adern.“

Werner Krauß, der Jubilar. NZZ, 24. September 1938, Morgenausgabe, Nr. 1682.
„Krauß“-Festwoche am Staatstheater aus Anlaß von Krauß’ 25jährigem Berliner Bühnen-Jubiläum (20.-25.09.38). – „Auf eine 25-jährige Tätigkeit an Berliner Bühnen blickt Werner Krauß zurück. Dieser nicht alltägliche Abschnitt einer Künstlerlaufbahn wird vom Staatlichen Schauspielhaus in Berlin durch Veranstaltung einer Krauß-‚Festwoche’ wahrgenommen. An sechs aufeinanderfolgenden Abenden wird Krauß eine Blütenlese seiner Darbietungen aus der jüngsten Vergangenheit geben: Hebbels Kandaules [Gyges und sein Ring], Shakespeares Richard III., Hauptmanns Michael Kramer, Shaws Pygmalion und Schillers Wallenstein; dazu kommt ein älterer Erfolg aus dem Jahre 1926: der Gneisenau von Wolfgang Goetz. Eine fast ans Wunderbare grenzende, geradezu überwältigende Leistung. Für den Laien (und nicht nur für ihn) hat sie rein mnemotechnisch schon etwas kaum Faßbares. Wenn man früher die Güte einer Rolle von der Zahl der ‚Bogen’ abhängig machte, die der Darsteller zu sprechen hatte, so ist von diesen sechs Rollen zu sagen, daß sie dem Ideal des Schauspielers nahe kommen. Es muß nicht ganz leicht sein, ein solches Konvolut von Texten fein säuberlich auseinanderzuhalten. ● Krauß wurde – Irrtum nicht ausgeschlossen – durch Felix Hollaender von Nürnberg aus ans Deutsche Theater nach Berlin geholt. Dort lag er zuerst ein wenig brach, fand aber bald in seinem jähen Aufstieg bei Publikum und Presse Anerkennung und Unterstützung. Die Mehrzahl der Berliner Kritiker sah früh in ihm und sieht in ihm noch heute den dämonischen deutschen Schauspieler. Wie man sich diesem Superlativ gegenüber zu verhalten hat, ist in diesen Blättern des öftern dargetan worden. Dagegen wird jeder zugeben müssen, daß Krauß mehr intellektuell anregend als emotionell bewegend ist. Für seine Gesamtleistung, die auch empfindliche Nieten, wie den Faust, aufzuweisen hat, dürfte das Wort aus dem Wallenstein: ‚Es ist der Geist, der sich den Körper baut’, die deckendste Formulierung sein. Vermöge seiner Geisteskraft hat Krauß die Unzulänglichkeiten seiner Erscheinung und seiner Stimme überwunden. Das erfüllt immer wieder mit Erstaunen und Bewunderung. – Er wurde mit Recht an seinem ersten Ehrenabend sehr gefeiert.“

Berliner Theater. NZZ, 12. Oktober 1938, Abendausgabe, Nr. 1796.
William Somerset Maugham, Mein Freund Jack (Kammerspiele, 30.09.38); Gaston Amand de Caillavet, Robert de Flers u. Emmanuel Arène, Der König in Paris (Komödienhaus, 05.10.38); Hjalmar Bergman, Der Weber von Bagdad (Deutsches Theater, 01.10.38); Stefan Donat, Weltkonferenz (Komische Oper, 29.09.38); Eberhard Foerster [Pseudonym von Erich Kästner], Die Frau nach Maß (Theater in der Saarlandstr., 17.09.38); Fritz Peter Buch, Ein ganzer Kerl (Komödie, 01.10.38); Sigmund Graff, Begegnung mit Ulrike (Staatstheater: Kleines Haus, 06.10.38). – „Sechs Theaterabende auf der Suche nach einem Gesichtspunkt – wie bringt man diese Frühernte trocken und doch nicht gar zu trocken ein? Es befremdet einigermaßen, selbst wenn man statistischen Erhebungen im allgemeinen wenig geneigt ist, daß von diesen sechs (oder eigentlich sind es sieben) Bühnenwerken vier auf das Konto des Auslandes kommen. Das ist um so verwunderlicher, als es bei der Machtübernahme scheinen konnte, daß die für wirtschaftliche Gebiete angestrebte Autarkie sich auch auf die Kunst erstrecken werde. Man war des Glaubens, daß das Theater sich politisch, also nationalsozialistisch, ‚ausrichten’ werde, und findet nun, daß das politische Lied als garstiges Lied bei der Menge geradezu verpönt ist. Die Leute wollen nichts davon wissen, wenn sie abends feiern. Eine Umfrage stellte vor einiger Zeit fest, daß heutige Theaterbesucher am liebsten Gesellschaftskomödien mit gut angezogenen Menschen und witzigem Dialog haben wollen. Das mag den verblüffenden Erfolg der Wildeschen Bühnenwerke erklären. ● Diesen Anforderungen entspricht ebenso die auf derselben Linie liegende Kunst des Engländers W. Somerset Maugham. Die Kammerspiele brachten jetzt seine Komödie Mein Freund Jack heraus, und man dürfte überrascht sein, wie heftig und wie oft geklatscht wurde – mehr als vor dreißig Jahren, wo diese ‚ganz leichte’ Komödie an der gleichen Stelle erschien [am 14.08.09]. Die Begegnung mit Maugham, dessen Komödie Der Kreis zurzeit durch das English Theatre in Berlin aufgeführt wird, soll fortgesetzt werden. ● Nach dreißig Jahren taucht auch wieder das illustre Hahnreistück Le Roi von de Caillavet, de Flers und Arène auf [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 23.01.09, Nr. 23], neu übersetzt von dem Berliner Schauspieler Viktor de Kowa und großherzig seinem Kollegen Georg Alexander überlassen, dem Spezialisten für vertrottelte Fürstlichkeiten, der als Darsteller wie als Regisseur triumphiert. Weder der Engländer noch das französische Trio haben nennenswerte Beziehungen zur Gegenwart und gar keine zum Dritten Reich. Die Zeiger der Dramenuhr stehen noch auf Vergangenheit: das Alte blüht. Wer wagt, den Schleier der Zukunft zu lüften? ● Freilich, nicht alle Ladenhüter erwachen zu neuem Leben. Es ist unergründlich, was die Leitung des Deutschen Theaters bewogen hat, ein Spiel aus der bunten orientalischen Welt des vor etlichen Jahren [1931] gestorbenen Schweden Hjalmar Bergman auszugraben. Selbst zwei erfolgreiche moderne Stücke von ihm können diesen Weber von Bagdad nicht rechtfertigen. Wir haben ein Weber-Drama; wir haben eine Oper Der Barbier von Bagdad; doch diesem Weber von Bagdad steht das Epigonentum so deutlich an der Stirn geschrieben, daß er sicherlich bald wieder verschwinden wird. ● Mehr Glück hatte der Warschauer Stefan Donat, dessen Lustspiel Weltkonferenz, von Axel Ivers und Hanns Horak bearbeitet, in der Komischen Oper sehr gefiel, vielleicht weil es darin so erfrischend unwahrscheinlich hergeht. Daß der großbritannische Wirtschaftsminister, der zu einer Konferenz nach Lugano fährt, gleich am ersten Abend mit einer kleinen Maniküre ausgeht und sich das Blaue vom Himmel herunter vorerzählen läßt, ist mit guter Laune durchgeführt und läßt die Hörer nicht aus dem Lachen herauskommen, zumal da Friedl Czepa, eine Mischung von Käthe Dorsch und Anny Ondra, mit kindlichem Augenaufschlag schwindelt. Daneben wird die Rolle eines Schweizer Hotelportiers von Karl Etlinger mit köstlichem Singsang zelebriert. ● Ist es Zufall oder liegt eine tiefere Bedeutung darin, daß zurzeit in Berlin die Doppelrolle grassiert? Neulich war von einer solchen bei Bratt die Rede; vorhin wurde der Kellner als Königliche Hoheit bei Maugham erwähnt; und alles dreht sich um eine Doppelrolle in dem Lustspiel Die Frau nach Maß von Eberhard Foerster, aufgeführt im ehemaligen Hebbel-Theater, das jetzt Platen-Theater heißen könnte, da die Schauspielerin Flockina v. Platen dort dominiert. Sie hat eine moderne Studentin und deren Schwester, eine Landpomeranze, bald Annemarie, bald Rosemarie, glaubhaft zu machen. Diese ‚Zwillingsschwester’ hat Ludwig Fulda schon vor einer kleinen Ewigkeit aufgetischt: sie heutigen Hörern zumuten, heißt ein bißchen viel von ihrer Glaubwürdigkeit verlangen. Bei den Alten war die Wiedererkennungsszene der Kern vieler ihrer Dramen: bei den Modernen scheint es die Nichtwiedererkennung zu sein. Ob sie als Fortschritt zu gelten hat? ● In der ‚Komödie’ lernt man ein gut gebautes Lustspiel Ein ganzer Kerl von Fritz Peter Buch, eine Variante der Bezähmten Widerspenstigen, kennen und eine überaus herbe Darstellerin Claire Winter; daneben den Schauspieler Curt Jürgens, der als eine Mischung von Hans Albers und Gustav Fröhlich gelten kann. ● Das ‚Kleine Haus’ des Staatstheaters bietet mit der Komödie Begegnung mit Ulrike von Sigmund Graff drei Stunden lebendiger Literaturgeschichte. Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow ist hier eingedichtet. Der Olympier selbst tritt zum Glück nicht auf, was keiner bedauern wird, da die Rolle, die er als tanzeifriger Seladon im Greisenalter zu spielen hätte, leicht peinlich wirken könnte. Graff hat das Milieu der Marienbader Kurgäste geschmackvoll, die Figur des Dichterfürsten mit Ehrfurcht nachgezeichnet. Ohne kleine Entgleisungen geht es nicht ab: so möchte man gern erfahren, wieso ein prinzlicher Hauslehrer schon im Jahre 1823 den Vers ‚Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan’ [Faust. Zweiter Teil] kennen konnte.“

Hauptmanns Hamlet. NZZ, 19. Oktober 1938, Abendausgabe, Nr. 1842.
William Shakespeare [in der Bearbeitung von Gerhart Hauptmann], Hamlet (Rose-Theater, 10.10.38). – „So sehr man im allgemeinen Überschriften wie Furtwänglers Neunte oder Max Reinhardts Faust perhorresziert, weil in ihnen der Hyperkult, den dieses Zeitalter mit dem Dirigenten treibt, in eklatanter Art zutage tritt – hier ist eine solche Überschrift eher statthaft, weil Gerhart Hauptmann nicht nur als Interpret, sondern auch als Neuschöpfer an Shakespeares problematischstes Drama herantritt. Wir wissen längst, daß es ihm ein Herzensbedürfnis ist, den verderbt überlieferten Text der Folio-Ausgabe vom Jahre 1623 durch Argumente der Logik zu säubern. Er hat das auch mit seinem autobiographischen Roman Im Wirbel der Berufung getan, der recht eigentlich sein Wilhelm Meister ist. Die beiden wichtigsten Änderungen, die er vorschlägt, sind: daß er die Palastrevolution gegen den Schluß des Werkes hin nicht dem artigen Höfling Laertes, sondern dem rebellischen Hamlet selbst zuschiebt, und daß er den berühmtesten Monolog ‚Sein oder Nichtsein’, das Kernstück der Tragödie, von der Mitte fast an das Ende verlegt. Hauptmanns Beweisgründe haben gewiß manches für sich: es läßt sich aber auch einiges gegen sie geltend machen. Im übrigen scheinen beide Besserungen nicht so wichtig, daß man ihre Nichtbefolgung als ‚Wirbelsäulenbruch’ anzusehen braucht. Was uns wesentlich wichtiger dünkt, ist erstens die Tatsache, daß Hauptmann da weiter dichten will, wo ein anderer aufgehört hat – und dieser andere ist nicht der erstbeste, sondern der erste, beste – und zweitens, daß er die Sonde der Kritik an die Folio-Ausgabe anlegt. Wenn diese Methode überhand nehmen sollte, dann bricht der ganze Wunderbau der Shakespeareschen Dramenwelt unaufhaltbar zusammen. Wie die von zwei Schauspielerkollegen sieben Jahre nach des Dichters Tode herausgegebene erste Gesamtausgabe entstanden ist, braucht uns nicht zu kümmern; sie muß uns aber ein Heiligtum bleiben, denn am Ende der Besserungen steht – Hans Rothe, ein frisch, unfromm, fröhlich, frei drauflosdichtender tombeur. ● Vor Jahren hat Dresden schon das Hauptmannsche Experiment seine Feuerprobe bestehen lassen [am 08.12.27]. Ihm schloß sich jetzt das Rose-Theater in Berlin an. Es wäre unrecht, wollte man die sorgsame Arbeit einer Vorstadtbühne mit den glanzvollen Aufführungen vergleichen, die wir in Berlin erlebt haben. Das Bemerkenswerteste an ihr war, daß von den dreißig mitwirkenden Personen – darunter ein neu erfundener König von Norwegen – nicht eine einzige es unternommen hatte, sich aufzunorden. Weit und breit gab es nur schwarzes Haar zu sehen – als sei man versehentlich in eine Vorstellung der Habima [Moskauer Hebräisches Theater, gegründet 1917] geraten.“

Berliner Theater. NZZ, 10. November 1938, Abendausgabe, Nr. 1982.
Ernst Wiechert, Der Verlorene Sohn (Deutsches Theater, 04.11.38). – „Um eine Vermählung der biblischen Parabel vom Verlorenen Sohn  mit dem Weltkrieg geht es in einem Bühnenwerk Ernst Wiecherts, welches das herkömmliche Theateretikett ‚Schauspiel’ besser nicht trüge. Es ist eine tiefernste, ergreifende Dichtung mit makabrer Melodie, für nationale Feiertage besonders geeignet, den Müttern und Söhnen des Großen Krieges gewidmet – ein Requiem, ein deutsches Requiem. Die Vermutung des Dichters, ‚daß das Geschehen in diesem Schauspiel mit Teilnahme, aber auch mit Befremden aufgenommen werden wird’, wurde durch die Aufführung des Deutschen Theaters bestätigt: und zwar ließ die Teilnahme mit dem Wachsen des Befremdens nach, während mit dem Wachsen der Teilnahme das Befremden nicht in gleichem Maße nachließ. – ‚Sind das komische Leute hier!’ sagt Leberecht, der auf dem Boden der Tatsachen stehende Müllerssohn, zu seinem verträumten Bruder Johannes. Ja, es haftet ihnen mit ihren Ahnungen, Prophezeiungen, mit der Gabe des zweiten Gesichts etwas Absonderliches an, ‚something odd’, wie man es bei den schrulligen englischen Romanfiguren des achtzehnten Jahrhunderts nannte. Wir denken eher an einen deutschen Roman, den Emanuel Quint Gerhart Hauptmanns, der in der religiösen Zeichnung für Wiechert Vorbild sein konnte. Die wesentliche Änderung gegenüber der Parabel liegt darin, daß der Verlorene Sohn nicht zu seinem Vater, einem drakonisch strengen Wüterich, zurückkehrt, sondern zu seiner verständnisinnigen Mutter. Dadurch geht ihm zwar das gemästete Kalb verloren, aber er gewinnt die Einsicht, daß der Krieg nur eine Sache zwischen Müttern und Söhnen ist. Die Söhne sollen so vor ihre Mütter hintreten können, daß sie sich ihrer nicht zu schämen brauchen, und die Mütter verheißen den Söhnen, die nach einem Anfall der Verzagtheit als Helden wieder dahin ziehen, wo ihre Heimat jetzt ist, nicht die ewige Ruhe, sondern das ewige Leben. – Gegen diesen etwas sophistischen Gedanken ließe sich allerlei vorbringen, aber jeder rationelle Einwand muß vor der Lauterkeit des Gefühls verstummen. Die Schauspieler, von Paul Ottos fein tönender Regie gestützt [?], hoben es aus der Tiefe, am löblichsten Mutter und Sohn: Hildegard Grethe und Adolph Spalinger. Das Deutsche Theater hatte darstellerisch schon lange keinen bessern Abend.“

Berliner Theater. NZZ, 16. November 1938, Mittagausgabe, Nr. 2019.
Max Dauthendey, Die Spielereien einer Kaiserin (Renaissance-Theater, 14.10.38); Victorien Sardou, Madame Sans-Gêne (Staatstheater: Kleines Haus, 03.11.38); George Bernard Shaw, Der Arzt am Scheideweg (Staatstheater, 29.10.38); Gerhart Hauptmann, College Crampton (Volksbühne, 18.10.38). – „Ganz so schlecht oder so ganz schlecht, wie es bisweilen dargestellt wird, kann das Berliner Theater der zurückliegenden Zeit wohl doch nicht gewesen sein, sonst griffe man jetzt, in der Verlegenheit des Augenblicks, nicht zu den großen Erfolgsstücken von dunnemals. ‚Die Zeiger der Dramenuhr’, hieß es im letzten Bericht [in der NZZ vom 12.10.38, Nr. 1796], ‚stehn noch auf Vergangenheit; das Alte blüht.’ Sie rücken nicht vor, wenn man Dauthendeys Spielereien einer Kaiserin (im Renaissance-Theater mit der virtuosen Hilde Hildebrand) oder Sardous Madame Sans-Gêne (im Kleinen Haus des Staatstheaters mit der innerlichen Käthe Dorsch) aus der Versenkung emporsteigen läßt. Auch Shaws Arzt am Scheideweg (Schauspielhaus) hat schon seine dreißig, Hauptmanns College Crampton (Volksbühne) gar seine vierzig Jahre auf dem Buckel, und sie können sich in Ehren neben dem dramatischen Nachwuchs dieser Tage behaupten. ● Eine Drolerie ist es – nicht nur, daß in dieser mit Aktualität geladenen Gegenwart die alten Stücke als Retter in der Not erscheinen, sondern mehr noch, daß sie heute mitunter stärkeren Anklang finden als vordem. Das war unlängst erst bei dem englischen Gesellschaftskritiker Somerset Maugham festzustellen [s.o. NZZ vom 12.10.38, Nr. 1796]. Ob es für den irischen Sozialrevolutionär Nr. 1, Bernard Shaw, gilt, bleibe dahingestellt. Seine scharfe Attacke gegen die Ärztewelt wurde den ganzen Abend lang (und es war ein langer Abend) teils von vergnügtem, teils von skeptischem Kichern begleitet, als ob sich so die veränderte Stellung der Zeitgenossen gegenüber der medizinischen Wissenschaft kundgeben wollte. Shaw macht sich gründlich über die Ärzte lustig; die heutige Hörerschaft, in medizinischen Fragen vorgeschritten, macht sich ein wenig über Shaw lustig, weil er zu selbstgefällig in Karikatur schwelgt. ● Die Vorstellung am Gendarmenmarkt empfing dadurch ihren besondern Anstrich, daß der Intendant Gustaf Gründgens und der Protagonist Werner Krauß unter der Regie des jungen Schauspielers Wolfgang Liebeneier agierten. Ein sichtbareres Kompliment für sein Können war kaum möglich. Sie wollten ferner wohl bekunden, wie sie sich ein- und unterzuordnen wissen. Das gelang ihnen vollkommen; das Idealbild ihrer Rollen erreichten indes beide nicht ganz. Krauß läßt mehr an eine schnurrige Figur von E.T.A. Hoffmann denken als an einen Spezialisten in Harley Street; Gründgens ist für den sterbenden Maler Louis Dubedat (lies: Aubrey Beardsley) wohl doch zu breitbrüstig und kann dreiundzwanzig Jahre nicht mehr vortäuschen. Die Erinnerung schwebt durch den Weltenraum auf der Suche nach dem seligen Alexander Moissi, der im Gedächtnis fortlebt, weil er das amoralische Genie nicht nur beseelte, sondern auch verkörperte, nicht spielte, sondern war. ● Das trifft beinahe zu für die Madame Sans-Gêne von Käthe Dorschs Gnaden. Sie stellt eine Gestalt aus dem Volke für das Volk hin, hat Herz und Mund auf dem rechten Fleck. Wenn sie den hochnäsigen Schwestern des Kaisers tüchtig Bescheid sagt, umbrandet sie ein Jubel, von dem sich schwer ein Begriff geben läßt. Es ist hier schon wiederholt darauf hingewiesen worden, daß es zur Würdigung des Berliner Theaterlebens heute nicht so sehr darauf ankommt, was gespielt wird, auch nicht, wie gespielt wird, sondern vor wem gespielt wird. Eine unverbildetere, so naiv mitgehende, gemütlich folgende Hörerschaft läßt sich kaum denken. Kein Satz, der nicht belacht würde, keine markante Stelle, die nicht ihren Sonderapplaus erhielte. Vom Standpunkt des Mimen aus muß es eine Lust sein, für dieses neue Publikum zu spielen.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19